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The Project Gutenberg EBook of Buddenbrooks, by Thomas Mann
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Release Date: January 1, 2011 [EBook #34811]
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*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BUDDENBROOKS ***
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Produced by Jana Srna, Norbert H. Langkau and the Online
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32
[ Anmerkungen zur Transkription:
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Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
35
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THOMAS MANN + BUDDENBROOKS
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DEUTSCHE BUCH-GEMEINSCHAFT
68
Mit Genehmigung von S. Fischer Verlag, Berlin
70
Copyright 1909 by S. Fischer Verlag, Berlin
72
Alle Rechte vorbehalten
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»Was ist das. -- Was -- ist das ...«
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»Je, den Düwel ook, _c'est la question, ma très chère demoiselle_!«
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Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem
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geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf
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verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen
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Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam
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ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den
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»Tony!« sagte sie, »ich glaube, daß mich Gott --«
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Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen
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aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig
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vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen
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Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein,
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wiederholte noch einmal: »Was ist das«, sprach darauf langsam: »Ich
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glaube, daß mich Gott«, fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch
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hinzu: »-- geschaffen hat samt allen Kreaturen«, war plötzlich auf
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glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam,
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den ganzen Artikel daher, getreu nach dem Katechismus, wie er soeben,
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_anno_ 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu
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revidiert herausgegeben war. Wenn man im Gange war, dachte sie, war es
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ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den
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Brüdern den »Jerusalemsberg« hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu
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die Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch
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»Dazu Kleider und Schuhe«, sprach sie, »Essen und Trinken, Haus und Hof,
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Weib und Kind, Acker und Vieh ...« Bei diesen Worten aber brach der
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alte M. Johann Buddenbrook einfach in Gelächter aus, in sein helles,
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verkniffenes Kichern, das er heimlich in Bereitschaft gehalten hatte. Er
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lachte vor Vergnügen, sich über den Katechismus mokieren zu können, und
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hatte wahrscheinlich nur zu diesem Zwecke das kleine Examen vorgenommen.
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Er erkundigte sich nach Tonys Acker und Vieh, fragte, wieviel sie für
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den Sack Weizen nähme und erbot sich, Geschäfte mit ihr zu machen. Sein
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rundes, rosig überhauchtes und wohlmeinendes Gesicht, dem er beim besten
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Willen keinen Ausdruck von Bosheit zu geben vermochte, wurde von
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schneeweiß gepudertem Haar eingerahmt, und etwas wie ein ganz leise
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angedeutetes Zöpflein fiel auf den breiten Kragen seines mausgrauen
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Rockes hinab. Er war, mit seinen siebenzig Jahren, der Mode seiner
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Jugend nicht untreu geworden; nur auf den Tressenbesatz zwischen den
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Knöpfen und den großen Taschen hatte er verzichtet, aber niemals im
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Leben hatte er lange Beinkleider getragen. Sein Kinn ruhte breit,
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doppelt und mit einem Ausdruck von Behaglichkeit auf dem weißen
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Alle hatten in sein Lachen eingestimmt, hauptsächlich aus Ehrerbietung
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gegen das Familienoberhaupt. Mme. Antoinette Buddenbrook, geborene
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Duchamps, kicherte in genau derselben Weise wie ihr Gatte. Sie war eine
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korpulente Dame mit dicken, weißen Locken über den Ohren, einem schwarz
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und hellgrau gestreiften Kleide ohne Schmuck, das Einfachheit und
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Bescheidenheit verriet, und mit noch immer schönen und weißen Händen, in
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denen sie einen kleinen, sammetnen Pompadour auf dem Schoße hielt. Ihre
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Gesichtszüge waren im Laufe der Jahre auf wunderliche Weise denjenigen
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ihres Gatten ähnlich geworden. Nur der Schnitt und die lebhafte Dunkelheit
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ihrer Augen redeten ein wenig von ihrer halb romanischen Herkunft; sie
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stammte großväterlicherseits aus einer französisch-schweizerischen
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Familie und war eine geborene Hamburgerin.
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Ihre Schwiegertochter, die Konsulin Elisabeth Buddenbrook, eine geborene
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Kröger, lachte das Krögersche Lachen, das mit einem pruschenden
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Lippenlaut begann, und bei dem sie das Kinn auf die Brust drückte. Sie
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war, wie alle Krögers, eine äußerst elegante Erscheinung, und war sie
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auch keine Schönheit zu nennen, so gab sie doch mit ihrer hellen und
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besonnenen Stimme, ihren ruhigen, sicheren und sanften Bewegungen aller
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Welt ein Gefühl von Klarheit und Vertrauen. Ihrem rötlichen Haar, das
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auf der Höhe des Kopfes zu einer kleinen Krone gewunden und in breiten
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künstlichen Locken über die Ohren frisiert war, entsprach ein
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außerordentlich zartweißer Teint mit vereinzelten kleinen
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Sommersprossen. Das Charakteristische an ihrem Gesicht mit der etwas zu
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langen Nase und dem kleinen Munde war, daß zwischen Unterlippe und Kinn
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sich durchaus keine Vertiefung befand. Ihr kurzes Mieder mit
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hochgepufften Ärmeln, an das sich ein enger Rock aus duftiger,
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hellgeblümter Seide schloß, ließ einen Hals von vollendeter Schönheit
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frei, geschmückt mit einem Atlasband, an dem eine Komposition von großen
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Brillanten flimmerte.
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Der Konsul beugte sich mit einer etwas nervösen Bewegung im Sessel
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vornüber. Er trug einen zimmetfarbenen Rock mit breiten Aufschlägen und
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keulenförmigen Ärmeln, die sich erst unterhalb des Gelenkes eng um die
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Hand schlossen. Seine anschließenden Beinkleider bestanden aus einem
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weißen, waschbaren Stoff und waren an den Außenseiten mit schwarzen
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Streifen versehen. Um die steifen Vatermörder, in die sich sein Kinn
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schmiegte, war die seidene Krawatte geschlungen, die dick und breit den
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ganzen Ausschnitt der buntfarbigen Weste ausfüllte ... Er hatte die ein
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wenig tief liegenden, blauen und aufmerksamen Augen seines Vaters, wenn
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ihr Ausdruck auch vielleicht träumerischer war; aber seine Gesichtszüge
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waren ernster und schärfer, seine Nase sprang stark und gebogen hervor,
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und die Wangen, bis zu deren Mitte blonde, lockige Bartstreifen liefen,
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waren viel weniger voll als die des Alten.
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Madame Buddenbrook wandte sich an ihre Schwiegertochter, drückte mit
181
einer Hand ihren Arm, sah ihr kichernd in den Schoß und sagte:
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»Immer der nämliche, _mon vieux_, Bethsy ...?« »Immer« sprach sie wie
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Die Konsulin drohte nur schweigend mit ihrer zarten Hand, so daß ihr
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goldenes Armband leise klirrte; und dann vollführte sie eine ihr
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eigentümliche Handbewegung vom Mundwinkel zur Frisur hinauf, als ob sie
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ein loses Haar zurückstriche, das sich dorthin verirrt hatte.
191
Der Konsul aber sagte mit einem Gemisch von entgegenkommendem Lächeln
192
und Vorwurf in der Stimme:
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»Aber Vater, Sie belustigen sich wieder einmal über das Heiligste!...«
196
Man saß im »Landschaftszimmer«, im ersten Stockwerk des weitläufigen
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alten Hauses in der Mengstraße, das die Firma Johann Buddenbrook vor
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einiger Zeit käuflich erworben hatte und das die Familie noch nicht
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lange bewohnte. Die starken und elastischen Tapeten, die von den Mauern
200
durch einen leeren Raum getrennt waren, zeigten umfangreiche
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Landschaften, zartfarbig wie der dünne Teppich, der den Fußboden
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bedeckte, Idylle im Geschmack des 18. Jahrhunderts, mit fröhlichen
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Winzern, emsigen Ackersleuten, nett bebänderten Schäferinnen, die
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reinliche Lämmer am Rande spiegelnden Wassers im Schoße hielten oder
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sich mit zärtlichen Schäfern küßten ... Ein gelblicher Sonnenuntergang
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herrschte meistens auf diesen Bildern, mit dem der gelbe Überzug der
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weiß lackierten Möbel und die gelbseidenen Gardinen vor den beiden
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Fenstern übereinstimmten.
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Im Verhältnis zu der Größe des Zimmers waren die Möbel nicht zahlreich.
211
Der runde Tisch mit den dünnen, geraden und leicht mit Gold
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ornamentierten Beinen stand nicht vor dem Sofa, sondern an der
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entgegengesetzten Wand, dem kleinen Harmonium gegenüber, auf dessen
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Deckel ein Flötenbehälter lag. Außer den regelmäßig an den Wänden
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verteilten, steifen Armstühlen gab es nur noch einen kleinen Nähtisch am
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Fenster, und, dem Sofa gegenüber, einen zerbrechlichen Luxus-Sekretär,
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Durch eine Glastür, den Fenstern gegenüber, blickte man in das
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Halbdunkel einer Säulenhalle hinaus, während sich linker Hand vom
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Eintretenden die hohe, weiße Flügeltür zum Speisesaale befand. An der
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anderen Wand aber knisterte, in einer halbkreisförmigen Nische und
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hinter einer kunstvoll durchbrochenen Tür aus blankem Schmiedeeisen, der
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Denn es war frühzeitig kalt geworden. Draußen, jenseits der Straße, war
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schon jetzt, um die Mitte des Oktober, das Laub der kleinen Linden
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vergilbt, die den Marienkirchhof umstanden, um die mächtigen gotischen
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Ecken und Winkel der Kirche pfiff der Wind, und ein feiner, kalter
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Regen ging hernieder. Madame Buddenbrook, der Älteren, zuliebe hatte man
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die doppelten Fenster schon eingesetzt.
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Es war Donnerstag, der Tag, an dem ordnungsmäßig jede zweite Woche die
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Familie zusammenkam; heute aber hatte man, außer den in der Stadt
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ansässigen Familiengliedern, auch ein paar gute Hausfreunde auf ein ganz
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einfaches Mittagbrot gebeten, und man saß nun, gegen vier Uhr
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nachmittags, in der sinkenden Dämmerung und erwartete die Gäste ...
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Die kleine Antonie hatte sich in ihrer Schlittenfahrt durch den
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Großvater nicht stören lassen, sondern hatte nur schmollend die immer
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ein bißchen hervorstehende Oberlippe noch weiter über die untere
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geschoben. Jetzt war sie am Fuße des »Jerusalemsberges« angelangt; aber
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unfähig, der glatten Fahrt plötzlich Einhalt zu tun, schoß sie noch ein
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Stück über das Ziel hinaus ...
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»Amen«, sagte sie, »ich weiß was, Großvater!«
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»_Tiens!_ Sie weiß was!« rief der alte Herr und tat, als ob ihn die
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Neugier im ganzen Körper plage. »Hast du gehört, Mama? Sie weiß was!
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Kann mir denn niemand sagen ...«
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»Wenn es ein warmer Schlag ist«, sprach Tony und nickte bei jedem Wort
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mit dem Kopfe, »so schlägt der Blitz ein. Wenn es aber ein kalter Schlag
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ist, so schlägt der Donner ein!«
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Hierauf kreuzte sie die Arme und blickte in die lachenden Gesichter wie
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jemand, der seines Erfolges sicher ist. Herr Buddenbrook aber war böse
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auf diese Weisheit, er verlangte durchaus zu wissen, wer dem Kinde diese
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Stupidität beigebracht habe, und als sich ergab, Ida Jungmann, die
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kürzlich für die Kleinen engagierte Mamsell aus Marienwerder, sei es
261
gewesen, mußte der Konsul diese Ida in Schutz nehmen.
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»Sie sind zu streng, Papa. Warum sollte man in diesem Alter über
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dergleichen Dinge nicht seine eigenen wunderlichen Vorstellungen haben
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»_Excusez, mon cher!... Mais c'est une folie!_ Du weißt, daß solche
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Verdunkelung der Kinderköpfe mir verdrüßlich ist! Wat, de Dunner sleit
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in? Da sall doch gliek de Dunner inslahn! Geht mir mit eurer
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Die Sache war die, daß der alte Herr auf Ida Jungmann nicht zum besten
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zu sprechen war. Er war kein beschränkter Kopf. Er hatte ein Stück von
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der Welt gesehen, war _anno_ 13 vierspännig nach Süddeutschland
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gefahren, um als Heereslieferant für Preußen Getreide aufzukaufen, war
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in Amsterdam und Paris gewesen und hielt, ein aufgeklärter Mann, bei
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Gott nicht alles für verurteilenswürdig, was außerhalb der Tore seiner
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giebeligen Vaterstadt lag. Abgesehen vom geschäftlichen Verkehr aber, in
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gesellschaftlicher Beziehung, war er mehr als sein Sohn, der Konsul,
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geneigt, strenge Grenzen zu ziehen und Fremden ablehnend zu begegnen.
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Als daher eines Tages seine Kinder von einer Reise nach Westpreußen dies
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junge Mädchen -- sie war erst jetzt zwanzig Jahre alt -- als eine Art
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Jesuskind mit sich ins Haus gebracht hatten, eine Waise, die Tochter
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eines unmittelbar vor Ankunft der Buddenbrooks in Marienwerder
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verstorbenen Gasthofsbesitzers, da hatte der Konsul für diesen frommen
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Streich einen Auftritt mit seinem Vater zu bestehen gehabt, bei dem der
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alte Herr fast nur Französisch und Plattdeutsch sprach ... Übrigens
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hatte Ida Jungmann sich als tüchtig im Hausstande und im Verkehr mit den
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Kindern erwiesen und eignete sich mit ihrer Loyalität und ihren
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preußischen Rangbegriffen im Grunde aufs beste für ihre Stellung in
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diesem Hause. Sie war eine Person von aristokratischen Grundsätzen, die
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haarscharf zwischen ersten und zweiten Kreisen, zwischen Mittelstand und
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geringerem Mittelstand unterschied, sie war stolz darauf, als ergebene
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Dienerin den ersten Kreisen anzugehören und sah es ungern, wenn Tony
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sich etwa mit einer Schulkameradin befreundete, die nach Mamsell
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Jungmanns Schätzung nur dem guten Mittelstande zuzurechnen war ...
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In diesem Augenblick ward die Preußin selbst in der Säulenhalle sichtbar
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und trat durch die Glastür ein: ein ziemlich großes, knochig gebautes
300
Mädchen in schwarzem Kleide, mit glattem Haar und einem ehrlichen
301
Gesicht. Sie führte die kleine Klothilde an der Hand, ein
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außerordentlich mageres Kind in geblümtem Kattunkleidchen, mit
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glanzlosem, aschigem Haar und stiller Altjungfernmiene. Sie stammte aus
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einer völlig besitzlosen Nebenlinie, war die Tochter eines bei Rostock
305
als Gutsinspektor ansässigen Neffen des alten Herrn Buddenbrook und
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ward, weil sie gleichaltrig mit Antonie und ein williges Geschöpf war,
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hier im Hause erzogen.
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»Es ist alles bereit«, sagte Mamsell Jungmann und schnurrte das _r_ in
310
der Kehle, denn sie hatte es ursprünglich überhaupt nicht aussprechen
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können. »Klothildchen hat tücht'g geholfen in der Küche, Trina hat fast
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nichts zu tun brauchen ...«
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M. Buddenbrook schmunzelte spöttisch in sein Jabot über Idas fremdartige
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Aussprache; der Konsul aber streichelte seiner kleinen Nichte die Wange
318
»So ist es recht, Thilda. Bete und arbeite, heißt es. Unsere Tony sollte
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sich ein Beispiel daran nehmen. Sie neigt nur allzuoft zu Müßiggang und
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Tony ließ den Kopf hängen und blickte von unten herauf den Großvater an,
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denn sie wußte wohl, daß er sie, wie gewöhnlich, verteidigen werde.
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»Nein, nein«, sagte er, »Kopf hoch, Tony, _courage_! Eines schickt sich
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nicht für alle. Jeder nach seiner Art. Thilda ist brav, aber wir sind
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auch nicht zu verachten. Spreche ich _raisonnable_, Bethsy?«
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Er wandte sich an seine Schwiegertochter, die seinem Geschmacke
330
beizupflichten pflegte, während Mme. Antoinette, mehr aus Klugheit wohl
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denn aus Überzeugung, meistens die Partei des Konsuls nahm. So reichten
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sich die beiden Generationen, im _chassez croisez_ gleichsam, die Hände.
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»Sie sind sehr gut, Papa«, sagte die Konsulin. »Tony wird sich bemühen,
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eine kluge und tüchtige Frau zu werden ... Sind die Knaben aus der
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Schule gekommen?« fragte sie Ida.
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Aber Tony, die vom Knie des Großvaters aus in den »Spion« durchs Fenster
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sah, rief fast gleichzeitig:
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»Tom und Christian kommen die Johannisstraße herauf ... und Herr
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Hoffstede ... und Onkel Doktor ...«
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Das Glockenspiel von St. Marien setzte mit einem Chorale ein: pang!
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ping, ping -- pung! ziemlich taktlos, so daß man nicht recht zu erkennen
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vermochte, was es eigentlich sein sollte, aber doch voll Feierlichkeit,
347
und während dann die kleine und die große Glocke fröhlich und würdevoll
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erzählten, daß es vier Uhr sei, schallte auch drunten die Glocke der
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Windfangtür gellend über die große Diele, worauf es in der Tat Tom und
350
Christian waren, die ankamen, zusammen mit den ersten Gästen, mit Jean
351
Jacques Hoffstede, dem Dichter, und Doktor Grabow, dem Hausarzt.
356
Herr Jean Jacques Hoffstede, der Poet der Stadt, der sicherlich auch für
357
den heutigen Tag ein paar Reime in der Tasche hatte, war nicht viel
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jünger als Johann Buddenbrook, der Ältere, und abgesehen von der grünen
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Farbe seines Leibrockes, in demselben Geschmack gekleidet. Aber er war
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dünner und beweglicher als sein alter Freund und besaß kleine, flinke,
361
grünliche Augen und eine lange, spitze Nase.
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»Besten Dank«, sagte er, nachdem er den Herren die Hände geschüttelt und
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vor den Damen -- im besonderen vor der Konsulin, die er außerordentlich
365
verehrte -- ein paar seiner ausgesuchtesten _compliments_ vollführt
366
hatte, _compliments_, wie die neue Generation sie schlechterdings nicht
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mehr zustande brachte, und die von einem angenehm stillen und
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verbindlichen Lächeln begleitet waren. »Besten Dank für die freundliche
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Einladung, meine Hochverehrten. Diese beiden jungen Leute«, und er wies
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auf Tom und Christian, die in blauen Kitteln mit Ledergürteln bei ihm
371
standen, »haben wir in der Königstraße getroffen, der Doktor und ich,
372
als sie von ihren Studien kamen. Prächtige Bursche -- Frau Konsulin?
373
Thomas, das ist ein solider und ernster Kopf; er muß Kaufmann werden,
374
darüber besteht kein Zweifel. Christian dagegen scheint mir ein wenig
375
Tausendsassa zu sein, wie? ein wenig _Incroyable_ ... Allein ich
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verhehle nicht mein _engouement_. Er wird studieren, dünkt mich; er ist
377
witzig und brillant veranlagt ...«
379
Herr Buddenbrook bediente sich seiner goldenen Tabaksdose.
381
»'n Aap is hei! Soll er nicht gleich Dichter werden, Hoffstede?«
383
Mamsell Jungmann steckte die Fenstervorhänge übereinander, und bald lag
384
das Zimmer in dem etwas unruhigen, aber diskreten und angenehmen Licht
385
der Kerzen des Kristallkronleuchters und der Armleuchter, die auf dem
388
»Nun, Christian«, sagte die Konsulin, deren Haar goldig aufleuchtete,
389
»was hast du heute nachmittag gelernt?« Und es ergab sich, daß Christian
390
Schreiben, Rechnen und Singen gehabt hatte.
392
Er war ein Bürschchen von sieben Jahren, das schon jetzt in beinahe
393
lächerlicher Weise seinem Vater ähnlich war. Es waren die gleichen,
394
ziemlich kleinen, runden und tiefliegenden Augen, die gleiche stark
395
hervorspringende und gebogene Nase war schon erkenntlich, und unterhalb
396
der Wangenknochen deuteten bereits ein paar Linien darauf hin, daß die
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Gesichtsform nicht immer die jetzige kindliche Fülle behalten werde.
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»Wir haben furchtbar gelacht«, fing er an zu plappern, während seine
400
Augen im Zimmer von einem zum anderen gingen. »Paßt mal auf, was Herr
401
Stengel zu Siegmund Köstermann gesagt hat.« Er beugte sich vor,
402
schüttelte den Kopf und redete eindringlich in die Luft hinein:
403
»Äußerlich, mein gutes Kind, äußerlich bist du glatt und geleckt, ja,
404
aber innerlich, mein gutes Kind, da bist du schwarz ...« Und dies sagte
405
er unter Weglassung des »r« und indem er »schwarz« wie »swärz« aussprach
406
-- mit einem Gesicht, in dem sich der Unwille über diese »äußeliche«
407
Glätte und Gelecktheit mit einer so überzeugenden Komik malte, daß alles
408
in Gelächter ausbrach.
410
»'n Aap is hei!« wiederholte der alte Buddenbrook kichernd. Herr
411
Hoffstede aber war außer sich vor Entzücken.
413
»Charmant!« rief er. »Unübertrefflich! Man muß Marcellus Stengel kennen!
414
Akkurat so! Nein, das ist gar zu köstlich!«
416
Thomas, dem solche Begabung abging, stand neben seinem jüngeren Bruder
417
und lachte neidlos und herzlich. Seine Zähne waren nicht besonders
418
schön, sondern klein und gelblich. Aber seine Nase war auffallend fein
419
geschnitten, und er ähnelte in den Augen und in der Gesichtsform stark
422
Man hatte zum Teil auf den Stühlen und dem Sofa Platz genommen, man
423
plauderte mit den Kindern, sprach über die frühe Kälte, das Haus ...
424
Herr Hoffstede bewunderte am Sekretär ein prachtvolles Tintenfaß aus
425
Sevres-Porzellan in Gestalt eines schwarzgefleckten Jagdhundes. Doktor
426
Grabow aber, ein Mann vom Alter des Konsuls, zwischen dessen spärlichem
427
Backenbart ein langes, gutes und mildes Gesicht lächelte, betrachtete
428
die Kuchen, Korinthenbrote und verschiedenartigen gefüllten Salzfäßchen,
429
die auf dem Tische zur Schau gestellt waren. Es war das »Salz und Brot«,
430
das der Familie von Verwandten und Freunden zum Wohnungswechsel
431
übersandt worden war. Da man aber sehen sollte, daß die Gabe nicht aus
432
geringen Häusern komme, bestand das Brot in süßem, gewürztem und
433
schwerem Gebäck und war das Salz von massivem Golde umschlossen.
435
»Ich werde wohl zu tun bekommen«, sagte der Doktor, indem er auf die
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Süßigkeiten wies und den Kindern drohte. Dann hob er mit wiegendem Kopf
437
ein gediegenes Gerät für Salz, Pfeffer und Senf empor.
439
»Von Lebrecht Kröger«, sagte M. Buddenbrook schmunzelnd. »Immer koulant,
440
mein lieber Herr Verwandter. Ich habe ihm dergleichen nicht spendiert,
441
als er sich sein Gartenhaus vorm Burgtor gebaut hatte. Aber so war er
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immer ... nobel! spendabel! ein _à la mode_-Kavalier ...«
444
Mehrmals hatte die Glocke durchs ganze Haus gegellt. Pastor Wunderlich
445
langte an, ein untersetzter alter Herr in langem, schwarzem Rock, mit
446
gepudertem Haar und einem weißen, behaglich lustigen Gesicht, in dem ein
447
Paar grauer, munterer Augen blinzelten. Er war seit vielen Jahren Witwer
448
und rechnete sich zu den Junggesellen aus der alten Zeit, wie der lange
449
Makler, Herr Grätjens, der mit ihm kam und beständig eine seiner hageren
450
Hände nach Art eines Fernrohrs zusammengerollt vors Auge hielt, als
451
prüfe er ein Gemälde; er war ein allgemein anerkannter Kunstkenner.
453
Auch Senator Doktor Langhals nebst Frau kamen an, langjährige Freunde
454
des Hauses, -- nicht zu vergessen den Weinhändler Köppen mit dem großen,
455
dunkelroten Gesicht, das zwischen den hochgepolsterten Ärmeln saß, und
456
seine gleichfalls so sehr beleibte Gattin ...
458
Es war schon nach halb fünf Uhr, als schließlich die Krögers eintrafen,
459
die Alten sowohl wie ihre Kinder, Konsul Krögers mit ihren Söhnen Jakob
460
und Jürgen, die im Alter von Tom und Christian standen. Und fast
461
gleichzeitig mit ihnen kamen auch die Eltern der Konsulin Kröger,
462
Holzgroßhändler Oeverdieck nebst Frau, ein altes, zärtliches Ehepaar,
463
das sich vor aller Ohren mit den bräutlichsten Kosenamen zu benennen
466
»Feine Leute kommen spät«, sagte Konsul Buddenbrook und küßte seiner
467
Schwiegermutter die Hand.
469
»Öwer denn ook gliek düchtig!« und Johann Buddenbrook machte eine weite
470
Armbewegung über die Krögersche Verwandtschaft hin, indem er dem Alten
471
die Hand schüttelte ...
473
Lebrecht Kröger, der _à la mode_-Kavalier, eine große, distinguierte
474
Erscheinung, trug noch leicht gepudertes Haar, war aber modisch
475
gekleidet. An seiner Sammetweste blitzten zwei Reihen von
476
Edelsteinknöpfen. Justus, sein Sohn, mit kleinem Backenbart und spitz
477
emporgedrehtem Schnurrbart, ähnelte, was Figur und Benehmen anbetraf,
478
stark seinem Vater; auch über die nämlichen runden und eleganten
479
Handbewegungen verfügte er.
481
Man setzte sich gar nicht erst, sondern stand, in Erwartung der
482
Hauptsache, in einem vorläufigen und nachlässigen Gespräch beieinander.
483
Und Johann Buddenbrook, der Ältere, bot auch schon Madame Köppen seinen
484
Arm, indem er mit vernehmlicher Stimme sagte:
486
»Na, wenn wir alle Appetit haben, _mesdames et messieurs_ ...«
488
Mamsell Jungmann und das Folgmädchen hatten die weiße Flügeltür zum
489
Speisesaal geöffnet, und langsam, in zuversichtlicher Gemächlichkeit,
490
bewegte sich die Gesellschaft hinüber; man konnte eines nahrhaften
491
Bissens gewärtig sein bei Buddenbrooks ...
496
Der jüngere Hausherr hatte, als der allgemeine Aufbruch begann, mit der
497
Hand nach der linken Brustseite gegriffen, wo ein Papier knisterte, das
498
gesellschaftliche Lächeln war plötzlich von seinem Gesicht verschwunden,
499
um einem gespannten und besorgten Ausdruck Platz zu machen, und an
500
seinen Schläfen spielten, als ob er die Zähne aufeinander bisse, ein
501
paar Muskeln. Nur zum Schein machte er einige Schritte dem Speisesaale
502
zu, dann aber hielt er sich zurück und suchte mit den Augen seine
503
Mutter, die als eine der letzten, an der Seite Pastor Wunderlichs, die
504
Schwelle überschreiten wollte.
506
»Pardon, lieber Herr Pastor ... Auf zwei Worte, Mama!« Und während der
507
Pastor ihm munter zunickte, nötigte Konsul Buddenbrook die alte Dame ins
508
Landschaftszimmer zurück und zum Fenster.
510
»Es ist, um kurz zu sein, ein Brief von Gotthold gekommen«, sagte er
511
rasch und leise, indem er in ihre fragenden, dunklen Augen sah und das
512
gefaltete und versiegelte Papier aus der Tasche zog. »Das ist seine
513
Handschrift ... Es ist das dritte Schreiben, und nur das erste hat Papa
514
ihm beantwortet ... Was machen? Es ist schon um zwei Uhr angekommen, und
515
ich hätte es dem Vater längst einhändigen müssen, aber sollte ich ihm
516
heute die Stimmung verderben? Was sagen Sie? Es ist immer noch Zeit, ihn
519
»Nein, du hast recht, Jean, warte damit!« sagte Madame Buddenbrook und
520
erfaßte nach ihrer Gewohnheit mit einer schnellen Bewegung den Arm ihres
521
Sohnes. »Was soll darin stehen!« fügte sie bekümmert hinzu. »Er gibt
522
nicht nach, der Junge. Er kapriziert sich auf diese Entschädigungssumme
523
für den Anteil am Hause ... Nein, nein, Jean, noch nicht jetzt ... Heute
524
abend vielleicht, vorm Zubettegehen ...«
526
»Was tun?« wiederholte der Konsul, indem er den gesenkten Kopf
527
schüttelte. »Ich selbst habe Papa oft genug bitten wollen, nachzugeben
528
... Es soll nicht aussehen, als ob ich, der Stiefbruder, mich bei den
529
Eltern eingenistet hätte und gegen Gotthold intrigierte ... auch dem
530
Vater gegenüber muß ich den Anschein dieser Rolle vermeiden. Aber wenn
531
ich ehrlich sein soll ... ich bin schließlich Associé. Und dann bezahlen
532
Bethsy und ich vorläufig eine ganz normale Miete für den zweiten Stock
533
... Was meine Schwester in Frankfurt betrifft, nun, so ist die Sache
534
arrangiert. Ihr Mann bekommt schon jetzt, bei Papas Lebzeiten, eine
535
Abstandssumme, ein Viertel bloß von der Hauskaufsumme ... Das ist ein
536
vorteilhaftes Geschäft, das Papa sehr glatt und gut erledigt hat, und
537
das im Sinne der Firma höchst erfreulich ist. Und wenn Papa sich
538
Gotthold gegenüber so ganz abweisend verhält, so ist das ...«
540
»Nein, Unsinn, Jean, dein Verhältnis zur Sache ist doch wohl klar. Aber
541
Gotthold glaubt, daß ich, seine Stiefmutter, nur für meine eigenen
542
Kinder sorge und ihm seinen Vater geflissentlich entfremde. Das ist das
545
»Aber es ist seine Schuld!« rief der Konsul beinahe laut und mäßigte
546
dann seine Stimme mit einem Blick nach dem Speisesaal. »Es ist seine
547
Schuld, dies traurige Verhältnis! Urteilen Sie selbst! Warum konnte er
548
nicht vernünftig sein! Warum mußte er diese Demoiselle Stüwing heiraten
549
und den ... Laden ...« Der Konsul lachte ärgerlich und verlegen bei
550
diesem Worte. »Es ist eine Schwäche, Vaters Widerwille gegen den Laden;
551
aber Gotthold hätte diese kleine Eitelkeit respektieren müssen ...«
553
»Ach, Jean, das beste wäre, Papa gäbe nach!«
555
»Aber kann ich denn dazu raten?« flüsterte der Konsul mit einer erregten
556
Handbewegung nach der Stirn. »Ich bin persönlich interessiert, und
557
deshalb müßte ich sagen: Vater, bezahle. Aber ich bin auch Associé, ich
558
habe die Interessen der Firma zu vertreten, und wenn Papa nicht glaubt,
559
einem ungehorsamen und rebellischen Sohn gegenüber die Verpflichtung zu
560
haben, dem Betriebskapital die Summe zu entziehen ... Es handelt sich um
561
mehr als elftausend Kuranttaler. Das ist gutes Geld ... Nein, nein, ich
562
kann nicht zuraten ... aber auch nicht abraten. Ich will nichts davon
563
wissen. Nur die Szene mit Papa ist mir _désagréable_ ...«
565
»Abends spät, Jean. Komm nun, man wartet ...«
567
Der Konsul barg das Papier in der Brusttasche, bot seiner Mutter den
568
Arm, und nebeneinander überschritten sie die Schwelle zum
569
hellerleuchteten Speisesaal, wo die Gesellschaft mit der Placierung um
570
die lange Tafel soeben fertiggeworden war.
572
Aus dem himmelblauen Hintergrund der Tapeten traten zwischen schlanken
573
Säulen weiße Götterbilder fast plastisch hervor. Die schweren roten
574
Fenstervorhänge waren geschlossen, und in jedem Winkel des Zimmers
575
brannten auf einem hohen, vergoldeten Kandelaber acht Kerzen, abgesehen
576
von denen, die in silbernen Armleuchtern auf der Tafel standen. Über
577
dem massigen Büfett, dem Landschaftszimmer gegenüber, hing ein
578
umfangreiches Gemälde, ein italienischer Golf, dessen blaudunstiger Ton
579
in dieser Beleuchtung außerordentlich wirksam war. Mächtige,
580
steiflehnige Sofas in rotem Damast standen an den Wänden.
582
Es war jede Spur von Besorgnis und Unruhe aus dem Gesicht Madame
583
Buddenbrooks verschwunden, als sie sich, zwischen dem alten Kröger, der
584
an der Fensterseite präsidierte, und Pastor Wunderlich niederließ.
586
»_Bon appétit!_« sagte sie mit ihrem kurzen, raschen, herzlichen
587
Kopfnicken, indem sie einen schnellen Blick über die ganze Tafel bis zu
588
den Kindern hinuntergleiten ließ ...
593
»Wie gesagt, alle Achtung, Buddenbrook!« übertönte die wuchtige Stimme
594
des Herrn Köppen das allgemeine Gespräch, als das Folgmädchen mit den
595
nackten, roten Armen, dem dicken, gestreiften Rock, unter der kleinen
596
weißen Mütze auf dem Hinterkopf, unter Beihilfe Mamsell Jungmanns und
597
des Mädchens der Konsulin von oben, die heiße Kräutersuppe nebst
598
geröstetem Brot serviert hatte und man anfing, behutsam zu löffeln.
600
»Alle Achtung! Diese Weitläufigkeit, diese Noblesse ... ich muß sagen,
601
hier läßt sich leben, muß ich sagen ...« Herr Köppen hatte bei den
602
früheren Besitzern des Hauses nicht verkehrt; er war noch nicht lange
603
reich, stammte nicht gerade aus einer Patrizierfamilie und konnte sich
604
einiger Dialektschwächen, wie die Wiederholung von »muß ich sagen«,
605
leider noch nicht entwöhnen. Außerdem sagte er »Achung« statt »Achtung«.
607
»Hat auch gar kein Geld gekostet«, bemerkte trocken Herr Grätjens, der
608
es wissen mußte, und betrachtete durch die hohle Hand eingehend den
611
Man hatte so weit wie möglich bunte Reihe gemacht und die Kette der
612
Verwandten durch Hausfreunde unterbrochen. Streng aber war dies nicht
613
durchzuführen gewesen, und die alten Oeverdiecks saßen einander wie
614
gewöhnlich fast auf dem Schoße, sich innig zunickend. Der alte Kröger
615
aber thronte hoch und gerade zwischen der Senatorin Langhals und Madame
616
Antoinette und verteilte seine Handbewegungen und seine reservierten
617
Scherze an die beiden Damen.
619
»Wann ist das Haus noch gebaut worden?« fragte Herr Hoffstede schräg
620
über den Tisch hinüber den alten Buddenbrook, der sich in jovialem und
621
etwas spöttischem Tone mit Madame Köppen unterhielt.
623
»_Anno_ ... warte mal ... Um 1680, wenn ich nicht irre. Mein Sohn weiß
624
übrigens besser mit solchen Daten Bescheid ...«
626
»Zweiundachtzig«, bestätigte, sich vorbeugend, der Konsul, der weiter
627
unten, ohne eine Tischdame, neben Senator Langhals seinen Platz hatte.
628
»1682, im Winter, ist es fertig geworden. Mit Ratenkamp & Komp. fing es
629
damals an, aufs glänzendste bergauf zu gehen ... Traurig, dieses Sinken
630
der Firma in den letzten zwanzig Jahren ...«
632
Ein allgemeiner Stillstand des Gespräches trat ein und dauerte eine
633
halbe Minute. Man blickte in seinen Teller und gedachte dieser ehemals
634
so glänzenden Familie, die das Haus erbaut und bewohnt hatte und die
635
verarmt, heruntergekommen, davongezogen war ...
637
»Tja, traurig«, sagte der Makler Grätjens; »wenn man bedenkt, welcher
638
Wahnsinn den Ruin herbeiführte ... Wenn Dietrich Ratenkamp damals nicht
639
diesen Geelmaack zum Kompagnon genommen hätte! Ich habe, weiß Gott, die
640
Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als der anfing zu wirtschaften.
641
Ich weiß es aus bester Quelle, meine Herrschaften, wie greulich der
642
hinter Ratenkamps Rücken spekuliert und Wechsel hier und Akzepte dort
643
auf Namen der Firma gegeben hat ... Schließlich war es aus ... Da waren
644
die Banken mißtrauisch, da fehlte die Deckung ... Sie haben keine
645
Vorstellung ... Wer hat auch nur das Lager kontrolliert? Geelmaack
646
vielleicht? Sie haben da wie die Ratten gehaust, jahraus, jahrein! Aber
647
Ratenkamp kümmerte sich um nichts ...«
649
»Er war wie gelähmt«, sagte der Konsul. Sein Gesicht hatte einen
650
düsteren und verschlossenen Ausdruck angenommen. Er bewegte,
651
vornübergebeugt, den Löffel in seiner Suppe und ließ dann und wann
652
einen kurzen Blick seiner kleinen, runden, tiefliegenden Augen zum
653
oberen Tischende hinaufschweifen.
655
»Er ging wie unter einem Drucke einher, und ich glaube, man kann diesen
656
Druck begreifen. Was veranlaßte ihn, sich mit Geelmaack zu verbinden,
657
der bitterwenig Kapital hinzubrachte, und dem niemand den besten Leumund
658
machte? Er muß das Bedürfnis empfunden haben, einen Teil der furchtbaren
659
Verantwortlichkeit auf irgend jemanden abzuwälzen, weil er fühlte, daß
660
es unaufhaltsam zu Ende ging ... Diese Firma hatte abgewirtschaftet,
661
diese alte Familie war _passée_. Wilhelm Geelmaack hat sicherlich nur
662
den letzten Anstoß zum Ruin gegeben ...«
664
»Sie sind also der Ansicht, werter Herr Konsul«, sagte Pastor Wunderlich
665
mit bedächtigem Lächeln und schenkte seiner Dame und sich selbst Rotwein
666
ins Glas, »daß auch ohne den Hinzutritt des Geelmaack und seines wilden
667
Gebarens alles gekommen wäre, wie es gekommen ist?«
669
»Das wohl nicht«, sagte der Konsul gedankenvoll und ohne sich an eine
670
bestimmte Person zu wenden. »Aber ich glaube, daß Dietrich Ratenkamp
671
sich notwendig und unvermeidlich mit Geelmaack verbinden mußte, damit
672
das Schicksal erfüllt würde ... Er muß unter dem Druck einer
673
unerbittlichen Notwendigkeit gehandelt haben ... Ach, ich bin überzeugt,
674
daß er das Treiben seines Associés halb und halb gekannt hat, daß er
675
auch über die Zustände in seinem Lager nicht so vollständig unwissend
676
war. Aber er war erstarrt ...«
678
»Na, _assez_, Jean«, sagte der alte Buddenbrook und legte seinen Löffel
679
aus der Hand. »Das ist so eine von deinen _idées_ ...«
681
Der Konsul hob mit einem zerstreuten Lächeln sein Glas seinem Vater
682
entgegen. Lebrecht Kröger aber sprach:
684
»Nein, halten wir es nun mit der fröhlichen Gegenwart!«
686
Er faßte dabei vorsichtig und elegant den Hals seiner Weißwein-Bouteille,
687
auf deren Pfropfen ein kleiner silberner Hirsch stand, legte sie ein
688
wenig auf die Seite und prüfte aufmerksam die Etikette. »C. F. Köppen«,
689
las er und nickte dem Weinhändler zu; »ach ja, was wären wir ohne Sie!«
691
Die Meißener Teller mit Goldrand wurden gewechselt, wobei Madame
692
Antoinette die Bewegungen der Mädchen scharf beobachtete, und Mamsell
693
Jungmann rief Anordnungen in den Schalltrichter des Sprachrohres hinein,
694
das den Eßsaal mit der Küche verband. Es wurde der Fisch herumgereicht,
695
und während Pastor Wunderlich sich mit Vorsicht bediente, sagte er:
697
»Diese fröhliche Gegenwart ist immerhin nicht so ganz selbstverständlich.
698
Die jungen Leute, die sich hier jetzt mit uns Alten freuen, denken wohl
699
nicht daran, daß es jemals anders gewesen sein könnte ... Ich darf
700
sagen, daß ich an den Schicksalen unserer Buddenbrooks nicht selten
701
persönlichen Anteil genommen habe ... Immer wenn ich diese Dinge vor
702
Augen habe« -- und er wandte sich an Madame Antoinette, indem er einen
703
der schweren silbernen Löffel vom Tische nahm --, »muß ich denken, ob
704
sie nicht zu den Stücken gehören, die _anno_ sechs unser Freund, der
705
Philosoph Lenoir, Sergeant Seiner Majestät des Kaisers Napoleon, in
706
Händen hatte ... und erinnere mich unserer Begegnung in der Alfstraße,
709
Madame Buddenbrook blickte mit einem halb verlegenen, halb
710
erinnerungsschweren Lächeln vor sich nieder. Tom und Tony, dort unten,
711
die keinen Fisch essen mochten und dem Gespräch der großen Leute
712
aufmerksam gefolgt waren, riefen beinahe einstimmig herauf: »Ach ja,
713
erzählen Sie, Großmama!« Aber der Pastor, der wußte, daß sie es nicht
714
liebte, von diesem für sie ein wenig peinlichen Vorfall selbst zu
715
berichten, begann statt ihrer noch einmal mit der alten kleinen
716
Geschichte, auf welche die Kinder gern zum hundertsten Male gehorcht
717
hätten, und die vielleicht einem oder dem anderen noch unbekannt war ...
719
»Kurz und gut, man figuriere sich: Es ist ein Novembernachmittag, kalt
720
und regnicht, daß Gott erbarm', ich komme von einem Amtsgeschäft die
721
Alfstraße hinauf und denke der schlimmen Zeiten. Fürst Blücher war fort,
722
die Franzosen waren in der Stadt, aber von der herrschenden Erregung
723
merkte man wenig. Die Straßen lagen still, die Leute saßen in ihren
724
Häusern und hüteten sich. Schlachtermeister Prahl, der mit den Händen in
725
den Hosentaschen vor seiner Tür gestanden und mit seiner dröhnendsten
726
Stimme gesagt hatte: `Dat is je denn doch woll zu arg, is dat je denn
727
doch woll --!´ war einfach, bautz, vor den Kopf geknallt worden ...
728
Nun, ich denke: Du willst einmal zu Buddenbrooks hineinsehen, ein
729
Zuspruch könnte willkommen sein; der Mann liegt mit der Kopfrose, und
730
Madame wird mit der Einquartierung zu schaffen haben.«
732
»Da, im nämlichen Moment, wen sehe ich mir entgegenkommen? Unsere
733
allverehrte Madame Buddenbrook. Allein in welcher Verfassung? Sie eilt
734
ohne Hut durch den Regen, sie hat kaum einen Schal um die Schultern
735
geworfen, sie stürzt mehr als sie geht, und ihre _coiffure_ ist eine
736
komplette Wirrnis ... Nein, das ist wahr, Madame! es war kaum noch die
737
Rede von einer _coiffure_.«
739
»`Welch angenehme _surprise_!´ sage ich und erlaube mir, sie, die mich
740
gar nicht sieht, am Ärmel zu halten, denn mir schwant nichts Gutes ...
741
`Wohin doch so schnell, meine Liebe?´ Sie bemerkt mich, sie blickt mich
742
an, sie stößt hervor: `Sind Sie's ... leben Sie wohl! Alles ist zu Ende!
743
Ich gehe hinunter in die Trave!´«
745
»`Behüte!´ sage ich und fühle, wie ich weiß werde. `Das ist der Ort
746
nicht für Sie, meine Liebe! Was ist aber passiert?´ Und ich halte sie so
747
fest, als der Respekt es zuläßt. `Was passiert ist?´ ruft sie und
748
zittert. `Sie sind über dem Silberzeug, Wunderlich! Das ist passiert!
749
Und Jean liegt mit der Kopfrose und kann mir nicht helfen! Und er könnte
750
auch nicht helfen, wäre er auf den Beinen! Sie stehlen meine Löffel,
751
meine silbernen Löffel, das ist passiert, Wunderlich, und ich gehe in
754
»Nun, ich halte unsere Freundin, ich sage was man sagt in solchen
755
Fällen, `Courage´, sage ich, `Liebste!´ und `Alles wird gut werden!´ und
756
`Wir wollen reden mit den Leuten, fassen Sie sich, ich beschwöre Sie,
757
und gehen wir!´ Und ich führe sie die Straße hinauf in ihr Haus. Im
758
Eßzimmer droben finden wir die Miliz, wie Madame sie verlassen, an die
759
zwanzig Mann hoch, die sich mit der großen Truhe abgeben, wo das
762
»`Mit wem von Ihnen kann ich Rücksprache nehmen´, frage ich höflich,
763
`meine Herren?´ Nun, man fängt an zu lachen und ruft: `Mit uns allen,
764
Papa!´ Dann aber tritt einer vor und präsentiert sich, ein Mensch, der
765
lang ist wie ein Baum, mit einem schwarz gewichsten Schnauzbart und
766
großen roten Händen, die aus den betreßten Aufschlägen heraussehen.
767
`Lenoir´, sagt er und salutiert mit der Linken, denn in der Rechten
768
hält er ein Bündel von fünf oder sechs silbernen Löffeln, `Lenoir,
769
Sergeant. Was wünscht der Herr?´«
771
»`Herr Offizier!´ sage ich und ziele auf den _point d'honneur_. `Sollte
772
die Beschäftigung mit diesen Dingen sich mit Ihrer glänzenden Charge
773
vereinbaren?... Die Stadt hat sich dem Kaiser nicht verschlossen ...´ --
774
`Was wollen Sie?´ antwortet er. `Das ist der Krieg! Die Leute benötigen
775
dergleichen Geschirr ...´«
777
»`Sie sollten Rücksicht nehmen´, unterbrach ich ihn, denn mir kommt ein
778
Gedanke. `Diese Dame´, sage ich, denn was sagt man nicht in solcher
779
Lage, `die Herrin des Hauses, sie ist nicht etwa eine Deutsche, sie ist
780
beinahe Ihre Landsmännin, sie ist eine Französin ...´ -- `Wie, eine
781
Französin?´ wiederholt er. Und was glauben Sie, daß dieser lange
782
Haudegen hinzufügt? -- `Eine Emigrantin also?´ sagt er. `Aber dann ist
783
sie eine Feindin der Philosophie!´«
785
»Ich bin baff, aber ich verschlucke mein Lachen. `Sie sind´, sage ich,
786
`ein Mann von Kopf, wie ich sehe. Ich wiederhole, daß es mir Ihrer nicht
787
würdig scheint, sich mit diesen Dingen zu befassen!´ -- Er schweigt
788
einen Augenblick; dann aber, plötzlich, wird er rot, er wirft seine
789
sechs Löffel in die Truhe und ruft: `Aber wer sagt Ihnen denn, daß ich
790
etwas anderes mit diesen Dingen beabsichtigte, als sie ein wenig zu
791
betrachten?! Hübsche Sachen, das! Wenn einer oder der andere der Leute
792
ein Stück als Souvenir mit sich nehmen sollte ...´«
794
»Nun, sie haben immerhin noch genug Souvenirs mit sich genommen, da half
795
keine Berufung auf menschliche oder göttliche Gerechtigkeit ... Sie
796
kannten wohl keinen anderen Gott, als diesen fürchterlichen kleinen
802
»Sie haben ihn gesehen, Herr Pastor?« --
804
Die Teller wurden aufs neue gewechselt. Ein kolossaler, ziegelroter,
805
panierter Schinken erschien, geräuchert, gekocht, nebst brauner,
806
säuerlicher Chalottensauce, und solchen Mengen von Gemüsen, daß alle
807
aus einer einzigen Schüssel sich hätten sättigen können. Lebrecht Kröger
808
übernahm das Tranchieren. Die Ellenbogen in legerer Weise erhoben, die
809
langen Zeigefinger gerade auf den Rücken von Messer und Gabel
810
ausgestreckt, schnitt er mit Bedacht die saftigen Stücke hinunter. Auch
811
das Meisterwerk der Konsulin Buddenbrook, der »Russische Topf«, ein
812
prickelnd und spirituös schmeckendes Gemisch konservierter Früchte,
815
Nein, Pastor Wunderlich bedauerte, Bonaparte niemals zu Gesichte
816
bekommen zu haben. Der alte Buddenbrook aber sowohl wie Jean Jacques
817
Hoffstede hatten ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen; ersterer zu
818
Paris, unmittelbar vor der russischen Kampagne, gelegentlich einer
819
Parade im Schloßhofe der Tuilerien, letzterer zu Danzig ...
821
»Gott, nein, er sah nicht gemütlich aus«, sagte er, indem er einen
822
Bissen von Schinken, Rosenkohl und Kartoffel, den er auf seiner Gabel
823
komponiert, mit erhobenen Brauen in den Mund schob. Ȇbrigens soll er
824
sich ganz heiter benommen haben, in Danzig. Man erzählte sich damals
825
einen Scherz ... Er hasardierte den ganzen Tag mit den Deutschen, und
826
zwar nicht eben harmlos, abends aber spielte er mit seinen Generälen.
827
`_N'est-ce pas, Rapp_´, sagte er, und griff eine Handvoll Gold vom
828
Tische, `_les Allemands aiment beaucoup ces petits Napoléons?_´ --
829
`_Oui, Sire, plus que le Grand!_´ antwortete Rapp ...«
831
In der allgemeinen Heiterkeit, die laut wurde -- denn Hoffstede hatte
832
die Anekdote hübsch erzählt und sogar ein wenig das Mienenspiel des
833
Kaisers markiert --, sagte der alte Buddenbrook:
835
»Na, ungescherzt, allen Respekt übrigens vor seiner persönlichen
836
Großheit ... Was für eine Natur!«
838
Der Konsul schüttelte ernsthaft den Kopf.
840
»Nein, nein, wir Jüngeren verstehen nicht mehr die Verehrungswürdigkeit
841
des Mannes, der den Herzog von Enghien ermordete, der in Ägypten die
842
achthundert Gefangenen niedermetzelte ...«
844
»Das alles ist möglicherweise übertrieben und gefälscht«, sagte Pastor
845
Wunderlich. »Der Herzog mag ein leichtsinniger und aufrührerischer Herr
846
gewesen sein, und was die Gefangenen betrifft, so war ihre Exekution
847
wahrscheinlich der wohlerwogene und notwendige Beschluß eines korrekten
848
Kriegsrates ...« Und er erzählte von einem Buche, das vor einigen Jahren
849
erschienen war, und das er gelesen hatte, das Werk eines Sekretärs des
850
Kaisers, das volle Aufmerksamkeit verdiene ...
852
»Gleichviel«, beharrte der Konsul, indem er eine Kerze putzte, die im
853
Armleuchter vor ihm flackerte. »Ich begreife es nicht, ich begreife
854
nicht die Bewunderung für diesen Unmenschen! Als christlicher Mann, als
855
Mensch von religiösem Empfinden finde ich in meinem Herzen keinen Raum
856
für ein solches Gefühl.«
858
Sein Gesicht hatte einen stillen und schwärmerischen Ausdruck
859
angenommen, ja, er hatte sogar den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt
860
-- während es wahrhaftig aussah, als ob sein Vater und Pastor Wunderlich
861
einander ganz leise zulächelten.
863
»Ja, ja«, schmunzelte Johann Buddenbrook, »aber die kleinen Napoléons
864
waren nicht übel, was? Mein Sohn schwärmt mehr für Louis Philipp«, fügte
867
»Schwärmt?« wiederholte Jean Jacques Hoffstede ein bißchen mokant ...
868
»Eine kuriose Zusammenstellung! Philipp Egalité und schwärmen ...«
870
»Nun, mich dünkt, daß wir von der Juli-Monarchie bei Gott eine Menge zu
871
lernen haben ...« Der Konsul sprach ernst und eifrig. »Das freundliche
872
und hilfreiche Verhältnis des französischen Konstitutionalismus zu den
873
neuen praktischen Idealen und Interessen der Zeit ... ist etwas so
874
überaus Dankenswertes ...«
876
»Praktische Ideale ... na, ja ...« Der alte Buddenbrook spielte während
877
einer Pause, die er seinen Kinnladen gönnte, mit seiner goldenen Dose.
878
»Praktische Ideale ... ne, ich bin da gar nich für!« Er verfiel vor
879
Verdruß in den Dialekt. »Da schießen nun die gewerblichen Anstalten und
880
die technischen Anstalten und die Handelsschulen aus der Erde, und das
881
Gymnasium und die klassische Bildung sind plötzlich Bêtisen, und alle
882
Welt denkt an nichts, als Bergwerke ... und Industrie ... und
883
Geldverdienen ... Brav, das alles, höchst brav! Aber ein bißchen
884
stüpide, von der anderen Seite, so auf die Dauer -- wie? Ich weiß nicht,
885
warum es mir ein Affront ist ... ich habe nichts gesagt, Jean ... die
886
Juli-Monarchie ist eine gute Sache ...«
888
Senator Langhals aber sowohl wie Grätjens und Köppen standen dem Konsul
889
zur Seite ... Ja, wahrhaftig, vor der französischen Regierung und den
890
gleichartigen Bestrebungen in Deutschland müsse man die größte Achtung
891
haben ... Herr Köppen sagte wieder »Achung«. -- Er war noch viel röter
892
geworden während des Speisens und schnob vernehmlich; Pastor Wunderlichs
893
Gesicht aber blieb weiß, fein und aufgeweckt, obgleich er in aller
894
Behaglichkeit ein Glas nach dem anderen trank.
896
Die Kerzen brannten langsam, langsam hinunter und ließen dann und wann,
897
wenn ihre Flammen im Luftzuge zur Seite flackerten, einen feinen
898
Wachsgeruch über die Tafel hinwehen.
900
Man saß auf hochlehnigen, schweren Stühlen, speiste mit schwerem
901
Silbergerät schwere, gute Sachen, trank schwere, gute Weine dazu und
902
sagte seine Meinung. Man war bald bei den Geschäften und verfiel
903
unwillkürlich mehr und mehr dabei in den Dialekt, in diese behaglich
904
schwerfällige Ausdrucksweise, die kaufmännische Kürze sowohl wie
905
wohlhabende Nachlässigkeit an sich zu haben schien, und die hie und da
906
mit gutmütiger Selbstironie übertrieben wurde. Man sagte nicht: »an der
907
Börse«, man sagte ganz einfach: »an Börse« ..., wobei man zum Überfluß
908
das r wie ein kurzes ä aussprach und ein wohlgefälliges Gesicht dazu
911
Die Damen waren dem Disput nicht lange gefolgt. Madame Kröger führte
912
ihnen das Wort, indem sie in der appetitlichsten Art die beste Manier
913
auseinandersetzte, Karpfen in Rotwein zu kochen ... »Wenn sie in
914
ordentliche Stücken zerschnitten sind, Liebe, dann mit Zwiebeln und
915
Nelken und Zwieback in die Kasserolle, und dann kriegen Sie sie mit
916
etwas Zucker und einem Löffel Butter zu Feuer ... Aber nicht waschen,
917
Liebste, alles Blut mitnehmen, um Gottes willen ...«
919
Der alte Kröger ließ die angenehmsten Scherze einfließen. Konsul Justus,
920
sein Sohn, aber, der neben Doktor Grabow weiter unten in der Nähe der
921
Kinder saß, hatte mit Mamsell Jungmann ein neckisches Gespräch
922
angeknüpft; sie kniff ihre braunen Augen zusammen und hielt nach ihrer
923
Gewohnheit Messer und Gabel gerade empor, indem sie sie leicht hin und
924
her bewegte. Selbst Oeverdiecks waren ganz laut und lebendig geworden.
925
Die alte Konsulin hatte ein neues Kosewort für ihren Gatten erfunden:
926
»Du gutes Schnuckeltier!« sagte sie und schüttelte ihre Haube vor
929
Das Gespräch floß in einen Gegenstand zusammen, als Jean Jacques
930
Hoffstede auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam, auf die italienische
931
Reise, die er vor fünfzehn Jahren mit einem reichen Hamburger Verwandten
932
gemacht hatte. Er erzählte von Venedig, Rom und dem Vesuv, er sprach von
933
der Villa Borghese, wo der verstorbene Goethe einen Teil seines Faust
934
geschrieben habe, er schwärmte von Renaissance-Brunnen, die Kühlung
935
spendeten, von wohlbeschnittenen Alleen, in denen es sich so angenehm
936
lustwandeln lasse, und jemand erwähnte des großen, verwilderten Gartens,
937
den Buddenbrooks gleich hinter dem Burgtore besaßen ...
939
»Ja, meiner Treu!« sagte der Alte. »Ich ärgere mich noch immer, daß ich
940
mich seinerzeit nicht resolvieren konnte, ihn ein bißchen menschlich
941
herrichten zu lassen! Ich bin kürzlich mal wieder hindurch gegangen --
942
es ist eine Schande, dieser Urwald! Welch nett Besitztum, wenn das Gras
943
gepflegt, die Bäume hübsch kegel- und würfelförmig beschnitten
946
Der Konsul aber protestierte mit Eifer.
948
»Um Gottes willen, Papa --! Ich ergehe mich Sommers dort gern im
949
Gestrüpp; aber alles wäre mir verdorben, wenn die schöne, freie Natur so
950
kläglich zusammengeschnitten wäre ...«
952
»Aber wenn die freie Natur doch mir gehört, habe ich da zum Kuckuck
953
nicht das Recht, sie nach meinem Belieben herzurichten ...«
955
»Ach Vater, wenn ich dort im hohen Grase unter dem wuchernden Gebüsch
956
liege, ist es mir eher, als gehörte ich der Natur und als hätte ich
957
nicht das mindeste Recht über sie ...«
959
»Krischan, freet mi nich tau veel«, rief plötzlich der alte Buddenbrook,
960
»Thilda, der schadt es nichts ... packt ein wie söben Drescher, die
963
Und wahrhaftig, es war zum Erstaunen, welche Fähigkeiten dieses stille,
964
magere Kind mit dem langen, ältlichen Gesicht beim Essen entwickelte.
965
Sie hatte auf die Frage, ob sie zum zweiten Male Suppe wünsche, gedehnt
966
und demütig geantwortet: »J--a-- bit--te!« Sie hatte sich vom Fisch wie
967
vom Schinken zweimal je zwei der größten Stücke nebst starken Haufen
968
von Zutaten gewählt, sorgsam und kurzsichtig über den Teller gebeugt,
969
und sie verzehrte alles, ohne Überhastung, still und in großen Bissen.
970
Auf die Worte des alten Hausherrn antwortete sie nur langgezogen,
971
freundlich, verwundert und einfältig: »Gott -- On--k--el--?« Sie ließ
972
sich nicht einschüchtern, sie aß, ob es auch nicht anschlug und ob man
973
sie verspottete, mit dem instinktmäßig ausbeutenden Appetit der armen
974
Verwandten am reichen Freitische, lächelte unempfindlich und bedeckte
975
ihren Teller mit guten Dingen, geduldig, zäh, hungrig und mager.
980
Nun kam, in zwei großen Kristallschüsseln, der »Plettenpudding«, ein
981
schichtweises Gemisch aus Makronen, Himbeeren, Biskuits und Eiercreme;
982
am unteren Tischende aber begann es aufzuflammen, denn die Kinder hatten
983
ihren Lieblings-Nachtisch, den brennenden Plumpudding bekommen.
985
»Thomas, mein Sohn, sei mal so gut«, sprach Johann Buddenbrook und zog
986
sein großes Schlüsselbund aus der Beinkleidtasche. »Im zweiten Keller
987
rechts, das zweite Fach, hinter dem roten Bordeaux, zwei Bouteillen,
988
du?« Und Thomas, der sich auf solche Aufträge verstand, lief fort und
989
kam wieder mit den ganz verstaubten und umsponnenen Flaschen. Kaum aber
990
war aus dieser unscheinbaren Hülle der goldgelbe, traubensüße alte
991
Malvasier in die kleinen Dessertweingläser geflossen, als der Augenblick
992
gekommen war, da Pastor Wunderlich sich erhob und, während das Gespräch
993
verstummte, das Glas in der Hand, in angenehmen Wendungen zu toasten
994
begann. Er sprach, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, ein feines und
995
spaßhaftes Lächeln auf seinem weißen Gesicht und die freie Hand in
996
zierlichen kleinen Gesten bewegend, in dem freien und behaglichen
997
Plauderton, den er auch auf der Kanzel innezuhalten liebte ... »Und
998
wohlan, so lassen Sie sich denn belieben, meine wackeren Freunde, ein
999
Glas dieses artigen Tropfens mit mir zu leeren auf die Wohlfahrt unserer
1000
vielgeehrten Wirte in ihrem neuen, so prächtigen Heim, -- auf die
1001
Wohlfahrt der Familie Buddenbrook, der anwesenden sowohl wie der
1002
abwesenden Mitglieder ... vivant hoch!«
1004
»Die abwesenden Mitglieder?« dachte der Konsul, während er sich vor den
1005
Gläsern verbeugte, die man ihm entgegenhob. »Sind damit nur die in
1006
Frankfurt und vielleicht die Duchamps in Hamburg gemeint, oder hat der
1007
alte Wunderlich seine Hintergedanken ...?« Er stand auf, um sein Glas an
1008
das seines Vaters klingen zu lassen, indem er ihm herzlich in die Augen
1011
Nun aber kam der Makler Grätjens von seinem Stuhle empor, und das nahm
1012
Zeit in Anspruch; als er aber ein Ende genommen hatte, da widmete er mit
1013
seiner etwas kreischenden Stimme ein Glas der Firma Johann Buddenbrook
1014
und ihrem ferneren Wachsen, Blühen und Gedeihen, zur Ehre der Stadt.
1016
Und Johann Buddenbrook dankte für alle die freundlichen Worte, als
1017
Oberhaupt der Familie zum ersten und als älterer Chef des Handelshauses
1018
zum zweiten -- und schickte Thomas nach einer dritten Bouteille
1019
Malvasier, denn die Berechnung hatte sich als falsch erwiesen, daß zwei
1022
Auch Lebrecht Kröger sprach. Er erlaubte sich, sitzen zu bleiben dabei,
1023
weil das einen noch kulanteren Eindruck machte, und nur aufs gefälligste
1024
mit Kopf und Händen zu gestikulieren, während er seinen Trinkspruch den
1025
beiden Damen des Hauses, Mme. Antoinette und der Konsulin, gelten ließ.
1027
Als er aber geendet, als der Plettenpudding schon beinahe verspeist war
1028
und der Malvasier zur Neige ging, da erhob sich langsam, mit einem
1029
Räuspern und unter einem allgemeinen »Ah!« Herr Jean Jacques Hoffstede
1030
... die Kinder, da unten, applaudierten geradezu vor Freude.
1032
»Ja, _excusez_! ich konnte nicht umhin ...« sprach er, wobei er leicht
1033
seine spitze Nase berührte und ein Papier aus der Rocktasche zog ... Ein
1034
tiefes Stillschweigen verbreitete sich im Saale.
1036
Das Blatt, das er in Händen hielt, war allerliebst kunterbunt, und von
1037
einem Oval, das auf der Außenseite von roten Blumen und vielen goldenen
1038
Schnörkeln gebildet ward, verlas er die Worte:
1040
»Gelegentlich der freundschaftlichen Teilnahme an dem frohen
1041
Einweihungsfeste des neuerworbenen Hauses mit der Familie
1042
Buddenbrook. Oktober 1835.«
1044
Und dann wendete er und begann mit seiner schon etwas zitternden Stimme:
1046
Hochverehrte! -- Nicht versäumen
1047
Darf es mein bescheiden Lied,
1048
Euch zu nah'n in diesen Räumen,
1049
Die der Himmel euch beschied.
1051
Dir soll's, Freund im Silberhaare,
1052
Und der würd'gen Gattin dein,
1053
Eurer Kinder trautem Paare,
1054
Freudevoll gewidmet sein!
1056
Tüchtigkeit und zücht'ge Schöne
1057
Sich vor unserem Blick verband, --
1059
Und Vulcani fleiß'ge Hand.
1061
Keine trübe Zukunft störe
1062
Eures Lebens Fröhlichkeit,
1063
Jeder neue Tag gewähre
1064
Euch stets neue Seligkeit.
1066
Freuen, ja unendlich freuen
1067
Wird mich euer künftig Glück.
1068
Ob ich oft den Wunsch erneuen
1069
Werde, sagt euch itzt mein Blick.
1071
Lebet wohl im prächt'gen Hause
1072
Und behaltet wert und lieb
1073
Den, der in geringer Klause
1074
Heute diese Zeilen schrieb! --
1076
Er verbeugte sich, und ein einmütiger, begeisterter Beifall brach los.
1078
»Charmant, Hoffstede!« rief der alte Buddenbrook. »Dein Wohl! Nein, das
1081
Als aber die Konsulin mit dem Dichter trank, färbte ein ganz feines Rot
1082
ihren zarten Teint, denn sie hatte wohl die artige Reverenz bemerkt, die
1083
er bei der »Venus Anadyomene« nach ihrer Seite vollführt hatte ...
1088
Die allgemeine Munterkeit hatte nun ihren Gipfel erreicht, und Herr
1089
Köppen verspürte das deutliche Bedürfnis, ein paar Knöpfe seiner Weste
1090
zu öffnen; aber das ging wohl leider nicht an, denn nicht einmal die
1091
alten Herren erlaubten sich dergleichen. Lebrecht Kröger saß noch genau
1092
so aufrecht an seinem Platze, wie zu Beginn der Mahlzeit, Pastor
1093
Wunderlich blieb weiß und formgewandt, der alte Buddenbrook hatte sich
1094
zwar ein bißchen zurückgelegt, wahrte aber den feinsten Anstand, und nur
1095
Justus Kröger war ersichtlich ein wenig betrunken.
1097
Wo war Doktor Grabow? Die Konsulin erhob sich ganz unauffällig und ging
1098
davon, denn dort unten waren die Plätze von Mamsell Jungmann, Doktor
1099
Grabow und Christian freigeworden, und aus der Säulenhalle klang es
1100
beinahe wie unterdrücktes Jammern. Sie verließ schnell hinter dem
1101
Folgmädchen, das Butter, Käse und Früchte serviert hatte, den Saal --
1102
und wahrhaftig, dort im Halbdunkel, auf der runden Polsterbank, die sich
1103
um die mittlere Säule zog, saß, lag oder kauerte der kleine Christian
1104
und ächzte leise und herzbrechend.
1106
»Ach Gott, Madamchen!« sagte Ida, die mit dem Doktor bei ihm stand,
1107
»Christian, dem Jungchen, ist gar so schlecht ...«
1109
»Mir ist übel, Mama, mir ist =verdammt= übel!« wimmerte Christian,
1110
während seine runden tiefliegenden Augen über der allzugroßen Nase
1111
unruhig hin und her gingen. Er hatte das »verdammt« nur aus übergroßer
1112
Verzweiflung hervorgestoßen, die Konsulin aber sagte:
1114
»Wenn wir solche Worte gebrauchen, straft uns der liebe Gott mit noch
1117
Doktor Grabow fühlte den Puls; sein gutes Gesicht schien noch länger und
1118
milder geworden zu sein.
1120
»Eine kleine Indigestion ... nichts von Bedeutung, -- Frau Konsulin!«
1121
tröstete er. Und dann fuhr er in seinem langsamen, pedantischen Amtstone
1122
fort: »Es dürfte das beste sein, ihn zu Bette zu bringen ... ein bißchen
1123
Kinderpulver, vielleicht ein Täßchen Kamillentee zum Transpirieren ...
1124
Und strenge Diät, -- Frau Konsulin? Wie gesagt, strenge Diät. Ein wenig
1125
Taube, -- ein wenig Franzbrot ...«
1127
»Ich will keine Taube!« rief Christian außer sich. »Ich will nie--mals
1128
wieder etwas essen! Mir ist übel, mir ist =verdammt= übel!« Das starke
1129
Wort schien ihm geradezu Linderung zu bereiten, mit solcher Inbrunst
1132
Doktor Grabow lächelte vor sich hin, mit einem nachsichtigen und beinahe
1133
etwas schwermütigem Lächeln. Oh, er würde schon wieder essen, der junge
1134
Mann! Er würde leben wie alle Welt. Er würde, wie seine Väter,
1135
Verwandten und Bekannten, seine Tage sitzend verbringen und viermal
1136
inzwischen so ausgesucht schwere und gute Dinge verzehren ... Nun, Gott
1137
befohlen! Er, Friedrich Grabow, war nicht derjenige, welcher die
1138
Lebensgewohnheiten aller dieser braven, wohlhabenden und behaglichen
1139
Kaufmannsfamilien umstürzen würde. Er würde kommen, wenn er gerufen
1140
würde, und für einen oder zwei Tage strenge Diät empfehlen, -- ein wenig
1141
Taube, ein Scheibchen Franzbrot ... ja, ja -- und mit gutem Gewissen
1142
versichern, daß es für diesmal nichts zu bedeuten habe. Er hatte, so
1143
jung er war, die Hand manches wackeren Bürgers in der seinen gehalten,
1144
der seine letzte Keule Rauchfleisch, seinen letzten gefüllten Puter
1145
verzehrt hatte und, sei es plötzlich und überrascht in seinem
1146
Kontorsessel oder nach einigem Leiden in seinem soliden alten Bett, sich
1147
Gott befahl. Ein Schlag, hieß es dann, eine Lähmung, ein plötzlicher und
1148
unvorhergesehener Tod ... ja, ja, und er, Friedrich Grabow, hätte sie
1149
ihnen vorrechnen können, alle die vielen Male, wo es »nichts auf sich
1150
gehabt hatte«, wo er vielleicht nicht einmal gerufen war, wo nur
1151
vielleicht nach Tische, wenn man ins Kontor zurückgekehrt war, ein
1152
kleiner, merkwürdiger Schwindel sich gemeldet hatte ... Nun, Gott
1153
befohlen! Er, Friedrich Grabow, war selbst nicht derjenige, der die
1154
gefüllten Puter verschmähte. Dieser panierte Schinken mit
1155
Chalottensauce heute war delikat gewesen, zum Teufel, und dann, als man
1156
schon schwer atmete, der Plettenpudding -- Makronen, Himbeeren und
1157
Eierschaum, ja, ja ... »Strenge Diät, wie gesagt, -- Frau Konsulin? Ein
1158
wenig Taube, -- ein wenig Franzbrot ...«
1163
Drinnen im Eßsaale herrschte Aufbruch.
1165
»Wohl bekomm's, _mesdames et messieurs_, gesegnete Mahlzeit! Drüben
1166
wartet für Liebhaber eine Zigarre und ein Schluck Kaffee für uns alle
1167
und, wenn Madame spendabel ist, ein Likör ... Die Billards, hinten, sind
1168
zu jedermanns Verfügung, wie sich versteht; Jean, du übernimmst wohl die
1169
Führung ins Hinterhaus ... Madame Köppen, -- die Ehre ...«
1171
Plaudernd, befriedigt und in bester Laune Wünsche in betreff einer
1172
gesegneten Mahlzeit austauschend, verfügte man sich durch die große
1173
Flügeltür ins Landschaftszimmer zurück. Aber der Konsul ging nicht erst
1174
hinüber, sondern versammelte sofort die billardlustigen Herren um sich.
1176
»Sie wollen keine Partie riskieren, Vater?«
1178
Nein, Lebrecht Kröger blieb bei den Damen, aber Justus könne ja nach
1179
hinten gehen ... Auch Senator Langhals, Köppen, Grätjens und Doktor
1180
Grabow hielten zum Konsul, während Jean Jacques Hoffstede nachkommen
1181
wollte: »Später, später! Johann Buddenbrook will Flöte blasen, das muß
1182
ich abwarten ... _Au revoir, messieurs ..._«
1184
Die sechs Herren hörten noch, als sie durch die Säulenhalle schritten,
1185
im Landschaftszimmer die ersten Flötentöne aufklingen, von der Konsulin
1186
auf dem Harmonium begleitet, eine kleine, helle, graziöse Melodie, die
1187
sinnig durch die weiten Räume schwebte. Der Konsul lauschte, so lange
1188
etwas zu hören war. Er wäre gar zu gern im Landschaftszimmer
1189
zurückgeblieben, um in einem Lehnsessel bei diesen Klängen seinen
1190
Träumen und Gefühlen nachzuhängen; allein die Wirtspflicht ...
1192
»Bringe ein paar Tassen Kaffee und Zigarren in den Billardsaal«, sagte
1193
er zu dem Folgmädchen, das über den Vorplatz ging.
1195
»Ja, Line, Kaffee, du? Kaffee!« wiederholte Herr Köppen mit einer
1196
Stimme, die aus vollem Magen kam, und versuchte, das Mädchen in den
1197
roten Arm zu kneifen. Er sprach das K ganz hinten im Halse, als schlucke
1198
und schmecke er bereits.
1200
»Ich bin überzeugt, daß Madame Köppen durch die Glasscheiben gesehen
1201
hat«, bemerkte Konsul Kröger.
1203
Senator Langhals fragte: »Da oben wohnst du also, Buddenbrook?«
1205
Rechts führte die Treppe in den zweiten Stock hinauf, wo die
1206
Schlafzimmer des Konsuls und seiner Familie lagen; aber auch an der
1207
linken Seite des Vorplatzes befand sich noch eine Reihe von Räumen. Die
1208
Herren schritten rauchend die breite Treppe mit dem weißlackierten,
1209
durchbrochenen Holzgeländer hinunter. Auf dem Absatz blieb der Konsul
1212
»Dies Zwischengeschoß ist noch drei Zimmer tief«, erklärte er; »das
1213
Frühstückszimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern und ein wenig benutzter
1214
Raum nach dem Garten hinaus; ein schmaler Gang läuft als Korridor
1215
nebenher ... Aber vorwärts! -- Ja, sehen Sie, die Diele wird von den
1216
Transportwagen passiert, sie fahren dann durch das ganze Grundstück bis
1219
Die weite, hallende Diele drunten war mit großen, viereckigen
1220
Steinfliesen gepflastert. Bei der Windfangtüre sowohl wie am anderen
1221
Ende lagen Kontorräumlichkeiten, während die Küche, aus der noch immer
1222
der säuerliche Geruch der Chalottensauce hervordrang, mit dem Weg zu den
1223
Kellern links von der Treppe lag. Ihr gegenüber, in beträchtlicher Höhe,
1224
sprangen seltsame, plumpe aber reinlich lackierte Holzgelasse aus der
1225
Wand hervor: die Mädchenkammern, die nur durch eine Art freiliegender,
1226
gerader Stiege von der Diele aus zu erreichen waren. Ein Paar ungeheurer
1227
alter Schränke und eine geschnitzte Truhe standen daneben.
1229
Durch eine hohe Glastür trat man über einige ganz flache, befahrbare
1230
Stufen auf den Hof hinaus, an dem linkerseits sich das kleine Waschhaus
1231
befand. Man blickte von hier aus in den hübsch angelegten, jetzt aber
1232
herbstlich grauen und feuchten Garten hinein, dessen Beete mit
1233
Strohmatten gegen den Frost geschützt waren, und der dort hinten vom
1234
»Portal« abgeschlossen ward, der Rokokofassade des Gartenhauses. Die
1235
Herren aber schlugen vom Hofe aus den Weg zur Linken ein, der zwischen
1236
zwei Mauern über einen zweiten Hof zum Rückgebäude führte.
1238
Dort führten schlüpfrige Stufen in ein kelleriges Gewölbe mit Lehmboden
1239
hinab, das als Speicher benutzt wurde, und von dessen höchstem Boden ein
1240
Tau zum Hinaufwinden der Kornsäcke herabhing. Aber man stieg zur Rechten
1241
die reinlich gehaltene Treppe ins erste Stockwerk hinauf, woselbst der
1242
Konsul seinen Gästen die weiße Türe zum Billardsaale öffnete.
1244
Herr Köppen warf sich erschöpft auf einen der steifen Stühle, die an den
1245
Wänden des weiten, kahl und streng aussehenden Raumes standen.
1247
»Ich sehe fürs erste zu!« rief er und klopfte die feinen Regentropfen
1248
von seinem Leibrock. »Hole mich der Teufel, was ist das für eine Reise
1249
durch Euer Haus, Buddenbrook!«
1251
Ähnlich wie im Landschaftszimmer brannte hier hinter einem Messinggitter
1252
der Ofen. Durch die drei hohen und schmalen Fenster blickte man über
1253
feuchtrote Dächer, graue Höfe und Giebel ...
1255
»Eine Karambolage, Herr Senator?« fragte der Konsul, während er die
1256
Queues aus den Gestellen nahm. Dann ging er umher und schloß die Löcher
1257
der beiden Billards. »Wer will mit uns sein? Grätjens? Der Doktor? _All
1258
right._ Grätjens und Justus, dann nehmen Sie das andere ... Köppen, du
1261
Der Weinhändler stand auf und horchte, den Mund voll Zigarrenrauch, auf
1262
einen starken Windstoß, der zwischen den Häusern pfiff, den Regen
1263
prickelnd gegen die Scheiben trieb und sich heulend im Ofenrohr verfing.
1265
»Verflucht!« sagte er und stieß den Rauch von sich. »Glaubst du, daß der
1266
`Wullenwewer´ zu Hafen kann, Buddenbrook? Was für ein Hundewetter ...«
1268
Ja, die Nachrichten aus Travemünde waren nicht die besten; dies
1269
bestätigte auch Konsul Kröger, der das Leder seines Stockes kreidete.
1270
Stürme in allen Küsten. _Anno_ 24 war es, weiß Gott, nicht viel
1271
schlimmer, als in St. Petersburg die große Wasserflut war ... Na, da kam
1274
Man bediente sich, man trank einen Schluck und begann zu spielen. Dann
1275
aber begann man vom Zollverein zu sprechen ... oh, Konsul Buddenbrook
1276
war begeistert für den Zollverein!
1278
»Welche Schöpfung, meine Herren!« rief er, sich nach einem geführten
1279
Stoße lebhaft umwendend, zum anderen Billard hinüber, wo das erste Wort
1280
gefallen war. »Bei erster Gelegenheit sollten wir beitreten ...«
1282
Herr Köppen aber war nicht dieser Meinung, nein, er schnob geradezu vor
1285
»Und unsere Selbständigkeit? Und unsere Unabhängigkeit?« fragte er
1286
beleidigt und sich kriegerisch auf sein Queue stützend. »Wie steht es
1287
damit? Würde Hamburg es sich beifallen lassen, bei dieser
1288
Preußenerfindung mitzutun? Wollen wir uns nicht gleich einverleiben
1289
lassen, Buddenbrook? Gott bewahre uns, nein, was sollen wir mit dem
1290
Zollverein, möchte ich wissen! Geht nicht alles gut?...«
1292
»Ja, du mit deinem Rotspohn, Köppen! Und dann vielleicht mit den
1293
russischen Produkten, davon sage ich nichts. Aber weiter wird ja nichts
1294
importiert! Und was den Export betrifft, nun ja, so schicken wir ein
1295
bißchen Korn nach Holland und England, gewiß!... Ach nein, es geht
1296
leider nicht alles gut. Es sind bei Gott hier ehemals andere Geschäfte
1297
gemacht worden ... Aber im Zollverein würden uns die Mecklenburgs und
1298
Schleswig-Holstein geöffnet werden ... Und es ist nicht auszurechnen,
1299
wie das Propregeschäft sich aufnehmen würde ...«
1301
»Aber ich bitte Sie, Buddenbrook«, fing Grätjens an, indem er sich lang
1302
über das Billard beugte und den Stock auf seiner knochigen Hand sorgsam
1303
zielend hin und her bewegte, »dieser Zollverein ... ich verstehe das
1304
nicht. Unser System ist doch so einfach und praktisch, wie? Die
1305
Einklarierung auf Bürgereid ...«
1307
»Eine schöne alte Institution.« Dies mußte der Konsul zugeben.
1309
»Nein, wahrhaftig, Herr Konsul, -- wenn Sie etwas `schön´ finden!«
1310
Senator Langhals war ein wenig entrüstet: »Ich bin ja kein Kaufmann ...
1311
aber wenn ich ehrlich sein soll -- nein, das mit dem Bürgereid ist ein
1312
Unfug, allmählich, das muß ich sagen! Es ist eine Formalität geworden,
1313
über die man ziemlich schlank hinweggeht ... und der Staat hat das
1314
Nachsehen. Man erzählt sich Dinge, die denn doch arg sind. Ich bin
1315
überzeugt, daß der Eintritt in den Zollverein von seiten des
1318
»Dann gibt es einen Konflikt --!« Herr Köppen stieß zornentbrannt das
1319
Queue auf den Boden. Er sagte »Kongflick« und stellte jetzt alle
1320
Vorsicht in betreff der Aussprache hintan. »Einen Kongflick, da versteh'
1321
ich mich auf. Nee, alle schuldige Achung, Herr Senater, aber Sie sind ja
1322
woll nich zu helfen, Gott bewahre!« Und er redete hitzig von
1323
Entscheidungskommissionen und Staatswohl und Bürgereid und
1326
Gottlob, daß Jean Jacques Hoffstede ankam! Arm in Arm mit Pastor
1327
Wunderlich trat er herein, zwei unbefangene und muntere alte Herren aus
1330
»Nun, meine braven Freunde«, fing er an, »ich habe etwas für Sie; einen
1331
Scherz, etwas Lustiges, ein Verslein nach dem Französischen ... passen
1334
Er ließ sich gemächlich auf einen Stuhl nieder, den Spielern gegenüber,
1335
die, auf ihre Queues gestützt, an den Billards lehnten, zog ein
1336
Blättchen aus der Tasche, legte den langen Zeigefinger mit dem
1337
Siegelring an die spitze Nase und verlas mit einer fröhlichen und
1338
naiv-epischen Betonung:
1340
»Als Sachsens Marschall einst die stolze Pompadour
1341
Im goldnen Phaeton -- vergnügt spazieren fuhr,
1342
Sah Frelon dieses Paar --
1343
oh, rief er, seht sie beide!
1344
Des Königs Schwert -- und seine Scheide!«
1346
Herr Köppen stutzte einen Augenblick, ließ dann Kongflick und Staatswohl
1347
dahinfahren und stimmte in das Gelächter der übrigen ein, daß der Saal
1348
widerhallte. Pastor Wunderlich aber war an ein Fenster getreten und
1349
kicherte, der Bewegung seiner Schultern nach zu urteilen, still vor sich
1352
Man blieb noch eine gute Weile beisammen, hier hinten im Billardsaal,
1353
denn Hoffstede hatte noch mehr Scherze ähnlicher Art in Bereitschaft.
1354
Herr Köppen hatte seine ganze Weste geöffnet und war bei bester Laune,
1355
denn er befand sich besser hier als im Speisesaal bei Tische. Er machte
1356
drollige plattdeutsche Redensarten bei jedem Stoß und rezitierte dann
1357
und wann beglückt vor sich hin:
1359
»Als Sachsens Marschall einst ...«
1361
Das Verslein nahm sich wunderlich genug aus in seinem rauhen Baß ...
1366
Es war ziemlich spät, gegen elf Uhr, als die Gesellschaft, die sich im
1367
Landschaftszimmer noch einmal zusammengefunden hatte, beinahe
1368
gleichzeitig aufzubrechen begann. Die Konsulin begab sich sofort,
1369
nachdem sie die Handküsse aller in Empfang genommen, in ihre Zimmer
1370
hinauf, um nach dem leidenden Christian zu sehen, indem sie die Aufsicht
1371
über die Mägde beim Wegräumen des Geschirres an Mamsell Jungmann abtrat,
1372
und Mme. Antoinette zog sich ins Zwischengeschoß zurück. Der Konsul aber
1373
geleitete die Gäste die Treppe hinunter über die Diele und bis vor die
1374
Haustür auf die Straße hinaus.
1376
Ein scharfer Wind trieb den Regen seitwärts herunter, und die alten
1377
Krögers krochen, in dicke Pelzmäntel gewickelt, eiligst in ihre
1378
majestätische Equipage, die schon lange wartete. Das gelbe Licht der
1379
Öllampen, die vorm Hause auf Stangen brannten und weiter unten an
1380
dicken, über die Straße gespannten Ketten hingen, flackerte unruhig. Hie
1381
und da sprangen die Häuser mit Vorbauten in die Straße hinein, die
1382
abschüssig zur Trave hinunterführte, und einige waren mit Beischlägen
1383
oder Bänken versehen. Feuchtes Gras sproß zwischen dem schlechten
1384
Pflaster empor. Die Marienkirche dort drüben lag ganz in Schatten,
1385
Dunkelheit und Regen gehüllt.
1387
»_Merci_«, sagte Lebrecht Kröger und drückte dem Konsul, der am Wagen
1388
stand, die Hand. »_Merci_, Jean, es war allerliebst!« Dann knallte der
1389
Schlag, und die Equipage polterte davon. Auch Pastor Wunderlich und der
1390
Makler Grätjens gingen mit Dank ihres Weges. Herr Köppen, in einem
1391
Mantel mit fünffacher Pelerine, einen weitschweifigen grauen Zylinder
1392
auf dem Kopf und seine beleibte Gattin am Arm, sagte in seinem
1395
»'n Abend, Buddenbrook! Na, geh' 'rein, erkält' dich nicht. Vielen Dank
1396
-- du? Ich habe gegessen wie lange nicht ... und mein Roter zu vier
1397
Kurantmark konveniert dir also? Gut' Nacht nochmal ...«
1399
Das Paar ging mit Konsul Kröger und seiner Familie gegen den Fluß
1400
hinunter, während Senator Langhals, Doktor Grabow und Jean Jacques
1401
Hoffstede die entgegengesetzte Richtung einschlugen ...
1403
Konsul Buddenbrook stand, die Hände in den Taschen seines hellen
1404
Beinkleides vergraben, in seinem Tuchrock ein wenig fröstelnd, ein paar
1405
Schritte vor der Haustür und lauschte den Schritten, die in den
1406
menschenleeren, nassen und matt beleuchteten Straßen verhallten. Dann
1407
wandte er sich und blickte an der grauen Giebelfassade des Hauses empor.
1408
Seine Augen verweilten auf dem Spruch, der überm Eingang in
1409
altertümlichen Lettern gemeißelt stand: -- »_Dominus providebit._«
1410
Während er den Kopf ein wenig senkte, trat er ein und verschloß
1411
sorgfältig die schwerfällig knarrende Haustür. Dann ließ er die
1412
Windfangtüre ins Schloß schnappen und schritt langsam über die hallende
1413
Diele. Die Köchin, die mit einem Teebrett voll Gläser klirrend die
1414
Treppe herunterkam, fragte er: »Wo ist der Herr, Trina?«
1416
»Im Eßsaal, Herr Konsul ...« Ihr Gesicht wurde so rot wie ihre Arme,
1417
denn sie war vom Lande und geriet leicht in Verwirrung.
1419
Er ging hinauf, und noch in der dunklen Säulenhalle machte seine Hand
1420
eine Bewegung nach der Brusttasche, wo das Papier knisterte. Dann trat
1421
er in den Saal, in dessen einem Winkel noch Kerzenreste auf einem der
1422
Kandelaber brannten und die abgeräumte Tafel beleuchteten. Der
1423
säuerliche Geruch der Chalottensauce lag beharrlich in der Luft.
1425
Dort hinten bei den Fenstern ging, die Hände auf dem Rücken, Johann
1426
Buddenbrook gemächlich auf und ab.
1431
»Na, min Söhn Johann! wo geiht di dat!« Er blieb stehen und streckte dem
1432
Sohne die Hand entgegen, die weiße, ein wenig zu kurze, aber
1433
feingegliederte Hand der Buddenbrooks. Seine rüstige Gestalt, an der nur
1434
die gepuderte Perücke und das Spitzen-Jabot weiß aufleuchtete, hob sich
1435
matt und unruhig beleuchtet von dem Dunkelrot der Fenstervorhänge ab.
1437
»Noch nicht müde? Ich gehe hier und horche auf den Wind ... verflixtes
1438
Wetter! Kapitän Kloht ist von Riga unterwegs ...«
1440
»O Vater, mit Gottes Hilfe wird alles gut gehen!«
1442
»Kann ich mich darauf verlassen? Zugegeben, daß du mit dem Herrgott auf
1443
du und du stehst ...«
1445
Dem Konsul ward wohler zumute angesichts dieser guten Laune.
1447
»Ja, um zur Sache zu kommen«, fing er an, »so wollte ich Ihnen nicht nur
1448
gute Nacht sagen, Papa, sondern ... aber Sie dürfen nicht böse werden,
1449
wie? Ich habe Sie mit diesem Briewe -- er ist heute Nachmittag gekommen
1450
-- bis jetzt nicht ennuyieren wollen ... an diesem heiteren Abend ...«
1452
»Monsieur Gotthold -- _voilà_!« Der Alte tat, als bliebe er ganz ruhig
1453
angesichts des bläulichen, versiegelte Papieres, das er entgegennahm.
1454
»Herrn Johann Buddenbrook _sen._ Persönlich ... Ein Mann von _conduite_,
1455
dein Herr Stiefbruder, Jean! Habe ich seinen zweiten Brief neulich
1456
überhaupt beantwortet? Allein er schreibt einen dritten ...« Während
1457
sein rosiges Gesicht sich mehr und mehr verdüsterte, zerriß er mit einem
1458
Finger das Siegel, entfaltete rasch das dünne Papier, wandte sich
1459
schräge, daß die Schrift vom Kandelaber aus beleuchtet ward und führte
1460
einen energischen Schlag mit dem Handrücken darauf. Selbst in dieser
1461
Handschrift schien Abtrünnigkeit und Rebellion zu liegen, denn während
1462
die Zeilen der Buddenbrooks sonst winzig, leicht und schräge über das
1463
Papier eilten, waren diese Buchstaben hoch, steil und mit plötzlichem
1464
Drucke versehen; viele Wörter waren mit einem raschen, gebogenen
1465
Federzug unterstrichen.
1467
Der Konsul hatte sich ein wenig seitwärts bis zur Wand, wo die Stühle
1468
standen, zurückgezogen; aber er setzte sich nicht, da sein Vater stand,
1469
sondern erfaßte nur mit einer nervösen Bewegung eine der hohen Lehnen,
1470
während er den Alten beobachtete, der, den Kopf zur Seite geneigt, mit
1471
finsteren Brauen und schnell sich bewegenden Lippen las ...
1475
Wohl zu Unrecht verhoffe ich, daß Ihr Rechtssinn groß genug sein wird,
1476
um die =Entrüstung= zu ästimieren, welche ich empfand, als mein zweiter,
1477
so =dringlicher= Brief in betreff der wohl bewußten Angelegenheit ohne
1478
Antwort verblieb, nachdem nur auf den ersten eine Entgegnung (ich
1479
geschweige welcher Art!) zur Hand gekommen war. Ich muß Ihnen
1480
aussprechen, daß die Art, in welcher Sie die Kluft, welche, dem Herrn
1481
sei's geklagt, zwischen uns besteht, durch Ihre Hartnäckigkeit
1482
vertiefen, eine =Sünde= ist, welche Sie einstmals vor Gottes
1483
Richterstuhl aufs =schwerste= werden verantworten müssen. Es ist traurig
1484
genug, daß Sie vor Jahr und Tag, als ich, auch gegen Ihren Willen, dem
1485
Zuge meines Herzens folgend, meine nunmehrige Gattin ehelichte und durch
1486
Übernahme eines Laden-Geschäftes Ihren =maßlosen= Stolz beleidigte, sich
1487
so überaus grausam und völlig von mir wandten; allein die Weise, in
1488
welcher Sie mich jetzt traktieren, schreit zum Himmel, und sollten Sie
1489
vermeinen, daß ich mich angesichts Ihres Schweigens kontentiert und
1490
still verhalten werde, so irren Sie =gröblichst=. -- Der Kaufpreis Ihres
1491
neu erworbenen Hauses in der Mengstraße hat 100000 Kurantmark betragen
1492
und ist mir ferner bekannt, daß Ihr Sohn aus zweiter Ehe und Associé,
1493
=Johann=, bei Ihnen mietweise wohnhaft ist und nach Ihrem Tode mit
1494
dem Geschäfte auch das Haus als alleiniger Besitzer übernehmen wird.
1495
Mit meiner Stiefschwester in Frankfurt und ihrem Gatten haben Sie
1496
Vereinbarungen getroffen, in die ich mich nicht zu mischen habe.
1497
Was aber mich, Ihren ältesten Sohn, angeht, so treiben Sie Ihren
1498
=unchristlichen= Zorn so weit, es schlanker Hand zu refüsieren, mir
1499
irgendeine Entschädigungssumme für den Anteil am Hause zukommen zu
1500
lassen! Ich habe es mit Stillschweigen übergangen, als Sie mir bei
1501
meiner Verheiratung und Etablierung 100000 Kurantmark auszahlten und mir
1502
testamentarisch ein für allemal nur ein Erbteil von 100000 zusprachen.
1503
Ich war damals nicht einmal hinlänglich orientiert über Ihre
1504
Vermögensverhältnisse. Jetzt jedoch sehe ich klarer, und da ich mich
1505
nicht als prinzipiell enterbt zu betrachten brauche, so =beanspruche=
1506
ich in diesem besonderen Falle eine Entschädigungssumme von 33335
1507
Kurantmark, will sagen ein Drittel der Kaufsumme. Ich will keine
1508
Vermutungen darüber anstellen, welchen =verdammungswürdigen= Einflüssen
1509
ich die Behandlung verdanke, welche ich bislang zu dulden genötigt war;
1510
aber ich =protestiere= gegen dieselbe mit dem ganzen Rechtssinn des
1511
=Christen= und des =Geschäftsmannes= und versichere Sie zum letzten
1512
Male, daß, sollten Sie sich nicht entschließen können, meine gerechten
1513
Ansprüche zu respektieren, ich Sie weder als =Christ= noch als =Vater=
1514
noch als =Geschäftsmann= länger werde achten können.
1516
=Gotthold Buddenbrook.=«
1518
»Verzeih, wenn es mir kein Pläsier macht, dir diese Litanei noch einmal
1519
vorzubeten. -- _Voilà!_« Und mit einer grimmigen Bewegung warf Joh.
1520
Buddenbrook den Brief seinem Sohne zu.
1522
Der Konsul fing das Papier auf, als es in der Höhe seiner Knie
1523
flatterte, und folgte mit verwirrten und traurigen Augen den Schritten
1524
des Vaters. Der alte Herr ergriff den langen Kerzenlöscher, der beim
1525
Fenster lehnte und ging stramm und erzürnt am Tische entlang in den
1526
entgegengesetzten Winkel, zum Kandelaber.
1528
»_Assez!_ sage ich. _N'en parlons plus_, Punktum! Ins Bett! _En avant!_«
1529
Eine Flamme nach der anderen verschwand ohne Auferstehen unter dem
1530
kleinen Metalltrichter, der oben an der Stange befestigt war. Es
1531
brannten nur noch zwei Kerzen, als der Alte sich wieder nach seinem
1532
Sohne umwandte, den er dort hinten kaum zu erkennen vermochte.
1534
»_Eh bien_, was stehst du, was sagst du? Du mußt doch irgend etwas
1537
»Was soll ich sagen, Vater? -- Ich bin ratlos.«
1539
»Es passiert leicht, daß du ratlos bist!« warf Johann Buddenbrook mit
1540
böser Betonung hin, obgleich er selbst wußte, daß diese Bemerkung nicht
1541
viel Wahres enthielt, und daß sein Sohn und Associé ihm manches Mal im
1542
entschlossenen Ergreifen des Vorteils überlegen gewesen war.
1544
»Schlechte und verdammungswürdige Einflüsse ...« fuhr der Konsul fort.
1545
»Das ist die erste Zeile, die ich entziffere! Sie begreifen nicht, wie
1546
mich das quält, Vater? Und er wirft uns Unchristlichkeit vor!«
1548
»Du wirst dich durch dieses miserable Geschreibsel einschüchtern lassen,
1549
-- ja?!« Johann Buddenbrook kam zornig herbei, den Kerzenlöscher hinter
1550
sich her schleifend. »Unchristlichkeit! Ha! Geschmackvoll, muß ich
1551
sagen, -- diese fromme Geldgier! Was seid ihr eigentlich für eine
1552
Kompanei, ihr jungen Leute, -- wie? Den Kopf voll christlicher und
1553
phantastischer Flausen ... und ... Idealismus! und wir Alten sind die
1554
herzlosen Spötter ... und nebenbei die Juli-Monarchie und die
1555
praktischen Ideale ... und lieber dem alten Vater die gröbsten Sottisen
1556
ins Haus schicken, als auf ein paar tausend Taler verzichten!... Und als
1557
Geschäftsmann wird er geruhen, mich zu verachten! Nun! als Geschäftsmann
1558
weiß ich, was _faux-frais_ sind, -- _faux-frais_!« wiederholte er mit
1559
grimmigem pariserischen Gurgel-r. »Ich mache mir diesen exaltierten
1560
Schlingel von einem Sohn nicht ergebener, wenn ich mich demütigen sollte
1563
»Lieber Vater, was soll ich antworten! Ich will nicht, daß er recht hat
1564
mit dem, was er von `Einflüssen´ sagt! Ich bin als Teilhaber
1565
interessiert und gerade deshalb dürfte ich dir nicht raten, auf deinem
1566
Standpunkt zu bestehen, jedoch ... Und ich bin ein so guter Christ als
1567
Gotthold, jedoch ...«
1569
»Jedoch! Ja, du hast meiner Treu recht, `jedoch´ zu sagen, Jean! Wie
1570
verhalten sich die Dinge denn eigentlich? Damals, als er für seine
1571
Mamsell Stüwing inflammiert war, als er mir Szene für Szene machte und
1572
am Ende, meinem strengen Verbot zum Trotz, diese Mesalliance einging, da
1573
schrieb ich ihm: _Mon très cher fils_, du heiratest deinen Laden,
1574
Punktum. Ich enterbe dich nicht, ich mache kein _spectacle_, aber mit
1575
unserer Freundschaft ist es zu Ende. Hier hast du 100000 als Mitgift,
1576
ich vermache dir andere 100000 im Testamente, aber damit basta, damit
1577
bist du abgefertigt, es gibt keinen Schilling mehr. -- Dazu hat er
1578
geschwiegen. Was geht es ihn an, wenn wir Geschäfte gemacht haben? Wenn
1579
du und deine Schwester eine tüchtige Portion mehr bekommen werden? Wenn
1580
von dem Erbteil, das euer ist, ein Haus gekauft wurde ...«
1582
»Wenn Sie verstünden, Vater, in welchem Dilemma ich mich befinde! Um der
1583
Familieneintracht willen müßte ich raten ... aber ...« Der Konsul
1584
seufzte leise auf, an seinen Stuhl gelehnt. Johann Buddenbrook spähte,
1585
gestützt auf die Löschstange, aufmerksam in das unruhige Halbdunkel
1586
hinein, um den Gesichtsausdruck des Sohnes zu erforschen. Die vorletzte
1587
Kerze war heruntergebrannt und von selbst erloschen; nur eine flackerte
1588
noch, dort hinten. Dann und wann trat eine hohe, weiße Figur ruhig
1589
lächelnd aus der Tapete hervor und verschwand wieder.
1591
»Vater, -- dieses Verhältnis mit Gotthold bedrückt mich!« sagte der
1594
»Unsinn, Jean, keine Sentimentalität! Was bedrückt dich?«
1596
»Vater, ... wir haben hier heute so heiter beieinander gesessen, wir
1597
haben einen schönen Tag gefeiert, wir waren stolz und glücklich in dem
1598
Bewußtsein, etwas geleistet zu haben, etwas erreicht zu haben ... unsere
1599
Firma, unsere Familie auf eine Höhe gebracht zu haben, wo ihr
1600
Anerkennung und Ansehen im reichsten Maße zuteil wird ... Aber, Vater,
1601
diese böse Feindschaft mit meinem Bruder, deinem ältesten Sohne ... Es
1602
sollte kein heimlicher Riß durch das Gebäude laufen, das wir mit Gottes
1603
gnädiger Hilfe errichtet haben ... Eine Familie muß einig sein, muß
1604
zusammenhalten, Vater, sonst klopft das Übel an die Tür ...«
1606
»Flausen, Jean! Possen! Ein obstinater Junge ...«
1608
Es entstand eine Pause; die letzte Flamme senkte sich tiefer und tiefer.
1610
»Was machst du, Jean?« fragte Johann Buddenbrook. »Ich sehe dich gar
1613
»Ich rechne«, sagte der Konsul trocken. Die Kerze flammte auf, und man
1614
sah, wie er gerade aufgerichtet und mit Augen, so kalt und aufmerksam,
1615
wie sie während des ganzen Nachmittags noch nicht darein geschaut
1616
hatten, fest in die tanzende Flamme blickte. -- »Einerseits: Sie geben
1617
33335 an Gotthold und 15000 an die in Frankfurt, und das macht 48335 in
1618
Summa. Andererseits: Sie geben nur 25000 an die in Frankfurt, und das
1619
bedeutet für die Firma einen Gewinn von 23335. Das ist aber nicht alles.
1620
Gesetzt, Sie leisten an Gotthold eine Entschädigungssumme für den Anteil
1621
am Hause, so ist das Prinzip durchbrochen, so ist er damals =nicht=
1622
endgültig abgefunden worden, so kann er nach Ihrem Tode ein gleich
1623
großes Erbe beanspruchen, wie meine Schwester und ich, und dann handelt
1624
es sich für die Firma um einen Verlust von Hunderttausenden, mit dem sie
1625
nicht rechnen kann, mit dem ich als künftiger alleiniger Inhaber nicht
1626
rechnen kann ... Nein, Papa!« beschloß er mit einer energischen
1627
Handbewegung und richtete sich noch höher auf. »Ich muß Ihnen abraten,
1630
»Na also! Punktum! _N'en parlons plus! En avant!_ Ins Bett!«
1632
Das letzte Flämmchen verlosch unter dem Metallhütchen. In dichter
1633
Finsternis schritten die beiden durch die Säulenhalle, und draußen, beim
1634
Aufgang zum zweiten Stocke, schüttelten sie einander die Hand.
1636
»Gut' Nacht, Jean ... Courage, du? Das sind so Ärgerlichkeiten ... Auf
1637
Wiedersehen morgen beim Frühstück!«
1639
Der Konsul stieg die Treppe hinauf in seine Wohnung, und der Alte
1640
tastete sich am Geländer ins Zwischengeschoß hinunter. Dann lag das
1641
weite, alte Haus wohlverschlossen in Dunkelheit und Schweigen. Stolz,
1642
Hoffnungen und Befürchtungen ruhten, während draußen in den stillen
1643
Straßen der Regen rieselte und der Herbstwind um Giebel und Ecken
1654
Zweiundeinhalbes Jahr später, um die Mitte des April schon, war zeitiger
1655
als jemals der Frühling gekommen, und zu gleicher Zeit war ein Ereignis
1656
eingetreten, das den alten Johann Buddenbrook vor Vergnügen trällern
1657
machte und seinen Sohn aufs freudigste bewegte.
1659
Um 9 Uhr, eines Sonntagmorgens, saß der Konsul im Frühstückszimmer vor
1660
dem großen, braunen Sekretär, der am Fenster stand und dessen gewölbter
1661
Deckel vermittelst eines witzigen Mechanismus zurückgeschoben war. Eine
1662
dicke Ledermappe, gefüllt mit Papieren, lag vor ihm; aber er hatte ein
1663
Heft mit gepreßtem Umschlage und Goldschnitt herausgenommen und schrieb,
1664
eifrig darüber gebeugt, in seiner dünnen, winzig dahineilenden Schrift,
1665
-- emsig und ohne Aufenthalt, es sei denn, daß er die Gänsefeder in das
1666
schwere Metalltintenfaß tauchte ...
1668
Die beiden Fenster standen offen, und vom Garten her, wo eine milde
1669
Sonne die ersten Knospen beschien, und wo ein paar kleine Vogelstimmen
1670
einander kecke Antworten gaben, wehte voll frischer und zarter Würze die
1671
Frühlingsluft herein und trieb dann und wann sacht und geräuschlos die
1672
Gardinen ein wenig empor. Drüben, auf dem Frühstückstische, ruhte die
1673
Sonne blendend auf dem weißen, hie und da von Brosamen gesprenkelten
1674
Leinen und spielte in kleinen, blitzenden Drehungen und Sprüngen auf der
1675
Vergoldung der mörserförmigen Tassen ...
1677
Beide Flügel der Tür zum Schlafzimmer waren geöffnet, und von dorther
1678
vernahm man die Stimme Johann Buddenbrooks, der ganz leise nach einer
1679
alten drolligen Melodie vor sich hin summte:
1681
»Ein guter Mann, ein braver Mann,
1682
Ein Mann von Complaisancen;
1683
Er kocht die Supp' und wiegt das Kind
1684
Und riecht nach Pomeranzen.«
1686
Er saß zur Seite der kleinen Wiege mit grünseidenen Vorhängen, die bei
1687
dem hohen Himmelbett der Konsulin stand, und die er mit einer Hand in
1688
gleichmäßiger Schwingung erhielt. Die Konsulin und ihr Gatte hatten
1689
sich, der leichteren Bedienung halber, für einige Zeit hier unten
1690
eingerichtet, während ihr Vater und Madame Antoinette, die, eine Schürze
1691
über dem gestreiften Kleide und eine Spitzenhaube auf den dicken weißen
1692
Locken, sich dort hinten am Tische mit Flanell und Linnen zu schaffen
1693
machte, das dritte Zimmer des Zwischengeschosses zum Schlafen benutzten.
1695
Konsul Buddenbrook warf kaum einen Blick in das Nebenzimmer, so sehr war
1696
er von seiner Arbeit in Anspruch genommen. Sein Gesicht trug einen
1697
ernsten und vor Andacht beinahe leidenden Ausdruck. Sein Mund war leicht
1698
geöffnet, er ließ das Kinn ein wenig hängen, und seine Augen
1699
verschleierten sich dann und wann. Er schrieb:
1701
»Heute, d. 14. April 1838, morgens um 6 Uhr, ward meine liebe Frau
1702
Elisabeth, geb. Kröger, mit Gottes gnädiger Hilfe aufs glücklichste von
1703
einem Töchterchen entbunden, welches in der hl. Taufe den Namen Klara
1704
empfangen soll. Ja, so gnädig half ihr der Herr, obgleich nach Aussage
1705
des Doktors Grabow die Geburt um etwas zu früh eintrat und sich vordem
1706
nicht alles zum besten verhielt und Bethsy große Schmerzen gelitten hat.
1707
Ach, wo ist doch ein solcher Gott, wie du bist, du Herr Zebaoth, der du
1708
hilfst in allen Nöten und Gefahren und uns lehrst deinen Willen recht zu
1709
erkennen, damit wir dich fürchten und in deinem Willen und Geboten treu
1710
mögen erfunden werden! Ach Herr, leite und führe uns alle, so lange wir
1711
leben auf Erden ...« -- Die Feder eilte weiter, glatt, behende, und
1712
indem sie hie und da einen kaufmännischen Schnörkel ausführte, und
1713
redete Zeile für Zeile zu Gott. Zwei Seiten weiter hieß es:
1715
»Ich habe meiner jüngsten Tochter eine Police von 150 Kuranttalern
1716
ausgeschrieben. Führe du sie, ach Herr! auf deinen Wegen, und schenke
1717
du ihr ein reines Herz, auf daß sie einstmals eingehe in die Wohnungen
1718
des ewigen Friedens. Denn wir wissen wohl, wie schwer es sei, von ganzer
1719
Seele zu glauben, daß der ganze liebe süße Jesus mein sei, weil unser
1720
irdisches kleines schwaches Herz ...« Nach drei Seiten schrieb der
1721
Konsul ein »Amen«, allein die Feder glitt weiter, sie glitt mit feinem
1722
Geräusch noch über manches Blatt, sie schrieb von der köstlichen Quelle,
1723
die den müden Wandersmann labt, von des Seligmachers heiligen,
1724
bluttriefenden Wunden, vom engen und vom breiten Wege und von Gottes
1725
großer Herrlichkeit. Es kann nicht geleugnet werden, daß der Konsul nach
1726
diesem oder jenem Satze die Neigung verspürte, es nun genug sein zu
1727
lassen, die Feder fortzulegen, hinein zu seiner Gattin zu gehen oder
1728
sich ins Kontor zu begeben. Wie aber! Wurde er es so bald müde, sich mit
1729
seinem Schöpfer und Erhalter zu bereden? Welch ein Raub an Ihm, dem
1730
Herrn, schon jetzt einzuhalten mit Schreiben ... Nein, nein, als
1731
Züchtigung gerade für sein unfrommes Gelüste, zitierte er noch längere
1732
Abschnitte aus den heiligen Schriften, betete für seine Eltern, seine
1733
Frau, seine Kinder und sich selbst, betete auch für seinen Bruder
1734
Gotthold, -- und endlich, nach einem letzten Bibelspruch und einem
1735
letzten, dreimaligen Amen, streute er Goldsand auf die Schrift und
1736
lehnte sich aufatmend zurück.
1738
Ein Bein über das andere geschlagen, blätterte er langsam in dem Hefte
1739
zurück, um hie und da einen Abschnitt der Daten und Betrachtungen zu
1740
lesen, die sich von seiner Hand dort vorfanden, und sich wieder einmal
1741
dankbar der Erkenntnis zu freuen, wie immer und in aller Gefahr Gottes
1742
Hand ihn sichtbar gesegnet. Er hatte die Pocken gehabt so stark, daß
1743
alle Leute ihm das Leben absprachen, aber er war gerettet worden. Einmal
1744
-- er war noch ein Knabe -- hatte er den Vorbereitungen zu einer
1745
Hochzeit beigewohnt, wobei viel Bier gebraut wurde (denn es bestand die
1746
alte Sitte, das Bier im Hause zu brauen), und zu diesem Ende stand ein
1747
großes Brauküben vor der Türe aufgerichtet. Nun, dasselbe schlug nieder
1748
und die Bodenseite auf den Knaben, mit solchem Knall und solcher Gewalt,
1749
daß die Nachbarn vor die Türe kamen und ihrer sechs genug zu tun hatten,
1750
es wieder aufzurichten. Sein Kopf ward gequetscht, und das Blut rann
1751
heftig über alle seine Gliedmaßen. Er wurde in einen Laden getragen,
1752
und da noch ein wenig Leben in ihm war, ward zum Doktor und zum Wundarzt
1753
geschickt. Dem Vater aber sprach man zu, er möge sich in Gottes Willen
1754
schicken, es sei unmöglich, daß der Knabe am Leben bliebe ... Und nun
1755
höre: Gott der Allmächtige segnete die Mittel und half ihm wieder zur
1756
vollkommenen Gesundheit! -- Als der Konsul diesen Unglücksfall im Geiste
1757
aufs neue erlebt hatte, ergriff er noch einmal die Feder und schrieb
1758
hinter sein letztes Amen: »Ja, Herr, ich will dich loben ewiglich!«
1760
Ein anderes Mal, als er, ein ganz junger Mensch noch, nach Bergen
1761
gekommen war, hatte Gott ihn aus großer Wassersgefahr errettet. »Indem
1762
wir«, stand dort, »in der Stromzeit, wenn die Nordfahrer angekommen
1763
sind, sehr viel arbeiten mußten, durch die Jagden zu kommen und zu
1764
unserer Brücke zu gelangen, so ging es mir dabei so, daß ich auf dem
1765
Rande der Schute stand, die Füße gegen die Dollen und den Rücken gegen
1766
die Jagd gestützt, um die Schute immer näher zu bringen; zu meinem
1767
Unglück brechen die eichnen Dollen, wogegen ich die Füße gesetzt hatte,
1768
und ich falle über Kopf ins Wasser. Ich komme zum erstenmal auf, aber
1769
niemand ist so nahe, daß er mich fassen kann; ich komme zum zweitenmal
1770
auf, allein die Schute geht mir über den Kopf. Es waren Leute genug da,
1771
die mich gerne retten wollten, allein sie mußten erst schieben, daß die
1772
Jagd und Schute nicht über mich kämen, und all' ihr Schieben hätte doch
1773
nichts geholfen, wenn nicht in diesem Augenblick ein Tau auf einer
1774
Nordfahrerjagd von selbst gerissen wäre, wodurch die Jagd hinaustrieb,
1775
und ich also durch Gottes Verhängnis Raum erhielt, und obwohl ich zum
1776
drittenmal nicht weiter aufkam, als daß nur die Haare zur Sicht kamen,
1777
so gelang es, weil alle die Köpfe, der eine hier, der andere dort, aus
1778
der Schute über dem Wasser waren, daß einer, der nach vorne zu aus der
1779
Schute lag, mich an den Haaren faßte, und ich griff ihn am Arm. Allein
1780
da er sich selbst nicht halten konnte, schrie und brüllte er so
1781
gewaltig, daß die anderen es hörten und ihn so geschwind an den Hüften
1782
faßten und mit Macht festhielten, daß er standhalten konnte. Auch ich
1783
hielt immer fest, wenngleich er mich in den Arm biß, und kam es dadurch
1784
dahin, daß er auch mir helfen konnte ...« Und dann folgte ein sehr
1785
langes Dankgebet, das der Konsul mit feuchten Augen überlas.
1787
»Ich könnte gar vieles anführen«, hieß es an anderer Stelle, »wenn ich
1788
gewilligt wäre, meine Leidenschaften zu entdecken, allein ...« Nun,
1789
hierüber ging der Konsul hinweg und begann hie und da ein paar Zeilen
1790
aus der Zeit seiner Verheiratung und seiner ersten Vaterschaft zu lesen.
1791
Diese Verbindung war, sollte er ehrlich sein, nicht gerade das gewesen,
1792
was man eine Liebesheirat nennt. Sein Vater hatte ihm auf die Schulter
1793
geklopft und ihn auf die Tochter des reichen Kröger, die der Firma eine
1794
stattliche Mitgift zuführte, aufmerksam gemacht, er war von Herzen
1795
einverstanden gewesen und hatte fortan seine Gattin verehrt, als die ihm
1796
von Gott vertraute Gefährtin ...
1798
Mit der zweiten Heirat seines Vaters hatte es sich ja nicht anders
1801
»Ein guter Mann, ein braver Mann,
1802
Ein Mann von Complaisancen« ...
1804
trällerte er leise im Schlafzimmer. Bedauerlich, wie wenig Sinn er für
1805
alle diese alten Aufzeichnungen und Papiere besaß. Er stand mit beiden
1806
Beinen in der Gegenwart und beschäftigte sich nicht viel mit der
1807
Vergangenheit der Familie, wenngleich er ehemals dem dicken
1808
Goldschnittheft immerhin ein paar Notizen in seiner etwas schnörkeligen
1809
Handschrift hinzugefügt hatte, und zwar hauptsächlich in betreff seiner
1812
Der Konsul schlug die Blätter auf, die stärker und rauher waren als das
1813
Papier, das er selbst hineingeheftet, und die schon zu vergilben
1814
begannen ... Ja, Johann Buddenbrook mußte diese erste Gattin, die
1815
Tochter eines Bremer Kaufmannes, in rührender Weise geliebt haben, und
1816
das eine, kurze Jahr, das er an ihrer Seite hatte verleben dürfen,
1817
schien sein schönstes gewesen zu sein. »_L'année la plus heureuse de ma
1818
vie_«, stand dort, mit einer krausen Wellenlinie unterstrichen, auf die
1819
Gefahr hin, daß Madame Antoinette es las ...
1821
Dann aber war Gotthold gekommen, und das Kind hatte Josephinen zugrunde
1822
gerichtet ... Wunderliche Bemerkungen standen, was dies betrifft, auf
1823
dem rauhen Papier. Johann Buddenbrook schien dieses neue Wesen ehrlich
1824
und bitterlich gehaßt zu haben, von dem Augenblick an, wo seine ersten
1825
kecken Regungen der Mutter gräßliche Schmerzen bereitet hatten, --
1826
gehaßt zu haben, bis es gesund und lebhaft zur Welt kam, während
1827
Josephine, den blutleeren Kopf in die Kissen gewühlt, verschied, -- und
1828
niemals diesem skrupellosen Eindringling, der kräftig und sorglos
1829
heranwuchs, den Mord der Mutter verziehen zu haben ... Der Konsul
1830
verstand das nicht. Sie starb, dachte er, indem sie die hohe Pflicht des
1831
Weibes erfüllte, und ich hätte die Liebe zu ihr zärtlich auf das Wesen
1832
übertragen, dem sie das Leben schenkte, und das sie mir scheidend
1833
hinterließ ... Er aber, der Vater, hat in seinem ältesten Sohne nie
1834
etwas anderes als den ruchlosen Zerstörer seines Glückes erblickt. Dann,
1835
später, hatte er sich mit Antoinette Duchamps, dem Kinde einer reichen
1836
und hochangesehenen Hamburger Familie, vermählt und respektvoll und
1837
aufmerksam hatten die beiden nebeneinander gelebt ...
1839
Der Konsul blätterte hin und her im Hefte. Er las, ganz hinten, die
1840
kleinen Geschichten seiner eigenen Kinder, wann Tom die Masern und
1841
Antonie die Gelbsucht gehabt und Christian die Windpocken überstanden
1842
hatte; er las von den verschiedenen Reisen nach Paris, der Schweiz und
1843
Marienbad, die er mit seiner Gattin unternommen, und schlug zurück bis
1844
zu den pergamentartigen, eingerissenen, gelbgesprenkelten Blättern, die
1845
der alte Johann Buddenbrook, der Vater des Vaters, mit blaßgrauer Tinte
1846
in weitläufigen Schnörkeln beschrieben hatte. Diese Aufzeichnungen
1847
begannen mit einer weitläufigen Genealogie, welche die Hauptlinie
1848
verfolgte. Wie am Ende des 16. Jahrhunderts ein Buddenbrook, der
1849
älteste, der bekannt, in Parchim gelebt, und sein Sohn zu Grabau
1850
Ratsherr geworden sei. Wie ein fernerer Buddenbrook, Gewandschneider
1851
seines Zeichens, zu Rostock geheiratet, »sich sehr gut gestanden« -- was
1852
unterstrichen war -- und eine ungemeine Menge von Kindern gezeugt habe,
1853
tote und lebendige, wie es gerade kam ... Wie wiederum einer, der schon
1854
Johan geheißen, als Kaufmann zu Rostock verblieben, und wie schließlich,
1855
am Ende und nach manchem Jahr, des Konsuls Großvater hierhergekommen sei
1856
und die Getreidefirma gegründet habe. Von diesem Vorfahren waren schon
1857
alle Daten bekannt: Wann er die Frieseln und wann die echten Blattern
1858
gehabt, war treu verzeichnet; wann er vom dritten Boden auf die Darre
1859
gestürzt und am Leben geblieben, obgleich eine Menge Balken im Wege
1860
gewesen seien, und wann er in ein hitzig Fieber mit Raserei verfallen,
1861
stand reinlich vermerkt. Und er hatte seinen Notizen manche gute
1862
Ermahnung an seine Nachkommen hinzugefügt, von denen, sorgfältig in
1863
hoher gotischer Schrift gemalt und umrahmt, der Satz hervorstach: »Mein
1864
Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche,
1865
daß wir bey Nacht ruhig schlafen können.« Und dann war umständlich
1866
nachgewiesen, daß ihm die alte, zu Wittenberg gedruckte Bibel zugehöre,
1867
und daß sie auf seinen Erstgeborenen und wiederum auf dessen Ältesten
1870
Konsul Buddenbrook zog die Ledermappe zu sich heran, um dies oder jenes
1871
der übrigen Papiere herauszugreifen und zu überlesen. Da waren uralte,
1872
gelbe, zerrissene Briefe, welche sorgende Mütter an ihre in der Fremde
1873
arbeitenden Söhne geschrieben hatten, und die vom Empfänger mit der
1874
Bemerkung versehen waren: »Wohl empfangen und den Inhalt beherzigt.« Da
1875
waren Bürgerbriefe mit Wappen und Siegel der freien und Hansestadt,
1876
Policen, Gratulationspoeme und Patenbriefe. Da waren diese rührenden
1877
Geschäftsbriefe, die etwa der Sohn an den Vater und Kompagnon aus
1878
Stockholm oder Amsterdam geschrieben, die mit einer Beruhigung in
1879
betreff des ziemlich gesicherten Weizens die dringende Bitte verbanden,
1880
=sogleich= Frau und Kinder zu grüßen ... Da war ein besonderes Tagebuch
1881
des Konsuls über seine Reise durch England und Brabant, ein Heft, auf
1882
dessen Umschlag ein Kupfer das Edinburger Schloß mit dem Graßmarkte
1883
darstellte. Da waren als traurige Dokumente die bösen Briefe Gottholds
1884
an seinen Vater und schließlich, als heiterer Abschluß, das letzte
1885
Festgedicht Jean Jacques Hoffstedes ...
1887
Ein feines, eiliges Klingeln ließ sich vernehmen. Der Kirchturm droben,
1888
auf dem mattfarbigen Gemälde, das über dem Sekretär hing und einen
1889
altertümlichen Marktplatz darstellte, besaß eine wirkliche Uhr, die nun
1890
auf ihre Weise zehn schlug. Der Konsul verschloß die Familienmappe und
1891
verwahrte sie sorgfältig in einem hinteren Fache des Sekretärs. Dann
1892
ging er ins Schlafzimmer hinüber.
1894
Hier waren die Wände mit dunklem, großgeblümtem Tuche ausgeschlagen, dem
1895
gleichen Stoffe, aus dem die hohen Gardinen des Wochenbettes bestanden.
1896
Eine Stimmung von Erholung und Frieden nach überstandenen Ängsten und
1897
Schmerzen lag in der Luft, die, vom Ofen noch leise erwärmt, mit einem
1898
Mischgeruch von _Eau de Cologne_ und Medikamenten durchsetzt war. Die
1899
geschlossenen Vorhänge ließen das Licht nur dämmernd herein.
1901
Über die Wiege gebeugt standen die beiden Alten nebeneinander und
1902
betrachteten das schlafende Kind. Die Konsulin aber, in einer eleganten
1903
Spitzenjacke, das rötliche Haar aufs beste frisiert, streckte, ein wenig
1904
bleich noch, aber mit einem glücklichen Lächeln ihrem Gatten die schöne
1905
Hand entgegen, an deren Gelenk auch jetzt ein goldenes Armband leise
1906
klirrte. Sie wandte dabei, nach ihrer Gewohnheit, die Handfläche soweit
1907
als möglich herum, was die Herzlichkeit der Bewegung zu erhöhen
1910
»Nun, Bethsy, wie geht es?«
1912
»Vortrefflich, vortrefflich, mein lieber Jean!«
1914
Ihre Hand in der seinen, näherte er, den Eltern gegenüber, sein Gesicht
1915
dem Kinde, das rasch und geräuschvoll Luft holte, und atmete während
1916
einer Minute den warmen, gutmütigen und rührenden Duft ein, der von ihm
1917
ausging. »Gott segne dich«, sagte er leise, indem er die Stirn des
1918
kleinen Wesens küßte, dessen gelbe, runzlige Fingerchen eine
1919
verzweifelte Ähnlichkeit mit Hühnerklauen besaßen.
1921
»Sie hat prächtig getrunken«, bemerkte Madame Antoinette. »Sieh nur, sie
1922
hat stupende zugenommen ...«
1924
»Wollt ihr mir glauben, daß sie Netten ähnlich sieht?« Johann
1925
Buddenbrooks Gesicht strahlte heute geradezu vor Glück und Stolz.
1926
»Blitzschwarze Augen hat sie, hole mich der Teufel ...«
1928
Die alte Dame wehrte bescheiden ab. »Ach, wie kann man schon jetzt von
1929
einer Ähnlichkeit sprechen ... Du willst zur Kirche, Jean?«
1931
»Ja, es ist zehn, -- hohe Zeit also, ich warte auf die Kinder ...«
1933
Und die Kinder ließen sich bereits hören. Sie lärmten ungebührlich auf
1934
der Treppe, während man das beruhigende Zischen Klothildens vernahm;
1935
dann aber traten sie in ihren Pelzmäntelchen -- denn in der Marienkirche
1936
war es natürlich noch winterlich -- leise und vorsichtig herein, erstens
1937
wegen der kleinen Schwester und zweitens, weil es nötig war, sich vor
1938
dem Gottesdienste zu sammeln. Ihre Gesichter waren rot und erregt. Welch
1939
ein Festtag heute! Der Storch, ein Storch mit braven Muskeln,
1940
entschieden, hatte außer dem Schwesterchen noch allerlei Prachtvolles
1941
mitgebracht: eine neue Schulmappe mit Seehundsfell für Thomas, eine
1942
große Puppe mit wirklichem -- dies war das Außerordentliche -- mit
1943
wirklichem Haar für Antonie, ein buntes Bilderbuch für die artige
1944
Klothilde, die sich aber still und dankbar fast ausschließlich mit den
1945
Zuckertüten beschäftigte, die gleichfalls eingetroffen waren, und für
1946
Christian ein komplettes Kasperle-Theater mit Sultan, Tod und Teufel ...
1948
Sie küßten ihre Mutter und durften rasch noch einmal behutsam hinter die
1949
grünseidne Gardine blicken, worauf sie mit dem Vater, der seinen
1950
Pelerinenmantel übergeworfen und das Gesangbuch zur Hand genommen hatte,
1951
schweigend und ruhigen Schrittes zur Kirche zogen, gefolgt von dem
1952
durchdringenden Geschrei des neuen Familiengliedes, das plötzlich
1958
Zum Sommer, im Mai vielleicht schon, oder im Juni, zog Tony Buddenbrook
1959
immer zu den Großeltern vors Burgtor hinaus, und zwar mit heller Freude.
1961
Es lebte sich gut dort draußen im Freien, in der luxuriös eingerichteten
1962
Villa mit weitläufigen Nebengebäuden, Dienerschaftswohnungen und Remisen
1963
und dem ungeheuren Obst-, Gemüse- und Blumengarten, der sich schräg
1964
abfallend bis zur Trave hinunterzog. Die Krögers lebten auf großem Fuße,
1965
und obgleich ein Unterschied bestand zwischen diesem blitzblanken
1966
Reichtum und dem soliden, wenn auch ein wenig schwerfälligen Wohlstand
1967
in Tonys Elternhause, so war es augenfällig, daß bei den Großeltern
1968
alles immer noch um zwei Grade prächtiger war, als zu Hause; und das
1969
machte Eindruck auf die junge Demoiselle Buddenbrook.
1971
An eine Tätigkeit im Hause oder gar in der Küche war hier niemals zu
1972
denken, während in der Mengstraße der Großvater und die Mama wohl
1973
gleichfalls nicht viel Gewicht darauf legten, der Vater aber und die
1974
Großmama sie oft genug mahnten, den Staub zu wischen und ihr die
1975
ergebene, fromme und fleißige Kusine Thilda als Muster vorhielten. Die
1976
feudalen Neigungen der mütterlichen Familie regten sich in dem kleinen
1977
Fräulein, wenn sie vom Schaukelstuhle aus der Zofe oder dem Diener einen
1978
Befehl erteilte ... Zwei Mädchen und ein Kutscher gehörten außer ihnen
1979
zum Personale der alten Herrschaften.
1981
Was man sagen mag, so ist es etwas Angenehmes, wenn beim Erwachen
1982
morgens in dem großen, mit hellem Stoff tapezierten Schlafzimmer die
1983
erste Bewegung der Hand eine schwere Atlassteppdecke trifft; und es ist
1984
nennenswert, wenn zum ersten Frühstück vorn im Terrassenzimmer, während
1985
durch die offene Glastür vom Garten die Morgenluft hereinstreicht, statt
1986
des Kaffees oder des Tees eine Tasse Schokolade verabreicht wird, ja,
1987
jeden Tag Geburtstagsschokolade mit einem dicken Stück feuchten
1990
Dieses Frühstück freilich mußte Tony, abgesehen von den Sonntagen, ohne
1991
Gesellschaft einnehmen, da die Großeltern lange nach Beginn der
1992
Schulzeit herunterzukommen pflegten. Wenn sie ihren Kuchen zur
1993
Schokolade verzehrt hatte, so ergriff sie die Büchermappe, trippelte die
1994
Terrasse hinunter und schritt durch den wohlgepflegten Vorgarten.
1996
Sie war höchst niedlich, die kleine Tony Buddenbrook. Unter dem Strohhut
1997
quoll ihr starkes Haar, dessen Blond mit den Jahren dunkler wurde,
1998
natürlich gelockt hervor, und die ein wenig hervorstehende Oberlippe gab
1999
dem frischen Gesichtchen mit den graublauen, munteren Augen einen
2000
Ausdruck von Keckheit, der sich auch in ihrer graziösen kleinen Gestalt
2001
wiederfand; sie setzte ihre schmalen Beinchen in den schneeweißen
2002
Strümpfen mit einer wiegenden und elastischen Zuversichtlichkeit. Viele
2003
Leute kannten und begrüßten die kleine Tochter des Konsuls Buddenbrook,
2004
wenn sie durch die Gartenpforte in die Kastanienallee hinaustrat. Eine
2005
Gemüsefrau vielleicht, die, ihre große Strohschute mit hellgrünen
2006
Bändern auf dem Kopf, in ihrem Wägelchen vom Dorfe hereinkutschierte,
2007
rief ihr ein freundliches »God'n Morgen ook, Mamselling!« zu, und der
2008
große Kornträger Matthiesen, der in seinem schwarzen Habit mit
2009
Pumphosen, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen vorüberging, nahm vor
2010
Ehrerbietung sogar seinen rauhen Zylinder ab ...
2012
Tony blieb ein bißchen stehen, um auf ihre Nachbarin Julchen Hagenström
2013
zu warten, mit der sie den Schulweg zurückzulegen pflegte. Dies war ein
2014
Kind mit etwas zu hohen Schultern und großen, blanken, schwarzen Augen,
2015
das nebenan in der völlig von Weinlaub bewachsenen Villa wohnte. Ihr
2016
Vater, Herr Hagenström, dessen Familie noch nicht lange am Orte ansässig
2017
war, hatte eine junge Frankfurterin geheiratet, eine Dame mit
2018
außerordentlich dickem schwarzen Haar und den größten Brillanten der
2019
Stadt an den Ohren, die übrigens Semlinger hieß. Herr Hagenström,
2020
welcher Teilhaber einer Exportfirma -- Strunck & Hagenström -- war,
2021
entwickelte in städtischen Angelegenheiten viel Eifer und Ehrgeiz, hatte
2022
jedoch bei Leuten mit strengeren Traditionen, den Möllendorpfs,
2023
Langhals' und Buddenbrooks, mit seiner Heirat einiges Befremden erregt
2024
und war, davon abgesehen, trotz seiner Rührigkeit als Mitglied von
2025
Ausschüssen, Kollegien, Verwaltungsräten und dergleichen nicht
2026
sonderlich beliebt. Er schien es darauf abgesehen zu haben, den
2027
Angehörigen der alteingesessenen Familien bei jeder Gelegenheit zu
2028
opponieren, ihre Meinungen auf schlaue Weise zu widerlegen, die seine
2029
dagegen durchzusetzen und sich als weit tüchtiger und unentbehrlicher zu
2030
erweisen als sie. Konsul Buddenbrook sagte von ihm: »Hinrich Hagenström
2031
ist aufdringlich mit seinen Schwierigkeiten ... Er muß es geradezu auf
2032
mich persönlich abgesehen haben; wo er kann, behindert er mich ... Heute
2033
gab es eine Szene in der Sitzung der Zentral-Armen-Deputation, vor ein
2034
paar Tagen im Finanz-Departement ...« Und Johann Buddenbrook fügte
2035
hinzu: »Ein oller Stänker!« -- Ein anderes Mal kamen Vater und Sohn
2036
zornig und deprimiert zu Tische ... Was passiert sei? Ach, nichts ...
2037
Eine große Lieferung Roggen nach Holland sei ihnen verloren gegangen;
2038
Strunck & Hagenström hätten sie ihnen vor der Nase weggeschnappt; ein
2039
Fuchs, dieser Hinrich Hagenström ...
2041
Solche Äußerungen hatte Tony oft genug angehört, um gar nicht zum besten
2042
gegen Julchen Hagenström gestimmt zu sein. Sie gingen gemeinsam, weil
2043
sie einmal Nachbarinnen waren, aber meistens ärgerten sie einander.
2045
»Mein Vater hat tausend Taler!« sagte Julchen und glaubte entsetzlich zu
2046
lügen. »Deiner vielleicht --?«
2048
Tony schwieg vor Neid und Demütigung. Dann sagte sie ganz ruhig und
2051
»Meine Schokolade eben hat furchtbar gut geschmeckt ... Was trinkst du
2052
eigentlich zum Frühstück, Julchen?«
2054
»Ja, ehe ich es vergesse«, antwortete Julchen; »möchtest du gern einen
2055
von meinen Äpfeln haben? -- Ja päh! ich gebe dir aber keinen!« Und dabei
2056
kniff sie ihre Lippen zusammen, und ihre schwarzen Augen wurden feucht
2059
Manchmal ging Julchens Bruder Hermann, ein paar Jahre älter als sie,
2060
gleichzeitig zur Schule. Sie besaß noch einen zweiten Bruder namens
2061
Moritz, aber dieser war kränklich und ward zu Hause unterrichtet.
2062
Hermann war blond, aber seine Nase lag ein wenig platt auf der
2063
Oberlippe. Auch schmatzte er beständig mit den Lippen, denn er atmete
2066
»Unsinn!« sagte er, »Papa hat viel mehr als tausend Taler.« Das
2067
Interessante an ihm aber war, daß er als zweites Frühstück zur Schule
2068
nicht Brot mitnahm, sondern Zitronensemmel: ein weiches, ovales
2069
Milchgebäck, das Korinthen enthielt, und das er sich zum Überfluß mit
2070
Zungenwurst oder Gänsebrust belegte ... Dies war so sein Geschmack.
2072
Für Tony Buddenbrook war das etwas Neues. Zitronensemmel mit Gänsebrust,
2073
-- übrigens mußte es gut schmecken! Und wenn er sie in seine Blechbüchse
2074
blicken ließ, so verriet sie den Wunsch, ein Stück zu probieren. Eines
2075
Morgens sagte Hermann:
2077
»Ich kann nichts entbehren, Tony, aber morgen werde ich ein Stück mehr
2078
mitbringen, und das soll für dich sein, wenn du mir etwas dafür
2079
wiedergeben willst.«
2081
Nun, am nächsten Morgen trat Tony in die Allee hinaus und wartete fünf
2082
Minuten, ohne daß Julchen gekommen wäre. Sie wartete noch eine Minute,
2083
und dann kam Hermann allein; er schwenkte seine Frühstücksdose am
2084
Riemen hin und her und schmatzte leise.
2086
»Na«, sagte er, »hier ist eine Zitronensemmel mit Gänsebrust; es ist
2087
nicht einmal Fett daran, -- das pure Fleisch ... Was gibst du mir
2090
»Ja, -- einen Schilling vielleicht?« fragte Tony. Sie standen mitten in
2093
»Einen Schilling ...« wiederholte Hermann; dann schluckte er hinunter
2096
»Nein, ich will etwas anderes haben.«
2098
»Was denn?« fragte Tony; sie war bereit, alles Mögliche für den
2099
Leckerbissen zu geben ...
2101
»Einen Kuß!« rief Hermann Hagenström, schlang beide Arme um Tony und
2102
küßte blindlings darauf los, ohne ihr Gesicht zu berühren, denn sie
2103
hielt mit ungeheurer Gelenkigkeit den Kopf zurück, stemmte die linke
2104
Hand mit der Büchermappe gegen seine Brust und klatschte mit der rechten
2105
drei oder viermal aus allen Kräften in sein Gesicht ... Er taumelte
2106
zurück; aber im selben Augenblick fuhr hinter einem Baume Schwester
2107
Julchen wie ein schwarzes Teufelchen hervor, warf sich, zischend vor
2108
Wut, auf Tony, riß ihr den Hut vom Kopf und zerkratzte ihr die Wangen
2109
aufs jämmerlichste ... Seit diesem Ereignis war es beinahe zu Ende mit
2112
Übrigens hatte Tony sicherlich nicht aus Schüchternheit dem jungen
2113
Hagenström den Kuß verweigert. Sie war ein ziemlich keckes Geschöpf, das
2114
mit seiner Ausgelassenheit seinen Eltern, im besondern dem Konsul,
2115
manche Sorge bereitete, und obgleich sie ein intelligentes Köpfchen
2116
besaß, das flink in der Schule erlernte, was man begehrte, so war ihr
2117
Betragen in so hohem Grade mangelhaft, daß schließlich sogar die
2118
Schulvorsteherin, welche Fräulein Agathe Vermehren hieß, ein wenig
2119
schwitzend vor Verlegenheit, in der Mengstraße erschien und der Konsulin
2120
höflichst anheim gab, der jungen Tochter eine ernstliche Ermahnung
2121
zuteil werden zu lassen -- denn dieselbe habe sich, trotz vieler
2122
liebevoller Verwarnungen, auf der Straße aufs neue offenkundigen Unfugs
2125
Es war kein Schade, daß Tony auf ihren Gängen durch die Stadt alle Welt
2126
kannte und mit aller Welt plauderte; der Konsul zumal war hiermit
2127
einverstanden, weil es keinen Hochmut, sondern Gemeinsinn und
2128
Nächstenliebe verriet. Sie kletterte, gemeinsam mit Thomas, in den
2129
Speichern an der Trave zwischen den Mengen von Hafer und Weizen umher,
2130
die auf den Böden ausgebreitet waren, sie schwatzte mit den Arbeitern
2131
und den Schreibern, die dort in den kleinen dunklen Kontoren zu ebener
2132
Erde saßen, ja, sie half sogar draußen beim Aufwinden der Säcke. Sie
2133
kannte die Schlachter, die mit ihren weißen Schürzen und Mulden durch
2134
die Breite Straße wanderten; sie kannte die Milchfrauen, die mit ihren
2135
Blechkannen vom Lande hereinkamen und ließ sich manchmal ein Stück von
2136
ihnen kutschieren; sie kannte die graubärtigen Meister in den kleinen,
2137
hölzernen Goldschmiedebuden, die in die Marktarkaden hineingebaut waren,
2138
die Fisch-, Obst- und Gemüsefrauen auf dem Markte, sowie die
2139
Dienstmänner, die an den Straßenecken ihren Tabak kauten ... Gut und
2142
Aber ein bleicher, bartloser Mensch, dessen Alter nicht zu bestimmen ist
2143
und der morgens mit einem traurigen Lächeln in der Breiten Straße zu
2144
lustwandeln pflegt, kann nichts dafür, wenn er gezwungen ist, bei jedem
2145
plötzlichen Laut, den man ausstößt -- zum Beispiel »Ha!« oder »Ho!« --
2146
auf einem Beine zu tanzen; und dennoch ließ Tony ihn tanzen, sobald sie
2147
ihn zu Gesichte bekam. Es ist ferner nicht schön, eine ganz winzige
2148
kleine Frau mit großem Kopfe, welche die Gewohnheit hat, bei jeder
2149
Witterung einen ungeheuren, durchlöcherten Schirm über sich aufgespannt
2150
zu halten, beständig durch Rufe wie »Schirmmadame!« oder »Champignon!«
2151
zu betrüben; und es ist tadelnswert, wenn man mit zwei oder drei
2152
gleichgesinnten Freundinnen vor dem Häuschen der alten Puppenliese
2153
erscheint, die in einer engen Twiete bei der Johannisstraße mit wollenen
2154
Puppen handelt und allerdings ganz merkwürdig rote Augen hat, -- dort
2155
aus Leibeskräften die Glocke zieht und, wenn die Alte herauskommt, mit
2156
falscher Freundlichkeit fragt, ob hier vielleicht Herr und Madame
2157
Spucknapf wohnen, worauf man mit großem Gekreisch davonrennt ... Das
2158
alles aber tat Tony Buddenbrook und zwar, wie es schien, mit völlig
2159
gutem Gewissen. Denn wurde ihr von seiten irgendeines Gequälten eine
2160
Drohung zuteil, so mußte man sehen, wie sie einen Schritt zurücktrat,
2161
den hübschen Kopf mit der vorstehenden Oberlippe zurückwarf und ein halb
2162
entrüstetes, halb mokantes »Pa!« hervorstieß, als wollte sie sagen:
2163
»Wage es nur, mir etwas anhaben zu wollen! Ich bin Konsul Buddenbrooks
2164
Tochter, wenn du es vielleicht nicht weißt ...«
2166
Sie ging in der Stadt wie eine kleine Königin umher, die sich das gute
2167
Recht vorbehält, freundlich oder grausam zu sein, je nach Geschmack und
2173
Jean Jacques Hoffstede hatte, was die beiden Söhne des Konsuls
2174
Buddenbrook anging, sicherlich ein treffendes Urteil gefällt.
2176
Thomas, der seit seiner Geburt bereits zum Kaufmann und künftigen
2177
Inhaber der Firma bestimmt war und die realwissenschaftliche Abteilung
2178
der alten Schule mit den gotischen Gewölben besuchte, war ein kluger,
2179
regsamer und verständiger Mensch, der sich übrigens aufs köstlichste
2180
amüsierte, wenn Christian, welcher Gymnasiast war und nicht weniger
2181
Begabung, aber weniger Ernsthaftigkeit zeigte, mit ungeheurem Geschick
2182
die Lehrer nachahmte -- im besonderen den tüchtigen Herrn Marcellus
2183
Stengel, der im Singen, Zeichnen und derartigen lustigen Fächern den
2184
Unterricht erteilte.
2186
Herr Stengel, aus dessen Westentaschen stets ein halbes Dutzend
2187
wundervoll gespitzter Bleistifte hervorstarrten, trug eine fuchsrote
2188
Perücke und einen offenen, hellbraunen Rock, der ihm fast bis an die
2189
Knöchel reichte, besaß Vatermörder, die sogar noch seine Schläfen
2190
bedeckten, und war ein witziger Kopf, der philosophische
2191
Unterscheidungen liebte, wie etwa: »Du sollst 'ne Linie machen, mein
2192
gutes Kind, und was machst du? Du machst 'nen Strich!« -- Er sagte
2193
»Line« statt »Linie«. Oder zu einem Faulen: »Du sitzest in Quarta nicht
2194
Jahre, will ich dir sagen, sondern Jahren!« -- Wobei er »Quäta« statt
2195
»Quarta« sagte und nicht »Jahre«, sondern beinahe »Schahre« aussprach
2196
... Sein Lieblingsunterricht bestand darin, in der Gesangstunde das
2197
schöne Lied »Der grüne Wald« üben zu lassen, wobei einige Schüler auf
2198
den Korridor hinausgehen mußten, um, wenn der Chorus angestimmt hatte:
2199
»Wir ziehen so fröhlich durch Feld und Wald ...« ganz leise und
2200
vorsichtig das letzte Wort als Echo zu wiederholen. Waren jedoch
2201
Christian Buddenbrook, sein Vetter Jürgen Kröger oder sein Freund
2202
Andreas Giesecke, Sohn des Branddirektors, hiermit beamtet, so warfen
2203
sie, statt das zarte Echo zu vollführen, den Kohlenkasten die Treppe
2204
hinunter und mußten nachmittags um vier Uhr in der Wohnung des Herrn
2205
Stengel nachsitzen. Hier ging es ziemlich behaglich zu. Herr Stengel
2206
hatte alles vergessen und befahl seiner Haushälterin, den Schülern
2207
Buddenbrook, Kröger und Giesecke »je« eine Tasse Kaffee zu verabreichen,
2208
worauf er die jungen Herren wieder entließ ...
2210
In der Tat, die vortrefflichen Gelehrten, die unter der freundlichen
2211
Herrschaft eines humanen, tabakschnupfenden, alten Direktors in den
2212
Gewölben der alten Schule -- einer ehemaligen Klosterschule -- ihres
2213
Amtes walteten, waren harmlose und gutmütige Leute, einig in der
2214
Ansicht, daß Wissenschaft und Heiterkeit einander nicht ausschlössen,
2215
und bestrebt, mit Wohlwollen und Behagen zu Werke zu gehen. Es war da in
2216
den mittleren Klassen ein ehemaliger Prediger, der im Lateinischen
2217
unterrichtete, ein gewisser Pastor Hirte, ein langer Herr mit braunem
2218
Backenbart und munteren Augen, dessen Lebensglück geradezu in dieser
2219
Übereinstimmung seines Namens mit seinem Titel bestand, und der nicht
2220
oft genug die Vokabel _pastor_ sich übersetzen lassen konnte. Seine
2221
Lieblingsredensart lautete »grenzenlos borniert!« und es ist niemals
2222
aufgeklärt worden, ob dies ein bewußter Scherz war. Beabsichtigte er
2223
aber, seine Schüler völlig zu verblüffen, so gebot er über die Kunst,
2224
die Lippen in den Mund zu klemmen und sie wieder hinauszuschnellen, in
2225
einer Art, daß es knallte wie ein springender Champagnerpfropfen. Er
2226
liebte es, mit langen Schritten im Klassenzimmer umherzugehen und
2227
einzelnen Schülern mit ungeheurer Lebhaftigkeit ihr ganzes zukünftiges
2228
Leben zu erzählen, und zwar zu dem ausgesprochenen Zwecke, ihre
2229
Phantasie ein bißchen anzuregen. Dann aber ging er ernstlich zur Arbeit
2230
über, das heißt, er überhörte die Verse, die er über _genus_-Regeln --
2231
er sagte »Genußregeln« -- und allerhand schwierige Konstruktionen mit
2232
wirklichem Geschick gedichtet hatte, Verse, die Pastor Hirte mit
2233
unaussprechlich triumphierender Betonung des Rhythmus und der Reime
2236
Toms und Christians Jugendzeit ... es ist nichts Bedeutendes davon zu
2237
melden. In jenen Tagen herrschte Sonnenschein im Hause Buddenbrook, wo
2238
in den Kontoren die Geschäfte so ausgezeichnet gingen. Und manchmal gab
2239
es ein Gewitter, ein kleines Unglück wie dieses:
2241
Herr Stuht in der Glockengießerstraße, ein Schneidermeister, dessen
2242
Gattin alte Kleidungsstücke kaufte und darum in den ersten Kreisen
2243
verkehrte, Herr Stuht, dessen Bauch von einem wollenen Hemd bekleidet
2244
war und in erstaunlicher Rundung über das Beinkleid hinunterfiel ...
2245
Herr Stuht hatte den jungen Herren Buddenbrook zwei Anzüge gefertigt,
2246
die zusammen siebenzig Kurantmark kosteten; allein auf den Wunsch der
2247
beiden hatte er sich bereit finden lassen, schlanker Hand achtzig auf
2248
die Rechnung zu setzen und ihnen bar den Rest einzuhändigen. Das war ein
2249
kleines Geschäft ... kein ganz säuberliches wohl, aber durchaus kein
2250
ungewöhnliches. Das Unglück aber bestand darin, daß durch das Walten
2251
irgendeines finsteren Schicksales das Ganze an den Tag kam, daß Herr
2252
Stuht, einen schwarzen Rock über dem wollenen Hemd, im Privatkontor des
2253
Konsuls erscheinen mußte und Tom und Christian in seiner Gegenwart einem
2254
strengen Verhör unterzogen wurden. Herr Stuht, der breitbeinig, aber mit
2255
seitwärts geneigtem Kopf und in achtungsvoller Haltung neben dem
2256
Armsessel des Konsuls stand, hielt eine wohltönende Rede, des Inhaltes,
2257
daß »dat nu so'n Saak« sei und daß er froh sein werde, die siebenzig
2258
Kurantmark wiederzubekommen, »indem de Saak ja nu mal scheep gangen«
2259
sei. Der Konsul war heftig aufgebracht über diesen Streich. Nach ernster
2260
Überlegung aber auf seiner Seite war das Ergebnis, daß er das
2261
Taschengeld seiner Söhne erhöhte; denn es hieß: Führe uns nicht in
2264
Augenscheinlich waren auf Thomas Buddenbrook größere Hoffnungen zu
2265
setzen als auf seinen Bruder. Sein Benehmen war gleichmäßig und von
2266
verständiger Munterkeit; Christian dagegen erschien launenhaft, neigte
2267
einerseits zu einer albernen Komik und konnte andererseits die gesamte
2268
Familie auf die sonderbarste Weise erschrecken ...
2270
Man sitzt bei Tische, man ist beim Obste angelangt und speist unter
2271
behaglichen Gesprächen. Plötzlich jedoch legt Christian einen
2272
angebissenen Pfirsich auf den Teller zurück, sein Gesicht ist bleich,
2273
und seine runden, tiefliegenden Augen über der allzu großen Nase haben
2276
»Ich esse nie wieder einen Pfirsich«, sagt er.
2278
»Warum nicht, Christian ... Was für ein Unsinn ... Was ist dir?«
2280
»Denkt euch, wenn ich aus Versehen ... diesen großen Kern verschluckte,
2281
und wenn er mir im Halse steckte ... und ich nicht Luft bekommen könnte
2282
... und ich spränge auf und würgte gräßlich, und ihr alle spränget auch
2283
auf ...« Und plötzlich fügt er ein kurzes, stöhnendes »Oh!« hinzu, das
2284
voll ist von Entsetzen, richtet sich unruhig auf seinem Stuhle empor und
2285
wendet sich seitwärts, als wollte er fliehen.
2287
Die Konsulin und Mamsell Jungmann springen tatsächlich auf.
2289
»Gott im Himmel, -- Christian, du hast ihn doch nicht verschluckt?!«
2290
Denn es hat vollkommen den Anschein, als sei es wirklich geschehen.
2292
»Nein, nein«, sagt Christian und beruhigt sich allmählich, »aber =wenn=
2293
ich ihn verschluckte!«
2295
Der Konsul, der gleichfalls blaß vor Schrecken ist, beginnt nun zu
2296
schelten, und auch der Großvater pocht indigniert auf den Tisch und
2297
verbittet sich die Narrenspossen ... Allein Christian ißt wirklich
2298
längere Zeit keinen Pfirsich mehr. --
2303
Es war nicht bloß Altersschwäche, was die alte Madame Antoinette
2304
Buddenbrook, sechs Jahre ungefähr nachdem die Familie das Haus in der
2305
Mengstraße bezogen, an einem kalten Januartag endgültig auf ihr hohes
2306
Himmelbett im Schlafzimmer des Zwischengeschosses darniederwarf. Die
2307
alte Dame war rüstig gewesen bis zuletzt und hatte ihre dicken weißen
2308
Seitenlocken mit aufrechter Würde getragen; sie hatte zusammen mit ihrem
2309
Gatten und ihren Kindern die hauptsächlichsten Diners besucht, die in
2310
der Stadt gegeben wurden, und bei den Gesellschaften, die Buddenbrooks
2311
selbst veranstalteten, ihrer eleganten Schwiegertochter im
2312
Repräsentieren nicht nachgestanden. Eines Tages aber, ganz plötzlich,
2313
hatte sich ein halb unbestimmbares Leiden eingestellt, ein leichter
2314
Darmkatarrh anfangs nur, gegen den Doktor Grabow ein wenig Taube und
2315
Franzbrot verordnet hatte, eine mit Erbrechen verbundene Kolik, die mit
2316
unbegreiflicher Schnelligkeit Entkräftung herbeiführte, einen sanften
2317
und hinfälligen Zustand, der beängstigend war.
2319
Als dann Doktor Grabow mit dem Konsul eine kurze, ernste Unterredung
2320
draußen auf der Treppe gehabt hatte, als ein zweiter, neu hinzugezogener
2321
Arzt, ein untersetzter, schwarzbärtiger, düsterblickender Mann, neben
2322
Grabow aus und ein zu gehen begann, da änderte sich gleichsam die
2323
Physiognomie des Hauses. Man ging auf den Zehen umher, man flüsterte
2324
ernst, und die Wagen durften nicht über die Diele rollen. Etwas Neues,
2325
Fremdes, Außerordentliches schien eingekehrt, ein Geheimnis, das einer
2326
in des anderen Augen las; der Gedanke an den Tod hatte sich Einlaß
2327
geschafft und herrschte stumm in den weiten Räumen.
2329
Dabei durfte nicht gefeiert werden, denn es kam Besuch. Die Krankheit
2330
währte vierzehn oder fünfzehn Tage, und nach einer Woche kam der alte
2331
Senator Duchamps, ein Bruder der Sterbenden, nebst seiner Tochter von
2332
Hamburg an, während ein paar Tage später des Konsuls Schwester mit ihrem
2333
Gatten, dem Bankier aus Frankfurt eintraf. Die Herrschaften wohnten im
2334
Hause, und Ida Jungmann hatte alle Hände voll zu tun, für die
2335
verschiedenen Schlafzimmer zu sorgen und gute Frühstücke mit Krabben und
2336
Portwein bereitzuhalten, während in der Küche gebraten und gebacken
2339
Droben saß Johann Buddenbrook am Krankenbette und blickte, die matte
2340
Hand seiner alten Nette in der seinen, mit erhobenen Brauen und ein
2341
wenig hängender Unterlippe stumm vor sich hin. Die Wanduhr tickte dumpf
2342
und mit langen Pausen, viel seltener aber noch atmete die Kranke einmal
2343
kurz und oberflächlich auf ... Eine schwarze Schwester machte sich am
2344
Tisch mit dem Beeftee zu schaffen, den man versuchsweise noch reichen
2345
wollte; dann und wann trat geräuschlos ein Familienmitglied ein und
2348
Der Alte mochte sich erinnern, wie er vor 46 Jahren zum erstenmal am
2349
Sterbebette einer Gattin gesessen hatte, und er mochte der wilden
2350
Verzweiflung, die damals in ihm aufbegehrt war, die nachdenkliche Wehmut
2351
vergleichen, mit der er, nun selbst so alt, in das veränderte,
2352
ausdruckslose und entsetzlich gleichgültige Gesicht der alten Frau
2353
blickte, die ihm niemals ein großes Glück, niemals einen großen Schmerz
2354
bereitet, die aber viele lange Jahre mit klugem Anstand bei ihm
2355
ausgehalten und nun ebenfalls langsam davonging.
2357
Er dachte nicht viel, er sah nur unverwandt und mit einem leisen
2358
Kopfschütteln auf sein Leben und das Leben im allgemeinen zurück, das
2359
ihm plötzlich so fern und wunderlich erschien, dieses überflüssig
2360
geräuschvolle Getümmel, in dessen Mitte er gestanden, das sich
2361
unmerklich von ihm zurückgezogen hatte und nun vor seinem verwundert
2362
aufhorchenden Ohr in der Ferne erhallte ... Manchmal sagte er mit halber
2363
Stimme vor sich hin:
2367
Und als dann Madame Buddenbrook ihren letzten, ganz kurzen und
2368
kampflosen Seufzer getan hatte, als im Eßsaal, woselbst die Einsegnung
2369
stattfand, die Träger den blumenbedeckten Sarg aufgehoben hatten, um ihn
2370
schwerfällig davonzuschaffen, -- da änderte sich seine Stimmung nicht,
2371
da weinte er nicht einmal; aber dies leise, erstaunte Kopfschütteln
2372
blieb ihm, und dies beinahe lächelnde »Kurios!« wurde sein Lieblingswort
2373
... Kein Zweifel, daß es auch mit Johann Buddenbrook zu Ende ging.
2375
Er fing an, stumm und abwesend im Familienkreise zu sitzen, und wenn er
2376
einmal die kleine Klara auf die Knie genommen hatte, um ihr vielleicht
2377
eines seiner alten drolligen Lieder vorzusingen, zum Beispiel:
2379
»Der Omnibus fährt durch die Stadt ...«
2383
»Kiek, doa sitt'n Brummer an de Wand ...«
2385
so konnte er plötzlich stillschweigen, um dann die Enkelin, gleichsam
2386
aus einem langen, halb unbewußten Gedankengange heraus, mit einem
2387
kopfschüttelnden »Kurios!« zu Boden zu setzen und sich abzuwenden ...
2388
Eines Tages sagte er:
2390
»Jean, -- _assez_, du?«
2392
Und alsbald begannen in der Stadt die reinlich gedruckten und mit zwei
2393
Unterschriften versehenen Formulare zu zirkulieren, auf denen Johann
2394
Buddenbrook _senior_ sich kundzutun erlaubte, daß sein zunehmendes Alter
2395
ihn veranlasse, seine bisherige kaufmännische Wirksamkeit aufzugeben,
2396
und daß er infolgedessen die von seinem seligen Vater _Anno_ 1768
2397
gegründete Handlung =Johann Buddenbrook= mit _Activis_ und _Passivis_
2398
unter gleicher Firma von heute an seinem Sohne und seitherigen Associé
2399
Johann Buddenbrook als alleinigen Inhaber übertrage, mit der Bitte, das
2400
ihm so vielseitig geschenkte Vertrauen seinem Sohne zu erhalten ...
2401
Hochachtungsvoll -- Johann Buddenbrook _senior_, welcher aufhören wird
2404
Als aber diese Kundgebung erfolgt war, als der Alte fortan sich
2405
weigerte, noch einen Fuß ins Kontor zu setzen, da nahm seine
2406
nachdenkliche Apathie in erschreckender Weise zu, da genügte, Mitte
2407
März, ein paar Monate nur nach dem Tode seiner Frau, irgendein kleiner
2408
Frühlingsschnupfen, um ihn bettlägerig zu machen, -- und dann, in einer
2409
Nacht, kam die Stunde, wo die Familie auch sein Bett umstand, wo er zum
2412
»Alles Glück, -- du? Jean? Und immer _courage_!«
2416
»Hilf deinem Vater!«
2420
»Werde was Ordentliches!«
2422
-- worauf er schwieg, alle anblickte und sich mit einem letzten
2423
»Kurios!« nach der Wand kehrte ...
2425
Er hatte Gottholds bis zum Schluß nicht Erwähnung getan, und auf die
2426
schriftliche Aufforderung des Konsuls, am Sterbebette des Vaters zu
2427
erscheinen, hatte der älteste Sohn mit Schweigen geantwortet. Am nächsten
2428
Morgen jedoch, ganz früh, als die Todesanzeigen noch nicht versandt waren
2429
und der Konsul auf die Treppe hinaustrat, um im Kontor das Notwendigste
2430
zu erledigen, geschah das Merkwürdige, daß Gotthold Buddenbrook, Inhaber
2431
der Leinenhandlung Siegmund Stüwing & Komp. in der Breitenstraße, raschen
2432
Schrittes über die Diele kam. Sechsundvierzigjährig, klein und beleibt,
2433
besaß er starke, aschblonde, mit weißen Fäden durchsetzte Kotelettes. Er
2434
war kurzbeinig und trug sackartig weite Hosen aus rauhem, kariertem
2435
Stoff. Die Treppe hinauf schritt er dem Konsul entgegen, indem er die
2436
Brauen hoch unter die Krempe seines grauen Hutes erhob und sie dennoch
2439
»Johann«, sagte er, ohne dem Bruder die Hand zu reichen, mit hoher,
2440
angenehmer Stimme, »wie steht es?«
2442
»Heute nacht ist er heimgegangen!« sagte der Konsul bewegt und ergriff
2443
die Hand des Bruders, die einen Regenschirm hielt. »Er, der beste
2446
Gotthold senkte die Brauen so tief, daß seine Lider sich schlossen. Nach
2447
einem Schweigen sagte er nachdrücklich:
2449
»Es ist nichts geändert worden, bis zum Schlusse, Johann?«
2451
Und sofort ließ der Konsul seine Hand fahren, ja, er trat sogar eine
2452
Stufe zurück, und während seine runden, tiefliegenden Augen klar wurden,
2457
Gottholds Brauen wanderten wieder unter die Hutkrempe hinauf, und seine
2458
Augen richteten sich mit Anstrengung auf den Bruder.
2460
»Und was habe ich von =deiner= Gerechtigkeit zu gewärtigen?« sagte er
2461
mit gesenkter Stimme.
2463
Der Konsul seinerseits senkte nun den Blick; dann aber, ohne ihn wieder
2464
zu erheben, machte er jene entschiedene Handbewegung von oben nach unten
2465
und antwortete leise und fest:
2467
»Ich habe dir in diesem schweren und ernsten Augenblick meine Hand als
2468
Bruder gereicht; was aber geschäftliche Dinge betrifft, so kann ich dir
2469
immer nur als Chef der ehrwürdigen Firma gegenüberstehen, deren
2470
alleiniger Inhaber ich heute geworden bin. Du kannst nichts von mir
2471
gewärtigen, was den Verpflichtungen widerspricht, die mir =diese=
2472
Eigenschaft auferlegt; meine sonstigen Gefühle müssen schweigen.«
2474
Gotthold ging ... Zum Begräbnis jedoch, als die Menge der Verwandten,
2475
Bekannten, Geschäftsfreunde, der Deputationen, Kornträger, Kontoristen
2476
und Speicherarbeiter Zimmer, Treppen und Korridore füllte und die
2477
sämtlichen Mietkutschen der Stadt die ganze Mengstraße hinunterstanden,
2478
-- zum Begräbnis kam er zur aufrichtigen Freude des Konsuls aufs neue;
2479
ja, er brachte sogar seine Gattin, die geborene Stüwing, und seine drei
2480
schon erwachsenen Töchter mit: Friederike und Henriette, die beide sehr
2481
lang und hager waren, und Pfiffi, die achtzehnjährige Jüngste, die allzu
2482
klein und beleibt erschien.
2484
Und als dann am Grabe, am Buddenbrookschen Erbbegräbnis dort draußen
2485
vorm Burgtore, am Rande des Friedhofgehölzes, Pastor Kölling von Sankt
2486
Marien, ein robuster Mann mit dickem Kopf und derber Redeweise, das
2487
maßvolle, gottgefällige Leben des Verstorbenen gepriesen hatte, im
2488
Gegensatze zu dem der »Wollüstigen, Fresser und Säufer« -- dies war sein
2489
Ausdruck, obgleich manche Leute, die sich der Diskretion des jüngst
2490
verstorbenen alten Wunderlich erinnerten, die Köpfe schüttelten, -- als
2491
die Feierlichkeiten und Formalitäten beendet waren und die 70 oder 80
2492
Mietkutschen in die Stadt zurückzurollen begannen ... da erbot sich
2493
Gotthold Buddenbrook, den Konsul zu begleiten, weil er ihn unter vier
2494
Augen zu sprechen wünsche. Und siehe da: hier, neben dem Stiefbruder auf
2495
dem Rücksitz der hohen, weiten, plumpen Kutsche, eins seiner kurzen
2496
Beine über das andere gelegt, zeigte er sich versöhnlich und sanft. Er
2497
erkenne, sagte er, mehr und mehr, daß der Konsul handeln müsse, wie er
2498
es tue, und das Andenken des Vaters solle für ihn kein böses sein. Er
2499
verzichte auf seine Ansprüche, und zwar um so lieber, als er gesonnen
2500
sei, sich von allen Geschäften zurückzuziehen und sich mit seinem Erbe
2501
und dem, was ihm sonst erübrige, zur Ruhe zu setzen, denn das
2502
Leinengeschäft mache ihm wenig Freude und gehe so mäßig, daß er sich
2503
nicht entschließen werde, noch mehr hineinzustecken ... »Der Trotz gegen
2504
den Vater hat ihm keinen Segen gebracht!« dachte der Konsul mit einem
2505
inneren frommen Aufblick; und Gotthold dachte wahrscheinlich dasselbe.
2507
In der Mengstraße aber begleitete er den Bruder ins Frühstückszimmer
2508
hinauf, woselbst die beiden Herren, nach dem langen Stehen in der
2509
Frühlingsluft in ihren Fräcken fröstelnd, einen alten Kognak miteinander
2510
tranken. Und als dann Gotthold ein paar höfliche und ernste Worte mit
2511
seiner Schwägerin gewechselt und den Kindern die Köpfe gestreichelt
2512
hatte, ging er davon, um am nächsten »Kindertag« bei Krögers draußen im
2513
Gartenhause zu erscheinen ... Er begann schon zu liquidieren.
2518
Eines schmerzte den Konsul: daß nämlich der Vater nicht mehr den
2519
Eintritt seines ältesten Enkels ins Geschäft hatte erleben dürfen, der
2520
schon um Ostern desselben Jahres erfolgte.
2522
Thomas war sechzehnjährig, als er die Schule verließ. Er war stark
2523
gewachsen in letzter Zeit und trug seit seiner Konfirmation, bei der
2524
Pastor Kölling ihm mit starken Ausdrücken Mäßigkeit! empfohlen hatte,
2525
ganz herrenmäßige Kleidung, die ihn noch größer erscheinen ließ. Um
2526
seinen Hals hing die lange goldene Uhrkette, die der Großvater ihm
2527
zugesprochen hatte, und an der ein Medaillon mit dem Wappen der Familie
2528
hing, diesem melancholischen Wappenschilde, das eine unregelmäßig
2529
schraffierte Fläche, ein flaches Moorland mit einer einsamen und nackten
2530
Weide am Ufer zeigte. Der noch ältere Siegelring mit grünem Stein, den
2531
wahrscheinlich schon der sehr gut situierte Gewandschneider in Rostock
2532
getragen hatte, war nebst der großen Bibel auf den Konsul übergegangen.
2534
Die Ähnlichkeit mit dem Großvater hatte sich bei Thomas so stark
2535
entwickelt wie bei Christian diejenige mit dem Vater; besonders sein
2536
rundes und festes Kinn und die feingeschnittene, gerade Nase waren die
2537
des Alten. Sein seitwärts gescheiteltes Haar, das in zwei Einbuchtungen
2538
von den schmalen und auffällig geäderten Schläfen zurücktrat, war
2539
dunkelblond, und im Gegensatz dazu erschienen die langen Wimpern und die
2540
Brauen, von denen er gern die eine ein wenig emporzog, ungewöhnlich hell
2541
und farblos. Seine Bewegungen, seine Sprache, sowie sein Lachen, das
2542
seine ziemlich mangelhaften Zähne sehen ließ, war ruhig und verständig.
2543
Er blickte seinem Beruf mit Ernst und Eifer entgegen ...
2545
Es war ein äußerst feierlicher Tag, als der Konsul ihn nach dem ersten
2546
Frühstück mit sich in die Kontore hinunternahm, um ihn Herrn Marcus, dem
2547
Prokuristen, Herrn Havermann, dem Kassierer, sowie dem übrigen Personale
2548
zu präsentieren, mit dem er eigentlich längst gut Freund war; als er zum
2549
ersten Male auf seinem Drehsessel am Pulte saß, emsig mit Stempeln,
2550
Ordnen, Kopieren beschäftigt, und als der Vater ihn nachmittags auch an
2551
die Trave hinunter in die Speicher »Linde«, »Eiche«, »Löwe« und
2552
»Walfisch« führte, wo Thomas eigentlich ebenfalls längst zu Hause war,
2553
wo er aber nun als Mitarbeiter vorgestellt wurde ...
2555
Er war mit Hingebung bei der Sache und ahmte den stillen und zähen Fleiß
2556
des Vaters nach, der mit zusammengebissenen Zähnen arbeitete und manches
2557
Gebet um Beistand in sein Tagebuch schrieb; denn es galt, die
2558
bedeutenden Mittel wieder einzubringen, die beim Tode des Alten der
2559
»Firma«, diesem vergötterten Begriff, verlorengegangen waren ... Eines
2560
Abends, sehr spät, im Landschaftszimmer, ließ er sich gegen die Konsulin
2561
ziemlich eingehend über die Verhältnisse aus.
2563
Es war halb zwölf Uhr, und die Kinder sowie Mamsell Jungmann schliefen
2564
draußen in den Zimmern am Korridor, denn der zweite Stock stand nun leer
2565
und wurde nur dann und wann für Fremde gebraucht. Die Konsulin saß auf
2566
dem gelben Sofa neben ihrem Gatten, der, eine Zigarre im Munde, die
2567
Kursnotizen der städtischen Anzeigen überblickte. Sie beugte sich über
2568
eine Seidenstickerei und bewegte leichthin die Lippen, während sie mit
2569
der Nadel eine Reihe von Stichen zählte. Neben ihr, auf dem zierlichen
2570
Nähtisch mit Goldornamenten, brannten die sechs Kerzen eines
2571
Armleuchters; der Kronleuchter hing unbenutzt.
2573
Johann Buddenbrook, der sich allgemach der Mitte der Vierziger näherte,
2574
hatte in den letzten Jahren ersichtlich gealtert. Seine kleinen, runden
2575
Augen schienen noch tiefer zu liegen, die große, gebogene Nase sprang,
2576
wie die Wangenknochen, noch schärfer hervor, und ein Puderquast schien
2577
an den Schläfen ein paarmal ganz leicht sein aschblondes, sorgfältig
2578
gescheiteltes Haar berührt zu haben. Die Konsulin ihrerseits stand am
2579
Ende der Dreißiger, aber sie konservierte ihre nicht schöne und dennoch
2580
glänzende Erscheinung aufs beste, und ihr mattweißer Teint mit den
2581
vereinzelten Sommersprossen hatte an Zartheit nichts eingebüßt. Ihr
2582
rötliches, kunstvoll frisiertes Haar war vom Schein der Kerzen
2583
durchleuchtet. Während sie die ganz hellblauen Augen ein wenig beiseite
2584
gleiten ließ, sagte sie:
2586
»Eines wollte ich dir zur Überlegung empfehlen, mein lieber Jean: ob es
2587
nämlich nicht ratsam wäre, einen Bedienten zu engagieren ... Ich bin zu
2588
dieser Überzeugung gekommen. Wenn ich an meine Eltern denke ...«
2590
Der Konsul ließ die Zeitung auf die Knie sinken, und während er die
2591
Zigarre aus dem Munde nahm, wurden seine Augen aufmerksam, denn es
2592
handelte sich um Geldausgeben.
2594
»Ja, meine liebe und verehrte Bethsy«, fing er an und zog die Anrede in
2595
die Länge, denn er mußte seine Einwände ordnen. »Einen Bedienten? Wir
2596
haben nach dem Tode der seligen Eltern alle drei Mädchen, von Mamsell
2597
Jungmann abgesehen, im Hause behalten, und mich dünkt ...«
2599
»Ach, das Haus ist so groß, Jean, daß es beinahe fatal ist. Ich sage:
2600
`Lina, mein Kind, im Hinterhaus ist schrecklich lange nicht abgestäubt
2601
worden!´ aber ich mag die Leute nicht überanstrengen, denn sie müssen
2602
schon pusten, wenn hier vorn alles nett und reinlich ist ... Ein Diener
2603
wäre so angenehm für Kommissionen und dergleichen ... Man bekommt einen
2604
braven und anspruchslosen Mann vom Lande ... Aber ehe ich es vergesse,
2605
Jean: Louise Möllendorpf will ihren Anton gehen lassen; ich habe ihn mit
2606
Sicherheit servieren sehen ...«
2608
»Ich muß gestehen«, sagte der Konsul und rückte ein wenig unbehaglich
2609
hin und her, »daß dieser Gedanke mir fremd ist. Wir besuchen jetzt weder
2610
Gesellschaften, noch geben wir selbst welche ...«
2612
»Nein, nein; aber Besuch haben wir trotzdem häufig genug, und das ist
2613
nicht meine Schuld, lieber Jean, obgleich du weißt, daß ich mich
2614
herzlich darüber freue. Es kommt ein auswärtiger Geschäftsfreund von
2615
dir, du bittest ihn zum Essen, er hat noch kein Gasthauszimmer genommen
2616
und übernachtet natürlich bei uns. Dann kommt ein Missionar, der
2617
vielleicht acht Tage bei uns bleibt ... Für übernächste Woche erwarten
2618
wir Pastor Mathias aus Kannstatt ... Nun, um kurz zu sein, die Salairs
2621
»Aber sie häufen sich, Bethsy! Wir honorieren vier Leute im Hause, und
2622
du vergissest die vielen Männer, die im Dienste der Firma stehen!«
2624
»Sollten wir wirklich einen Bedienten nicht erschwingen können?« fragte
2625
die Konsulin lächelnd, indem sie ihren Gatten mit seitwärts geneigtem
2626
Kopfe anblickte. »Wenn ich an das Personal meiner Eltern denke ...«
2628
»Deine Eltern, liebe Bethsy! Nein, nun muß ich dich fragen, ob du dir
2629
eigentlich über unsere Verhältnisse klar bist?«
2631
»Nein, das ist wahr, Jean, ich habe wohl nicht die hinlängliche
2634
»Nun, die ist leicht zu beschaffen«, sagte der Konsul. Er setzte sich im
2635
Sofa zurecht, schlug ein Bein über das andere, tat einen Zug aus seiner
2636
Zigarre und begann, während er die Augen ein wenig zusammenkniff, mit
2637
außerordentlicher Geläufigkeit seine Zahlen hervorzubringen ...
2639
»Kurz und gut: Mein seliger Vater hat seinerzeit, vor meiner Schwester
2640
Heirat, rund und nett 900000 Mark Kurant besessen, abgesehen, wie sich
2641
versteht, von dem Grundbesitz und dem Werte der Firma. 80000 sind als
2642
Mitgift nach Frankfurt und 100000 bei Gottholds Etablierung abgegangen:
2643
macht 720000. Dann kam der Kauf dieses Hauses, das trotz der Einnahme
2644
für das kleine in der Alfstraße mit Verbesserungen und Neuanschaffungen
2645
volle 100000 gekostet hat: macht 620000. Nach Frankfurt wurden als
2646
Entschädigungssumme 25000 gezahlt: macht 595000, und so hätten die Dinge
2647
bei Vaters Tode gelegen, wären alle diese Spesen nicht im Laufe der
2648
Jahre durch rund 200000 Kurantmark Verdienst korrigiert worden. Das
2649
Gesamtvermögen betrug also 795000. Dann wurden ferner 100000 an Gotthold
2650
ausgekehrt und noch 267000 nach Frankfurt; das macht, wenn ich noch ein
2651
paar tausend Kurantmark kleinerer Vermächtnisse abrechne, die nach Vaters
2652
Testament an das Heilige-Geist-Hospital, die Kaufleute-Witwenkasse usw.
2653
gingen, etwa 420000, mit deiner Mitgift um 100000 mehr. Das sind, in
2654
runden Summen und abgesehen von allerhand kleineren Schwankungen des
2655
Vermögens, ungefähr die Verhältnisse. Wir sind nicht so ungemein reich,
2656
meine liebe Bethsy, und bei alledem muß man bedenken, daß das Geschäft
2657
zwar kleiner geworden ist, daß aber die Geschäftsspesen dieselben
2658
geblieben sind, weil der Zuschnitt des Geschäftes es nicht gestattet,
2659
die Unkosten herabzusetzen ... Hast du mir folgen können?«
2661
Die Konsulin nickte ein wenig zögernd, die Stickerei im Schoße. »Recht
2662
gut, mein lieber Jean«, sagte sie, obgleich sie nicht alles verstanden
2663
hatte und durchaus nicht begriff, warum alle diese großen Summen sie
2664
hindern sollten, einen Bedienten zu engagieren.
2666
Der Konsul ließ seine Zigarre aufglimmen, stieß mit zurückgeneigtem
2667
Kopfe den Rauch von sich und fuhr dann fort:
2669
»Du denkst, daß wir ja, wenn einmal deine lieben Eltern zu Gott gerufen
2670
werden, noch etwas Beträchtliches zu erwarten haben, und das ist
2671
richtig. Jedoch ... wir dürfen damit nicht allzu unvorsichtig rechnen.
2672
Ich weiß, daß dein Vater ziemlich peinliche Verluste gehabt hat, und
2673
zwar, wie bekannt ist, durch Justus. Justus ist ein äußerst
2674
liebenswürdiger Mensch, aber er ist nicht eben ein starker Geschäftsmann
2675
und hat auch unverschuldetes Unglück gehabt. Er hat bei mehreren Kunden
2676
höchst störende Einbußen erlitten, die Folge seines geschwächten
2677
Betriebskapitals war teures Geld, durch Transaktionen mit Bankiers, und
2678
dein Vater hat mehrere Male mit bedeutenden Summen einspringen müssen,
2679
damit kein Unglück geschah. Dergleichen kann sich wiederholen und wird
2680
sich, fürchte ich, wiederholen, denn -- verzeih mir, Bethsy, wenn ich
2681
aufrichtig rede -- die gewisse heitere Leichtlebigkeit, die bei deinem
2682
Vater, der mit Geschäften nichts mehr zu tun hat, so angenehm wirkt,
2683
kommt deinem Bruder, als Geschäftsmann, schlecht zustatten ... Du
2684
verstehst mich ... er ist nicht sehr behutsam, wie? ein bißchen rasch
2685
und obenhinaus ... Im übrigen lassen sich deine Eltern, was mich so
2686
aufrichtig freut, nichts abgehen, sie führen ein herrschaftliches Leben,
2687
wie es ... ihren Verhältnissen entspricht ...«
2689
Die Konsulin lächelte nachsichtig; sie kannte das Vorurteil ihres Gatten
2690
gegen die eleganten Neigungen ihrer Familie.
2692
»Genug«, fuhr er fort und legte den Rest seiner Zigarre in den
2693
Aschbecher, »ich meinesteils verlasse mich in der Hauptsache darauf, daß
2694
der Herr mir meine Arbeitskraft erhalten wird, damit ich mit seiner
2695
gnädigen Hilfe das Vermögen der Firma auf die ehemalige Höhe
2696
zurückführen kann ... Ich hoffe, deine Einsicht ist nun eine klarere,
2699
»Vollkommen, Jean, vollkommen!« beeilte sich die Konsulin zu antworten,
2700
denn sie gab für heute abend den Bedienten auf. »Aber laß uns zur Ruhe
2701
gehn, wie? es ist allzu spät geworden ...«
2703
Übrigens wurde nach ein paar Tagen, als der Konsul gutgelaunt aus dem
2704
Kontor zu Tische kam, dennoch der Beschluß gefaßt, Möllendorpfs Anton zu
2710
»Tony geben wir in Pension, und zwar zu Fräulein Weichbrodt«, sagte
2711
Konsul Buddenbrook, und er äußerte das so bestimmt, daß es dabei blieb.
2713
Weniger zufrieden nämlich, wie angedeutet, als mit Thomas, der sich mit
2714
Talent in die Geschäfte einlebte, mit Klara, die munter heranwuchs, und
2715
der armen Klothilde, deren Appetit jeden Menschen erfreuen mußte, konnte
2716
man mit Tony und Christian sein. Was den letzteren anging, so war es das
2717
wenigste, daß er beinahe jeden Nachmittag genötigt war, bei Herrn
2718
Stengel Kaffee zu trinken, -- obgleich die Konsulin, der dies zu viel
2719
wurde, eines Tages den Herrn Lehrer durch ein zierliches Handbillett zum
2720
Zwecke einer Rücksprache zu sich in die Mengstraße entbot. Herr Stengel
2721
erschien in seiner Sonntagsperücke, mit seinen höchsten Vatermördern,
2722
die Weste von lanzenartig gespitzten Bleistiften starrend, und saß mit
2723
der Konsulin im Landschaftszimmer, während Christian heimlich im Eßsaale
2724
der Unterredung zuhörte. Der ausgezeichnete Erzieher legte beredt, wenn
2725
auch ein wenig befangen, seine Ansichten dar, sprach von dem bedeutsamen
2726
Unterschied zwischen »Line« und »Strich«, erwähnte des schönen grünen
2727
Waldes sowie des Kohlenkastens und gebrauchte im übrigen während dieser
2728
Visite beständig das Wort »infolgedessen«, das ihm wohl dieser vornehmen
2729
Umgebung am besten zu entsprechen schien. Nach einer Viertelstunde
2730
erschien der Konsul, jagte Christian davon und drückte Herrn Stengel
2731
sein lebhaftes Bedauern darüber aus, daß sein Sohn ihm Ursache zur
2732
Unzufriedenheit gegeben habe ... »Oh, behüte, Herr Konsul, ich bitte
2733
ergebenst! Ein geweckter Kopf, ein munterer Patron, der Schüler
2734
Buddenbrook. Und infolgedessen ... Allein ein wenig übermütig, wenn ich
2735
mir erlauben darf, hm ... und infolgedessen ...« Der Konsul führte ihn
2736
höflich im Hause umher, worauf Herr Stengel sich verabschiedete ... Das
2737
alles aber war nicht das Schlimme.
2739
Das Schlimme bestand darin, daß folgendes bekannt wurde: Der Schüler
2740
Christian Buddenbrook durfte eines Abends mit einem guten Freunde das
2741
Stadttheater besuchen, woselbst »Wilhelm Tell« von Schiller gegeben
2742
wurde; die Rolle von Tells Knaben Walter jedoch spielte eine junge Dame,
2743
eine Demoiselle Meyer-de la Grange, mit der es eine eigne Bewandtnis
2744
hatte. Sie pflegte nämlich, war es ihrer Rolle nun angemessen oder
2745
nicht, auf der Bühne eine Brillantbrosche zu tragen, die notorisch echt
2746
war, denn wie allgemein bekannt, war sie ein Geschenk des jungen Konsuls
2747
Peter Döhlmann, Sohn des verstorbenen Holzgroßhändlers Döhlmann in der
2748
Ersten Wallstraße vorm Holstentor. Konsul Peter gehörte zu den Herren,
2749
die in der Stadt »Suitiers« genannt wurden -- wie zum Beispiel auch
2750
Justus Kröger --, das heißt seine Lebensführung war ein wenig locker. Er
2751
war verheiratet und besaß sogar eine kleine Tochter, befand sich aber
2752
seit längerer Zeit mit seiner Gattin in Zwietracht und lebte ganz wie
2753
ein Junggeselle. Das Vermögen, das sein Vater ihm hinterlassen hatte,
2754
dessen Geschäft er sozusagen fortführte, war ziemlich bedeutend gewesen;
2755
aber man sagte sich, daß er dennoch vom Kapitale zehre. Er hielt sich
2756
meistens im »Klub« oder im Ratskeller auf, um zu frühstücken, ward jeden
2757
Morgen um 4 Uhr irgendwo in den Straßen gesehen und unternahm häufig
2758
Geschäftsreisen nach Hamburg. Vor allem jedoch war er ein eifriger
2759
Theaterliebhaber, versäumte keine Vorstellung und nahm persönliches
2760
Interesse an dem ausübenden Personal. Demoiselle Meyer-de la Grange war
2761
die letzte der jungen Künstlerinnen, die er in den vergangenen Jahren
2762
mit Brillanten ausgezeichnet hatte ...
2764
Um zur Sache zu kommen, so sah die junge Dame als Walter Tell -- sie
2765
trug auch in dieser Rolle ihre Brillantbrosche -- ganz allerliebst aus
2766
und spielte so rührend, daß dem Schüler Buddenbrook vor innerer
2767
Begeisterung die Tränen in die Augen traten, ja daß er sich zu einer
2768
Handlungsweise hinreißen ließ, wie sie nur aus einem allzu starken
2769
Empfinden hervorgehen kann. In einer Pause nämlich erstand er im
2770
gegenübergelegenen Blumenladen für 1 Mark 8½ Schilling ein Bukett, mit
2771
welchem dieser vierzehnjährige Knirps mit seiner großen Nase und seinen
2772
kleinen tiefliegenden Augen den Weg zum Bühnenraum marschierte und, da
2773
niemand ihn aufhielt, vor einer Garderobentür auf Fräulein Meyer-de la
2774
Grange stieß, die im Gespräche mit Konsul Peter Döhlmann stand. Der
2775
Konsul wäre vor Lachen beinahe gegen die Wand gefallen, als er Christian
2776
mit dem Bukett daherkommen sah; der neue Suitier aber machte ernsthaft
2777
sein bestes Kompliment vor Walter Tell, überreichte ihm die Blumen,
2778
schüttelte langsam den Kopf und sagte in einem Tone, der vor
2779
Aufrichtigkeit beinahe bekümmert klang:
2781
»Fräulein, wie schön haben Sie gespielt!«
2783
»Nun seh' mal einer diesen Krischan Buddenbrook!« schrie Konsul Döhlmann
2784
mit seiner breiten Aussprache. Fräulein Meyer-de la Grange aber zog die
2785
hübschen Brauen empor und fragte:
2787
»Sohn von Konsul Buddenbrook?« Dann streichelte sie ihrem neuen Verehrer
2788
mit vielem Wohlwollen die Wange.
2790
Dies war der Tatbestand, den Peter Döhlmann am selben Abend im »Klub«
2791
zum besten gab, der mit ungeheurer Schnelligkeit in der Stadt bekannt
2792
wurde und sogar dem Schuldirektor zu Ohren kam, der ihn wiederum zum
2793
Gegenstande einer Unterredung mit Konsul Buddenbrook machte. Wie faßte
2794
dieser die Sache auf? Er war weniger zornig als geradezu überwältigt und
2795
geschlagen ... Als er der Konsulin Mitteilung machte, saß er beinahe
2796
gebrochen im Landschaftszimmer.
2798
»Das ist unser Sohn, so entwickelt er sich ...«
2800
»Jean, mein Gott, dein Vater hätte gelacht darüber ... Und erzähle es
2801
nur Donnerstag bei meinen Eltern, Papa wird sich köstlich amüsieren ...«
2803
Hier begehrte der Konsul auf. »Ha! Ja! ich bin überzeugt, daß er sich
2804
amüsieren wird, Bethsy! Er wird sich freuen, daß sein leichtfertiges
2805
Blut und seine unfrommen Neigungen nicht nur in Justus, dem ... Suitier,
2806
sondern ersichtlich auch in einem seiner Enkel fortleben ... sapperlot,
2807
du zwingst mich zu dieser Äußerung! Er geht zu dieser Person! Er gibt
2808
sein Taschengeld aus für diese Lorette --! Er weiß es nicht, nein; aber
2809
die Neigung zeigt sich! Die Neigung zeigt sich!...«
2811
Ja, das war ein schlimmer Fall; und der Konsul war um so entsetzter, als
2812
auch Tony, wie gesagt, sich nicht zum besten betrug. Zwar verzichtete
2813
sie mit den Jahren darauf, den bleichen Mann tanzen zu lassen und die
2814
Puppenliese zu besuchen; aber sie zeigte eine immer keckere Art, den
2815
Kopf in den Nacken zu werfen und äußerte, besonders wenn sie den Sommer
2816
draußen bei den Großeltern verlebt hatte, einen argen Hang zu Hoffart
2819
Eines Tages überraschte der Konsul sie mit Verdruß dabei, daß sie
2820
gemeinsam mit Mamsell Jungmann Claurens »Mimili« las; er blätterte in
2821
dem Bändchen, schwieg und verschloß es auf immer. Kurz darauf kam es an
2822
den Tag, daß Tony -- Antonie Buddenbrook -- ganz allein mit einem
2823
Gymnasiasten, einem Freunde ihrer Brüder, vorm Tore spazieren gegangen
2824
war. Frau Stuht, dieselbe, die in den ersten Kreisen verkehrte, hatte
2825
die beiden erblickt, hatte sich, gelegentlich eines Kleiderankaufes bei
2826
Möllendorpfs, darüber geäußert, daß nun wahrhaftig auch Mamsell
2827
Buddenbrook schon in die Jahre komme, wo ... und Frau Senatorin
2828
Möllendorpf hatte in heiterem Tone dem Konsul davon erzählt. Diese
2829
Spaziergänge wurden verhindert. Dann aber erwies es sich, daß
2830
Mademoiselle Tony aus jenen alten, hohlen Bäumen, gleich hinter dem
2831
Burgtore, die nur lückenhaft mit Mörtelmasse gefüllt waren, kleine
2832
Korrespondenzen abholte oder daselbst zurückließ, die von ebendemselben
2833
Gymnasiasten herrührten oder an ihn gerichtet waren. Als dies am Lichte
2834
war, erschien es geboten, die nun fünfzehnjährige Tony in strengere
2835
Obhut zu geben, in eine Pension, in diejenige von Fräulein Weichbrodt,
2836
am Mühlenbrink Numero 7.
2841
Therese Weichbrodt war bucklig, sie war so bucklig, daß sie nicht viel
2842
höher war als ein Tisch. Sie war 41 Jahre alt, aber da sie niemals
2843
Gewicht auf äußere Wohlgefälligkeit gelegt hatte, so ging sie gekleidet
2844
wie eine Dame von 60 bis 70 Jahren. Auf ihren grauen, gepolsterten
2845
Ohrlocken saß eine Haube mit grünen Bändern, die über die schmalen
2846
Kinderschultern hinabfielen, und nie war an ihrem kümmerlichen schwarzen
2847
Kleidchen etwas wie Putz gesehen worden ... ausgenommen die große, ovale
2848
Brosche, auf der in Porzellanmalerei das Bild ihrer Mutter prangte.
2850
Das kleine Fräulein Weichbrodt besaß kluge und scharfe braune Augen,
2851
eine leichtgebogene Nase und schmale Lippen, die sie aufs entschiedenste
2852
zusammenpressen konnte ... Überhaupt lag in ihrer geringen Figur und
2853
allen ihren Bewegungen ein Nachdruck, der zwar possierlich, aber
2854
durchaus respektgebietend wirkte. Dazu trug in hohem Grade auch ihre
2855
Sprache bei. Sie sprach mit lebhafter und stoßweiser Bewegung des
2856
Unterkiefers und einem schnellen, eindringlichen Kopfschütteln, exakt
2857
und dialektfrei, klar, bestimmt und mit sorgfältiger Betonung jedes
2858
Konsonanten. Den Klang der Vokale aber übertrieb sie sogar in einer
2859
Weise, daß sie z. B. nicht »Butterkruke«, sondern »Botter«- oder gar
2860
»Batterkruke« sprach und ihr eigensinnig kläffendes Hündchen nicht
2861
»Bobby«, sondern »Babby« rief. Wenn sie zu einer Schülerin sagte: »Kind,
2862
sei nich--t sa domm!« und zweimal dabei ganz kurz mit dem gekrümmten
2863
Zeigefinger auf den Tisch pochte, so machte dies Eindruck, das ist
2864
sicher; und wenn Mademoiselle Popinet, die Französin, sich beim Kaffee
2865
mit allzuviel Zucker bediente, so hatte Fräulein Weichbrodt eine Art,
2866
die Zimmerdecke zu betrachten, mit einer Hand auf dem Tischtuch Klavier
2867
zu spielen und zu sagen: »Ich wörde die =ganze= Zockerböchse nehmen!«
2868
daß Mademoiselle Popinet heftig errötete ...
2870
Als Kind -- mein Gott, wie winzig mußte sie als Kind gewesen sein! --
2871
hatte Therese Weichbrodt sich selber »Sesemi« genannt, und diese
2872
Änderung ihres Vornamens hatte sie beibehalten, indem sie den besseren
2873
und tüchtigeren Schülerinnen, Internen sowohl wie Externen, gestattete,
2874
sie so zu nennen. »Nenne mich `Sesemi´, Kind«, sagte sie gleich am
2875
ersten Tage zu Tony Buddenbrook, indem sie sie kurz und mit einem leicht
2876
knallenden Geräusch auf die Stirn küßte ... »Ich höre es gern.« Ihre
2877
ältere Schwester Madame Kethelsen aber hieß Nelly.
2879
Madame Kethelsen, die ungefähr 48 Jahre zählte, war von ihrem
2880
verstorbenen Gatten mittellos im Leben zurückgelassen worden, bewohnte
2881
bei ihrer Schwester im oberen Stockwerk eine kleine Stube und beteiligte
2882
sich an der allgemeinen Tafel. Sie kleidete sich ähnlich wie Sesemi, war
2883
aber im Gegensatz zu ihr außerordentlich lang; an ihren hageren
2884
Handgelenken trug sie wollene Pulswärmer. Sie war nicht Lehrerin, sie
2885
wußte nichts von Strenge, und in Harmlosigkeit und stillem Frohsinn
2886
bestand ihr Wesen. Hatte ein Zögling Fräulein Weichbrodts einen Streich
2887
vollführt, so stieß sie darüber ein gutmütiges und vor Herzlichkeit
2888
beinahe klagendes Lachen aus, bis Sesemi auf den Tisch pochte und so
2889
eindringlich »Nelly!« rief, daß es wie »Nally« klang; dann verstummte
2890
sie eingeschüchtert.
2892
Madame Kethelsen gehorchte ihrer jüngeren Schwester, sie ließ sich von
2893
ihr ausschelten wie ein Kind, und die Sache war die, daß Sesemi sie
2894
herzlich verachtete. Therese Weichbrodt war ein belesenes, ja beinahe
2895
gelehrtes Mädchen und hatte sich ihren Kinderglauben, ihre positive
2896
Religiosität und die Zuversicht, dort drüben einst für ihr schwieriges
2897
und glanzloses Leben entschädigt zu werden, in ernstlichen kleinen
2898
Kämpfen bewahren müssen. Madame Kethelsen dagegen war ungelehrt,
2899
unschuldig und einfältigen Gemütes. »Die gute Nelly!« sagte Sesemi.
2900
»Mein Gott, sie ist ein Kind, sie ist niemals auf einen Zweifel
2901
gestoßen, sie hat niemals einen Kampf zu bestehen gehabt, sie ist
2902
glücklich ...« In solchen Worten lag ebensoviel Geringschätzung wie
2903
Neid, und das war ein schwacher, wenn auch verzeihlicher Charakterzug
2906
Das hochgelegene Erdgeschoß des ziegelroten Vorstadthäuschens, das von
2907
einem nett gehaltenen Garten umgeben war, wurde von den
2908
Unterrichtsräumen und dem Speisezimmer eingenommen, während sich im
2909
oberen Stockwerk und auch im Bodenraum die Schlafzimmer befanden. Die
2910
Zöglinge Fräulein Weichbrodts waren nicht zahlreich, denn die Pension
2911
nahm nur größere Mädchen auf und besaß, auch für externe Schülerinnen,
2912
nur die drei ersten Schulklassen; auch sah Sesemi mit Strenge darauf,
2913
daß nur Töchter aus zweifellos vornehmen Familien in ihr Haus kamen ...
2914
Tony Buddenbrook ward, wie angedeutet, mit Zärtlichkeit empfangen; ja,
2915
zum Abendessen hatte Therese »Bischof« gemacht, einen roten und süßen
2916
Punsch, der kalt getrunken ward, und auf den sie sich mit Meisterschaft
2917
verstand ... »Noch ein bißchen Beschaf?« fragte sie mit herzlichem
2918
Kopfschütteln ... und das klang so appetitlich, daß niemand widerstand.
2920
Fräulein Weichbrodt saß auf zwei Sofakissen am oberen Ende der Tafel und
2921
beherrschte die Mahlzeit mit Tatkraft und Umsicht; sie richtete ihr
2922
verwachsenes Körperchen ganz stramm empor, pochte wachsam auf den Tisch,
2923
rief »Nally!« und »Babby!« und demütigte Mlle. Popinet mit einem Blicke,
2924
wenn diese im Begriffe stand, sich alles Gelée des kalten Kalbsbratens
2925
anzueignen. Tony hatte ihren Platz inmitten zweier anderer
2926
Pensionärinnen erhalten. Zwischen Armgard von Schilling, einer blonden
2927
und stämmigen Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg, und Gerda Arnoldsen,
2928
die in Amsterdam zu Hause war, einer eleganten und fremdartigen
2929
Erscheinung mit schwerem, dunkelrotem Haar, nahe beieinander liegenden
2930
braunen Augen und einem weißen, schönen, ein wenig hochmütigen Gesicht.
2931
Ihr gegenüber plapperte die Französin, die aussah wie eine Negerin und
2932
ungeheure goldene Ohrringe trug. Am unteren Tischende saß mit
2933
säuerlichem Lächeln die hagere Engländerin Miß Brown, die gleichfalls im
2936
Man befreundete sich rasch mit Hilfe von Sesemis Bischof. Mlle. Popinet
2937
hatte in der letzten Nacht wieder Alpdrücken gehabt, erzählte sie ...
2938
_Ah, quelle horreur!_ Sie pflegte dann »Ülfen, Ülfen! Dieben, Dieben!«
2939
zu rufen, daß alles aus dem Bette sprang. Ferner stellte sich heraus,
2940
daß Gerda Arnoldsen nicht Klavier spielte, wie die anderen, sondern
2941
Geige, und daß Papa -- ihre Mutter war nicht mehr am Leben -- ihr eine
2942
echte Stradivari versprochen habe. Tony war unmusikalisch; die meisten
2943
Buddenbrooks und alle Krögers waren es. Sie konnte nicht einmal die
2944
Choräle erkennen, die in der Marienkirche gespielt wurden ... Oh, die
2945
Orgel in der Nieuwe Kerk zu Amsterdam hatte eine _vox humana_, eine
2946
Menschenstimme, die prachtvoll klang! -- Armgard von Schilling erzählte
2947
von den Kühen zu Hause.
2949
Diese Armgard hatte vom ersten Augenblicke an den größten Eindruck auf
2950
Tony gemacht, und zwar als das erste adelige Mädchen, mit dem sie in
2951
Berührung kam. Von Schilling zu heißen, welch ein Glück! Die Eltern
2952
hatten das schönste alte Haus der Stadt, und die Großeltern waren
2953
vornehme Leute; aber sie hießen doch ganz einfach »Buddenbrook« und
2954
»Kröger«, und das war außerordentlich schade. Die Enkelin des noblen
2955
Lebrecht Kröger erglühte in Bewunderung für Armgards Adel, und im
2956
geheimen dachte sie manchmal, daß für sie selbst dieses prächtige »von«
2957
eigentlich viel besser gepaßt haben würde, -- denn Armgard, mein Gott,
2958
sie wußte ihr Glück nicht einmal zu schätzen, sie ging umher mit ihrem
2959
dicken Zopf, ihren gutmütigen blauen Augen und ihrer breiten
2960
mecklenburgischen Aussprache und dachte gar nicht daran; sie war
2961
durchaus nicht vornehm, sie machte nicht den geringsten Anspruch darauf,
2962
sie hatte keinen Sinn für Vornehmheit. Dieses Wort »vornehm« saß
2963
erstaunlich fest in Tonys Köpfchen, und sie wandte es mit anerkennendem
2964
Nachdruck auf Gerda Arnoldsen an.
2966
Gerda war ein wenig apart und hatte etwas Fremdes und Ausländisches an
2967
sich; sie liebte es, ihr prachtvolles rotes Haar trotz Sesemis Einspruch
2968
etwas auffallend zu frisieren, und viele fanden es =albern=, daß sie die
2969
Geige spiele -- wobei zu bemerken ist, daß »albern« einen sehr harten
2970
Ausdruck der Verurteilung bedeutete. Darin jedoch mußte man mit Tony
2971
übereinstimmen, daß Gerda Arnoldsen ein vornehmes Mädchen war. Ihre für
2972
ihr Alter voll entwickelte Erscheinung, ihre Gewohnheiten, die Dinge,
2973
die sie besaß, alles war vornehm: Zum Beispiel die elfenbeinerne
2974
Toiletteneinrichtung aus Paris, die Tony besonders zu schätzen wußte, da
2975
sich auch bei ihr zu Hause allerlei Gegenstände vorfanden, die ihre
2976
Eltern oder Großeltern aus Paris mitgebracht hatten und sehr wert
2979
Die drei jungen Mädchen schlossen rasch einen Freundschaftsbund, sie
2980
gehörten der gleichen Unterrichtsklasse an und bewohnten gemeinsam den
2981
größten der Schlafräume im oberen Stockwerke. Welche amüsanten und
2982
behaglichen Stunden waren das, wenn man um zehn Uhr zur Ruhe ging und
2983
beim Auskleiden plauderte -- mit halber Stimme nur, denn nebenan begann
2984
Mlle. Popinet von Dieben zu träumen ... Sie schlief zusammen mit der
2985
kleinen Eva Ewers, einer Hamburgerin, deren Vater, ein Kunstschwärmer
2986
und Sammler, sich in München angesiedelt hatte.
2988
Die braungestreiften Rouleaus waren geschlossen, die niedrige,
2989
rotverhüllte Lampe brannte auf dem Tische, ein leiser Duft nach Veilchen
2990
und frischer Wäsche erfüllte das Zimmer und eine gemächliche, gedämpfte
2991
Stimmung von Müdigkeit, Sorglosigkeit und Träumerei.
2993
»Mein Gott«, sagte Armgard, die halb ausgekleidet auf dem Rande ihres
2994
Bettes saß, »wie geläufig Doktor Neumann spricht! Er kommt in die
2995
Klasse, stellt sich an den Tisch und spricht von Racine ...«
2997
»Er hat eine schöne, hohe Stirn«, bemerkte Gerda, während sie sich vor
2998
dem Spiegel zwischen den beiden Fenstern beim Schein zweier Kerzen die
3001
»Ja!« sagte Armgard rasch.
3003
»Und du hast auch =nur= von ihm angefangen, um das zu hören zu bekommen,
3004
Armgard, denn du blickst ihn beständig mit deinen blauen Augen an, als
3007
»Liebst du ihn?« fragte Tony. »Mein Schuhband geht einfach nicht auf,
3008
=bitte= Gerda ... so! nun! Liebst du ihn, Armgard? Heirate ihn doch; es
3009
ist eine sehr gute Partie, er wird Professor am Gymnasium werden.«
3011
»Gott, ihr seid scheußlich. Ich liebe ihn gar nicht. Ich werde
3012
sicherlich keinen Lehrer heiraten, sondern einen Landmann ...«
3014
»Einen Adligen?« Tony ließ den Strumpf sinken, den sie in der Hand
3015
hielt, und blickte gedankenvoll in Armgards Gesicht.
3017
»Das weiß ich noch nicht; aber ein großes Gut muß er haben ... Ach, wie
3018
freue ich mich darauf, Kinder! Ich werde um fünf Uhr aufstehen und
3019
wirtschaften ...« Sie zog die Bettdecke über sich und sah träumend zum
3022
»Vor ihrem geistigen Auge stehen fünfhundert Kühe«, sprach Gerda und
3023
betrachtete ihre Freundin im Spiegel.
3025
Tony war noch nicht fertig; aber sie ließ ihren Kopf im voraus aufs
3026
Kissen sinken, verschränkte die Hände im Nacken und betrachtete auch
3027
ihrerseits sinnend die Zimmerdecke.
3029
»Ich werde natürlich einen Kaufmann heiraten«, sagte sie. »Er muß recht
3030
viel Geld haben, damit wir uns vornehm einrichten können; das bin ich
3031
meiner Familie und der Firma schuldig«, fügte sie ernsthaft hinzu. »Ja,
3032
ihr sollt sehn, das werde ich schon machen.«
3034
Gerda hatte ihre Schlaffrisur beendet und putzte ihre breiten, weißen
3035
Zähne, wobei sie sich ihres elfenbeinernen Handspiegels bediente.
3037
»Ich werde =wahrscheinlich= gar nicht heiraten«, sagte sie ein wenig
3038
mühsam, denn das Pfefferminzpulver behinderte sie. »Ich sehe nicht ein,
3039
warum. Ich habe gar keine Lust dazu. Ich gehe nach Amsterdam und spiele
3040
Duos mit Papa und lebe später bei meiner verheirateten Schwester ...«
3042
»Wie schade!« rief Tony lebhaft. »Nein, wie schade, Gerda! Du solltest
3043
dich hier verheiraten und immer hier bleiben ... Höre mal, du solltest
3044
zum Beispiel einen von meinen Brüdern heiraten ...«
3046
»Den mit der großen Nase?« fragte Gerda und gähnte mit einem kleinen
3047
zierlichen und nachlässigen Seufzer, wobei sie den Handspiegel vor den
3050
»Oder den anderen, das ist ja gleichgültig ... Gott, wie ihr euch
3051
einrichten würdet! Jakobs müßte es machen, Tapezierer Jakobs in der
3052
Fischstraße, er hat einen vornehmen Geschmack. Ich würde täglich zu
3055
Aber dann ließ sich Mlle. Popinets Stimme vernehmen:
3057
»_Ah! voyons, mesdames!_ zu Bette, _s'il vous plaît_! Sie werden sich
3058
heute abend nicht mehr verheiraten!«
3060
Die Sonntage aber und die Ferien verlebte Tony in der Mengstraße oder
3061
draußen bei den Großeltern. Welch Glück, wenn am Ostersonntag gutes
3062
Wetter war und man die Eier und Marzipanhasen in dem ungeheuren
3063
Krögerschen Garten suchen konnte! Welche Sommerferien an der See, wenn
3064
man im Kurhause wohnte, an der Table d'hote speiste, badete und Esel
3065
ritt! Auch wurden in einigen Jahren, wenn der Konsul Geschäfte gemacht,
3066
Reisen von größerer Ausdehnung unternommen. Aber welch Weihnachtsfest,
3067
vor allem, mit drei Bescherungen: zu Hause, bei den Großeltern und bei
3068
Sesemi, woselbst an diesem Abend der Bischof in Strömen floß ... Am
3069
herrlichsten aber war dennoch der Weihnachtsabend zu Hause, denn der
3070
Konsul hielt darauf, daß das heilige Christfest mit Weihe, Glanz und
3071
Stimmung begangen ward. Wenn man in tiefer Feierlichkeit im
3072
Landschaftszimmer versammelt war, während die Dienstboten und allerlei
3073
alte und arme Leute, denen der Konsul die blauroten Hände drückte, sich
3074
in der Säulenhalle drängten, dann erscholl dort draußen vierstimmiger
3075
Gesang, den die Chorknaben der Marienkirche vollführten, und man bekam
3076
Herzklopfen, so festlich war es. Dann, während schon durch die Spalten
3077
der hohen, weißen Flügeltür der Tannenduft drang, verlas die Konsulin
3078
aus der alten Familienbibel mit den ungeheuerlichen Buchstaben langsam
3079
das Weihnachtskapitel, und war draußen noch ein Gesang verklungen, so
3080
stimmte man »O Tannebaum« an, während man sich in feierlichem Umzuge
3081
durch die Säulenhalle in den Saal begab, den weiten Saal mit den Statuen
3082
in der Tapete, wo der mit weißen Lilien geschmückte Baum flimmernd,
3083
leuchtend und duftend zur Decke ragte und die Geschenktafel von den
3084
Fenstern bis zur Tür reichte. Aber draußen, auf dem hartgefrorenen
3085
Schnee der Straßen musizierten die italienischen Drehorgelmänner, und
3086
vom Marktplatz scholl der Trubel des Weihnachtsmarktes herüber. Außer
3087
der kleinen Klara beteiligten sich auch die Kinder an dem späten
3088
Abendessen in der Säulenhalle, bei dem es Karpfen und gefüllten Puter in
3089
übergewaltigen Mengen gab ...
3091
Hier ist zu erwähnen, daß Tony Buddenbrook in diesen Jahren zwei
3092
mecklenburgische Güter besuchte. Ein paar Sommerwochen verlebte sie mit
3093
ihrer Freundin Armgard auf dem Besitztum des Herrn von Schilling, das
3094
Travemünde gegenüber jenseits der Bucht an der Küste lag. Und ein
3095
anderes Mal reiste sie mit Cousine Thilda dorthin, wo Herr Bernhard
3096
Buddenbrook Inspektor war. Dieses Gut hieß »Ungnade« und brachte nicht
3097
einen Heller ein; aber als Ferienaufenthalt war es trotzdem nicht zu
3100
So wanderten die Jahre vorbei, und es war, alles in allem, eine
3101
glückliche Jugendzeit, die Tony verlebte.
3111
Kurz nach fünf Uhr, eines Juni-Nachmittages, saß man vor dem »Portale«
3112
im Garten, woselbst man Kaffee getrunken hatte. Drinnen in dem
3113
weißgetünchten Raum des Gartenhauses mit dem hohen Wandspiegel, dessen
3114
Fläche mit flatternden Vögeln bemalt war, und den beiden lackierten
3115
Flügeltüren im Hintergrunde, die genau betrachtet gar keine Türen waren
3116
und nur gemalte Klinken besaßen, war die Luft zu warm und dumpfig, und
3117
man hatte die aus knorrigem, gebeiztem Holze leicht gearbeiteten Möbel
3120
Im Halbkreise saßen der Konsul, seine Gattin, Tony, Tom und Klothilde um
3121
den runden gedeckten Tisch, auf dem das benutzte Service schimmerte,
3122
während Christian, ein wenig seitwärts, mit einem unglücklichen
3123
Gesichtsausdruck Ciceros zweite Catilinarische Rede präparierte. Der
3124
Konsul war mit seiner Zigarre und den »Anzeigen« beschäftigt. Die
3125
Konsulin hatte ihre Seidenstickerei sinken lassen und sah lächelnd der
3126
kleinen Klara zu, die mit Ida Jungmann auf dem Rasenplatze Veilchen
3127
suchte, denn es gab zuweilen Veilchen dort. Tony hatte den Kopf in beide
3128
Hände gestützt und las versunken in Hoffmanns »Serapionsbrüdern«,
3129
während Tom sie mit einem Grashalm ganz vorsichtig im Nacken kitzelte,
3130
was sie aus Klugheit aber durchaus nicht bemerkte. Und Klothilde, die
3131
mager und ältlich in ihrem geblümten Kattunkleide dasaß, las eine
3132
Erzählung, welche den Titel trug: »Blind, taub, stumm und dennoch
3133
glückselig«; zwischendurch schabte sie die Biskuitreste auf dem
3134
Tischtuche zusammen, worauf sie das Häufchen mit allen fünf Fingern
3135
ergriff und behutsam verzehrte.
3137
Der Himmel, an dem unbeweglich ein paar weiße Wolken standen, begann
3138
langsam blasser zu werden. Das Stadtgärtchen lag mit symmetrisch
3139
angelegten Wegen und Beeten bunt und reinlich in der Nachmittagssonne.
3140
Der Duft der Reseden, die die Beete umsäumten, kam dann und wann durch
3143
»Na, Tom«, sagte der Konsul gutgelaunt und nahm die Zigarre aus dem
3144
Mund; »die Roggenangelegenheit mit van Henkdom & Comp., von der ich dir
3145
erzählte, arrangiert sich.«
3147
»Was gibt er?« fragte Thomas interessiert und hörte auf, Tony zu plagen.
3149
»Sechzig Taler für tausend Kilo ... nicht übel, wie?«
3151
»Das ist vorzüglich!« Tom wußte, daß dies ein sehr gutes Geschäft war.
3153
»Tony, deine Haltung ist nicht _comme il faut_«, bemerkte die Konsulin,
3154
worauf Tony, ohne die Augen von ihrem Buche zu erheben, einen Ellbogen
3157
»Das schadet nichts«, sagte Tom. »Sie kann sitzen, wie sie will, sie
3158
bleibt immer Tony Buddenbrook. Thilda und sie sind unstreitig die
3159
Schönsten in der Familie.«
3161
Klothilde war zum Sterben erstaunt. »Gott! Tom --?« machte sie, und es
3162
war unbegreiflich, wie lang sie diese kurzen Silben zu ziehen vermochte.
3163
Tony duldete schweigend, denn Tom war ihr überlegen, da half nichts; er
3164
würde wieder eine Antwort finden und die Lacher auf seiner Seite haben.
3165
Sie zog nur mit geöffneten Nasenflügeln heftig die Luft ein und hob die
3166
Schultern empor. Als aber die Konsulin von dem bevorstehenden Ball bei
3167
Konsul Huneus zu sprechen begann und etwas über neue Lackschuhe fallen
3168
ließ, nahm Tony auch den anderen Ellenbogen vom Tisch und zeigte sich
3169
lebhaft bei der Sache.
3171
»Ihr redet und redet«, rief Christian kläglich, »und dies ist so
3172
fürchterlich schwer! Ich wollte, ich wäre auch Kaufmann --!«
3174
»Ja, du willst jeden Tag etwas anderes«, sagte Tom. -- Hierauf kam Anton
3175
über den Hof; er kam mit einer Karte auf dem Teebrett, und man sah ihm
3176
erwartungsvoll entgegen.
3178
»=Grünlich=, Agent«, las der Konsul. »Aus Hamburg. Ein angenehmer, gut
3179
empfohlener Mann, ein Pastorssohn. Ich habe Geschäfte mit ihm. Es ist da
3180
eine Sache ... Sage dem Herrn, Anton -- es ist dir recht Bethsy? -- er
3181
möge sich hierher bemühen ...«
3183
-- Durch den Garten kam, Hut und Stock in derselben Hand, mit ziemlich
3184
kurzen Schritten und etwas vorgestrecktem Kopf, ein mittelgroßer Mann
3185
von etwa 32 Jahren in einem grüngelben, wolligen und langschößigen Anzug
3186
und grauen Zwirnhandschuhen. Sein Gesicht, unter dem hellblonden,
3187
spärlichen Haupthaar war rosig und lächelte; neben dem einen Nasenflügel
3188
aber befand sich eine auffällige Warze. Er trug Kinn und Oberlippe
3189
glattrasiert und ließ den Backenbart nach englischer Mode lang
3190
hinunterhängen; diese Favoris waren von ausgesprochen goldgelber Farbe.
3191
-- Schon von weitem vollführte er mit seinem großen, hellgrauen Hut eine
3192
Gebärde der Ergebenheit ...
3194
Mit einem letzten, sehr langen Schritte trat er heran, indem er mit dem
3195
Oberkörper einen Halbkreis beschrieb und sich auf diese Weise vor allen
3198
»Ich störe, ich trete in einen Familienkreis«, sprach er mit weicher
3199
Stimme und feiner Zurückhaltung. »Man hat gute Bücher zur Hand genommen,
3200
man plaudert ... Ich muß um Verzeihung bitten!«
3202
»Sie sind willkommen, mein werter Herr Grünlich!« sagte der Konsul, der
3203
sich, wie seine beiden Söhne, erhoben hatte und dem Gaste die Hand
3204
drückte. »Ich freue mich, Sie auch außerhalb des Kontors und im Kreise
3205
meiner Familie begrüßen zu können. Herr Grünlich, Bethsy, mein wackerer
3206
Geschäftsfreund ... Meine Tochter Antonie ... Meine Nichte Klothilde ...
3207
Sie kennen Thomas bereits ... Das ist mein zweiter Sohn, Christian, ein
3210
Herr Grünlich hatte wiederum auf jeden Namen mit einer Verbeugung
3213
»Wie gesagt«, fuhr er fort, »ich habe nicht die Absicht, den
3214
Eindringling zu spielen ... Ich komme in Geschäften, und wenn ich den
3215
Herrn Konsul ersuchen dürfte, einen Gang mit mir durch den Garten zu
3218
Die Konsulin antwortete:
3220
»Sie erweisen uns eine Liebenswürdigkeit, wenn Sie nicht sofort mit
3221
meinem Manne von Geschäften reden, sondern ein Weilchen mit unserer
3222
Gesellschaft fürlieb nehmen wollten. Nehmen Sie Platz!«
3224
»Tausend Dank«, sagte Herr Grünlich bewegt. Hierauf ließ er sich auf dem
3225
Rande des Stuhles nieder, den Tom herbeigebracht hatte, setzte sich, Hut
3226
und Stock auf den Knien, zurecht, strich mit der Hand über seinen einen
3227
Backenbart und ließ ein Hüsteln vernehmen, das ungefähr klang wie:
3228
»Hä-ä-hm!« Dies alles machte den Eindruck, als wollte er sagen: »Das
3229
wäre die Einleitung. Was nun?«
3231
Die Konsulin eröffnete den Hauptteil der Unterhaltung.
3233
»Sie sind in Hamburg zu Hause?« fragte sie, indem sie den Kopf zur Seite
3234
neigte und ihre Arbeit im Schoße ruhen ließ.
3236
»Allerdings, Frau Konsulin«, entgegnete Herr Grünlich mit einer neuen
3237
Verbeugung. »Ich habe meinen Wohnsitz in Hamburg, allein ich bin viel
3238
unterwegs, ich bin stark beschäftigt, mein Geschäft ist ein
3239
außerordentlich reges ... hä-ä-hm, ja, das darf ich sagen.«
3241
Die Konsulin zog die Brauen empor und machte eine Mundbewegung, als
3242
sagte sie mit respektvoller Betonung: »So?«
3244
»Rastlose Tätigkeit ist für mich Lebensbedingung«, setzte Herr Grünlich
3245
halb zum Konsul gewendet hinzu, und er hüstelte aufs neue, als er den
3246
Blick bemerkte, den Fräulein Antonie auf ihm ruhen ließ, diesen kalten
3247
und musternden Blick, mit dem junge Mädchen fremde junge Herren messen,
3248
und dessen Ausdruck jeden Augenblick bereit scheint, in Verachtung
3251
»Wir haben Verwandte in Hamburg«, bemerkte Tony, um etwas zu sagen.
3253
»Die Duchamps«, erklärte der Konsul, »die Familie meiner seligen
3256
»Oh, ich bin vollkommen orientiert!« beeilte sich Herr Grünlich zu
3257
erwidern. »Ich habe die Ehre, ein wenig bei den Herrschaften bekannt zu
3258
sein. Es sind ausgezeichnete Menschen insgesamt, Menschen von Herz und
3259
Geist, -- hä-ä-hm. In der Tat, wenn in allen Familien ein Geist
3260
herrschte wie in dieser, so stünde es besser um die Welt. Hier findet
3261
man Gottesglaube, Mildherzigkeit, innige Frömmigkeit, kurz die wahre
3262
Christlichkeit, die mein Ideal ist; und damit verbinden diese
3263
Herrschaften eine edle Weltläufigkeit, eine Vornehmheit, eine glänzende
3264
Eleganz, Frau Konsulin, die mich persönlich nun einmal charmiert!«
3266
Tony dachte: Woher kennt er meine Eltern? Er sagt ihnen, was sie hören
3267
wollen ... Der Konsul aber sprach beifällig:
3269
»Diese doppelte Geschmacksrichtung kleidet jeden Mann aufs beste.«
3271
Und die Konsulin konnte nicht umhin, dem Gaste mit einem leisen Klirren
3272
des Armbandes die Hand zu reichen, deren Fläche sie in herzlicher Weise
3273
ganz weit herumdrehte.
3275
»Sie reden mir aus der Seele, mein werter Herr Grünlich!« sagte sie.
3277
Hierauf verbeugte sich Herr Grünlich, setzte sich zurecht, strich über
3278
seinen Backenbart und hüstelte, als wollte er sagen: »Fahren wir fort.«
3280
Die Konsulin ließ ein paar Worte fallen über die für Herrn Grünlichs
3281
Vaterstadt so furchtbaren zweiundvierziger Maitage ... »In der Tat«,
3282
bemerkte Herr Grünlich, »ein schweres Unglück, eine betrübende
3283
Heimsuchung, dieser Brand. Ein Schade von 135 Millionen, ja, das ist
3284
ziemlich genau berechnet. Übrigens bin ich meinerseits der Vorsehung zu
3285
hohem Danke verpflichtet ... ich bin nicht im geringsten getroffen
3286
worden. Das Feuer wütete hauptsächlich in den Kirchspielen Sankt Petri
3287
und Nikolai ... Welch reizender Garten«, unterbrach er sich, während er
3288
sich dankend mit einer Zigarre des Konsuls bediente, »-- doch, für einen
3289
Stadtgarten ist er ungewöhnlich groß! Und welch farbiger Blumenflor ...
3290
oh, mein Gott, ich gestehe meine Schwäche für Blumen und für die Natur
3291
im allgemeinen! Diese Klatschrosen dort drüben putzen ganz ungemein ...«
3293
Herr Grünlich lobte die vornehme Anlage des Hauses, er lobte die ganze
3294
Stadt überhaupt, er lobte auch die Zigarre des Konsuls und hatte für
3295
jeden ein liebenswürdiges Wort.
3297
»Darf ich es wagen, mich nach Ihrer Lektüre zu erkundigen, Mademoiselle
3298
Antonie?« fragte er lächelnd.
3300
Tony zog aus irgendeinem Grunde plötzlich die Brauen zusammen und
3301
antwortete ohne Herrn Grünlich anzublicken:
3303
»Hoffmanns Serapionsbrüder.«
3305
»In der Tat! Dieser Schriftsteller hat Hervorragendes geleistet«,
3306
bemerkte er. »Aber um Vergebung ... ich vergaß den Namen Ihres zweiten
3307
Herrn Sohnes, Frau Konsulin.«
3311
»Ein schöner Name! Ich liebe, wenn ich das aussprechen darf« -- und Herr
3312
Grünlich wandte sich wieder an den Hausherrn -- »die Namen, welche schon
3313
an und für sich erkennen lassen, daß ihr Träger ein Christ ist. In Ihrer
3314
Familie ist, wie ich weiß, der Name Johann erblich ... wer dächte dabei
3315
nicht an den Lieblingsjünger des Herrn. Ich zum Beispiel, wenn ich mir
3316
diese Bemerkung gestatten darf«, fuhr er mit Beredsamkeit fort, »heiße
3317
wie die meisten meiner Vorfahren Bendix, -- ein Name, der ja nur als
3318
eine mundartliche Zusammenziehung von Benedikt zu betrachten ist. Und
3319
Sie lesen, Herr Buddenbrook? Ah, Cicero! Eine schwierige Lektüre, die
3320
Werke dieses großen römischen Redners. _Quousque tandem, Catilina_ ...
3321
hä-ä-hm, ja, ich habe mein Latein gleichfalls noch nicht völlig
3326
»Ich habe, im Gegensatze zu meinem seligen Vater, immer meine Einwände
3327
gehabt gegen diese fortwährende Beschäftigung der jungen Köpfe mit dem
3328
Griechischen und Lateinischen. Es gibt so viele ernste und wichtige
3329
Dinge, die zur Vorbereitung auf das praktische Leben nötig sind ...«
3331
»Sie sprechen meine Meinung aus, Herr Konsul«, beeilte sich Herr
3332
Grünlich zu antworten, »bevor ich ihr Worte verleihen konnte! Eine
3333
schwierige und, wie ich hinzuzufügen vergaß, =nicht unanfechtbare=
3334
Lektüre. Von allem abgesehen, erinnere ich mich einiger direkt
3335
anstößiger Stellen in diesen Reden ...«
3337
Als eine Pause entstand, dachte Tony: Jetzt komme ich an die Reihe. Denn
3338
Herrn Grünlichs Blicke ruhten auf ihr. Und richtig, sie kam an die
3339
Reihe. Herr Grünlich nämlich schnellte plötzlich ein wenig auf seinem
3340
Sitze empor, machte eine kurze, krampfhafte und dennoch elegante
3341
Handbewegung nach der Seite der Konsulin und flüsterte heftig:
3343
»Ich bitte Sie, Frau Konsulin, beachten Sie? -- Ich beschwöre Sie, mein
3344
Fräulein«, unterbrach er sich laut, als ob Tony nur dies verstehen
3345
sollte, »bleiben Sie noch einen Moment in dieser Stellung ...! --
3346
Beachten Sie«, fuhr er wieder flüsternd fort, »wie die Sonne in dem
3347
Haare Ihres Fräulein Tochter spielt? -- Ich habe niemals schöneres Haar
3348
gesehen!« sprach er plötzlich ernst vor Entzücken in die Luft hinein,
3349
als ob er zu Gott oder seinem Herzen redete.
3351
Die Konsulin lächelte wohlgefällig, der Konsul sagte: »Setzen Sie der
3352
Dirn keine Schwachheiten in den Kopf!« und Tony zog wiederum stumm die
3353
Brauen zusammen. Einige Minuten darauf erhob sich Herr Grünlich.
3355
»Aber ich inkommodiere nicht länger, nein, bei Gott, Frau Konsulin, ich
3356
inkommodiere nicht länger! Ich kam in Geschäften ... allein wer könnte
3357
widerstehen ... Nun ruft die Tätigkeit! Wenn ich den Herrn Konsul
3358
ersuchen dürfte ...«
3360
»Ich brauche Sie nicht zu versichern«, sagte die Konsulin, »wie sehr es
3361
mich freuen würde, wenn Sie während der Dauer Ihres Aufenthaltes am Orte
3362
in unserem Hause vorlieb nehmen möchten ...«
3364
Herr Grünlich blieb einen Augenblick stumm vor Dankbarkeit. »Ich bin
3365
Ihnen von ganzer Seele verbunden, Frau Konsulin!« sagte er mit dem
3366
Ausdruck der Rührung. »Aber ich darf Ihre Liebenswürdigkeit nicht
3367
mißbrauchen. Ich bewohne ein paar Zimmer im Gasthause Stadt Hamburg ...«
3369
»Ein =paar= Zimmer«, dachte die Konsulin, und dies war es auch, was sie
3370
nach Herrn Grünlichs Absicht denken sollte.
3372
»Jedenfalls«, beschloß sie, indem sie ihm noch einmal mit herzlicher
3373
Bewegung die Hand bot, »hoffe ich, daß wir uns nicht zum letzten Male
3376
Herr Grünlich küßte der Konsulin die Hand, wartete einen Augenblick, daß
3377
auch Antonie ihm die ihrige reiche, was aber nicht geschah, beschrieb
3378
einen Halbkreis mit dem Oberkörper, trat einen großen Schritt zurück,
3379
verbeugte sich nochmals, setzte dann mit einem Schwunge und indem er das
3380
Haupt zurückwarf, seinen grauen Hut auf und schritt mit dem Konsul
3383
»Ein angenehmer Mann!« wiederholte der letztere, als er zu seiner
3384
Familie zurückkehrte und seinen Platz wieder einnahm.
3386
»Ich finde ihn =albern=«, erlaubte sich Tony zu bemerken und zwar mit
3389
»Tony! Mein Gott! Was für ein Urteil!« rief die Konsulin ein wenig
3390
entrüstet. »Ein so christlicher junger Mann!«
3392
»Ein so wohlerzogener und weltläufiger Mann!« ergänzte der Konsul. »Du
3393
weißt nicht, was du sagst.« -- Es geschah manchmal, daß die Eltern in
3394
dieser Weise aus Höflichkeit den Standpunkt wechselten; dann waren sie
3395
desto sicherer, einig zu sein.
3397
Christian zog seine große Nase in Falten und sagte:
3399
»Wie wichtig er immer spricht!... Man plaudert! Wir plauderten gar
3400
nicht. Und Klatschrosen putzen ungemein! Manchmal tut er, als ob er ganz
3401
laut zu sich selbst spräche. Ich störe -- ich muß um Verzeihung
3402
bitten!... Ich habe niemals schöneres Haar gesehen!...« Und Christian
3403
ahmte Herrn Grünlich so vortrefflich nach, daß selbst der Konsul lachen
3406
»Ja, er macht sich allzu wichtig!« fing Tony wieder an. »Er sprach
3407
beständig von sich selbst! =Sein= Geschäft ist rege, =er= liebt die
3408
Natur, =er= bevorzugt die und die Namen, =er= heißt Bendix ... Was geht
3409
uns das an, möchte ich wissen ... Er sagt alles nur, um sich
3410
herauszustreichen!« rief sie plötzlich ganz wütend. »Er sagte dir, Mama,
3411
und dir, Papa, =nur=, was ihr gern hört, um sich bei euch
3414
»Das ist kein Vorwurf, Tony!« sagte der Konsul streng. »Man befindet
3415
sich in fremder Gesellschaft, zeigt sich von seiner besten Seite, setzt
3416
seine Worte und sucht zu gefallen -- das ist klar ...«
3418
»Ich finde, er ist ein guter Mensch«, sagte Klothilde sanft und gedehnt,
3419
obgleich sie die einzige Person war, um die Herr Grünlich sich nicht im
3420
geringsten bekümmert hatte. Thomas enthielt sich des Urteils.
3422
»Genug«, beschloß der Konsul, »er ist ein christlicher, tüchtiger,
3423
tätiger und feingebildeter Mann, und du, Tony, ein großes Mädchen von 18
3424
oder nächstens 19 Jahren, gegen das er sich so artig und galant betragen
3425
hat, du solltest deine Tadelsucht bezähmen. Wir alle sind schwache
3426
Menschen, und du bist, verzeih mir, wahrlich die letzte, die einen Stein
3427
aufheben dürfte ... Tom, an die Arbeit!«
3429
Tony aber murmelte vor sich hin: »Ein goldgelber Backenbart!« und dabei
3430
zog sie die Brauen zusammen, wie sie es schon mehrere Male getan hatte.
3435
»Wie aufrichtig betrübt war ich, mein Fräulein, Sie zu verfehlen!«
3436
sprach Herr Grünlich einige Tage später, als Tony, die von einem Ausgang
3437
zurückkehrte, an der Ecke der Breiten- und Mengstraße mit ihm
3438
zusammentraf. »Ich erlaubte mir, Ihrer Frau Mama meine Aufwartung zu
3439
machen, und ich vermißte Sie schmerzlich ... Wie entzückt aber bin ich,
3440
Sie nun doch noch zu treffen!«
3442
Fräulein Buddenbrook war stehengeblieben, da Herr Grünlich zu sprechen
3443
begann; aber ihre Augen, die sie halb geschlossen hatte und die
3444
plötzlich dunkel wurden, richteten sich nicht höher als auf Herrn
3445
Grünlichs Brust, und um ihren Mund lag das spöttische und vollkommen
3446
unbarmherzige Lächeln, mit dem ein junges Mädchen einen Mann mißt und
3447
verwirft ... Ihre Lippen bewegten sich -- was sollte sie antworten? Ha!
3448
es mußte ein Wort sein, das diesen Bendix Grünlich ein für allemal
3449
zurückschleuderte, vernichtete ... aber es mußte ein gewandtes,
3450
witziges, schlagendes Wort sein, das ihn zugleich spitzig verwundete und
3453
»Das ist nicht gegenseitig!« sagte sie, immer den Blick auf Herrn
3454
Grünlichs Brust geheftet; und nachdem sie diesen fein vergifteten Pfeil
3455
abgeschossen, ließ sie ihn stehen, legte den Kopf zurück und ging rot
3456
vor Stolz über ihre sarkastische Redegewandtheit nach Hause, woselbst
3457
sie erfuhr, daß Herr Grünlich zum nächsten Sonntag auf einen Kalbsbraten
3460
Und er kam. Er kam in einem nicht ganz neumodischen, aber feinen,
3461
glockenförmigen und faltigen Gehrock, der ihm einen Anstrich von Ernst
3462
und Solidität verlieh, -- rosig übrigens und lächelnd, das spärliche
3463
Haar sorgfältig gescheitelt und mit duftig frisierten Favoris. Er aß
3464
Muschelragout, Juliennesuppe, gebackene Seezungen, Kalbsbraten mit
3465
Rahmkartoffeln und Blumenkohl, Marasquino-Pudding und Pumpernickel mit
3466
Roquefort und fand bei jedem Gerichte einen neuen Lobspruch, den er mit
3467
Delikatesse vorzubringen verstand. Er hob zum Beispiel seinen
3468
Dessertlöffel empor, blickte eine Statue der Tapete an und sprach laut
3469
zu sich selbst: »Gott verzeihe mir, ich kann nicht anders; ich habe ein
3470
großes Stück genossen, aber dieser Pudding ist gar zu prächtig gelungen;
3471
ich =muß= die gütige Wirtin noch um ein Stückchen ersuchen!« Worauf er
3472
der Konsulin schalkhaft zublinzelte. Er sprach mit dem Konsul über
3473
Geschäfte und Politik, wobei er ernste und tüchtige Grundsätze an den
3474
Tag legte, er plauderte mit der Konsulin über Theater, Gesellschaften
3475
und Toiletten; er hatte auch für Tom, Christian und die arme Klothilde,
3476
ja selbst für die kleine Klara und Mamsell Jungmann liebenswürdige Worte
3477
... Tony verhielt sich schweigsam, und er seinerseits unternahm es
3478
nicht, sich ihr zu nähern, sondern betrachtete sie nur dann und wann mit
3479
seitwärts geneigtem Kopfe und einem Blick, in dem sowohl Betrübnis wie
3482
Als Herr Grünlich sich an diesem Abend verabschiedete, hatte er den
3483
Eindruck verstärkt, den sein erster Besuch hervorgebracht. »Ein
3484
vollkommen erzogener Mann«, sagte die Konsulin. »Ein christlicher und
3485
achtbarer Mensch«, sagte der Konsul. Christian konnte seine Bewegungen
3486
und Sprache nun noch besser nachahmen, und Tony sagte mit finsteren
3487
Brauen gute Nacht, denn sie ahnte undeutlich, daß sie diesen Herrn, der
3488
sich mit so ungewöhnlicher Schnelligkeit die Herzen ihrer Eltern erobert
3489
hatte, nicht zum letztenmal gesehen habe.
3491
In der Tat, sie fand Herrn Grünlich, wenn sie nachmittags von einem
3492
Besuche, einer Mädchengesellschaft zurückkehrte, eingenistet im
3493
Landschaftszimmer, woselbst er der Konsulin aus Walter Scotts »Waverley«
3494
vorlas -- und zwar mit mustergültiger Aussprache, denn die Reisen im
3495
Dienste seines regen Geschäftes hatten ihn, wie er berichtete, auch nach
3496
England geführt. Tony setzte sich seitab mit einem anderen Buche, und
3497
Herr Grünlich fragte mit weicher Stimme: »Es entspricht wohl nicht Ihrem
3498
Geschmacke, mein Fräulein, was ich lese?« Worauf sie mit
3499
zurückgeworfenem Kopf etwas recht spitzig Sarkastisches erwiderte, wie
3500
zum Beispiel: »Nicht im geringsten!«
3502
Aber er ließ sich nicht stören, er begann von seinen zu früh
3503
verstorbenen Eltern zu erzählen und berichtete von seinem Vater, der ein
3504
Prediger, ein Pastor, ein höchst christlicher und dabei in ebenso hohem
3505
Grade weltläufiger Mann gewesen war ... Dann jedoch, ohne daß Tony
3506
seiner Abschiedsvisite beigewohnt hätte, war Herr Grünlich nach Hamburg
3507
abgereist. »Ida!« sagte sie zu Mamsell Jungmann, an der sie eine
3508
vertraute Freundin besaß. »Der Mensch ist fort!« Ida Jungmann aber
3509
antwortete: »Kindchen, wirst sehen ...«
3511
Acht Tage später ereignete sich jene Szene im Frühstückszimmer ... Tony
3512
kam um neun Uhr herunter und war erstaunt, ihren Vater noch neben der
3513
Konsulin am Kaffeetische zu finden. Nachdem sie sich die Stirn hatte
3514
küssen lassen, setzte sie sich frisch, hungrig und mit schlafroten Augen
3515
an ihren Platz, nahm Zucker und Butter und bediente sich mit grünem
3518
»Wie hübsch, Papa, daß ich dich einmal noch vorfinde!« sagte sie,
3519
während sie mit der Serviette ihr heißes Ei erfaßte und es mit dem
3522
»Ich habe heute auf unsere Langschläferin gewartet«, sagte der Konsul,
3523
der eine Zigarre rauchte und beharrlich mit dem zusammengefalteten
3524
Zeitungsblatt leicht auf den Tisch schlug. Die Konsulin ihrerseits
3525
beendete langsam und mit graziösen Bewegungen ihr Frühstück und lehnte
3526
sich dann ins Sofa zurück.
3528
»Thilda ist schon in der Küche tätig«, fuhr der Konsul bedeutsam fort,
3529
»und ich wäre ebenfalls bei meiner Arbeit, wenn deine Mutter und ich
3530
nicht in einer ernsthaften Angelegenheit mit unserem Töchterchen zu
3533
Tony, den Mund voll Butterbrot, blickte ihrem Vater und dann ihrer
3534
Mutter mit einem Gemisch von Neugier und Erschrockenheit ins Gesicht.
3536
»Iß nur zuvor, mein Kind«, sagte die Konsulin, und als Tony trotzdem ihr
3537
Messer niederlegte und rief: »Nur gleich heraus damit, bitte, Papa!«
3538
wiederholte der Konsul, der durchaus nicht aufhörte, mit der Zeitung zu
3541
Während Tony unter Stillschweigen und appetitlos ihren Kaffee trank, ihr
3542
Ei und ihren grünen Käse zum Brote verzehrte, fing sie zu ahnen an, um
3543
was es sich handelte. Die Morgenfrische verschwand von ihrem Gesicht,
3544
sie ward ein wenig bleich, sie dankte für Honig und erklärte bald mit
3545
leiser Stimme, daß sie fertig sei ...
3547
»Mein liebes Kind«, sagte der Konsul, nachdem er noch einen Augenblick
3548
geschwiegen hatte, »die Frage, über die wir mit dir zu reden haben, ist
3549
in diesem Briewe enthalten.« Und er pochte nun, statt mit der Zeitung,
3550
mit einem großen, bläulichen Kuvert auf den Tisch. »Um kurz zu sein:
3551
Herr Bendix Grünlich, den wir alle als einen braven und liebenswürdigen
3552
Mann kennengelernt haben, schreibt mir, daß er während seines hiesigen
3553
Aufenthaltes eine tiefe Neigung zu unserer Tochter gefaßt habe, und
3554
bittet in aller Form um ihre Hand. Was denkt unser gutes Kind darüber?«
3556
Tony saß mit gesenktem Kopfe zurückgelehnt, und ihre rechte Hand drehte
3557
den silbernen Serviettenring langsam um sich selbst. Plötzlich aber
3558
schlug sie die Augen auf, Augen, die ganz dunkel geworden waren und voll
3559
von Tränen standen. Und mit bedrängter Stimme stieß sie hervor:
3561
»Was will dieser Mensch von mir --! Was habe ich ihm getan --?!« Worauf
3562
sie in Weinen ausbrach. --
3564
Der Konsul warf seiner Gattin einen Blick zu und betrachtete ein wenig
3565
verlegen seine leere Tasse.
3567
»Liebe Tony«, sagte die Konsulin sanft, »wozu dies Echauffement! Du
3568
kannst sicher sein, nicht wahr, daß deine Eltern nur dein Bestes im Auge
3569
haben, und daß sie dir nicht raten können, die Lebensstellung
3570
auszuschlagen, die man dir anbietet. Siehst du, ich nehme an, daß du
3571
noch keine entscheidenden Empfindungen für Herrn Grünlich hegst, aber
3572
das kommt, ich versichere dich, das kommt mit der Zeit ... Einem so
3573
jungen Dinge, wie du, ist es niemals klar, was es eigentlich will ... Im
3574
Kopfe sieht es so wirr aus wie im Herzen ... Man muß dem Herzen Zeit
3575
lassen und den Kopf offen halten für die Zusprüche erfahrener Leute, die
3576
planvoll für unser Glück sorgen ...«
3578
»Ich weiß gar nichts von ihm --« brachte Tony trostlos hervor und
3579
drückte mit der kleinen weißen Batistserviette, in der sich Eiflecke
3580
befanden, ihre Augen. »Ich weiß nur, daß er einen goldgelben Backenbart
3581
hat und ein reges Geschäft ...« Ihre Oberlippe, die beim Weinen
3582
zitterte, machte einen unaussprechlich rührenden Eindruck.
3584
Der Konsul rückte mit einer Bewegung plötzlicher Zärtlichkeit seinen
3585
Stuhl an sie heran und strich lächelnd über ihr Haar.
3587
»Meine kleine Tony«, sagte er, »was solltest du auch von ihm wissen? Du
3588
bist ein Kind, siehst du, du würdest nicht mehr von ihm wissen, wenn er
3589
nicht vier Wochen, sondern deren zweiundfünfzig hier verlebt hätte ...
3590
Du bist ein kleines Mädchen, das noch keine Augen hat für die Welt, und
3591
das sich auf die Augen anderer Leute verlassen muß, die Gutes mit dir im
3594
»Ich verstehe es nicht ... ich verstehe es nicht ...« schluchzte Tony
3595
fassungslos und schmiegte ihren Kopf wie ein Kätzchen unter die
3596
streichelnde Hand. »Er kommt hierher ... sagt allen etwas Angenehmes ...
3597
reist wieder ab ... und schreibt, daß er mich ... ich verstehe es nicht
3598
... wie kommt er dazu ... was habe ich ihm getan?!...«
3600
Der Konsul lächelte wieder. »Das hast du schon einmal gesagt, Tony, und
3601
es zeigt so recht deine kindliche Ratlosigkeit. Mein Töchterchen muß
3602
durchaus nicht glauben, daß ich es drängen und quälen will ... Das alles
3603
kann mit Ruhe erwogen werden, =muß= mit Ruhe erwogen werden, denn es ist
3604
eine ernste Sache. Das werde ich auch Herrn Grünlich vorläufig antworten
3605
und sein Gesuch weder abschlagen noch bewilligen ... Es gibt da viele
3606
Dinge zu überlegen ... So ... sehen wir wohl? abgemacht! Nun geht Papa
3607
an seine Arbeit ... Adieu, Bethsy ...«
3609
»Auf Wiedersehen, mein lieber Jean.«
3611
-- »Du solltest immerhin noch ein wenig Honig nehmen, Tony«, sagte die
3612
Konsulin, als sie mit ihrer Tochter allein geblieben war, die
3613
unbeweglich und mit gesenktem Kopfe an ihrem Platze blieb. »Essen muß
3614
man hinlänglich ...«
3616
Tonys Tränen versiegten allmählich. Ihr Kopf war heiß und voll von
3617
Gedanken ... Gott! was für eine Angelegenheit! Sie hatte es ja gewußt,
3618
daß sie eines Tages die Frau eines Kaufmannes werden, eine gute und
3619
vorteilhafte Ehe eingehen werde, wie es der Würde der Familie und der
3620
Firma entsprach ... Aber nun geschah es ihr plötzlich zum ersten Male,
3621
daß jemand sie wirklich und allen Ernstes heiraten wollte! Wie sollte
3622
man sich dabei benehmen? Für sie, Tony Buddenbrook, handelte es sich
3623
plötzlich um alle diese furchtbar gewichtigen Ausdrücke, die sie
3624
bislang nur gelesen hatte: um ihr »Jawort«, um ihre »Hand« ... »fürs
3625
Leben« ... Gott! Was für eine gänzlich neue Lage auf einmal!
3627
»Und du, Mama?« sagte sie. »Du rätst mir also auch, mein ... Jawort zu
3628
geben?« Sie zögerte einen Augenblick vor dem »Jawort«, weil es ihr allzu
3629
hochtrabend und genant erschien; dann aber sprach sie es zum ersten Male
3630
in ihrem Leben mit Würde aus. Sie begann, sich ihrer anfänglichen
3631
Fassungslosigkeit ein wenig zu schämen. Es erschien ihr nicht weniger
3632
unsinnig, als zehn Minuten früher, Herrn Grünlich zu heiraten, aber die
3633
Wichtigkeit ihrer Stellung fing an, sie mit Wohlgefallen zu erfüllen.
3637
»Zuraten, mein Kind? Hat Papa dir zugeraten? Er hat dir nicht abgeraten,
3638
das ist alles. Und es wäre unverantwortlich, von ihm wie von mir, wenn
3639
wir das tun wollten. Die Verbindung, die sich dir darbietet, ist
3640
vollkommen das, was man eine gute Partie nennt, meine liebe Tony ... Du
3641
kämest nach Hamburg in ausgezeichnete Verhältnisse und würdest auf
3642
großem Fuße leben ...«
3644
Tony saß bewegungslos. Etwas wie seidene Portièren tauchte plötzlich vor
3645
ihr auf, wie es deren im Salon der Großeltern gab ... Ob sie als Madame
3646
Grünlich morgens Schokolade trinken würde? Es schickte sich nicht,
3649
»Wie dein Vater dir sagte: du hast Zeit zur Überlegung«, fuhr die
3650
Konsulin fort. »Aber wir müssen dir zu bedenken geben, daß sich eine
3651
solche Gelegenheit, dein Glück zu machen, nicht alle Tage bietet, und
3652
daß diese Heirat genau das ist, was Pflicht und Bestimmung dir
3653
vorschreiben. Ja, mein Kind, auch das muß ich dir vorhalten. Der Weg,
3654
der sich dir heute eröffnet, ist der dir vorgeschriebene, das weißt du
3655
selbst recht wohl ...«
3657
»Ja«, sagte Tony gedankenvoll. »Gewiß.« Sie war sich ihrer
3658
Verpflichtungen gegen die Familie und die Firma wohl bewußt, und sie war
3659
stolz auf diese Verpflichtungen. Sie, Antonie Buddenbrook, vor der der
3660
Träger Matthiesen tief seinen rauhen Zylinder abnahm, und die als
3661
Tochter des Konsuls Buddenbrook in der Stadt wie eine kleine Herrscherin
3662
umherging, war von der Geschichte ihrer Familie durchdrungen. Schon der
3663
Gewandschneider zu Rostock hatte sich =sehr= gut gestanden, und seit
3664
seiner Zeit war es immer glänzender bergauf gegangen. Sie hatte den
3665
Beruf, auf ihre Art den Glanz der Familie und der Firma »Johann
3666
Buddenbrook« zu fördern, indem sie eine reiche und vornehme Heirat
3667
einging ... Tom arbeitete dafür im Kontor ... Ja, die Art dieser Partie
3668
war sicherlich die richtige; aber ausgemacht Herr Grünlich ... Sie sah
3669
ihn vor sich, seine goldgelben Favoris, sein rosiges, lächelndes Gesicht
3670
mit der Warze am Nasenflügel, seine kurzen Schritte, sie glaubte seinen
3671
wolligen Anzug zu fühlen und seine weiche Stimme zu hören ...
3673
»Ich wußte wohl«, sagte die Konsulin, »daß wir ruhigen Vorstellungen
3674
zugänglich sind ... haben wir vielleicht schon einen Entschluß gefaßt?«
3676
»O bewahre!« rief Tony, und sie betonte das »O« mit plötzlicher
3677
Entrüstung. »Was für ein Unsinn, Grünlich zu heiraten! Ich habe ihn
3678
beständig mit spitzen Redensarten verhöhnt ... Ich begreife überhaupt
3679
nicht, daß er mich noch leiden mag! Er müßte doch ein bißchen Stolz im
3682
Und damit fing sie an, sich Honig auf eine Scheibe Landbrot zu träufeln.
3687
In diesem Jahre unternahmen Buddenbrooks auch während der Schulferien
3688
Christians und Klaras keine Erholungsreise. Der Konsul erklärte,
3689
geschäftlich zu sehr in Anspruch genommen zu sein, und die schwebende
3690
Frage in betreff Antoniens trug dazu bei, daß man abwartend in der
3691
Mengstraße verblieb. An Herrn Grünlich war, von der Hand des Konsuls
3692
geschrieben, ein überaus diplomatischer Brief abgegangen; aber der
3693
Fortgang der Dinge ward durch Tonys in den kindischsten Formen geäußerte
3694
Hartnäckigkeit behindert. »Bewahre, Mama!« sagte sie. »Ich kann ihn
3695
nicht ausstehen!« wobei sie die zweite Silbe des letzten Wortes mit
3696
höchstem Nachdruck betonte und das »st« ausnahmsweise nicht getrennt
3697
sprach. Oder sie erklärte mit Feierlichkeit: »Vater!« -- sonst pflegte
3698
Tony »Papa« zu sagen -- »Ich werde ihm mein Jawort niemals erteilen.«
3700
Auf diesem Punkte wäre die Angelegenheit sicherlich noch lange Zeit
3701
stehengeblieben, wenn sich nicht, zehn Tage vielleicht nach jener
3702
Unterredung im Frühstückszimmer -- man stand in der Mitte des Juli --,
3703
das Folgende ereignet hätte ...
3705
Es war Nachmittag -- ein blauer, warmer Nachmittag; die Konsulin war
3706
ausgegangen, und Tony saß mit einem Romane allein im Landschaftszimmer
3707
am Fenster, als Anton ihr eine Visitkarte überbrachte. Bevor sie noch
3708
Zeit gehabt, den Namen zu lesen, betrat ein Herr in glockenförmigem
3709
Gehrock und erbsenfarbenem Beinkleid das Zimmer; es war, wie sich
3710
versteht, Herr Grünlich, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck
3711
flehender Zärtlichkeit.
3713
Tony fuhr entsetzt auf ihrem Stuhle empor und machte eine Bewegung, als
3714
wollte sie in den Eßsaal entfliehen ... Wie war es möglich, noch mit
3715
einem Herrn zu sprechen, der um ihre Hand angehalten hatte? Das Herz
3716
pochte ihr bis in den Hals hinauf, und sie war sehr bleich geworden.
3717
Solange sie Herrn Grünlich weit entfernt wußte, hatten die ernsthaften
3718
Verhandlungen mit den Eltern und die plötzliche Wichtigkeit ihrer Person
3719
und Entscheidung ihr geradezu Spaß gemacht. Nun aber war er wieder da!
3720
Er stand vor ihr! Was würde geschehen? Sie fühlte schon wieder, daß sie
3723
Mit raschen Schritten, die Arme ausgebreitet und den Kopf zur Seite
3724
geneigt, in der Haltung eines Mannes, welcher sagen will: Hier bin ich!
3725
Töte mich, wenn du willst! kam Herr Grünlich auf sie zu. »Welch eine
3726
Fügung!« rief er. »Ich finde =Sie=, Antonie!« Er sagte »Antonie«.
3728
Tony, die, ihren Roman in der Rechten, aufgerichtet an ihrem Stuhle
3729
stand, schob die Lippen hervor, und indem sie bei jedem Worte eine
3730
Kopfbewegung von unten nach oben machte und jedes dieser Worte mit einer
3731
tiefen Entrüstung betonte, stieß sie hervor:
3733
»Was -- fällt -- Ihnen -- ein!«
3735
Trotzdem standen ihr die Tränen bereits in der Kehle.
3737
Herrn Grünlichs Bewegung war allzu groß, als daß er diesen Einwurf hätte
3740
»Konnte ich länger warten ... Mußte ich nicht hierher zurückkehren?«
3741
fragte er eindringlich. »Ich habe vor einer Woche den Brief Ihres
3742
=lieben= Herrn Vaters erhalten, diesen Brief, der mich mit Hoffnung
3743
erfüllt hat! Konnte ich noch länger in halber Gewißheit verharren,
3744
Fräulein Antonie? Ich hielt es nicht länger aus ... Ich habe mich in
3745
einen Wagen geworfen ... Ich bin hierher geeilt ... Ich habe ein paar
3746
Zimmer im Gasthofe Stadt Hamburg genommen ... und da bin ich, Antonie,
3747
um von Ihren Lippen das letzte, entscheidende Wort in Empfang zu nehmen,
3748
das mich glücklicher machen wird, als ich es zu sagen vermag!«
3750
Tony war erstarrt; ihre Tränen traten zurück vor Verblüffung. Das also
3751
war die Wirkung des vorsichtigen väterlichen Briefes, der jede
3752
Entscheidung auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben hatte! -- Sie
3753
stammelte drei- oder viermal:
3755
»Sie irren sich. -- Sie irren sich ...«
3757
Herr Grünlich hatte einen Armsessel ganz dicht an ihren Fenstersitz
3758
herangezogen, er setzte sich, er nötigte auch sie selbst, sich wieder
3759
niederzulassen, und während er, vornübergebeugt, ihre Hand, die schlaff
3760
war vor Ratlosigkeit, in der seinen hielt, fuhr er mit bewegter Stimme
3763
»Fräulein Antonie ... Seit dem ersten Augenblicke, seit jenem
3764
Nachmittage ... Sie erinnern sich jenes Nachmittages?... als ich Sie zum
3765
ersten Male im Kreise der Ihrigen, eine so vornehme, so traumhaft
3766
liebliche Erscheinung, erblickte ... ist Ihr Name mit unauslöschlichen
3767
Buchstaben in mein Herz geschrieben ...« Er verbesserte sich und sagte:
3768
»gegraben«. »Seit jenem Tage, Fräulein Antonie, ist es mein einziger,
3769
mein heißer Wunsch, Ihre schöne Hand fürs Leben zu gewinnen, und was der
3770
Brief Ihres =lieben= Herrn Vaters mich nur hoffen ließ, das werden Sie
3771
mir nun zur glücklichen Gewißheit machen ... nicht wahr?! ich darf mit
3772
Ihrer Gegenneigung rechnen ... Ihrer Gegenneigung sicher sein!« Hierbei
3773
ergriff er auch mit der anderen Hand die ihre und blickte ihr tief in
3774
die ängstlich geöffneten Augen. Er trug heute keine Zwirnhandschuhe;
3775
seine Hände waren lang, weiß und von hohen, blauen Adern durchzogen.
3777
Tony starrte in sein rosiges Gesicht, auf die Warze an seiner Nase, und
3778
in seine Augen, die so blau waren wie diejenigen einer Gans.
3780
»Nein, nein!« brachte sie rasch und angstvoll hervor. Hierauf sagte sie
3781
noch: »Ich gebe Ihnen nicht mein Jawort!« Sie bemühte sich fest zu
3782
sprechen, aber sie weinte schon.
3784
»Womit habe ich dieses Zweifeln und Zögern Ihrerseits verdient?« fragte
3785
er mit tief gesenkter und fast vorwurfsvoller Stimme. »Sie sind ein von
3786
liebender Sorgfalt behütetes und verwöhntes Mädchen ... aber ich schwöre
3787
Ihnen, ja, ich verpfände Ihnen mein Manneswort, daß ich Sie auf Händen
3788
tragen werde, daß Sie als meine Gattin nichts entbehren werden, daß Sie
3789
in Hamburg ein Ihrer würdiges Leben führen werden ...«
3791
Tony sprang auf, sie befreite ihre Hand, und während ihre Tränen
3792
hervorstürzten, rief sie völlig verzweifelt:
3794
»Nein ... nein! Ich habe ja =nein= gesagt! Ich gebe Ihnen einen Korb,
3795
verstehen Sie das denn nicht, Gott im Himmel?!...«
3797
Allein auch Herr Grünlich erhob sich. Er trat einen Schritt zurück, er
3798
breitete die Arme aus, indem er ihr beide Handflächen entgegenhielt, und
3799
sprach mit dem Ernst eines Mannes von Ehre und Entschluß:
3801
»Wissen Sie, Mademoiselle Buddenbrook, daß ich mich nicht in dieser
3802
Weise beleidigen lassen darf?«
3804
»Aber ich beleidige Sie nicht, Herr Grünlich«, sagte Tony, denn sie
3805
bereute, so heftig gewesen zu sein. Mein Gott, mußte gerade ihr dies
3806
begegnen! Sie hatte sich so eine Werbung nicht vorgestellt. Sie hatte
3807
geglaubt, man brauche nur zu sagen: »Ihr Antrag ehrt mich, aber ich kann
3808
ihn nicht annehmen«, damit alles erledigt sei ...
3810
»Ihr Antrag ehrt mich«, sagte sie so ruhig sie konnte; »aber ich kann
3811
ihn nicht annehmen ... So, und ich muß Sie nun ... verlassen,
3812
entschuldigen Sie, ich habe keine Zeit mehr.«
3814
Aber Herr Grünlich stand ihr im Wege.
3816
»Sie weisen mich zurück?« fragte er tonlos ...
3818
»Ja«, sagte Tony; und aus Vorsicht fügte sie hinzu: »Leider« ...
3820
Da atmete Herr Grünlich heftig auf, er machte zwei große Schritte
3821
rückwärts, beugte den Oberkörper zur Seite, wies mit dem Zeigefinger auf
3822
den Teppich und rief mit fürchterlicher Stimme:
3826
So standen sie sich während eines Augenblicks gegenüber; er in
3827
aufrichtig erzürnter und gebietender Haltung, Tony blaß, verweint und
3828
zitternd, das feuchte Taschentuch am Munde. Endlich wandte er sich ab
3829
und durchmaß, die Hände auf dem Rücken, zweimal das Zimmer, als sei er
3830
hier zu Hause. Dann blieb er am Fenster stehen und blickte durch die
3831
Scheiben in die beginnende Dämmerung.
3833
Tony schritt langsam und mit einer gewissen Behutsamkeit auf die Glastür
3834
zu; aber sie befand sich erst in der Mitte des Zimmers, als Herr
3835
Grünlich aufs neue bei ihr stand.
3837
»Tony!« sagte er ganz leise, während er sanft ihre Hand erfaßte; und er
3838
sank ... sank langsam bei ihr zu Boden auf die Knie. Seine beiden
3839
goldgelben Favoris lagen auf ihrer Hand.
3841
»Tony ...«, wiederholte er, »sehen Sie mich hier ... Dahin haben Sie es
3842
gebracht ... Haben Sie ein Herz, ein fühlendes Herz?... Hören Sie mich
3843
an ... Sie sehen einen Mann vor sich, der vernichtet, zugrunde gerichtet
3844
ist, wenn ... ja, der vor Kummer sterben wird«, unterbrach er sich mit
3845
einer gewissen Hast, »wenn Sie seine Liebe verschmähen! Hier liege ich
3846
... bringen Sie es über das Herz, mir zu sagen: Ich verabscheue Sie --?«
3848
»Nein, nein!« sagte Tony plötzlich in tröstendem Ton. Ihre Tränen waren
3849
versiegt, Rührung und Mitleid stiegen in ihr auf. Mein Gott, wie sehr
3850
mußte er sie lieben, daß er diese Sache, die ihr selbst innerlich ganz
3851
fremd und gleichgültig war, so weit trieb! War es möglich, daß =sie=
3852
dies erlebte? In Romanen las man dergleichen, und nun lag im
3853
gewöhnlichen Leben ein Herr im Gehrock vor ihr auf den Knien und
3854
flehte!... Ihr war der Gedanke, ihn zu heiraten, einfach unsinnig
3855
erschienen, weil sie Herrn Grünlich albern gefunden hatte. Aber, bei
3856
Gott, in diesem Augenblicke war er durchaus nicht albern! Aus seiner
3857
Stimme und seinem Gesicht sprach eine so ehrliche Angst, eine so
3858
aufrichtige und verzweifelte Bitte ...
3860
»Nein, nein«, wiederholte sie, indem sie sich ganz ergriffen über ihn
3861
beugte, »ich verabscheue Sie nicht, Herr Grünlich, wie können Sie
3862
dergleichen sagen!... Aber nun stehen Sie auf ... bitte ...«
3864
»Sie wollen mich nicht töten?« fragte er wieder, und sie sagte noch
3865
einmal in einem beinahe mütterlich tröstenden Ton:
3869
»Das ist ein Wort!« rief Herr Grünlich und sprang auf die Füße. Sofort
3870
aber, als er Tonys erschrockene Bewegung sah, ließ er sich noch einmal
3871
nieder und sagte ängstlich beschwichtigend:
3873
»Gut, gut ... sprechen Sie nun nichts mehr, Antonie! Genug für diesmal,
3874
ich bitte Sie, von dieser Sache ... Wir reden weiter davon ... Ein
3875
anderes Mal ... Ein anderes Mal ... Leben Sie wohl für heute ... Leben
3876
Sie wohl ... Ich kehre zurück ... Leben Sie wohl! --«
3878
Er hatte sich rasch erhoben, er hatte seinen großen grauen Hut vom
3879
Tische gerissen, hatte ihre Hand geküßt und war durch die Glastür
3882
Tony sah, wie er in der Säulenhalle seinen Stock ergriff und im Korridor
3883
verschwand. Sie stand, völlig verwirrt und erschöpft, inmitten des
3884
Zimmers, das feuchte Taschentuch in einer ihrer hinabhängenden Hände.
3889
Konsul Buddenbrook sagte zu seiner Gattin:
3891
»Wenn ich mir denken könnte, daß Tony irgendeinen delikaten Beweggrund
3892
hat, sich für diese Verbindung nicht entschließen zu können! Aber sie
3893
ist ein Kind, Bethsy, sie ist vergnügungslustig, tanzt auf Bällen, läßt
3894
sich von den jungen Leuten bekuren, und zwar mit Pläsier, denn sie weiß,
3895
daß sie hübsch und von Familie ist ... sie ist vielleicht im geheimen
3896
und unbewußt auf der Suche, aber ich kenne sie, sie hat ihr Herz, wie
3897
man zu sagen pflegt, noch gar nicht entdeckt ... Fragte man sie, so
3898
würde sie den Kopf hin und her drehen und nachdenken ... aber sie würde
3899
niemanden finden ... Sie ist ein Kind, ein Spatz, ein Springinsfeld ...
3900
Sagt sie ja, so wird sie ihren Platz gefunden haben, sie wird sich nett
3901
installieren können, wonach ihr der Sinn steht, und ihren Mann schon
3902
nach ein paar Tagen lieben ... Er ist kein Beau, nein, mein Gott, nein,
3903
er ist kein Beau ... aber er ist immerhin im höchsten Grade präsentabel,
3904
und man kann am Ende nicht fünf Beine auf ein Schaf verlangen, wenn du
3905
mir die kaufmännische Phrase zugut halten willst!... Wenn sie warten
3906
will, bis jemand kommt, der eine Schönheit und außerdem eine gute Partie
3907
ist -- nun, Gott befohlen! Tony Buddenbrook findet immer noch etwas.
3908
Indessen andererseits ... es bleibt ein Risiko, und, um wieder
3909
kaufmännisch zu reden, Fischzug ist alle Tage, aber nicht alle Tage
3910
Fangetag!... Ich habe gestern vormittag in einer längeren Unterredung
3911
mit Grünlich, der sich ja mit dem andauerndsten Ernste bewirbt, seine
3912
Bücher gesehen ... er hat sie mir vorgelegt ... Bücher, Bethsy, zum
3913
Einrahmen! Ich habe ihm mein höchstes Vergnügen ausgesprochen! Seine
3914
Sachen stehen für ein so junges Geschäft recht gut, recht gut. Sein
3915
Vermögen beläuft sich auf etwa 120000 Taler, was ersichtlich nur die
3916
vorläufige Grundlage ist, denn er macht jährlich einen hübschen Schnitt
3917
... Was Duchamps sagen, die ich befragte, klingt auch nicht übel: Seine
3918
Verhältnisse seien ihnen zwar nicht bekannt, aber er lebe _gentleman
3919
like_, verkehre in der besten Gesellschaft, und sein Geschäft sei ein
3920
notorisch lebhaftes und weit verzweigtes ... Was ich bei einigen anderen
3921
Hamburger Leuten, wie zum Beispiel bei einem Bankier Kesselmeyer,
3922
erfahren, hat mich gleichfalls vollauf befriedigt. Kurz, wie du weißt,
3923
Bethsy, ich kann nicht anders, als diese Heirat, die der Familie und der
3924
Firma nur zum Vorteil gereichen würde, dringend erwünschen! -- Es tut
3925
mir ja leid, mein Gott, daß das Kind sich in einer bedrängten Lage
3926
befindet, daß sie von allen Seiten umlagert ist, bedrückt umhergeht und
3927
kaum noch spricht; aber ich kann mich schlechterdings nicht
3928
entschließen, Grünlich kurzerhand abzuweisen ... denn noch eines,
3929
Bethsy, und das kann ich nicht oft genug wiederholen: Wir haben uns in
3930
den letzten Jahren bei Gott nicht in allzu hocherfreulicher Weise
3931
aufgenommen. Nicht als ob der Segen fehlte, behüte, nein, treue Arbeit
3932
wird redlich belohnt. Die Geschäfte gehen ruhig ... ach, allzu ruhig,
3933
und auch das nur, weil ich mit äußerster Vorsicht zu Werke gehe. Wir
3934
sind nicht vorwärts gekommen, nicht wesentlich, seit Vater abgerufen
3935
wurde. Die Zeiten jetzt sind wahrhaftig nicht gut für den Kaufmann ...
3936
Kurz, es ist nicht viele Freude dabei. Unsere Tochter ist heiratsfähig
3937
und in der Lage, eine Partie zu machen, die allen Leuten als vorteilhaft
3938
und rühmlich in die Augen springt -- sie soll sie machen! Warten ist
3939
nicht ratsam, nicht ratsam, Bethsy! Sprich noch einmal mit ihr; ich habe
3940
ihr heute Nachmittag nach Kräften zugeredet ...«
3942
-- Tony war in bedrängter Lage, darin hatte der Konsul recht. Sie sagte
3943
nicht mehr »nein«, aber sie vermochte auch das »Ja« nicht über die
3944
Lippen zu bringen -- Gott mochte ihr helfen! Sie begriff selbst nicht
3945
recht, warum sie sich die Zusage nicht abgewinnen konnte.
3947
Unterdessen nahm sie hier der Vater beiseite und sprach ein ernstes
3948
Wort, ließ dort die Mutter sie bei sich Platz nehmen, um eine endliche
3949
Entschließung zu fordern ... Onkel Gotthold und seine Familie hatte man
3950
in die Angelegenheit nicht eingeweiht, weil sie immer ein bißchen mokant
3951
gegen die in der Mengstraße gestimmt waren. Aber sogar Sesemi Weichbrodt
3952
hatte von der Sache erfahren und riet mit korrekter Aussprache zum
3953
guten, selbst Mamsell Jungmann sagte: »Tonychen, mein Kindchen, brauchst
3954
keine Sorge haben, bleibst in den ersten Kreisen ...« und Tony konnte
3955
nicht den verehrten seidnen Salon draußen vorm Burgtore besuchen, ohne
3956
daß die alte Madame Kröger anfing: »_A propos_, ich höre da von einer
3957
Affäre, ich hoffe, du wirst Räson annehmen, Kleine ...«
3959
Eines Sonntags, als sie mit den Eltern und Geschwistern in der
3960
Marienkirche saß, redete Pastor Kölling in starken Worten über den Text,
3961
der da besagt, daß das Weib Vater und Mutter verlassen und dem Manne
3962
nachfolgen soll -- wobei er plötzlich ausfallend wurde. Tony starrte
3963
entsetzt zu ihm empor, ob er sie vielleicht sogar ansähe ... Nein, Gott
3964
sei Dank, er hielt seinen dicken Kopf nach einer anderen Seite gewandt
3965
und predigte nur im allgemeinen über die andächtige Menge hin; und
3966
dennoch war es nur allzu klar, daß dies ein neuer Angriff auf sie war
3967
und jedes Wort ihr galt. Ein jugendliches, ein noch kindliches Weib,
3968
verkündete er, das noch keinen eigenen Willen und keine eigene Einsicht
3969
besitze und dennoch den liebevollen Ratschlüssen der Eltern sich
3970
widersetze, das sei strafbar, das wolle der Herr ausspeien aus seinem
3971
Munde ... und bei dieser Wendung, welche zu denen gehörte, für die
3972
Pastor Kölling schwärmte und die er mit Begeisterung hervorbrachte, traf
3973
Tony dennoch ein durchdringender Blick aus seinen Augen, der von einer
3974
furchtbaren Armbewegung begleitet war ... Tony sah, wie ihr Vater neben
3975
ihr eine Hand erhob, als wollte er sagen: »So! nicht zu heftig ...« Aber
3976
es war kein Zweifel, daß Pastor Kölling von ihm oder der Mutter ins
3977
Einverständnis gezogen war. Rot und gebückt saß sie an ihrem Platze, mit
3978
dem Gefühle, daß die Augen aller Welt auf ihr ruhten -- und am nächsten
3979
Sonntage weigerte sie sich aufs bestimmteste, die Kirche zu besuchen.
3981
Sie ging schweigsam umher, sie lachte nicht mehr genug, sie verlor
3982
geradezu den Appetit und seufzte manchmal so herzbrechend, als ringe sie
3983
mit einem Entschlusse, um dann die Ihren kläglich anzusehen ... Man
3984
mußte Mitleid mit ihr haben. Sie magerte wahrhaftig ab und büßte an
3985
Frische ein. Schließlich sagte der Konsul:
3987
»Das geht nicht länger, Bethsy, wir dürfen das Kind nicht malträtieren.
3988
Sie muß mal ein bißchen heraus, zur Ruhe kommen und sich besinnen; du
3989
sollst sehen, dann nimmt sie Vernunft an. Ich kann mich nicht losmachen,
3990
und die Ferien sind beinahe vorüber ... aber wir können auch alle ganz
3991
gut zu Hause bleiben. Gestern war zufällig der alte Schwarzkopf von
3992
Travemünde hier, Diederich Schwarzkopf, der Lotsenkommandeur. Ich ließ
3993
ein paar Worte fallen, und er zeigte sich mit Vergnügen bereit, die Dirn
3994
für einige Zeit bei sich aufzunehmen ... Ich gebe ihm eine kleine
3995
Entschädigung ... Da hat sie eine behagliche Häuslichkeit, kann baden
3996
und Luft schnappen und mit sich ins reine kommen. Tom fährt mit ihr, und
3997
alles ist in Ordnung. Das geschieht besser morgen als später ...«
3999
Mit diesem Einfalle erklärte Tony sich freudig einverstanden. Sie bekam
4000
Herrn Grünlich zwar kaum zu Gesicht, aber sie wußte, daß er in der Stadt
4001
war, mit den Eltern verhandelte und wartete ... Mein Gott, er konnte
4002
jeden Tag wieder vor ihr stehen, um zu schreien und zu flehen! In
4003
Travemünde und in einem fremden Hause würde sie sicherer vor ihm sein
4004
... So packte sie eilig und vergnügt ihren Koffer, und dann, an einem
4005
der letzten Julitage, stieg sie mit Tom, der sie begleiten sollte, in
4006
die majestätische Krögersche Equipage, sagte in bester Laune Adieu und
4007
fuhr aufatmend zum Burgtor hinaus.
4012
Nach Travemünde geht es immer geradeaus, mit der Fähre übers Wasser und
4013
dann wieder geradeaus; der Weg war beiden wohlbekannt. Die graue
4014
Chaussee glitt flink unter den hohl und taktmäßig aufschlagenden Hufen
4015
von Lebrecht Krögers dicken Braunen aus Mecklenburg dahin, obgleich die
4016
Sonne brannte und der Staub die spärliche Aussicht verhüllte. Man hatte
4017
ausnahmsweise um 1 Uhr zu Mittag gegessen, und die Geschwister waren
4018
punkt 2 Uhr abgefahren, so würden sie kurz nach 4 Uhr anlangen, denn
4019
wenn eine Droschke drei Stunden gebraucht, so hatte der Krögersche
4020
Jochen Ehrgeiz genug, den Weg in zweien zu machen.
4022
Tony nickte in träumerischem Halbschlaf unter ihrem großen, flachen
4023
Strohhut und ihrem mit cremefarbenen Spitzen besetzten Sonnenschirm, der
4024
bindfadengrau war, wie ihr schlicht gearbeitetes, schlankes Kleid, und
4025
den sie gegen das Rückverdeck gelehnt hatte. Ihre Füße in Schuhen mit
4026
Kreuzbändern und weißen Strümpfen hatte sie zierlich übereinander
4027
gestellt; sie saß bequem und elegant zurückgelehnt, wie für die Equipage
4030
Tom, schon zwanzigjährig, mit Akkuratesse in blaugraues Tuch gekleidet,
4031
hatte den Strohhut zurückgeschoben und rauchte russische Zigaretten. Er
4032
war nicht sehr groß geworden; aber sein Schnurrbart, dunkler als Haar
4033
und Wimpern, begann kräftig zu wachsen. Indem er nach seiner Gewohnheit
4034
eine Braue ein wenig emporzog, blickte er in die Staubwolken und auf die
4035
vorüberziehenden Chausseebäume.
4039
»Ich bin noch niemals so froh gewesen, nach Travemünde zu kommen, wie
4040
diesmal, ... erstens aus allerhand Gründen, Tom, du brauchst dich
4041
durchaus nicht zu mokieren; ich wollte, ich könnte ein gewisses Paar
4042
goldgelber Kotelettes noch einige Meilen weiter zurücklassen ... Dann
4043
aber wird es ein ganz neues Travemünde sein, da in der Vorderreihe bei
4044
Schwarzkopfs ... Ich werde mich gar nicht um die Kurgesellschaft
4045
bekümmern ... Das kenne ich zur Genüge ... Und ich bin gar nicht dazu
4046
aufgelegt ... Überdies steht dem ... Menschen da draußen alles offen, er
4047
geniert sich nicht, paß auf, er würde eines Tages hold lächelnd neben
4050
Tom warf die Zigarette fort und nahm sich eine neue aus der Büchse, in
4051
deren Deckel eine von Wölfen überfallene Troika kunstvoll eingelegt war:
4052
das Geschenk irgendeines russischen Kunden an den Konsul. Die
4053
Zigaretten, diese kleinen scharfen Dinger mit gelbem Mundstück waren
4054
Toms Leidenschaft; er rauchte sie massenweise und hatte die schlimme
4055
Gewohnheit, den Rauch tief in die Lunge zu atmen, so daß er beim
4056
Sprechen langsam wieder hervorsprudelte.
4058
»Ja«, sagte er, »was das betrifft, im Kurgarten wimmelt es von
4059
Hamburgern. Konsul Fritsche, der das ganze gekauft hat, ist ja selbst
4060
einer ... Er soll augenblicklich glänzende Geschäfte machen, sagt Papa
4061
... Übrigens läßt du dir doch manches entgehen, wenn du nicht ein
4062
bißchen mittust ... Peter Döhlmann ist natürlich dort; um diese Zeit ist
4063
er nie in der Stadt; sein Geschäft geht ja wohl von selbst im Hundetrab
4064
... komisch! Na ... Und Onkel Justus kommt sicher Sonntags ein bißchen
4065
hinaus und macht der Roulette einen Besuch ... Dann sind da Möllendorpfs
4066
und Kistenmakers, glaube ich, vollzählig, und Hagenströms ...«
4068
»Ha! -- Natürlich! Wie wäre Sarah Semlinger wohl entbehrlich ...«
4070
»Sie heißt übrigens Laura, mein Kind, man muß gerecht sein.«
4072
»Mit Julchen natürlich ... Julchen =soll= sich diesen Sommer mit August
4073
Möllendorpf verloben, und Julchen =wird= es tun! Dann gehören sie doch
4074
endgültig dazu! Weißt du, Tom, es ist empörend! Diese hergelaufene
4077
»Ja, lieber Gott ... Strunck & Hagenström machen sich geschäftlich
4078
heraus; das ist die Hauptsache ...«
4080
»Selbstverständlich! und man weiß ja auch, wie sie's machen ... Mit den
4081
Ellenbogen, weißt du ... ohne jede Kulanz und Vornehmheit ... Großvater
4082
sagte von Hinrich Hagenström: `Dem kalbt der Ochse´, das waren seine
4085
»Ja, ja, ja, das ist nun einerlei. Verdienen wird groß geschrieben. Und
4086
was diese Verlobung betrifft, so ist das ein ganz korrektes Geschäft.
4087
Julchen wird eine Möllendorpf, und August bekommt einen hübschen
4090
»Ach ... du willst mich übrigens ärgern, Tom, das ist alles ... Ich
4091
verachte diese Menschen ...«
4093
Tom fing an zu lachen. »Mein Gott ... man wird sich mit ihnen einrichten
4094
müssen, weißt du. Wie Papa neulich sagte: Sie sind die Heraufkommenden
4095
... Während zum Beispiel Möllendorpfs ... Und dann kann man den
4096
Hagenströms die Tüchtigkeit nicht absprechen. Hermann ist schon sehr
4097
nützlich im Geschäft und Moritz hat trotz seiner schwachen Brust die
4098
Schule glänzend absolviert. Er soll sehr gescheut sein und studiert
4101
»Schön ... aber dann freut es mich wenigstens, Tom, daß es auch noch
4102
andere Familien gibt, die sich vor ihnen nicht zu bücken brauchen, und
4103
daß zum Beispiel wir Buddenbrooks denn doch ...«
4105
»So«, sagte Tom, »nun wollen wir nur nicht anfangen zu prahlen. Ihre
4106
wunden Punkte hat jede Familie«, fuhr er mit einem Blick auf Jochens
4107
breiten Rücken leiser fort. »Wie es zum Beispiel mit Onkel Justus steht,
4108
weiß der liebe Gott. Papa schüttelt immer den Kopf, wenn er von ihm
4109
spricht, und Großvater Kröger hat ein paarmal, glaube ich, mit großen
4110
Summen aushelfen müssen ... Und mit den Vettern ist auch nicht alles in
4111
Ordnung. Jürgen, der ja studieren will, kommt immer noch nicht zum
4112
Abgangsexamen ... Und mit Jakob, bei Dalbeck & Comp. in Hamburg, soll
4113
man gar nicht zufrieden sein. Er kommt niemals mit seinem Gelde aus,
4114
obgleich er wohl versorgt wird; und was Onkel Justus ihm verweigert, das
4115
schickt ihm Tante Rosalie ... Nein, ich finde, man soll keinen Stein
4116
aufheben. Wenn du übrigens den Hagenströms die Waagschale halten willst,
4117
so solltest du doch Grünlich heiraten!«
4119
»Sind wir in diesen Wagen gestiegen, um davon zu sprechen? Ja! Ja! ich
4120
sollte es vielleicht! Aber ich will jetzt nicht daran denken. Ich will
4121
es einfach vergessen. Nun fahren wir zu Schwarzkopfs. Ich habe sie
4122
wissentlich nie gesehen ... Es sind wohl nette Leute?«
4124
»Oh! Diederich Swattkopp, dat is'n ganz passablen ollen Kierl ... Das
4125
heißt, so spricht er nicht immer, sondern nur, wenn er mehr als fünf
4126
Gläser Grog getrunken hat. Einmal, als er im Kontor gewesen war, gingen
4127
wir zusammen in die Schiffergesellschaft ... Er trank wie ein Loch. Sein
4128
Vater ist auf einem Norwegenfahrer geboren und nachher Kapitän auf
4129
dieser Linie gewesen. Diederich hat einen guten Bildungsgang gemacht;
4130
die Lotsenkommandantur ist eine verantwortliche und ziemlich gut
4131
bezahlte Stellung. Er ist ein alter Seebär ... aber immer galant mit den
4132
Damen. Paß auf, er wird dir die Kur machen ...«
4134
»Ha! -- Und die Frau?«
4136
»Seine Frau kenne ich selbst nicht. Sie wird schon gemütlich sein.
4137
Übrigens ist da ein Sohn, der zu meiner Zeit in Sekunda oder Prima saß
4138
und jetzt wohl studiert ... Sieh mal, da ist die See! Eine kleine
4139
Viertelstunde noch ...«
4141
In einer Allee von jungen Buchen fuhren sie eine Strecke ganz dicht am
4142
Meere entlang, das blau und friedlich in der Sonne lag. Der runde gelbe
4143
Leuchtturm tauchte auf, sie übersahen eine Weile Bucht und Bollwerk, die
4144
roten Dächer des Städtchens und den kleinen Hafen mit dem Segel- und
4145
Tauwerk der Böte. Dann fuhren sie zwischen den ersten Häusern hindurch,
4146
ließen die Kirche zurück und rollten die »Vorderreihe«, die sich am
4147
Flusse hinzog, entlang bis zu einem hübschen kleinen Hause, dessen
4148
Veranda dicht mit Weinlaub bewachsen war.
4150
Lotsenkommandeur Schwarzkopf stand vor seiner Tür und nahm beim
4151
Herannahen der Kalesche die Schiffermütze ab. Es war ein untersetzter,
4152
breiter Mann mit rotem Gesicht, wasserblauen Augen und einem eisgrauen,
4153
stacheligen Bart, der fächerförmig von einem Ohr zum anderen lief. Sein
4154
abwärts gezogener Mund, in dem er eine Holzpfeife hielt und dessen
4155
rasierte Oberlippe hart, rot und gewölbt war, machte einen Eindruck von
4156
Würde und Biederkeit. Eine weiße Pikeeweste leuchtete unter seinem
4157
offenen mit Goldborten verzierten Rock. Breitbeinig und mit etwas
4158
vorgestrecktem Bauche stand er da.
4160
»Ist wahrhaftig eine Ehre für mich, Mamsell, alles was recht ist, daß
4161
Sie eine Zeitlang bei uns fürliebnehmen wollen ...« Er hob Tony mit
4162
Behutsamkeit aus dem Wagen. »Kompliment, Herr Buddenbrook! Wohlauf, der
4163
Herr Papa? Und die Frau Konsulin?... Ist mir ein aufrichtiges
4164
Pläsier!... Na, treten die Herrschaften näher! Meine Frau hat wohl so
4165
etwas wie einen kleinen Imbiß bereit. -- Fahr'n Se man to Gastwirt
4166
Peddersen«, sagte er zum Kutscher, der den Koffer ins Haus getragen
4167
hatte; »da sünd de Pierd ganz gaut unnerbracht ... Sie übernachten doch
4168
bei uns, Herr Buddenbrook?... I, warum nicht gar! Die Pferde müssen doch
4169
verschnaufen, und dann kämen Sie ja nicht vor Dunkelwerden zur
4172
»Wissen Sie, hier wohnt man mindestens so gut, wie draußen im Kurhaus«,
4173
sagte Tony eine Viertelstunde später, als man in der Veranda um den
4174
Kaffeetisch saß. »Was für prachtvolle Luft! Man riecht den Tang bis
4175
hierher. Ich bin entsetzlich froh, wieder in Travemünde zu sein!«
4177
Zwischen den grünbewachsenen Pfeilern der Veranda hindurch blickte man
4178
auf den breiten, in der Sonne glitzernden Fluß mit Kähnen und
4179
Landungsbrücken und hinüber zum Fährhaus auf dem »Priwal«, der
4180
vorgeschobenen Halbinsel Mecklenburgs. Die weiten, kummenartigen Tassen
4181
mit blauem Rande waren ungewohnt plump im Vergleich mit dem zierlichen
4182
alten Porzellan zu Hause; aber der Tisch, auf dem an Tonys Platz ein
4183
Strauß von Wiesenblumen stand, war einladend, und die Fahrt hatte Hunger
4186
»Ja, Mamsell soll sehen, daß sie sich hier herausmacht«, sagte die
4187
Hausfrau. »Sie sieht ein bißchen strap'ziert aus, wenn ich mich so
4188
ausdrücken darf; das macht die Stadtluft, und dann sind da die vielen
4191
Frau Schwarzkopf, eine Pastorstochter aus Schlutup, schien ungefähr 50
4192
Jahre zu zählen, war einen Kopf kleiner als Tony und ziemlich
4193
schmächtig. Ihr noch schwarzes, glatt und reinlich frisiertes Haar stak
4194
in einem großmaschigen Netze. Sie trug ein dunkelbraunes Kleid mit einem
4195
kleinen weißgehäkelten Kragen und ebensolchen Manschetten. Sie war
4196
sauber, sanft und freundlich und empfahl eifrig ihr selbstgebackenes
4197
Korinthenbrot, das, umgeben von Rahm, Zucker, Butter und Scheibenhonig,
4198
in dem bootförmigen Brotkorb lag. Diesen Korb schmückte eine Borte von
4199
Perlenstickerei, welche die kleine Meta gearbeitet hatte, ein
4200
achtjähriges, artiges, kleines Mädchen, das in schottischem Kleidchen
4201
und mit einem flachsblonden, steif abstehenden Zöpfchen neben seiner
4204
Frau Schwarzkopf entschuldigte sich wegen des Zimmers, das für Tony
4205
bestimmt war, und in dem diese schon ein wenig Toilette gemacht hatte.
4206
Es sei so einfach ...
4208
»Pah allerliebst!« sagte Tony. Es habe Aussicht auf die See, das sei die
4209
Hauptsache. Und dabei tauchte sie die vierte Scheibe Korinthenbrot in
4210
ihren Kaffee. Tom sprach mit dem Alten über den »Wullenwewer«, der jetzt
4211
in der Stadt repariert wurde ...
4213
Plötzlich kam ein junger Mensch von etwa 20 Jahren mit einem Buch in die
4214
Veranda, der seinen grauen Filzhut abnahm und sich errötend und etwas
4217
»Na, min Söhn«, sagte der Lotsenkommandeur, »du kömmst spät ...« Dann
4218
stellte er vor: »Das ist mein Sohn --«, er nannte einen Vornamen, den
4219
Tony nicht verstand. »Studiert auf den Doktor ... bringt seine Ferien
4222
»Sehr angenehm«, sagte Tony, wie sie es gelernt hatte. Tom stand auf und
4223
gab ihm die Hand. Der junge Schwarzkopf verbeugte sich nochmals, legte
4224
sein Buch aus der Hand und nahm, aufs neue errötend, am Tische Platz.
4226
Er war von mittlerer Größe, ziemlich schmal und so blond wie möglich.
4227
Sein beginnender Schnurrbart, so farblos wie das kurzgeschnittene Haar,
4228
das seinen länglichen Kopf bedeckte, war kaum zu sehen; und dem
4229
entsprach ein außerordentlich heller Teint, eine Haut wie poröses
4230
Porzellan, die bei der geringsten Gelegenheit hellrot anlaufen konnte.
4231
Seine Augen waren von etwas dunklerem Blau als die seines Vaters, und
4232
hatten denselben, nicht sehr lebhaften, gutmütig prüfenden Ausdruck;
4233
seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und ziemlich angenehm. Als er anfing
4234
zu essen, zeigte er ungewöhnlich gutgeformte, engstehende Zähne, die
4235
spiegelnd blank waren, wie poliertes Elfenbein. Übrigens trug er eine
4236
graue, geschlossene Joppe mit Klappen an den Taschen und einem Gummizug
4239
»Ja, ich bitte um Entschuldigung, ich komme zu spät«, sagte er. Seine
4240
Sprache war ein wenig schwerfällig und knarrend. »Ich habe ein bißchen
4241
am Strande gelesen und nicht früh genug nach der Uhr gesehen.« Hierauf
4242
kaute er schweigsam und musterte Tom und Tony nur dann und wann prüfend
4245
Später, als Tony wieder einmal von der Hausfrau genötigt wurde,
4246
zuzulangen, sagte er:
4248
»Dem Scheibenhonig können Sie vertrauen, Fräulein Buddenbrook ... Das
4249
ist reines Naturprodukt ... Da weiß man doch, was man verschluckt ...
4250
Sie müssen ordentlich essen, wissen Sie! Diese Luft hier, die zehrt ...
4251
die beschleunigt den Stoffwechsel. Wenn Sie nicht genug zu sich nehmen,
4252
so fallen Sie ab ...« Er hatte eine naive und sympathische Art, sich
4253
beim Sprechen vorzubeugen und manchmal eine andere Person dabei
4254
anzublicken als die, an die er sich wandte.
4256
Seine Mutter hörte ihm zärtlich zu und forschte dann in Tonys Gesicht
4257
nach dem Eindruck, den seine Worte hervorbrächten. Der alte Schwarzkopf
4260
»Nu speel di man nich up, Herr Dokter, mit deinem Stoffwechsel ... Da
4261
wollen wir gar nichts von wissen«, worauf der junge Mensch lachte und
4262
wieder errötend auf Tonys Teller blickte.
4264
Ein paarmal nannte der Lotsenkommandeur den Vornamen seines Sohnes, aber
4265
Tony konnte ihn durchaus nicht verstehen. Es war etwas wie »Moor« oder
4266
»Mord« ... unmöglich, es in der breiten und platten Aussprache des Alten
4269
Als die Mahlzeit beendet war, als Diederich Schwarzkopf, der, mit weit
4270
von der weißen Weste zurückgeschlagenem Rock, behaglich in die Sonne
4271
blinzelte, und sein Sohn ihre kurzen Holzpfeifen zu rauchen begannen und
4272
Tom sich wieder seinen Zigaretten widmete, waren die jungen Leute in ein
4273
lebhaftes Gespräch über alte Schulgeschichten geraten, an dem Tony sich
4274
munter beteiligte. Herr Stengel wurde zitiert ... »Du sollst 'ne Line
4275
machen, und was machst du? Du machst 'n Strich!« Schade, daß Christian
4276
nicht da war; er konnte das noch viel besser ...
4278
Einmal sagte Tom zu seiner Schwester, indem er auf die vor ihr stehenden
4281
»Herr Grünlich würde sagen: Das putzt ganz ungemein!«
4283
Worauf Tony ihn, rot vor Zorn, in die Seite stieß und einen scheuen
4284
Blick zu dem jungen Schwarzkopf hinübergleiten ließ.
4286
Man hatte mit dem Kaffeetrinken heute ungewöhnlich lange gewartet, und
4287
man saß lange beieinander. Es war schon halb sieben Uhr, und über den
4288
»Priwal« drüben begann sich die Dämmerung zu senken, als der Kommandeur
4291
»Na, die Herrschaften entschuldigen«, sagte er. »Ich habe nun noch
4292
drüben im Lotsenhause zu tun ... Wir essen um achte, wenn's gefällig ist
4293
... Oder heut' mal ein bißchen später, Meta, wie?... Und du --« hier
4294
nannte er wieder den Vornamen, -- »nun sitz hier nur nicht herum ... Nun
4295
geh nur hinaus und gib dich wieder mit deinen Knochen ab ... Mamsell
4296
Buddenbrook wird wohl auspacken ... Oder wenn die Herrschaften an den
4297
Strand gehen wollen ... Störe nur nicht!«
4299
»Diederich, mein Gott, warum soll er nicht noch sitzen bleiben«, sagte
4300
Frau Schwarzkopf sanft und vorwurfsvoll. »Und wenn die Herrschaften an
4301
den Strand gehen wollen, warum soll er nicht mitgehen? Er hat doch
4302
Ferien, Diederich!... Und soll er denn gar nichts von unserem Besuche
4308
In ihrem kleinen, reinlichen Zimmer, dessen Möbel mit hellgeblümtem
4309
Kattun überzogen waren, erwachte Tony am nächsten Morgen mit dem
4310
angeregten und freudigen Gefühl, mit dem man in einer neuen Lebenslage
4313
Sie setzte sich empor, und indem sie die Arme um ihre Knie schlang und
4314
den zerzausten Kopf zurücklegte, blinzelte sie in den schmalen und
4315
blendenden Streifen vom Tageslicht, der zwischen den geschlossenen Läden
4316
hindurch ins Zimmer fiel, und kramte mit Muße die gestrigen Erlebnisse
4319
Kaum ein Gedanke streifte Herrn Grünlichs Person. Die Stadt und der
4320
gräßliche Auftritt im Landschaftszimmer und die Ermahnungen der Familie
4321
und Pastor Köllings lagen weit zurück. Hier würde sie nun jeden Morgen
4322
ganz sorglos erwachen ... Diese Schwarzkopfs waren prächtige Leute.
4323
Gestern abend hatte es wahrhaftig eine Apfelsinenbowle gegeben, und man
4324
hatte auf ein glückliches Zusammenleben angestoßen. Man war sehr
4325
vergnügt gewesen. Der alte Schwarzkopf hatte Seegeschichten zum besten
4326
gegeben und der junge von Göttingen berichtet, wo er studierte ... Aber
4327
es war doch sonderbar, daß sie noch immer seinen Vornamen nicht wußte!
4328
Sie hatte mit Spannung darauf geachtet, aber er war beim Abendessen
4329
nicht mehr genannt worden, und es hätte sich wohl nicht geschickt,
4330
danach zu fragen. Sie dachte angestrengt nach ... Mein Gott, wie hieß
4331
der junge Mensch! Moor ... Mord ...? Übrigens hatte er ihr gut gefallen,
4332
dieser Moor oder Mord. Er hatte ein so gutmütig verschmitztes Lachen,
4333
wenn er um Wasser bat und statt dessen ein paar Buchstaben mit Zahlen
4334
dahinter nannte, so daß der Alte ganz böse wurde. Ja, das sei aber die
4335
wissenschaftliche Formel für Wasser ... allerdings nicht für =dieses=
4336
Wasser, denn die Formel für =diese= Travemünder Flüssigkeit sei wohl
4337
viel komplizierter. Jeden Augenblick könne man eine Qualle darin finden
4338
... Die hohe Obrigkeit habe ihre eignen Begriffe von Süßwasser ...
4339
Worauf ihm wieder ein väterlicher Verweis zuteil geworden war, weil er
4340
in wegwerfendem Tone von der Obrigkeit gesprochen hatte. Frau
4341
Schwarzkopf hatte immer in Tonys Gesicht nach Bewunderung gesucht, und
4342
wahrhaftig, er sprach sehr amüsant, zugleich lustig und gelehrt ... Er
4343
hatte sich ziemlich viel um sie gekümmert, der junge Herr. Sie hatte
4344
geklagt, daß sie beim Essen einen heißen Kopf bekäme, sie glaube zu viel
4345
Blut zu haben ... Was hatte er geantwortet? Er hatte sie gemustert und
4346
gesagt: Ja, die Arterien an den Schläfen seien gefüllt, aber das
4347
schließe nicht aus, daß nicht genug Blut oder genug rote Blutkörperchen
4348
im Kopfe seien ... Sie sei vielleicht ein =bißchen= bleichsüchtig ...
4350
Der Kuckuck sprang aus der geschnitzten Wanduhr und gluckste viele Male
4351
hell und hohl. »Sieben, acht, neun«, zählte Tony, »aufgestanden!« Und
4352
damit sprang sie aus dem Bette und stieß die Fensterläden auf. Der
4353
Himmel war ein wenig bedeckt, aber die Sonne schien. Man sah über das
4354
Leuchtenfeld mit dem Turm weit über die krause See hinaus, die rechts im
4355
Bogen von der mecklenburgischen Küste begrenzt war und sich in
4356
grünlichen und blauen Streifen erstreckte, bis sie mit dem dunstigen
4357
Horizont zusammenfloß. Nachher will ich baden, dachte Tony, aber vorher
4358
ordentlich frühstücken, damit der Stoffwechsel nicht an mir zehrt ...
4359
Und damit machte sie sich lächelnd und mit raschen, vergnügten
4360
Bewegungen ans Waschen und Ankleiden.
4362
Es war kurz nach halb 10 Uhr, als sie die Stube verließ. Die Tür des
4363
Zimmers, wo Tom geschlafen hatte, stand offen; er war in aller Frühe
4364
wieder zur Stadt gefahren. Schon hier oben in dem ziemlich hoch
4365
gelegenen Stockwerk, in dem nur Schlafzimmer lagen, roch es nach Kaffee.
4366
Das schien der charakteristische Geruch des kleinen Hauses zu sein, und
4367
er nahm zu, als Tony die mit einem schlichten, undurchbrochenen
4368
Holzgeländer versehene Treppe hinunterstieg und drunten über den
4369
Korridor ging, an dem Wohn- und Eßzimmer und das Büro des
4370
Lotsenkommandeurs lagen. Frisch und in bester Laune betrat sie in ihrem
4371
weißen Pikeekleide die Veranda.
4373
Frau Schwarzkopf saß mit ihrem Sohne allein am Kaffeetische, der schon
4374
teilweise abgeräumt war. Sie trug eine blaukarierte Küchenschürze über
4375
ihrem braunen Kleid. Ein Schlüsselkorb stand vor ihr.
4377
»Tausendmal um Vergebung«, sagte sie, indem sie aufstand, »daß wir nicht
4378
gewartet haben, Mamsell Buddenbrook! Wir sind früh auf, wir einfachen
4379
Leute. Da gibt es hunderterlei zu tun ... Schwarzkopf ist in seinem Büro
4380
... Nicht wahr, Mamsell ist nicht böse?«
4382
Tony ihrerseits entschuldigte sich. »Sie müssen nicht glauben, daß ich
4383
immer so lange schlafe. Ich habe ein sehr böses Gewissen. Aber die Bowle
4384
von gestern abend ...«
4386
Hier fing der junge Sohn des Hauses an zu lachen. Er stand, seine kurze
4387
Holzpfeife in der Hand, hinter dem Tische. Die Zeitung lag vor ihm.
4389
»Ja, Sie sind schuld«, sagte Tony; »guten Morgen!... Sie haben beständig
4390
mit mir angestoßen ... Jetzt verdiene ich nur noch kalten Kaffee. Ich
4391
müßte schon gefrühstückt und gebadet haben ...«
4393
»Nein, das wäre zu früh für eine junge Dame! Um sieben war das Wasser
4394
noch ziemlich kalt, wissen Sie; 11 Grad ... das schneidet ein bißchen
4395
nach der Bettwärme ...«
4397
»Woher wissen Sie denn, daß ich lauwarm baden will, _monsieur_?« Und
4398
Tony nahm am Tische Platz. »Sie haben mir den Kaffee warm gehalten, Frau
4399
Schwarzkopf!... Aber einschenken tue ich mir selbst ... vielen Dank!«
4401
Die Hausfrau sah zu, wie ihr Gast die ersten Bissen aß.
4403
»Und Mamsell hat gut geschlafen die erste Nacht? Ja, mein Gott, die
4404
Matratze ist mit Seegras gefüllt ... wir sind einfache Leute ... Aber
4405
nun wünsche ich guten Appetit und einen vergnügten Vormittag. Mamsell
4406
wird sicher mancherlei Bekannte am Strande treffen ... Wenn es angenehm
4407
ist, begleitet mein Sohn Sie hin. Um Verzeihung, daß ich nicht länger
4408
Gesellschaft leiste, aber ich =muß= nach dem Essen sehen. Ich habe eine
4409
Bratwurst ... Wir geben es so gut, wie wir können.«
4411
»Ich halte mich an den Scheibenhonig«, sagte Tony, als die beiden allein
4412
waren. »Sehen Sie, da weiß man doch, was man verschluckt!«
4414
Der junge Schwarzkopf stand auf und legte seine Pfeife auf die Brüstung
4417
»Aber rauchen Sie doch! Nein, das stört mich ganz und gar nicht. Wenn
4418
ich zu Hause zum Frühstück komme, ist immer schon Papas Zigarrenrauch in
4419
der Stube ... Sagen Sie mal«, fragte sie plötzlich, »ist es wahr, daß
4420
ein Ei soviel wert ist wie ein Viertelpfund Fleisch?«
4422
Er wurde über und über rot. »Wollen Sie mich eigentlich zum besten
4423
haben, Fräulein Buddenbrook?« fragte er zwischen Lachen und Ärger. »Ich
4424
habe gestern abend noch einen Rüffel von Vater bekommen wegen meiner
4425
Fachsimpelei und Wichtigtuerei, wie er sagte ...«
4427
»Aber ich habe ganz harmlos gefragt?!« Tony hörte vor Bestürzung einen
4428
Augenblick auf zu essen. »Wichtigtuerei! Wie kann man dergleichen
4429
sagen!... Ich möchte gern etwas erfahren ... Mein Gott, ich bin eine
4430
Gans, sehen Sie! Bei Sesemi Weichbrodt war ich immer unter den
4431
Faulsten. Und Sie wissen, glaube ich, so viel ...« Innerlich dachte sie:
4432
Wichtigtuerei? Man befindet sich in fremder Gesellschaft, zeigt sich von
4433
seiner besten Seite, setzt seine Worte und sucht zu gefallen -- das ist
4436
»Nun ja, es deckt sich in gewisser Weise«, sagte er geschmeichelt. »Was
4437
gewisse Nährstoffe betrifft ...«
4439
Hierauf, während Tony frühstückte und der junge Schwarzkopf fortfuhr,
4440
seine Pfeife zu rauchen, fing man an, von Sesemi Weichbrodt zu
4441
schwatzen, von Tonys Pensionszeit, von ihren Freundinnen, Gerda
4442
Arnoldsen, die nun wieder in Amsterdam war, und Armgard von Schilling,
4443
deren weißes Haus man vom Strande aus sehen konnte, wenigstens bei
4446
Später, als sie schon mit essen fertig war und sich den Mund wischte,
4447
fragte Tony, indem sie auf die Zeitung deutete:
4449
»Steht etwas Neues darin?«
4451
Der junge Schwarzkopf lachte und schüttelte mit spöttischem Mitleid den
4454
»Ach nein ... Was soll wohl darin stehen?... Wissen Sie, diese
4455
Städtischen Anzeigen sind ein klägliches Blättchen!«
4457
»Oh?... Aber Papa und Mama haben sie immer gehalten?«
4459
»Ja, nun!« sagte er und wurde rot ... »Ich lese sie ja auch, wie Sie
4460
sehen, weil eben nichts anderes zur Hand ist. Aber daß der Großhändler
4461
Konsul So und So seine silberne Hochzeit zu feiern gedenkt, ist nicht
4462
allzu erschütternd ... Ja -- ja! Sie lachen ... Aber Sie sollten mal
4463
andere Blätter lesen, die Königsberger Hartungsche Zeitung ... oder die
4464
Rheinische Zeitung ... da würden Sie etwas anderes finden! Was der König
4465
von Preußen auch sagen mag ...«
4469
»Ja ... nein, das kann ich leider vor einer Dame nicht zitieren ...« Und
4470
er wurde abermals rot. »Er hat sich ziemlich ungnädig über diese Presse
4471
geäußert«, fuhr er mit einem etwas gewaltsam ironischen Lächeln fort,
4472
das Tony einen Augenblick peinlich berührte. »Sie geht nicht sehr
4473
glimpflich mit der Regierung um, wissen Sie, mit den Adligen, mit
4474
Pfaffen und Junkern ... sie weiß allzu geschickt die Zensur an der Nase
4477
»Nun und Sie, gehen Sie auch nicht glimpflich mit den Adligen um?«
4479
»Ich?« fragte er und geriet in Verlegenheit ... Tony stand auf.
4481
»Na, darüber müssen wir ein anderes Mal reden. Wie wäre es, wenn ich nun
4482
zum Strande ginge? Sehen Sie, es ist beinahe ganz blau geworden. Heute
4483
wird es nicht mehr regnen. Ich habe die größte Lust, wieder einmal in
4484
die See zu springen. Wollen Sie mich hinunter begleiten?...«
4489
Sie hatte ihren großen Strohhut aufgesetzt und ihren Sonnenschirm
4490
aufgespannt, denn es herrschte, obgleich ein kleiner Seewind ging,
4491
heftige Hitze. Der junge Schwarzkopf schritt, in seinem grauen Filzhut,
4492
sein Buch in der Hand, neben ihr her und betrachtete sie manchmal von
4493
der Seite. Sie gingen die »Vorderreihe« entlang und spazierten durch den
4494
Kurgarten, der stumm und schattenlos mit seinen Kieswegen und
4495
Rosenanlagen dalag. Der Musiktempel, zwischen Nadelbäumen versteckt,
4496
stand schweigend dem Kurhaus, der Konditorei und den beiden, durch ein
4497
langes Zwischengebäude miteinander verbundenen Schweizerhäusern
4498
gegenüber. Es war gegen halb 12 Uhr; die Badegäste mußten sich noch am
4501
Die beiden gingen über den Kinderspielplatz mit den Bänken und der
4502
großen Schaukel; sie gingen nahe am Warmbadehause vorbei und wanderten
4503
langsam über das Leuchtenfeld. Die Sonne brütete auf dem Grase und ließ
4504
diesen heißen, würzigen Geruch von Klee und Kraut daraus aufsteigen, in
4505
dem blaue Fliegen surrend standen und umherschossen. Ein monotones,
4506
gedämpftes Rauschen kam vom Meere her, in dessen Ferne dann und wann
4507
kleine Schaumköpfe aufblitzten.
4509
»Was lesen Sie da eigentlich?« fragte Tony.
4511
Der junge Mann nahm das Buch in beide Hände und blätterte es schnell von
4512
hinten nach vorne durch.
4514
»Ach, das ist nichts für Sie, Fräulein Buddenbrook! Lauter Blut und
4515
Gedärme und Elend ... Sehen Sie, hier ist gerade von Lungenödem die
4516
Rede, auf deutsch: Stickfluß. Dabei sind nämlich die Lungenbläschen mit
4517
einer so wässerigen Flüssigkeit angefüllt ... das ist hochgradig
4518
gefährlich und kommt bei Lungenentzündung vor. Wenn es schlimm ist, kann
4519
man nicht mehr atmen und stirbt ganz einfach. Und das alles ist ganz
4520
kühl von oben herab behandelt ...«
4522
»Ja, pfui!... Aber wenn man Doktor werden will ... Ich werde dafür
4523
sorgen, daß Sie bei uns Hausarzt werden, wenn Grabow sich später einmal
4524
zur Ruhe setzt, passen Sie auf!«
4526
»Ha!... Und was lesen Sie denn, wenn ich fragen darf, Fräulein
4529
»Kennen Sie Hoffmann?« fragte Tony.
4531
»Den mit dem Kapellmeister und dem goldenen Topf? Ja, das ist sehr
4532
hübsch ... Aber, wissen Sie, es ist doch wohl mehr für Damen. Männer
4533
müssen heute etwas anderes lesen.«
4535
»Jetzt muß ich Sie =eines= fragen«, sagte Tony nach ein paar Schritten
4536
und faßte einen Entschluß. »Nämlich, =wie= heißen Sie eigentlich mit
4537
Vornamen! Ich habe ihn noch kein einziges Mal verstanden ... das macht
4538
mich förmlich nervös! Ich habe geradezu darüber gegrübelt ...«
4540
»Sie haben darüber gegrübelt?«
4542
»Ach ja -- nun erschweren Sie mir die Sache nicht! Es schickt sich wohl
4543
nicht, daß ich frage; aber ich bin natürlich neugierig ... Übrigens
4544
brauche ich es ja, solange ich lebe, nicht zu erfahren.«
4546
»Na, ich heiße Morten«, sagte er und wurde so rot wie noch niemals.
4548
»Morten? Das ist hübsch!«
4552
»Ja, mein Gott ... es ist doch hübscher, als wenn Sie Hinz oder Kunz
4553
hießen. Es ist etwas Besonderes, etwas Ausländisches ...«
4555
»Sie sind eine Romantikerin, Mademoiselle Buddenbrook; Sie haben zuviel
4556
Hoffmann gelesen ... Ja, die Sache ist ganz einfach die: Mein Großvater
4557
war ein halber Norweger und hieß Morten. Nach ihm bin ich getauft
4558
worden. Das ist alles ...«
4560
Tony stieg behutsam durch das hohe, scharfe Schilfgras, das am Rande des
4561
nackten Strandes stand. Die Reihe der hölzernen Strandpavillons mit
4562
ihren kegelförmigen Dächern lag vor ihnen und ließ den Durchblick auf
4563
die Strandkörbe frei, die näher am Wasser standen, und um die Familien
4564
im warmen Sande lagerten: Damen mit blauen Schutzpincenez und
4565
Leihbibliotheksbänden, Herren in hellen Anzügen, die müßig mit ihren
4566
Spazierstöcken Figuren in den Sand zeichneten, gebräunte Kinder mit
4567
großen Strohhüten auf den Köpfen, die schaufelten, sich wälzten, nach
4568
Wasser gruben, mit Holzformen Kuchen buken, Tunnels bohrten, mit bloßen
4569
Beinen in die niedrigen Wellen hineinwateten und Schiffe schwimmen
4570
ließen ... Rechts ragte das Holzgebäude der Badeanstalt in die See
4573
»Nun marschieren wir geradeswegs auf den Möllendorpfschen Pavillon zu«,
4574
sagte Tony. »Lassen Sie uns doch etwas abbiegen!«
4576
»Gern ... aber Sie werden sich nun ja wohl den Herrschaften anschließen
4577
... Ich setze mich da hinten auf die Steine.«
4579
»Anschließen ... ja, ja, ich werde wohl guten Tag sagen müssen. Aber es
4580
ist mir recht zuwider, müssen Sie wissen. Ich bin hierher gekommen, um
4581
meinen Frieden zu haben ...«
4587
»Hören Sie, Fräulein Buddenbrook, ich muß Sie auch noch =eines= fragen
4588
... aber bei Gelegenheit, später, wenn Zeit dazu ist. Nun erlauben Sie,
4589
daß ich Ihnen Adieu sage. Ich setze mich dahinten auf die Steine ...«
4591
»Soll ich Sie nicht vorstellen, Herr Schwarzkopf?« fragte Tony mit
4594
»Nein, ach nein« ... sagte Morten eilig, »ich danke sehr. Ich gehöre
4595
doch wohl kaum dazu, wissen Sie. Ich setze mich dahinten auf die
4598
Es war eine größere Gesellschaft, auf die Tony zuschritt, während Morten
4599
Schwarzkopf sich rechter Hand zu den großen Steinblöcken begab, die
4600
neben der Badeanstalt vom Wasser bespült wurden, -- eine Gruppe, die vor
4601
dem Möllendorpfschen Pavillon lagerte und von den Familien Möllendorpf,
4602
Hagenström, Kistenmaker und Fritsche gebildet ward. Abgesehen von Konsul
4603
Fritsche aus Hamburg, dem Besitzer des Ganzen, und Peter Döhlmann, dem
4604
Suitier, bestand sie ausschließlich aus Damen und Kindern, denn es war
4605
Alltag, und die meisten Herren befanden sich in der Stadt bei ihren
4606
Geschäften. Konsul Fritsche, ein älterer Herr mit glattrasiertem,
4607
distinguiertem Gesicht, beschäftigte sich droben im offenen Pavillon mit
4608
einem Fernrohr, das er auf einen in der Ferne sichtbaren Segler
4609
richtete. Peter Döhlmann, mit einem breitkrempigen Strohhut und
4610
rundgeschnittenem Schifferbart, stand plaudernd bei den Damen, die auf
4611
Plaids im Sande lagen oder auf kleinen Sesseln aus Segeltuch saßen: Frau
4612
Senatorin Möllendorpf, geborene Langhals, die mit einer langgestielten
4613
Lorgnette hantierte, und deren Haupt von grauem Haar unordentlich
4614
umstanden war; Frau Hagenström nebst Julchen, die ziemlich klein
4615
geblieben war, aber, wie ihre Mutter, bereits Brillanten in den Ohren
4616
trug; Frau Konsul Kistenmaker nebst Töchtern und die Konsulin Fritsche,
4617
eine runzelige kleine Dame, die eine Haube trug und im Bade
4618
Wirtspflichten versah. Rot und ermattet sann sie auf nichts als
4619
Reunions, Kinderbälle, Verlosungen und Segelpartien ... Ihre Vorleserin
4620
saß in einiger Entfernung. Die Kinder spielten am Wasser.
4622
Kistenmaker & Sohn war die aufblühende Weinhandlung, die in den letzten
4623
Jahren C. F. Köppen aus der Mode zu bringen begann. Die beiden Söhne,
4624
Eduard und Stephan, arbeiteten bereits in dem väterlichen Geschäft. --
4625
Dem Konsul Döhlmann fehlten gänzlich die ausgesuchten Manieren, über die
4626
etwa Justus Kröger verfügte; er war ein biederer Suitier, ein Suitier,
4627
dessen Spezialität die gutmütige Grobheit war und der sich in der
4628
Gesellschaft außerordentlich viel herausnehmen durfte, weil er wußte,
4629
daß er besonders bei den Damen mit seinem behäbigen, dreisten und lauten
4630
Gebaren als ein Original beliebt war. Als auf einem Diner bei
4631
Buddenbrooks sich das Erscheinen eines Gerichtes lange Zeit verzögerte,
4632
die Hausfrau in Verlegenheit und die beschäftigungslose Gesellschaft in
4633
Mißstimmung geriet, stellte er die gute Laune wieder her, indem er mit
4634
seiner breiten und lärmenden Stimme über die ganze Tafel brüllte: »Ick
4635
bün so wied, Fru Konsulin!«
4637
Mit eben dieser schallenden und groben Stimme erzählte er augenblicklich
4638
fragwürdige Anekdoten, die er mit plattdeutschen Wendungen würzte ...
4639
Die Senatorin Möllendorpf rief, erschöpft und außer sich vor Lachen,
4640
einmal über das andere: »Mein Gott, Herr Konsul, hören Sie einen
4643
-- Tony Buddenbrook ward von den Hagenströms kalt, von der übrigen
4644
Gesellschaft mit großer Herzlichkeit empfangen. Selbst Konsul Fritsche
4645
kam eilfertig die Stufen des Pavillons herunter, denn er hoffte, daß
4646
wenigstens im nächsten Jahre wieder die Buddenbrooks helfen würden, das
4649
»Der Ihrige, Mamsell!« sagte Konsul Döhlmann, mit möglichst feiner
4650
Aussprache, denn er wußte, daß Fräulein Buddenbrook seine Manieren nicht
4651
besonders bevorzugte.
4653
»Mademoiselle Buddenbrook!«
4661
»Und welch inzückende Toilette!« -- Man sagte »inzückend«. --
4667
»Beim Lotsenkommandeur?«
4671
»Wie =finde= ich das =forchtbar= originell!« -- Man sagte
4674
»Sie wohnen in der Stadt?« wiederholte Konsul Fritsche, der Besitzer des
4675
Kurhauses, ohne ahnen zu lassen, daß ihn dies peinlich berührte ...
4677
»Werden Sie uns nicht das Vergnügen machen bei der nächsten Reunion?«
4678
fragte seine Gattin ...
4680
»Oh, nur für kurze Zeit in Travemünde?« antwortete eine andere Dame ...
4682
»Finden Sie nicht, Liebe, daß die Buddenbrooks ein bißchen allzu
4683
exklusiv sind?« wandte sich Frau Hagenström ganz leise an die Senatorin
4686
»Und Sie haben noch nicht gebadet?« fragte jemand. »Wer von den jungen
4687
Damen hat sonst heute noch nicht gebadet? Mariechen, Julchen, Luischen?
4688
Selbstredend begleiten Ihre Freundinnen Sie, Fräulein Antonie ...«
4690
Einige junge Mädchen trennten sich von der Gesellschaft, um mit Tony zu
4691
baden, und Peter Döhlmann ließ es sich nicht nehmen, die Damen den
4692
Strand entlang zu geleiten.
4694
»Gott! erinnerst du dich noch unserer Schulgänge von damals?« fragte
4695
Tony Julchen Hagenström.
4697
»J--ja! Sie spielten immer die Boshafte«, sagte Julchen mit mitleidigem
4700
Man ging oberhalb des Strandes auf dem Steg von paarweise gelegten
4701
Brettern der Badeanstalt zu; und als man an den Steinen vorüberkam, wo
4702
Morten Schwarzkopf mit seinem Buche saß, nickte Tony ihm aus der Ferne
4703
mehrmals mit rascher Kopfbewegung zu. Jemand erkundigte sich: »Wen
4706
»Oh, das war der junge Schwarzkopf«, sagte Tony; »er hat mich
4707
herunterbegleitet ...«
4709
»Der Sohn des Lotsenkommandeurs?« fragte Julchen Hagenström und blickte
4710
mit ihren blanken schwarzen Augen scharf zu Morten hinüber, der
4711
seinerseits mit einer gewissen Melancholie die elegante Gesellschaft
4712
musterte. Tony aber sagte mit lauter Stimme: »Eines bedaure ich:
4713
nämlich, daß zum Beispiel August Möllendorpf nicht hier ist ... Es muß
4714
doch alltags recht langweilig am Strande sein!«
4719
Hiermit begannen schöne Sommerwochen für Tony Buddenbrook, kurzweiligere
4720
und angenehmere, als sie jemals in Travemünde erlebt hatte. Sie blühte
4721
auf, nichts lastete mehr auf ihr; in ihre Worte und Bewegungen kehrten
4722
Keckheit und Sorglosigkeit zurück. Der Konsul betrachtete sie mit
4723
Wohlgefallen, wenn er Sonntags mit Tom und Christian nach Travemünde
4724
kam. Dann speiste man an der Table d'hote, trank bei der Kurmusik den
4725
Kaffee unter dem Zeltdach der Konditorei und sah drinnen im Saale der
4726
Roulette zu, um die lustige Leute, wie Justus Kröger und Peter Döhlmann,
4727
sich drängten: Der Konsul spielte niemals. --
4729
Tony sonnte sich, sie badete, aß Bratwurst mit Pfeffernußsauce und
4730
machte weite Spaziergänge mit Morten: den Chausseeweg zum Nachbarort,
4731
den Strand entlang zu dem hoch gelegenen »Seetempel«, der eine weite
4732
Aussicht über See und Land beherrschte, oder in das Wäldchen hinauf, das
4733
hinterm Kurhause lag und auf dessen Höhe die große Table d'hote-Glocke
4734
hing ... Oder sie ruderten über die Trave zum »Priwal«, wo es Bernstein
4737
Morten war ein unterhaltender Begleiter, wiewohl seine Meinungen ein
4738
wenig hitzig und absprechend waren. Er führte über alle Dinge ein
4739
strenges und gerechtes Urteil mit sich, das er mit Entschiedenheit
4740
hervorbrachte, obgleich er rot dabei wurde. Tony ward betrübt und sie
4741
schalt ihn, wenn er mit etwas ungeschickter aber zorniger Geste alle
4742
Adeligen für Idioten und Elende erklärte; aber sie war sehr stolz
4743
darauf, daß er ihr gegenüber offen und zutraulich seine Anschauungen
4744
aussprach, die er den Eltern verschwieg ... Einmal sagte er: »Dies muß
4745
ich Ihnen noch erzählen: Auf meiner Bude in Göttingen habe ich ein
4746
vollkommenes Gerippe ... wissen Sie, so ein Knochengerippe, notdürftig
4747
mit etwas Draht zusammengehalten. Na, diesem Gerippe habe ich eine alte
4748
Polizistenuniform angezogen ... ha! Finden Sie das nicht ausgezeichnet?
4749
Aber sagen Sie es um Gottes willen nicht meinem Vater!« --
4751
Es konnte nicht fehlen, daß Tony oftmals mit ihrer städtischen
4752
Bekanntschaft am Strande oder im Kurgarten verkehrte, daß sie zu dieser
4753
oder jener Reunion und Segelpartie hinzugezogen wurde. Dann saß Morten
4754
»auf den Steinen«. Diese Steine waren seit dem ersten Tage zwischen den
4755
beiden zur stehenden Redewendung geworden. »Auf den Steinen sitzen«, das
4756
bedeutete: »Vereinsamt sein und sich langweilen«. Kam ein Regentag, der
4757
die See weit und breit in einen grauen Schleier hüllte, daß sie völlig
4758
mit dem tiefen Himmel zusammenfloß, der den Strand durchweichte und die
4759
Wege überschwemmte, dann sagte Tony: »Heute müssen wir beide auf den
4760
Steinen sitzen ... das heißt in der Veranda oder im Wohnzimmer. Es
4761
bleibt nichts übrig, als daß Sie mir Ihre Studentenlieder vorspielen,
4762
Morten, obgleich es mich greulich langweilt.«
4764
»Ja«, sagte Morten, »setzen wir uns ... Aber wissen Sie, wenn Sie dabei
4765
sind, so sind es keine Steine mehr!« ... Übrigens sagte er dergleichen
4766
nicht, wenn sein Vater zugegen war; seine Mutter durfte es hören.
4768
»Was nun?« fragte der Lotsenkommandeur, wenn nach dem Mittagessen Tony
4769
und Morten gleichzeitig aufstanden und sich anschickten, auf und davon
4770
zu gehen ... »Wohin mit den jungen Herrschaften!«
4772
»Ja, ich darf Fräulein Antonie ein bißchen zum Seetempel begleiten.«
4774
»So, darfst du das? -- Sage mal, mein Sohn Filius, wäre es nicht am Ende
4775
angebrachter, du setztest dich auf deine Stube und repetiertest deine
4776
Nervenstränge? Du hast alles vergessen, bis du wieder nach Göttingen
4779
Frau Schwarzkopf aber sprach sanft: »Diederich, mein Gott! warum soll er
4780
nicht mitgehen? Laß ihn doch mitgehen! Er hat doch Ferien! Und soll er
4781
denn gar nichts von unserem Besuche haben?« -- So gingen sie.
4783
Sie gingen den Strand entlang, ganz unten am Wasser, dort wo der Sand
4784
von der Flut benetzt, geglättet und gehärtet ist, so daß man mühelos
4785
gehen kann; wo kleine, gewöhnliche, weiße Muscheln verstreut liegen und
4786
andere, längliche, große, opalisierende; dazwischen gelbgrünes, nasses
4787
Seegras mit runden, hohlen Früchten, welche knallen, wenn man sie
4788
zerdrückt; und Quallen, einfache, wasserfarbene sowohl wie rotgelbe,
4789
giftige, welche das Bein verbrennen, wenn man sie beim Baden berührt ...
4791
»Wollen Sie wissen, wie dumm ich früher war?« sagte Tony. »Ich wollte
4792
die bunten Sterne aus den Quallen heraus haben. Ich trug eine ganze
4793
Menge Quallen im Taschentuche nach Hause und legte sie säuberlich auf
4794
den Balkon in die Sonne, damit sie verdunsteten ... dann mußten die
4795
Sterne doch übrigbleiben! Ja, schön ... Als ich nachsah, war da ein
4796
ziemlich großer nasser Fleck. Es roch nur ein bißchen nach faulem
4799
Sie gingen, das rhythmische Rauschen der langgestreckten Wellen neben
4800
sich, den frischen Salzwind im Gesicht, der frei und ohne Hindernis
4801
daherkommt, die Ohren umhüllt und einen angenehmen Schwindel, eine
4802
gedämpfte Betäubung hervorruft ... Sie gingen in diesem weiten, still
4803
sausenden Frieden am Meere, der jedes kleine Geräusch, ob fern oder nah,
4804
zu geheimnisvoller Bedeutung erhebt ...
4806
Links befanden sich zerklüftete Abhänge aus gelbem Lehm und Geröll,
4807
gleichförmig, mit immer neu hervorspringenden Ecken, welche die
4808
Biegungen der Küste verdeckten. Hier irgendwo, weil der Strand zu
4809
steinig wurde, kletterten sie hinauf, um droben durch das Gehölz den
4810
ansteigenden Weg zum Seetempel fortzusetzen. Der Seetempel, ein runder
4811
Pavillon, war aus rohen Borkenstämmen und Brettern erbaut, deren
4812
Innenseiten mit Inschriften, Initialen, Herzen, Gedichten bedeckt war
4813
... Tony und Morten setzten sich in eine der kleinen abgeteilten
4814
Kammern, die der See zugewandt waren, und in denen es nach Holz roch wie
4815
in den Kabinen der Badeanstalt, auf die schmale, roh gezimmerte Bank im
4818
Es war sehr still und feierlich hier oben um diese Nachmittagsstunde.
4819
Ein paar Vögel schwatzten, und das leise Rauschen der Bäume vermischte
4820
sich mit dem des Meeres, das sich dort tief unten ausbreitete und in
4821
dessen Ferne das Takelwerk eines Schiffes zu sehen war. Geschützt vor
4822
dem Winde, der bislang um ihre Ohren gespielt hatte, empfanden sie
4823
plötzlich eine nachdenklich stimmende Stille.
4825
Tony erkundigte sich: »Kommt der oder geht er?«
4827
»Wie?« fragte Morten mit seiner schwerfälligen Stimme ... und als ob er
4828
aus irgendeiner tiefen Abwesenheit erwachte, sagte er rasch: »Geht! Das
4829
ist der `Bürgermeister Steenbock´, der nach Rußland fährt. -- Ich möchte
4830
nicht mit«, setzte er nach einer Pause hinzu. »Dort muß es noch
4831
empörender zugehen als bei uns!«
4833
»So!« sagte Tony. »Nun gedenken Sie wieder mit den Adligen anzufangen,
4834
Morten, ich sehe es Ihrem Gesichte an. Es ist nicht schön von Ihnen ...
4835
Haben Sie jemals einen gekannt?«
4837
»Nein!« rief Morten beinahe entrüstet. »Gott sei Dank!«
4839
»Ja! ja, sehen Sie wohl? Ich aber. Ein Mädchen allerdings, Armgard von
4840
Schilling dort drüben, von der ich Ihnen schon erzählte. Nun, sie war
4841
gutmütiger als Sie und ich, sie wußte kaum, daß sie `von´ hieß, sie aß
4842
Mettwurst und sprach von ihren Kühen ...«
4844
»Sicherlich gibt es Ausnahmen, Fräulein Tony!« sagte er eifrig. »Aber
4845
hören Sie ... Sie sind eine junge Dame, Sie sehen alles persönlich an.
4846
Sie kennen einen Adligen und sagen: Aber er ist doch ein braver Mensch!
4847
Gewiß ... aber man braucht gar keinen zu kennen, um sie alle zu
4848
verurteilen! Denn es handelt sich um das Prinzip, wissen Sie, um die
4849
Einrichtung! Ja, darauf müssen Sie schweigen ... Wie? Jemand braucht nur
4850
geboren zu werden, um ein Auserlesener und Edler zu sein ... der
4851
verächtlich auf uns anderen herabblicken darf, ... die wir mit allen
4852
Verdiensten nicht auf seine Höhe gelangen können?...« Morten sprach mit
4853
einer naiven und gutherzigen Entrüstung; er versuchte, Handbewegungen zu
4854
machen, sah selbst, daß sie ungeschickt waren, und unterließ sie wieder.
4855
Aber er redete fort. Er war in Stimmung. Er saß vorgebeugt, einen Daumen
4856
zwischen den Knöpfen seiner Joppe, und gab seinen gutmütigen Augen einen
4857
trotzigen Ausdruck ... »Wir, die Bourgeoisie, der dritte Stand, wie wir
4858
bis jetzt genannt worden sind, wir wollen, daß nur noch ein Adel des
4859
Verdienstes bestehe, wir erkennen den faulen Adel nicht mehr an, wir
4860
leugnen die jetzige Rangordnung der Stände ... wir wollen, daß alle
4861
Menschen frei und gleich sind, daß niemand einer Person unterworfen ist,
4862
sondern alle nur den Gesetzen untertänig sind!... Es soll keine
4863
Privilegien und keine Willkür mehr geben!... Alle sollen
4864
gleichberechtigte Kinder des Staates sein, und wie keine Mittlerschaft
4865
mehr existiert zwischen dem Laien und dem lieben Gott, so soll auch der
4866
Bürger zum Staate in unmittelbarem Verhältnis stehen!... Wir wollen
4867
Freiheit der Presse, der Gewerbe, des Handels ... Wir wollen, daß alle
4868
Menschen ohne Vorrechte miteinander konkurrieren können und daß dem
4869
Verdienste seine Krone wird!... Aber wir sind geknechtet, geknebelt ...
4870
was wollte ich eben sagen? Ja, passen Sie auf: Vor vier Jahren sind die
4871
Bundesgesetze über die Universitäten und die Presse erneuert worden --
4872
schöne Gesetze! Es darf keine Wahrheit niedergeschrieben oder gelehrt
4873
werden, die vielleicht nicht mit der bestehenden Ordnung der Dinge
4874
übereinstimmt ... Verstehen Sie? Die Wahrheit wird unterdrückt, sie
4875
kommt nicht zum Worte ... und warum? einem idiotischen, veralteten,
4876
hinfälligen Zustande zuliebe, der, wie jedermann weiß, früher oder
4877
später ja dennoch abgeschafft werden wird ... Ich glaube, Sie begreifen
4878
diese Gemeinheit gar nicht! Die Gewalt, die dumme, rohe,
4879
augenblickliche Polizistengewalt, ganz ohne Verständnis für das Geistige
4880
und Neue ... Nein, von allem abgesehen will ich nur noch eines sagen ...
4881
Der König von Preußen hat ein großes Unrecht begangen! Damals, _anno_
4882
dreizehn, als die Franzosen im Lande waren, hat er uns gerufen und uns
4883
die Konstitution versprochen ... wir sind gekommen, wir haben
4884
Deutschland befreit ...«
4886
Tony, die ihn, das Kinn in die Hand gestützt, von der Seite betrachtete,
4887
überlegte einen Augenblick ernstlich, ob er selbst wohl wirklich
4888
geholfen haben könne, Napoleon zu vertreiben.
4890
»... aber meinen Sie, daß das Versprechen eingelöst worden ist? Ach
4891
nein! -- Der jetzige König ist ein Schönredner, ein Träumer, ein
4892
Romantiker, wie Sie, Fräulein Tony ... Denn eines müssen Sie beachten:
4893
Wenn die Philosophen und Dichter eine Wahrheit, eine Anschauung, ein
4894
Prinzip soeben wieder überwunden und abgetan haben, dann kommt
4895
allmählich ein König, der nun gerade =da=bei angelangt ist, der nun
4896
gerade =dies= für das Neueste und Beste hält und sich danach benehmen zu
4897
müssen glaubt ... Ja, so ist es mit dem Königtum bestellt! Die Könige
4898
sind nicht nur Menschen, sie sind sogar höchst mittelmäßige Menschen,
4899
sie sind immer um mehrere Postmeilen zurück ... Ach, mit Deutschland ist
4900
es gegangen, wie mit einem Burschenschafts-Studenten, der zur Zeit der
4901
Freiheitskriege seine mutige und begeisterte Jugend hatte und nun zum
4902
kläglichen Philister geworden ist ...«
4904
»Jaja«, sagte Tony. »Alles gut. Aber lassen Sie mich das eine fragen ...
4905
Was geht Sie das eigentlich an? Sie sind ja gar kein Preuße ...«
4907
»Ach, das ist alles eins, Fräulein Buddenbrook! Ja, ich nenne Ihren
4908
Familiennamen, und zwar mit Absicht ... und ich müßte eigentlich noch
4909
`Demoiselle´ Buddenbrook sagen, damit Ihnen Ihr ganzes Recht wird! Sind
4910
bei uns etwa die Menschen freier, gleicher, brüderlicher als in Preußen?
4911
Schranken, Abstand, Aristokratie -- hier wie dort!... Sie haben
4912
Sympathie für die Adligen ... soll ich Ihnen sagen warum? Weil Sie
4913
selbst eine Adlige sind! Ja--ha, haben Sie das noch nicht gewußt?... Ihr
4914
Vater ist ein großer Herr, und Sie sind eine Prinzeß. Ein Abgrund trennt
4915
Sie von uns anderen, die wir nicht zu Ihrem Kreise von herrschenden
4916
Familien gehören. Sie können wohl einmal mit einem von uns zur Erholung
4917
ein bißchen an der See spazieren gehen, aber wenn Sie wieder in Ihren
4918
Kreis der Bevorzugten und Auserwählten treten, dann kann man auf den
4919
Steinen sitzen ...« Seine Stimme war ganz fremdartig erregt geworden.
4921
»Morten«, sagte Tony traurig. »Nun haben Sie sich =doch= geärgert, wenn
4922
Sie auf den Steinen saßen! Ich habe Sie doch gebeten, sich vorstellen zu
4925
»Oh, Sie nehmen die Sache wieder als junge Dame, zu persönlich, Fräulein
4926
Tony! Ich spreche doch im Prinzip ... Ich sage, daß bei uns nicht mehr
4927
brüderliche Menschlichkeit herrscht als in Preußen ... Und wenn ich
4928
persönlich spräche«, fuhr er nach einer kleinen Pause mit leiserer
4929
Stimme fort, aus der aber die eigentümliche Erregung nicht verschwunden
4930
war, »so würde ich nicht die Gegenwart meinen, sondern eher vielleicht
4931
die Zukunft, ... wenn Sie als eine Madame So und So einmal endgültig in
4932
Ihrem vornehmen Bereich verschwinden werden und ... man Zeit seines
4933
Lebens auf den Steinen sitzen kann ...«
4935
Er schwieg, und auch Tony schwieg. Sie blickte ihn nicht mehr an,
4936
sondern nach der anderen Seite, auf die Bretterwand neben ihr. Es
4937
herrschte ziemlich lange eine beklommene Stille.
4939
»Erinnern Sie sich«, fing Morten wieder an, »daß ich Ihnen einmal sagte,
4940
ich hätte eine Frage an Sie zu richten? Ja, die beschäftigt mich seit
4941
dem ersten Nachmittage, als Sie hier ankamen, müssen Sie wissen ...
4942
Raten Sie nur nicht! Sie können unmöglich wissen, was ich meine. Ich
4943
frage ein anderes Mal, bei Gelegenheit; es hat keine Eile, es geht mich
4944
im Grunde gar nichts an, es ist bloß Neugierde ... Nein, heute will ich
4945
Ihnen nur das eine verraten ... etwas anderes ... Sehen Sie mal.«
4947
Hierbei zog Morten aus einer Tasche seiner Joppe das Ende eines
4948
schmalen, buntgestreiften Bandes hervor und sah mit einem Gemisch von
4949
Erwartung und Triumph in Tonys Augen.
4951
»Wie hübsch«, sagte sie verständnislos. »Was bedeutet das?«
4953
Morten aber sprach feierlich: »Das bedeutet, daß ich in Göttingen einer
4954
Burschenschaftsverbindung angehöre -- nun wissen Sie es! Ich habe auch
4955
eine Mütze in diesen Farben, aber die habe ich für die Ferienzeit dem
4956
Gerippe in der Polizistenuniform aufgesetzt ... denn hier dürfte ich
4957
mich nicht damit sehen lassen, verstehen Sie ... Ich kann doch darauf
4958
rechnen, daß Sie reinen Mund halten? Wenn mein Vater von der Sache
4959
erführe, so gäbe es ein Unglück ...«
4961
»Kein Wort, Morten! Nein, auf mich können Sie zählen!... Aber ich weiß
4962
gar nichts davon ... Sind Sie alle gegen die Adligen verschworen?... Was
4965
»Wir wollen die Freiheit!« sagte Morten.
4967
»Die Freiheit?« fragte sie.
4969
»Nun ja, die Freiheit, wissen Sie, die Freiheit ...!« wiederholte er,
4970
indem er eine vage, ein wenig linkische, aber begeisterte Armbewegung
4971
hinaus, hinunter, über die See hin vollführte, und zwar nicht nach jener
4972
Seite, wo die mecklenburgische Küste die Bucht beschränkte, sondern
4973
dorthin, wo das Meer offen war, wo es sich in immer schmaler werdenden
4974
grünen, blauen, gelben und grauen Streifen leicht gekräuselt, großartig
4975
und unabsehbar dem verwischten Horizont entgegendehnte ...
4977
Tony folgte mit den Augen der Richtung seiner Hand; und während nicht
4978
viel fehlte, daß beider Hände, die nebeneinander auf der rauhen Holzbank
4979
lagen, sich vereinigten, blickten sie gemeinsam in dieselbe Ferne. Sie
4980
schwiegen lange, indes das Meer ruhig und schwerfällig zu ihnen
4981
heraufrauschte ... und Tony glaubte plötzlich einig zu sein mit Morten
4982
in einem großen, unbestimmten, ahnungsvollen und sehnsüchtigen
4983
Verständnis dessen, was »Freiheit« bedeutete.
4988
»Es ist merkwürdig, daß man sich an der See nicht langweilen kann,
4989
Morten. Liegen Sie einmal an einem anderen Orte drei oder vier Stunden
4990
lang auf dem Rücken, ohne etwas zu tun, ohne auch nur einem Gedanken
4993
»Ja, ja ... Übrigens muß ich gestehen, daß ich mich früher manchmal
4994
gelangweilt habe, Fräulein Tony; aber das ist einige Wochen her ...«
4996
Der Herbst kam, der erste starke Wind hatte sich aufgemacht. Graue,
4997
dünne und zerrissene Wolken flatterten eilig über den Himmel. Die trübe,
4998
zerwühlte See war weit und breit mit Schaum bedeckt. Große, starke Wogen
4999
wälzten sich mit einer unerbittlichen und furchteinflößenden Ruhe heran,
5000
neigten sich majestätisch, indem sie eine dunkelgrüne, metallblanke
5001
Rundung bildeten, und stürzten lärmend über den Sand.
5003
Die Saison war völlig zu Ende. Der Teil des Strandes, den sonst die
5004
Menge der Badegäste bevölkerte und wo jetzt die Pavillons zum Teile
5005
schon abgebrochen waren, lag mit wenigen Sitzkörben fast ausgestorben
5006
da. Aber Tony und Morten lagerten nachmittags in einer entfernten
5007
Gegend: dort, wo die gelben Lehmwände begannen, und wo die Wellen am
5008
»Möwenstein« ihren Gischt hoch emporschleuderten. Morten hatte ihr einen
5009
festgeklopften Sandberg getürmt: daran lehnte sie mit dem Rücken, die
5010
Füße in Kreuzbandschuhen und weißen Strümpfen übereinandergelegt, in
5011
ihrer weichen grauen Herbstjacke mit großen Knöpfen; Morten, ihr
5012
zugewandt, lag, das Kinn in die Hand gestützt, auf der Seite. Eine Möwe
5013
schoß dann und wann über die See und ließ ihren Raubvogelschrei
5014
vernehmen. Sie sahen die grünen, mit Seegras durchwachsenen Wände der
5015
Wellen an, die drohend daherkamen und an dem Steinblock zerbarsten, der
5016
sich ihnen entgegenstellte ... in diesem irren, ewigen Getöse, das
5017
betäubt, stumm macht und das Gefühl der Zeit ertötet.
5019
Endlich machte Morten eine Bewegung, als ob er sich selbst erweckte, und
5020
fragte: »Nun werden Sie wohl bald abreisen, Fräulein Tony?«
5022
»Nein ... wieso?« sagte Tony abwesend und ohne Verständnis.
5024
»Ja, mein Gott, wir haben den zehnten September, ... meine Ferien sind
5025
ohnehin bald zu Ende ... wie lange kann das noch dauern! Freuen Sie sich
5026
auf die Gesellschaften in der Stadt ...? Sagen Sie mal: Es sind wohl
5027
liebenswürdige Herren, mit denen Sie tanzen ... Nein, das wollte ich
5028
auch nicht fragen! Jetzt müssen Sie mir eines beantworten«, sagte er,
5029
indem er mit plötzlichem Entschlusse sein Kinn in der Hand zurechtrückte
5030
und sie anblickte. »Es ist die Frage, die ich so lange aufgespart habe,
5031
... wissen Sie? Nun! Wer ist Herr Grünlich?«
5033
Tony fuhr zusammen, sah ihm rasch ins Gesicht und ließ dann ihre Augen
5034
umherschweifen wie jemand, der an einen fernen Traum erinnert wird.
5035
Dabei wurde das Gefühl in ihr lebendig, das sie in der Zeit nach Herrn
5036
Grünlichs Werbung erprobt hatte: Das Gefühl persönlicher Wichtigkeit.
5038
»=Das= wollen Sie wissen, Morten?« fragte sie ernst. »Nun, dann will ich
5039
es Ihnen sagen. Es war mir zwar höchst peinlich, verstehen Sie, daß
5040
Thomas den Namen am ersten Nachmittage erwähnte; aber da Sie ihn einmal
5041
gehört haben ... genug: Herr Grünlich, Bendix Grünlich, das ist ein
5042
Geschäftsfreund meines Vaters, ein wohlsituierter Kaufmann aus Hamburg,
5043
der in der Stadt um meine Hand angehalten hat ... aber nein!« antwortete
5044
sie rasch auf eine Bewegung Mortens, »ich habe ihn zurückgewiesen, ich
5045
habe mich nicht entschließen können, ihm mein Jawort fürs Leben zu
5048
»Und warum nicht ... wenn ich fragen darf?« sagte Morten ungeschickt.
5050
»Warum? O Gott, weil ich ihn nicht =ausstehen= konnte!« rief sie beinahe
5051
entrüstet ... »Sie hätten ihn kennen sollen, wie er aussah und wie er
5052
sich benahm! Unter anderem hatte er goldgelbe Favoris ... völlig
5053
unnatürlich! Ich bin überzeugt, daß er sich mit dem Pulver frisierte,
5054
mit dem man die Weihnachtsnüsse vergoldet ... Außerdem war er falsch. Er
5055
schwänzelte um meine Eltern herum und sprach ihnen in schamloser Weise
5058
Morten unterbrach sie.
5060
»Aber was heißt ... Sie müssen mir noch eines sagen ... was heißt: Das
5061
putzt ganz ungemein?«
5063
Tony geriet in ein nervöses und kicherndes Lachen.
5065
»Ja ... so sprach er, Morten! Er sagte nicht: `Das nimmt sich gut aus´,
5066
oder: `Das schmückt das Zimmer´, sondern: `Das putzt ganz ungemein´ ...
5067
so albern war er, ich versichere Sie!... Dabei war er im höchsten Grade
5068
aufdringlich; er ließ nicht von mir ab, obgleich ich ihn niemals anders
5069
als mit Ironie behandelte. Einmal machte er mir eine Szene, bei der er
5070
beinahe weinte ... ich bitte Sie: ein Mann, der weint ...«
5072
»Er muß Sie sehr verehrt haben«, sagte Morten leise.
5074
»Aber was ging das =mich= an!« rief sie erstaunt, indem sie sich an
5075
ihrem Sandberg zur Seite wandte ...
5077
»Sie sind grausam, Fräulein Tony ... Sind Sie immer grausam? Sagen Sie
5078
mir ... Sie haben diesen Herrn Grünlich nicht leiden können, aber sind
5079
Sie jemals einem anderen zugetan gewesen?... Manchmal denke ich: Haben
5080
Sie vielleicht ein kaltes Herz? Eines will ich Ihnen sagen ... es ist so
5081
wahr, daß ich es Ihnen beschwören kann: Ein Mann ist nicht albern, weil
5082
er darüber weint, daß Sie nichts von ihm wissen wollen ... das ist es.
5083
Ich bin nicht sicher, durchaus nicht sicher, daß ich nicht ebenfalls ...
5084
Sehen Sie, Sie sind ein verwöhntes, vornehmes Geschöpf ... Mokieren Sie
5085
sich immer nur über die Leute, die zu Ihren Füßen liegen? Haben Sie
5086
wirklich ein kaltes Herz?«
5088
Nach der kurzen Heiterkeit begann nun plötzlich Tonys Oberlippe zu
5089
zittern. Sie richtete ein Paar großer und betrübter Augen auf ihn, die
5090
langsam blank von Tränen wurden, und sagte leise: »Nein, Morten, glauben
5091
Sie das von mir?... Das müssen Sie nicht von mir glauben.«
5093
»Ich glaube es ja auch nicht!« rief Morten mit einem Lachen, in dem
5094
Ergriffenheit und mühsam unterdrückter Jubel zu hören war ... Er wälzte
5095
sich völlig herum, so daß er nun auf dem Bauche neben ihr lag, ergriff,
5096
indem er die Ellenbogen aufstützte, mit beiden Händen die ihre und sah
5097
mit seinen stahlblauen, gutmütigen Augen entzückt und begeistert in ihr
5100
»Und Sie ... Sie mokieren sich nicht über mich, wenn ich Ihnen sage,
5103
»Ich weiß, Morten«, unterbrach sie ihn leise, während sie seitwärts auf
5104
ihre freie Hand blickte, die langsam den weichen, weißen Sand durch die
5105
Finger gleiten ließ.
5107
»Sie wissen ...! Und Sie ... =Sie=, Fräulein Tony ...«
5109
»Ja, Morten. Ich halte große Stücke auf Sie. Ich habe Sie sehr gern. Ich
5110
habe Sie lieber als alle, die ich kenne.«
5112
Er fuhr auf, er machte ein paar Armbewegungen und wußte nicht, was er
5113
tun sollte. Er sprang auf die Füße, warf sich sofort wieder bei ihr
5114
nieder und rief mit einer Stimme, die stockte, wankte, sich überschlug
5115
und wieder tönend wurde vor Glück: »Ach, ich danke Ihnen, ich danke
5116
Ihnen! Sehen Sie, nun bin ich so glücklich, wie noch niemals in meinem
5117
Leben!...« Dann fing er an, ihre Hände zu küssen.
5119
Plötzlich sagte er leiser: »Sie werden nun bald nach der Stadt abreisen,
5120
Tony, und meine Ferien sind in vierzehn Tagen zu Ende ... dann muß ich
5121
wieder nach Göttingen. Aber wollen Sie mir versprechen, daß Sie diesen
5122
Nachmittag hier am Strande nicht vergessen werden, bis ich zurückkomme
5123
... und Doktor bin ... und bei Ihrem Vater für uns bitten kann, so
5124
schwer es sein wird? Und daß Sie unterdessen keinen Herrn Grünlich
5125
erhören werden?... Oh, es wird nicht lange dauern, passen Sie auf! Ich
5126
werde arbeiten, wie ein ... und es ist gar nicht schwer ...«
5128
»Ja, Morten«, sagte sie glücklich und abwesend, indem sie seine Augen,
5129
seinen Mund und seine Hände betrachtete, die die ihren hielten ...
5131
Er zog ihre Hand noch näher an seine Brust und fragte gedämpft und
5132
bittend: »Wollen Sie mir daraufhin nicht ... Darf ich das nicht ...
5135
Sie antwortete nicht, sie sah ihn nicht einmal an, sie schob nur ganz
5136
leise ihren Oberkörper am Sandberg ein wenig näher zu ihm hin, und
5137
Morten küßte sie langsam und umständlich auf den Mund. Dann sahen sie
5138
nach verschiedenen Richtungen in den Sand und schämten sich über die
5144
»Teuerste Demoiselle Buddenbrook!
5146
Wie lange ist es her, daß Unterzeichneter das Angesicht des reizendsten
5147
Mädchens nicht mehr erblicken durfte? Diese so wenigen Zeilen sollen
5148
Ihnen sagen, daß dieses Angesicht nicht aufgehört hat, vor seinem
5149
geistigen Auge zu schweben, daß er während dieser hangenden und
5150
bangenden Wochen unablässig eingedenk gewesen ist des köstlichen
5151
Nachmittags in Ihrem elterlichen Salon, an dem Sie sich ein Versprechen,
5152
ein halbes und verschämtes zwar noch, und doch so beseligendes
5153
entschlüpfen ließen. Seitdem sind lange Wochen verflossen, während derer
5154
Sie sich behufs Sammlung und Selbsterkenntnis von der Welt zurückgezogen
5155
haben, so daß ich nun wohl hoffen darf, daß die Zeit der Prüfung vorüber
5156
ist. Endesunterfertigter erlaubt sich, Ihnen, teuerste Demoiselle,
5157
mitfolgendes Ringlein als Unterpfand seiner unsterblichen Zärtlichkeit
5158
hochachtungsvollst zu übersenden. Mit den devotesten Komplimenten und
5159
liebevollsten Handküssen zeichne als
5161
Dero Hochwohlgeboren ergebenster
5166
O Gott, wie habe ich mich geärgert! Beifolgenden Brief und Ring erhielt
5167
ich soeben von Gr., so daß ich Kopfweh vor Aufregung habe, und weiß ich
5168
nichts Besseres zu tun, als beides an =Dich= zurückgehen zu lassen. Gr.
5169
=will= mich nicht verstehen, und ist das, was er so poetisch von dem
5170
`Versprechen´ schreibt, einfach nicht der Fall, und bitte ich Dich so
5171
dringend, ihm nun doch kurzerhand plausibel zu machen, daß =ich jetzt
5172
noch tausendmal weniger= als vor sechs Wochen in der Lage bin, ihm mein
5173
Jawort fürs Leben zu erteilen und daß er mich endlich in Frieden lassen
5174
soll, er =macht= sich ja =lächerlich=. Dir, dem besten Vater, kann ich
5175
es ja sagen, daß ich anderweitig gebunden bin an jemanden, der mich
5176
liebt, und den ich liebe, daß es sich gar nicht sagen läßt. O Papa!
5177
Darüber könnte ich viele Bogen vollschreiben, ich spreche von Herrn
5178
Morten Schwarzkopf, der Arzt werden will, und, sowie er Doktor ist, um
5179
meine Hand anhalten will. Ich weiß ja, daß es Sitte ist, einen Kaufmann
5180
zu heiraten, aber Morten gehört eben zu dem anderen Teil von angesehenen
5181
Herren, den Gelehrten. Er ist nicht reich, was wohl für Dich und Mama
5182
gewichtig ist, aber das muß ich Dir sagen, lieber Papa, so jung ich bin,
5183
aber das wird das Leben manchen gelehrt haben, daß Reichtum allein nicht
5184
immer jeden glücklich macht. Mit tausend Küssen verbleibe ich
5186
Deine gehorsame Tochter
5189
_PS._ Der Ring ist niedriges Gold und ziemlich schmal, wie ich sehe.«
5193
Dein Schreiben ist mir richtig geworden. Auf seinen Gehalt eingehend,
5194
teile ich Dir mit, daß ich pflichtgemäß nicht ermangelt habe, Herrn Gr.
5195
über Deine Anschauung der Dinge in geziemender Form zu unterrichten; das
5196
Resultat jedoch war derartig, daß es mich aufrichtig erschüttert hat. Du
5197
bist ein erwachsenes Mädchen und befindest Dich in einer so ernsten
5198
Lebenslage, daß ich nicht anstehen darf, Dir die Folgen namhaft zu
5199
machen, die ein leichtfertiger Schritt Deinerseits nach sich ziehen
5200
kann. Herr Gr. nämlich brach bei meinen Worten in Verzweiflung aus,
5201
indem er rief, so sehr liebe er Dich und so wenig könne er Deinen
5202
Verlust verschmerzen, daß er willens sei, sich das Leben zu nehmen, wenn
5203
Du auf Deinem Entschlusse bestündest. Da ich das, was Du mir von einer
5204
anderweitigen Neigung schreibst, nicht ernst nehmen kann, so bitte ich
5205
Dich, Deine Erregung über den zugesandten Ring zu bemeistern und alles
5206
noch einmal bei Dir selbst mit Ernst zu erwägen. Meiner christlichen
5207
Überzeugung nach, liebe Tochter, ist es des Menschen Pflicht, die
5208
Gefühle eines anderen zu achten, und wir wissen nicht, ob Du nicht einst
5209
würdest von einem höchsten Richter dafür haftbar gemacht werden, daß der
5210
Mann, dessen Gefühle Du hartnäckig und kalt verschmähtest, sich gegen
5211
sein eigenes Leben versündigte. Das eine aber, welches ich Dir mündlich
5212
schon oft zu verstehen gegeben, möchte ich Dir ins Gedächtnis
5213
zurückrufen und freue ich mich, Gelegenheit zu haben, es Dir schriftlich
5214
zu wiederholen. Denn obgleich die mündliche Rede lebendiger und
5215
unmittelbarer wirken mag, so hat doch das geschriebene Wort den Vorzug,
5216
daß es mit Muße gewählt und gesetzt werden konnte, daß es feststeht und
5217
in dieser vom Schreibenden wohl erwogenen und berechneten Form und
5218
Stellung wieder und wieder gelesen werden und gleichmäßig wirken kann.
5219
-- Wir sind, meine liebe Tochter, nicht =dafür= geboren, was wir mit
5220
kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück
5221
halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende
5222
Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie
5223
wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen
5224
und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und ohne nach
5225
rechts oder links zu blicken, einer erprobten und ehrwürdigen
5226
Überlieferung folgten. Dein Weg, wie mich dünkt, liegt seit längeren
5227
Wochen klar und scharf abgegrenzt vor Dir, und du müßtest nicht meine
5228
Tochter sein, nicht die Enkelin Deines in Gott ruhenden Großvaters und
5229
überhaupt nicht ein würdig Glied unserer Familie, wenn Du ernstlich im
5230
Sinne hättest, Du allein, mit Trotz und Flattersinn Deine eigenen,
5231
unordentlichen Pfade zu gehen. Dies, meine liebe Antonie, bitte ich
5232
Dich, in Deinem Herzen zu bewegen. --
5234
Deine Mutter, Thomas, Christian, Klara und Klothilde (welch letztere
5235
mehrere Wochen bei ihrem Vater auf Ungnade verlebt hat), auch Mamsell
5236
Jungmann grüßen Dich von ganzem Herzen; wir freuen uns alle, Dich bald
5237
wieder in unsere Arme schließen zu können.
5245
Es regnete in Strömen. Himmel, Erde und Wasser verschwammen ineinander,
5246
während der Stoßwind in den Regen fuhr und ihn gegen die Fensterscheiben
5247
trieb, daß nicht Tropfen, sondern Bäche daran hinunterflossen und sie
5248
undurchsichtig machten. Klagende und verzweifelnde Stimmen redeten in
5251
Als Morten Schwarzkopf bald nach dem Mittagessen mit seiner Pfeife vor
5252
die Veranda trat, um nachzusehen, wie es mit dem Himmel bestellt sei,
5253
stand ein Herr in langem, engem, gelbkariertem Ülster und grauem Hute
5254
vor ihm; eine geschlossene Droschke, deren Verdeck vor Nässe glänzte und
5255
deren Räder so mit Kot besprengt waren, hielt vorm Hause. Morten starrte
5256
fassungslos in das rosige Gesicht des Herrn. Er hatte Bartkotelettes,
5257
die aussahen, als seien sie mit dem Pulver frisiert, mit dem man die
5258
Weihnachtsnüsse vergoldet.
5260
Der Herr im Ülster sah Morten an, wie man einen Bedienten ansieht,
5261
leicht blinzelnd, ohne ihn zu sehen, und fragte mit weicher Stimme: »Ist
5262
der Herr Lotsenkommandeur zu sprechen?«
5264
»Allerdings ...« stammelte Morten, »ich glaube, daß mein Vater ...«
5266
Hier faßte ihn der Herr ins Auge; seine Augen waren so blau wie
5267
diejenigen einer Gans.
5269
»Sind Sie Herr Morten Schwarzkopf?« fragte er ...
5271
»Ja, mein Herr«, antwortete Morten, indem er sich anstrengte, einen
5272
festen Gesichtsausdruck zu gewinnen.
5274
»Sieh da! In der Tat ...« bemerkte der Herr im Ülster, und dann fuhr er
5275
fort: »Haben Sie die Güte, mich Ihrem Herrn Vater zu melden, junger
5276
Mann. Mein Name ist Grünlich.«
5278
Morten führte den Herrn durch die Veranda, öffnete ihm im Korridor
5279
rechterhand die Tür zum Bureau, und kehrte ins Wohnzimmer zurück, um
5280
seinen Vater zu benachrichtigen. Während Herr Schwarzkopf hinausging,
5281
ließ der junge Mensch sich an dem runden Tische nieder, stützte die
5282
Ellenbogen darauf und schien sich, ohne seine Mutter anzusehen, die am
5283
trüben Fenster mit dem Stopfen von Strümpfen beschäftigt war, in das
5284
»klägliche Blättchen« zu vertiefen, das von nichts anderem als der
5285
silbernen Hochzeit des Konsuls So und So zu berichten wußte. -- Tony
5286
befand sich droben in ihrem Zimmer, um auszuruhen.
5288
Der Lotsenkommandeur betrat sein Büro mit der Miene eines Mannes, der
5289
mit dem Mittagessen zufrieden ist, das er zu sich genommen. Sein
5290
Uniformrock, über der gewölbten weißen Weste, stand offen. Von seinem
5291
roten Gesicht hob sich scharf der eisgraue Schifferbart ab. Seine Zunge
5292
fuhr behaglich zwischen den Zähnen umher, wobei sein biederer Mund in
5293
die abenteuerlichsten Stellungen geriet. Er verbeugte sich kurz,
5294
ruckartig und mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: So macht man es
5297
»Gesegnete Mahlzeit«, sagte er; »dem Herrn zu Diensten!«
5299
Herr Grünlich, von seiner Seite, verneigte sich mit Bedacht, indem seine
5300
Mundwinkel sich ein wenig abwärts zogen. Hierbei sagte er leise:
5303
Das Bureau war eine ziemlich kleine Stube, deren Wände einige Fuß hoch
5304
mit Holz bekleidet waren und im übrigen den untapezierten Kalk zeigten.
5305
Vor dem Fenster, an welches unablässig der Regen trommelte, hingen
5306
gelbgerauchte Gardinen. Rechterhand von der Tür befand sich ein langer,
5307
roher, mit Papieren bedeckter Tisch, über welchem eine große Karte von
5308
Europa und eine kleinere der Ostsee an der Wand befestigt war. Von der
5309
Mitte der Zimmerdecke hing das sauber gearbeitete Modell eines Schiffes
5310
unter vollen Segeln herab.
5312
Der Lotsenkommandeur nötigte seinen Gast auf das geschweifte, mit
5313
schwarzem, zersprungenem Wachstuch bezogene Sofa, das der Tür
5314
gegenüberstand, und machte es sich selbst mit über dem Bauch gefalteten
5315
Händen in einem hölzernen Armstuhl bequem, während Herr Grünlich in fest
5316
geschlossenem Ülster, den Hut auf den Knien, ohne die Rückenlehne zu
5317
berühren, genau auf der Kante des Sofas saß.
5319
»Mein Name«, sagte er, »ist, wie ich wiederhole, =Grünlich=, Grünlich
5320
von Hamburg. Um mich Ihnen zu empfehlen, erwähne ich, daß ich mich einen
5321
nahen Geschäftsfreund des Großhändlers Konsul Buddenbrook nennen darf.«
5323
»Allabonöhr! Ist mir eine Ehre, Herr Grünlich! Aber wollen der Herr
5324
sich's nicht ein bißchen bequemer machen? Einen Grog nach der Fahrt? Ich
5325
rufe sofort in die Küche ...«
5327
»Ich erlaube mir, Ihnen zu bemerken«, sprach Herr Grünlich mit Ruhe,
5328
»daß meine Zeit gemessen ist, daß mein Wagen mich erwartet, und daß ich
5329
lediglich genötigt bin, Sie um eine Unterredung von zwei Worten zu
5332
»Dem Herrn zu Diensten«, wiederholte Herr Schwarzkopf ein wenig
5333
eingeschüchtert. Es entstand eine Pause.
5335
»Herr Kommandeur!« begann Herr Grünlich, indem er den Kopf mit
5336
Entschlossenheit schüttelte und ihn dabei ein wenig zurückwarf. Dann
5337
schwieg er aufs neue, um die Wirkung dieser Anrede zu verstärken; er
5338
schloß seinen Mund dabei so fest wie einen Geldbeutel, den man mit
5339
Schnüren zusammenzieht.
5341
»Herr Kommandeur«, wiederholte er und sagte dann rasch: »Die
5342
Angelegenheit, in der ich zu Ihnen komme, betrifft unmittelbar die
5343
junge Dame, die seit einigen Wochen in Ihrem Hause wohnt.«
5345
»Mamsell Buddenbrook?« fragte Herr Schwarzkopf ...
5347
»Allerdings«, versetzte Herr Grünlich tonlos und mit gesenktem Kopfe; an
5348
seinen Mundwinkeln bildeten sich straffe Fältchen.
5350
»Ich ... sehe mich veranlaßt, Ihnen zu eröffnen«, fuhr er mit leichthin
5351
trällernder Betonung fort, indem seine Augen mit ungeheurer
5352
Aufmerksamkeit von einem Punkt des Zimmers auf einen anderen und dann
5353
zum Fenster sprangen, »daß ich vor einiger Zeit um die Hand eben dieser
5354
Demoiselle Buddenbrook angehalten habe, daß ich mich im vollen Besitz
5355
der beiderseitigen elterlichen Zustimmung befinde, und daß das Fräulein
5356
selbst mir, ohne daß zwar die Verlobung bereits in aller Form
5357
stattgefunden hätte, mit unzweideutigen Worten Anrechte auf ihre Hand
5360
»Wahrhaftigen Gott?« fragte Herr Schwarzkopf lebhaft ... »Davon hab' ich
5361
noch gar nichts gewußt! Gratuliere, Herr ... Grünlich! Gratuliere Ihnen
5362
aufrichtig! Da haben Sie was Gutes, was Reelles ...«
5364
»Sehr obligiert«, sagte Herr Grünlich mit kaltem Nachdruck. »Was mich
5365
jedoch«, fuhr er mit singend erhobener Stimme fort, »in dieser
5366
Angelegenheit zu Ihnen führt, mein werter Herr Kommandeur, ist der
5367
Umstand, daß sich dieser Verbindung ganz neuerdings =Schwierigkeiten= in
5368
den Weg stellen, und daß diese Schwierigkeiten ... von Ihrem Hause
5369
ausgehen --?« Die letzten Worte sprach er mit fragender Betonung, als
5370
wollte er sagen: Kann es möglich sein, was mir zu Ohren gekommen ist?
5372
Herr Schwarzkopf antwortete ausschließlich dadurch, daß er seine
5373
ergrauten Augenbrauen hoch in die Stirne zog und mit beiden Händen,
5374
braunen, blondbehaarten Schifferhänden, die Armlehnen seines Stuhles
5377
»Ja. In der Tat. So höre ich«, sprach Herr Grünlich mit trauriger
5378
Bestimmtheit. »Ich =höre=, daß Ihr Sohn, der Herr Studiosus Medicinä es
5379
sich ... unwissentlich zwar ... gestattet hat, in meine Rechte
5380
einzugreifen, ich =höre=, daß er die hiesige Anwesenheit des Fräuleins
5381
dazu benutzt hat, ihr gewisse Versprechungen abzugewinnen ...«
5383
»Was?« rief der Lotsenkommandeur, indem er sich heftig auf die Armlehnen
5384
stützte und emporsprang ... »Da soll doch gleich ... I, dat wier je denn
5385
doch woll ...« Und mit zwei Schritten war er an der Tür, riß sie auf und
5386
rief mit einer Stimme über den Korridor, welche die ärgste Brandung
5387
übertönt hätte: »Meta! Morten! Tretet mal an! Tretet mal alle beide an!«
5389
»Ich würde lebhaft bedauern«, sprach Herr Grünlich mit einem feinen
5390
Lächeln, »wenn ich durch die Geltendmachung meiner älteren Rechte Ihre
5391
eigenen väterlichen Pläne durchkreuzen sollte, Herr Kommandeur ...«
5393
Diederich Schwarzkopf wandte sich um und starrte ihm mit seinen
5394
scharfen, von kleinen Fältchen umgebenen blauen Augen ins Gesicht, als
5395
bemühte er sich vergebens, seine Worte zu verstehen.
5397
»Herr!« sagte er dann mit einer Stimme, die klang, als hätte soeben ein
5398
scharfer Schluck Grog seine Kehle verbrannt ... »Ich bin man'n einfachen
5399
Mann und versteh mich schlecht auf Medisangsen und Finessen ... aber
5400
wenn Sie vielleicht meinen sollten, daß ... na! denn lassen Sie sich
5401
gesagt sein, daß Sie auf dem Holzwege sind, Herr, und daß Sie sich über
5402
meine Grundsätze täuschen! Ich weiß, wer mein Sohn ist, und weiß, wer
5403
Mamsell Buddenbrook ist, und ich habe zuviel Respekt und auch zuviel
5404
Stolz im Leibe, Herr, um solche väterlichen Pläne zu machen! Und nun
5405
redet mal, nun antwortet mir mal! Was ist das eigentlich, wie? Was höre
5406
ich da eigentlich, was?...«
5408
Frau Schwarzkopf und ihr Sohn standen in der Tür; die erstere
5409
ahnungslos, mit dem Ordnen ihrer Schürze beschäftigt, Morten mit der
5410
Miene eines verstockten Sünders ... Herr Grünlich hatte sich bei ihrem
5411
Eintritt keineswegs erhoben; er verharrte in gerader und ruhevoller
5412
Haltung fest in seinen Ülster geknöpft auf der Sofakante.
5414
»Du hast dich also wie ein dummer Junge betragen?« fuhr der
5415
Lotsenkommandeur Morten an.
5417
Der junge Mensch hielt einen Daumen zwischen den Knöpfen seiner Joppe;
5418
er machte finstere Augen und hatte vor Trotz sogar seine Wangen
5421
»Ja, Vater«, sagte er, »Fräulein Buddenbrook und ich ...«
5423
»So, na, denn will 'k di man vertellen, daß du 'n Döskopp büs', 'n
5424
Hanswurst, 'n groten Dummerjahn! Und daß du morgen nach Göttingen
5425
abkutschierst, hörst du wohl? morgenden Tages! Und daß das Ganze 'n
5426
Kinderkram ist, ein nichtsnutziger Kinderkram und damit Punktum!«
5428
»Diederich, mein Gott«, sagte Frau Schwarzkopf, indem sie die Hände
5429
faltete; »das kann man doch nicht so ohne weiteres sagen! Wer weiß ...«
5430
Sie schwieg und man sah, wie eine schöne Hoffnung vor ihren Augen
5433
»Wünschen der Herr das Fräulein zu sprechen?« wandte sich der
5434
Lotsenkommandeur mit rauher Stimme an Herrn Grünlich ...
5436
»Sie ist in ihrem Zimmer! Sie schläft!« erklärte Frau Schwarzkopf
5437
mitleidig und gerührt.
5439
»Das bedaure ich«, sagte Herr Grünlich, obgleich er ein wenig aufatmete,
5440
und erhob sich. »Übrigens wiederhole ich, daß meine Zeit gemessen ist
5441
und daß mein Wagen mich erwartet. Ich gestatte mir«, fuhr er fort, indem
5442
er vor Herrn Schwarzkopf mit dem Hute eine Bewegung von oben nach unten
5443
beschrieb, »Ihnen, Herr Kommandeur, meine vollste Genugtuung und
5444
Anerkennung angesichts Ihres männlichen und charaktervollen Benehmens
5445
auszusprechen. Ich empfehle mich Ihnen. Ich habe die Ehre. Adieu.«
5447
Diederich Schwarzkopf reichte ihm keineswegs die Hand: Er ließ nur kurz
5448
und ruckartig seinen schweren Oberkörper ein wenig nach vorne fallen,
5449
als wollte er sagen: So macht man es ja wohl!
5451
Zwischen Morten und seiner Mutter hindurch ging Herr Grünlich gemessenen
5452
Schrittes zur Tür hinaus.
5457
Thomas erschien mit der Krögerschen Kalesche. Der Tag war da.
5459
Der junge Herr kam um zehn Uhr des Vormittags und nahm einen kleinen
5460
Imbiß mit der Familie in der Wohnstube. Man saß beieinander wie am
5461
ersten Tage; nur daß der Sommer dahin war, daß es zu kalt und windig
5462
war, in der Veranda zu sitzen und daß Morten fehlte ... Er war in
5463
Göttingen. Tony und er hatten nicht einmal ordentlich Abschied
5464
voneinander genommen. Der Lotsenkommandeur hatte dabeigestanden und
5465
gesagt: »So, Punktum. Hü.«
5467
Um elf Uhr stiegen die Geschwister in den Wagen, an dessen hinterem
5468
Teile Tonys großer Koffer festgeschnallt worden war. Sie war blaß und
5469
fröstelte in ihrer weichen Herbstjacke vor Kälte, Müdigkeit, Reisefieber
5470
und einer Wehmut, die dann und wann plötzlich in ihr aufstieg und ihre
5471
Brust mit einem drängenden Schmerzgefühl erfüllte. Sie küßte die kleine
5472
Meta, drückte der Hausfrau die Hand und nickte Herrn Schwarzkopf zu, als
5473
er sagte: »Na, vergessen Sie uns nicht, Mamselling. Und nichts für
5476
»So, und glückliche Reise und beste Empfehlungen an den Herrn Papa und
5477
die Frau Konsulin ...« Dann schnappte der Schlag ins Schloß, die dicken
5478
Braunen zogen an, und die drei Schwarzkopfs schwenkten ihre Tücher ...
5480
Tony drückte den Kopf in die Wagenecke und sah zum Fenster hinaus. Der
5481
Himmel war weißlich bedeckt, die Trave warf kleine Wellen, die schnell
5482
vor dem Winde dahineilten. Dann und wann prickelten kleine Tropfen gegen
5483
die Scheiben. Am Ausgang der »Vorderreihe« saßen die Leute vor ihren
5484
Haustüren und flickten Netze; barfüßige Kinder kamen herbeigelaufen und
5485
betrachteten neugierig den Wagen. =Die= blieben hier ...
5487
Als der Wagen die letzten Häuser zurückließ, beugte Tony sich vor, um
5488
noch einmal den Leuchtturm zu sehen; dann lehnte sie sich zurück und
5489
schloß die Augen, die müde und empfindlich waren. Sie hatte in der Nacht
5490
fast nicht geschlafen vor Erregung, war früh aufgestanden, um ihren
5491
Koffer in Ordnung zu bringen, und hatte nicht frühstücken mögen. In
5492
ihrem ausgetrockneten Munde hatte sie einen faden Geschmack. Sie fühlte
5493
sich so hinfällig, daß sie es nicht einmal versuchte, die Tränen
5494
zurückzudrängen, die jeden Augenblick langsam und heiß in ihre Augen
5497
Kaum hatte sie ihre Lider geschlossen, als sie sich wieder in Travemünde
5498
in der Veranda befand. Sie sah Morten Schwarzkopf leibhaftig vor sich,
5499
wie er zu ihr sprach, sich nach seiner Art dabei vorbeugte und hie und
5500
da einen anderen gutmütig forschend ansah; wie er lachend seine schönen
5501
Zähne zeigte, von denen er ersichtlich gar nichts wußte ... und es wurde
5502
ihr ganz ruhig und heiter dabei zu Sinn. Sie rief sich alles ins
5503
Gedächtnis zurück, was sie in vielen Gesprächen von ihm gehört und
5504
erfahren hatte, und es bereitete ihr eine beglückende Genugtuung, sich
5505
feierlich zu versprechen, daß sie dies alles als etwas Heiliges und
5506
Unantastbares in sich bewahren wollte. Daß der König von Preußen ein
5507
großes Unrecht begangen, daß die Städtischen Anzeigen ein klägliches
5508
Blättchen seien, ja selbst, daß vor vier Jahren die Bundesgesetze über
5509
die Universitäten erneuert worden, das würden ihr fortan ehrwürdige und
5510
tröstliche Wahrheiten sein, ein geheimer Schatz, den sie würde
5511
betrachten können, wann sie wollte. Mitten auf der Straße, im
5512
Familienkreise, beim Essen würde sie daran denken ... Wer weiß?
5513
vielleicht würde sie ihren vorgezeichneten Weg gehen und Herrn Grünlich
5514
heiraten, das war ganz gleichgültig; aber wenn er zu ihr sprach, würde
5515
sie plötzlich denken: Ich weiß etwas, was du nicht weißt ... Die
5516
Adeligen sind -- im =Prinzip= gesprochen -- verächtlich!
5518
Sie lächelte zufrieden vor sich hin ... Aber da, plötzlich, vernahm sie
5519
in dem Geräusch der Räder mit vollkommener, mit unglaublich lebendiger
5520
Deutlichkeit Mortens Sprache; sie unterschied jeden Laut seiner
5521
gutmütigen, ein wenig schwerfällig knarrenden Stimme, sie hörte mit
5522
leiblichem Ohr, wie er sagte: »Heute müssen wir beide auf den Steinen
5523
sitzen, Fräulein Tony ...«, und diese kleine Erinnerung überwältigte
5524
sie. Ihre Brust zog sich zusammen vor Wehmut und Schmerz, ohne Gegenwehr
5525
ließ sie die Tränen hervorstürzen ... In ihren Winkel gedrückt, hielt
5526
sie das Taschentuch mit beiden Händen vors Gesicht und weinte
5529
Thomas, seine Zigarette im Munde, blickte ein wenig ratlos auf die
5532
»Arme Tony!« sagte er schließlich, indem er ihre Jacke streichelte. »Du
5533
tust mir herzlich leid ... ich verstehe dich so gut, siehst du! Aber was
5534
ist da zu tun? Dergleichen muß durchgemacht werden. Glaube mir nur ...
5535
ich kenne das auch ...«
5537
»Ach, du kennst gar nichts, Tom!« schluchzte Tony.
5539
»Na, sage das nicht. Jetzt steht es zum Beispiel fest, daß ich Anfang
5540
nächsten Jahres nach Amsterdam gehe. Papa hat eine Stelle für mich ...
5541
bei van der Kellen & Comp. ... Da werde ich Abschied nehmen müssen für
5542
lange, lange Zeit ...«
5544
»Ach, Tom! Ein Abschied von Eltern und Geschwistern! Das ist gar
5547
»Ja --!« sagte er ziemlich langgedehnt. Er atmete auf, als ob er noch
5548
mehr sagen wollte und schwieg dann. Indem er die Zigarette von einem
5549
Mundwinkel in den anderen wandern ließ, zog er eine Braue empor und
5550
wandte den Kopf zur Seite.
5552
»Und es dauert ja nicht lange«, fing er nach einer Weile wieder an. »Das
5553
gibt sich. Man vergißt ...«
5555
»Aber ich will ja gerade nicht vergessen!« rief Tony ganz verzweifelt.
5556
»Vergessen ... ist das denn ein Trost?!« --
5561
Dann kam die Fähre, es kam die Israelsdorfer Allee, der Jerusalemsberg,
5562
das Burgfeld. Der Wagen passierte das Burgtor, neben dem zur Rechten die
5563
Mauern des Gefängnisses aufragten, er rollte die Burgstraße entlang und
5564
über den Koberg ... Tony betrachtete die grauen Giebelhäuser, die über
5565
die Straße gespannten Öllampen, das Heilige-Geist-Hospital mit den schon
5566
fast entblätterten Linden davor ... Mein Gott, alles das war geblieben,
5567
wie es gewesen war! Es hatte hier gestanden, unabänderlich und
5568
ehrwürdig, während sie sich daran als an einen alten, vergessenswerten
5569
Traum erinnert hatte! Diese grauen Giebel waren das Alte, Gewohnte und
5570
Überlieferte, das sie wieder aufgenommen und in dem sie nun wieder leben
5571
sollte. Sie weinte nicht mehr; sie sah sich neugierig um. Das
5572
Abschiedsleid war beinahe betäubt, angesichts dieser Straßen und dieser
5573
altbekannten Gesichter darin. In diesem Augenblick -- der Wagen rasselte
5574
durch die Breite Straße -- ging der Träger Matthiesen vorüber und nahm
5575
tief seinen rauhen Zylinder ab mit einem so bärbeißigen Pflichtgesicht,
5576
als dächte er: Ich wäre ja wohl ein Hundsfott ...!
5578
Die Equipage bog in die Mengstraße ein und die dicken Braunen standen
5579
schnaubend und stampfend vorm Buddenbrookschen Hause. Tom war seiner
5580
Schwester aufmerksam beim Aussteigen behilflich, während Anton und Line
5581
herbeieilten, um den Koffer herunterzuschnallen. Aber man mußte warten,
5582
bevor man ins Haus gelangte. Drei mächtige Transportwagen schoben sich
5583
soeben dicht hintereinander durch die Haustür, hochbepackt mit vollen
5584
Kornsäcken, auf denen in breiten schwarzen Buchstaben die Firma »Johann
5585
Buddenbrook« zu lesen war. Mit schwerfällig widerhallendem Gepolter
5586
schwankten sie über die große Diele und die flachen Stufen zum Hofe
5587
hinunter. Ein Teil des Kornes sollte wohl im Hinterhause verladen werden
5588
und der Rest in den »Walfisch«, den »Löwen« oder die »Eiche« wandern ...
5590
Der Konsul kam, die Feder hinterm Ohr, aus dem Kontor heraus, als die
5591
Geschwister die Diele betraten, und streckte seiner Tochter die Arme
5594
»Willkommen zu Hause, meine liebe Tony!«
5596
Sie küßte ihn und sah ihn mit Augen an, die noch verweint waren und in
5597
denen etwas wie Scham zu lesen war. Aber er war nicht böse, er erwähnte
5598
kein Wort. Er sagte nur: »Es ist spät, aber wir haben mit dem zweiten
5599
Frühstück gewartet.«
5601
Die Konsulin, Christian, Klothilde, Klara und Ida Jungmann standen zur
5602
Begrüßung droben auf dem Treppenabsatz versammelt ...
5606
Tony schlief fest und gut die erste Nacht in der Mengstraße, und sie
5607
stieg am nächsten Morgen, den 22. September, erfrischt und ruhigen
5608
Sinnes ins Frühstückszimmer hinunter. Es war noch ganz früh, kaum sieben
5609
Uhr. Nur Mamsell Jungmann war schon anwesend und bereitete den
5612
»Ei, ei, Tonychen, mein Kindchen«, sagte sie und sah sich mit kleinen,
5613
verschlafenen braunen Augen um; »schon so zeitig?«
5615
Tony setzte sich an den Sekretär, dessen Deckel zurückgeschoben war,
5616
faltete die Hände hinter dem Kopf und blickte eine Weile auf das vor
5617
Nässe schwarz glänzende Pflaster des Hofes und den vergilbten und
5618
feuchten Garten hinaus. Dann fing sie an, neugierig unter den
5619
Visitkarten und Briefschaften auf dem Sekretär zu kramen ...
5621
Dicht beim Tintenfaß lag das wohlbekannte große Schreibheft mit
5622
gepreßtem Umschlag, goldenem Schnitt und verschiedenartigem Papier. Es
5623
mußte noch gestern abend gebraucht worden sein, und ein Wunder nur, daß
5624
Papa es nicht wie gewöhnlich in der Ledermappe und in der besonderen
5625
Schublade dort hinten verschlossen hatte.
5627
Sie nahm es, blätterte darin, geriet ins Lesen und vertiefte sich. Was
5628
sie las, waren meistens einfache und ihr vertraute Dinge; aber jeder der
5629
Schreibenden hatte von seinem Vorgänger eine ohne Übertreibung
5630
feierliche Vortragsweise übernommen, einen instinktiv und ungewollt
5631
angedeuteten Chronikenstil, aus dem der diskrete und darum desto
5632
würdevollere Respekt einer Familie vor sich selbst, vor Überlieferung
5633
und Historie sprach. Für Tony war das nichts Neues; sie hatte sich
5634
manchesmal mit diesen Blättern beschäftigen dürfen. Aber noch niemals
5635
hatte ihr Inhalt einen Eindruck auf sie gemacht, wie diesen Morgen. Die
5636
ehrerbietige Bedeutsamkeit, mit der hier auch die bescheidensten
5637
Tatsachen behandelt waren, die der Familiengeschichte angehörten, stieg
5638
ihr zu Kopf ... Sie stützte die Ellenbogen auf und las mit wachsender
5639
Hingebung, mit Stolz und Ernst.
5641
Auch in ihrer eigenen kleinen Vergangenheit fehlte kein Punkt. Ihre
5642
Geburt, ihre Kinderkrankheiten, ihr erster Schulgang, ihr Eintritt in
5643
Mlle. Weichbrodts Pensionat, ihre Konfirmation ... Alles war in der
5644
kleinen, fließenden Kaufmannsschrift des Konsuls sorgfältig und mit
5645
einer fast religiösen Achtung vor Tatsachen überhaupt verzeichnet: Denn
5646
war nicht der geringsten eine Gottes Wille und Werk, der die Geschicke
5647
der Familie wunderbar gelenkt?... Was würde hier hinter ihrem Namen, den
5648
sie von ihrer Großmutter Antoinette empfangen hatte, in Zukunft noch zu
5649
berichten sein? Und alles würde von späteren Familiengliedern mit der
5650
nämlichen Pietät gelesen werden, mit der jetzt sie die früheren
5651
Begebnisse verfolgte.
5653
Sie lehnte sich aufatmend zurück, und ihr Herz pochte feierlich.
5654
Ehrfurcht vor sich selbst erfüllte sie, und das Gefühl persönlicher
5655
Wichtigkeit, das ihr vertraut war, durchrieselte sie, verstärkt durch
5656
den Geist, den sie soeben hatte auf sich wirken lassen, wie ein
5657
Schauer. »Wie ein Glied in einer Kette«, hatte Papa geschrieben ... ja,
5658
ja! Gerade als Glied dieser Kette war sie von hoher und
5659
verantwortungsvoller Bedeutung, -- berufen, mit Tat und Entschluß an der
5660
Geschichte ihrer Familie mitzuarbeiten!
5662
Sie blätterte zurück bis ans Ende des großen Heftes, wo auf einem rauhen
5663
Foliobogen die ganze Genealogie der Buddenbrooks mit Klammern und
5664
Rubriken in übersichtlichen Daten von des Konsuls Hand resümiert worden
5665
war: Von der Eheschließung des frühesten Stammhalters mit der
5666
Predigerstochter Brigitta Schuren bis zu der Heirat des Konsuls Johann
5667
Buddenbrook mit Elisabeth Kröger im Jahre 1825. Aus dieser Ehe, so hieß
5668
es, entsprossen vier Kinder ... worauf mit den Geburtsjahren und -tagen
5669
die Taufnamen untereinander aufgeführt waren; hinter demjenigen des
5670
älteren Sohnes aber war bereits verzeichnet, daß er Ostern 1842 in das
5671
väterliche Geschäft als Lehrling eingetreten sei.
5673
Tony blickte lange Zeit auf ihren Namen und auf den freien Raum
5674
dahinter. Und dann, plötzlich, mit einem Ruck, mit einem nervösen und
5675
eifrigen Mienenspiel -- sie schluckte hinunter, und ihre Lippen bewegten
5676
sich einen Augenblick ganz schnell aneinander -- ergriff sie die Feder,
5677
tauchte sie nicht, sondern stieß sie in das Tintenfaß und schrieb mit
5678
gekrümmtem Zeigefinger und tief auf die Schulter geneigtem, hitzigem
5679
Kopf, in ihrer ungelenken und schräg von links nach rechts
5680
emporfliegenden Schrift: »... Verlobte sich am 22. September 1845 mit
5681
Herrn Bendix Grünlich, Kaufmann zu Hamburg.«
5686
»Ich bin vollkommen Ihrer Meinung, mein werter Freund. Diese Frage ist
5687
von Wichtigkeit und muß erledigt werden. Kurz und gut: Die traditionelle
5688
Barmitgift für ein junges Mädchen aus unserer Familie beträgt 70000
5691
Herr Grünlich warf seinem zukünftigen Schwiegervater den kurzen und
5692
prüfenden Seitenblick eines Geschäftsmannes zu.
5694
»In der Tat ...«, sagte er, und dieses In der Tat war genau so lang wie
5695
sein linker goldgelber Backenbart, den er bedächtig durch die Finger
5696
gleiten ließ ... Er ließ die Spitze los, als das In der Tat vollendet
5699
»Sie kennen«, fuhr er fort, »verehrter Vater, die tiefe Hochachtung, die
5700
ich ehrwürdigen Überlieferungen und Prinzipien entgegenbringe! Allein
5701
... sollte im gegenwärtigen Falle diese schöne Rücksicht nicht eine
5702
Übertreibung bedeuten?... Ein Geschäft vergrößert sich ... eine Familie
5703
blüht empor ... kurzum die Bedingungen werden andere und bessere ...«
5705
»Mein werter Freund«, sprach der Konsul ... »Sie sehen in mir einen
5706
Geschäftsmann von Kulanz! Mein Gott ... Sie haben mich nicht einmal
5707
ausreden lassen, sonst wüßten Sie bereits, daß ich willig und bereit
5708
bin, Ihnen den Umständen entsprechend entgegenzukommen, und daß ich den
5709
70000 schlankerhand 10000 hinzufüge.«
5711
»80000 also ...«, sagte Herr Grünlich; und dann machte er eine
5712
Mundbewegung, als wollte er sagen: Nicht zu viel; aber es genügt.
5714
Man einigte sich in der liebenswürdigsten Weise, und der Konsul
5715
klapperte, als er sich erhob, zufrieden mit dem großen Schlüsselbund in
5716
seiner Beinkleidtasche. Erst mit den 80000 hatte er die »traditionelle
5717
Höhe der Barmitgift« erreicht. --
5719
Hierauf empfahl sich Herr Grünlich und reiste nach Hamburg ab. Tony
5720
verspürte wenig von ihrer neuen Lebenslage. Niemand hinderte sie, bei
5721
Möllendorpfs, Langhals', Kistenmakers und im eignen Hause zu tanzen, auf
5722
dem Burgfelde und den Travenwiesen Schlittschuh zu laufen und die
5723
Huldigungen der jungen Herren entgegenzunehmen ... Mitte Oktober hatte
5724
sie Gelegenheit, der Verlobungsgesellschaft beizuwohnen, die man bei
5725
Möllendorpfs zu Ehren des ältesten Sohnes und Julchen Hagenströms
5726
veranstaltete. »Tom!« sagte sie. »Ich gehe nicht hin. Es ist empörend!«
5727
Aber sie ging dennoch hin und unterhielt sich aufs beste.
5729
Im übrigen hatte sie sich mit den Federstrichen, die sie der
5730
Familiengeschichte hinzugefügt, die Erlaubnis erworben, mit der Konsulin
5731
oder allein in allen Läden der Stadt Kommissionen größeren Stiles zu
5732
machen und für ihre Aussteuer, eine =vornehme= Aussteuer, Sorge zu
5733
tragen. Tagelang saßen im Frühstückszimmer am Fenster zwei Nähterinnen,
5734
welche säumten, Monogramme stickten und eine Menge Landbrot mit grünem
5737
»Ist das Leinenzeug von Lentföhr gekommen, Mama?«
5739
»Nein, mein Kind, aber hier sind zwei Dutzend Teeservietten.«
5741
»Schön. -- Und er hatte versprochen, es bis heute nachmittag zu
5742
schicken. Mein Gott, die Laken müssen gesäumt werden!«
5744
»Mamsell Bitterlich fragt nach den Spitzen für die Kissenbühren, Ida.«
5746
»Im Leinenschrank auf der Diele rechts, Tonychen, mein Kindchen.«
5750
»Könntest auch gern mal selbst springen, mein Herzchen ...«
5752
»O Gott, wenn ich darum heirate, um selber die Treppen zu laufen ...«
5754
»Hast du an die Trauungstoilette gedacht, Tony?«
5756
»_Moirée antique_, Mama!... Ich lasse mich nicht trauen ohne _moirée
5759
So verging der Oktober, der November. Zur Weihnachtszeit erschien Herr
5760
Grünlich, um den heiligen Abend im Kreise der Buddenbrookschen Familie
5761
zu verleben, und auch die Einladung zur Feier bei den alten Krögers
5762
schlug er nicht aus. Sein Benehmen gegenüber seiner Braut war erfüllt
5763
von dem Zartgefühl, das man von ihm zu gewärtigen berechtigt war. Keine
5764
unnötige Feierlichkeit! Keine gesellschaftliche Behinderung! Keine
5765
taktlosen Zärtlichkeiten! Ein hingehaucht diskreter Kuß auf die Stirn in
5766
Gegenwart der Eltern hatte das Verlöbnis besiegelt ... Zuweilen
5767
verwunderte Tony sich ein wenig, daß sein Glück jetzt der Verzweiflung,
5768
die er bei ihren Weigerungen an den Tag gelegt hatte, kaum zu
5769
entsprechen schien. Er betrachtete sie lediglich mit einer heiteren
5770
Besitzermiene ... Hie und da freilich, wenn er zufällig mit ihr allein
5771
geblieben war, konnte eine scherzhafte, eine neckische Stimmung ihn
5772
überkommen, konnte er den Versuch machen, sie auf seine Knie zu ziehen,
5773
um seine Favoris ihrem Gesichte zu nähern, und sie mit vor Heiterkeit
5774
zitternder Stimme zu fragen: »Habe ich dich doch erwischt? Habe ich dich
5775
doch noch ergattert?...« Worauf Tony antwortete: »O Gott, Sie vergessen
5776
sich!« und sich mit Geschicklichkeit befreite.
5778
Herr Grünlich kehrte bald nach dem Weihnachtsfeste nach Hamburg zurück,
5779
denn sein reges Geschäft forderte unerbittlich seine persönliche
5780
Gegenwart, und Buddenbrooks stimmten mit ihm stillschweigend darin
5781
überein, daß Tony vor der Verlobung Zeit genug gehabt habe, seine
5782
Bekanntschaft zu machen.
5784
Die Wohnungsfrage ward brieflich geordnet. Tony, die sich ganz
5785
außerordentlich auf das Leben in einer Großstadt freute, gab dem Wunsche
5786
Ausdruck, sich im Innern Hamburgs niederzulassen, wo ja auch -- und zwar
5787
in der Spitalerstraße -- sich Herrn Grünlichs Kontore befanden. Allein
5788
der Bräutigam erlangte mit männlicher Beharrlichkeit die Ermächtigung
5789
zum Ankaufe einer Villa vor der Stadt, bei Eimsbüttel ... in
5790
romantischer und weltentrückter Lage, als idyllisches Nestchen so recht
5791
geeignet für ein junges Ehepaar -- »_procul negotiis_« -- nein, er hatte
5792
sein Latein gleichfalls noch nicht völlig vergessen!
5794
Es verging der Dezember, und zu Beginn des Jahres sechsundvierzig ward
5795
Hochzeit gemacht. Es gab einen prächtigen Polterabend, bei dem die halbe
5796
Stadt anwesend war. Tonys Freundinnen -- darunter auch Armgard von
5797
Schilling, die in einer turmhohen Kutsche zur Stadt gekommen war --
5798
tanzten mit Toms und Christians Freunden --, darunter auch Andreas
5799
Gieseke, Sohn des Branddirektors und _studiosus iuris_, sowie Stephan
5800
und Eduard Kistenmaker, von »Kistenmaker & Sohn« --, im Eßsaale und auf
5801
dem Korridor, der zu diesem Behufe mit Talkum bestreut worden war ...
5802
Für das Poltern sorgte in erster Linie Konsul Peter Döhlmann, der auf
5803
den Steinfliesen der großen Diele alle irdenen Töpfe zerschlug, deren er
5804
habhaft werden konnte.
5806
Frau Stuht aus der Glockengießerstraße hatte wieder einmal Gelegenheit,
5807
in den ersten Kreisen zu verkehren, indem sie Mamsell Jungmann und die
5808
Schneiderin am Hochzeitstage bei Tonys Toilette unterstützte. Sie hatte,
5809
strafe sie Gott, niemals eine schönere Braut gesehen, lag, so dick sie
5810
war, auf den Knien und befestigte mit bewundernd erhobenen Augen die
5811
kleinen Myrtenzweiglein auf der weißen _moirée antique_ ... Dies geschah
5812
im Frühstückszimmer. Herr Grünlich wartete in langschößigem Frack und
5813
seidener Weste vor der Tür. Sein rosiges Gesicht zeigte einen ernsten
5814
und korrekten Ausdruck; auf der Warze an seinem linken Nasenflügel
5815
bemerkte man ein wenig Puder, und seine goldgelben Favoris waren mit
5818
Droben in der Säulenhalle, denn dort sollte die Trauung stattfinden,
5819
hatte sich die Familie versammelt -- eine stattliche Gesellschaft! Da
5820
saßen die alten Krögers, ein wenig kümmerlich beide schon, aber wie
5821
stets die distinguiertesten Erscheinungen. Da waren Konsul Krögers mit
5822
ihren Söhnen Jürgen und Jakob, welch letzterer, wie die Verwandten
5823
Duchamps, von Hamburg gekommen war. Da war Gotthold Buddenbrook und
5824
seine Frau, die geborene Stüwing, mit Friederike, Henriette und Pfiffi,
5825
die sich leider alle drei wohl nicht mehr verheiraten würden ... Da war
5826
die mecklenburgische Nebenlinie durch Klothildens Vater, Herrn Bernhardt
5827
Buddenbrook vertreten, der von »Ungnade« hereingekommen war und mit
5828
großen Augen das unerhört herrschaftliche Haus seines reichen Verwandten
5829
betrachtete. Die in Frankfurt hatten nur Geschenke geschickt, denn die
5830
Reise war doch zu umständlich ... An ihrer Stelle aber waren, als
5831
einzige, die nicht der Familie zugehörten, Doktor Grabow, der Hausarzt,
5832
und Mamsell Weichbrodt, Tonys mütterliche Freundin, zugegen -- Sesemi
5833
Weichbrodt mit ganz neuen grünen Haubenbändern über den Seitenlocken und
5834
einem schwarzen Kleidchen. »Sei glöcklich, du =gutes= Kind!« sagte sie,
5835
als Tony an Herrn Grünlichs Seite in der Säulenhalle erschien, reckte
5836
sich empor und küßte sie mit leise knallendem Geräusch auf die Stirn. --
5837
Die Familie war zufrieden mit der Braut; Tony sah hübsch, unbefangen und
5838
heiter aus, wenn auch ein wenig blaß vor Neugier und Reisefieber.
5840
Die Halle war mit Blumen geschmückt und ein Altar an ihrer rechten Seite
5841
errichtet worden. Pastor Kölling von St. Marien hielt die Trauung, wobei
5842
er mit starken Worten im besonderen zur =Mäßigkeit= ermahnte. Alles
5843
verlief nach Ordnung und Brauch. Tony brachte ein naives und gutmütiges
5844
»Ja« heraus, während Herr Grünlich zuvor »Hä-ä-hm!« sagte, um seine
5845
Kehle zu reinigen. Dann ward ganz außerordentlich gut und viel
5848
... Während droben im Saale die Gäste, mit dem Pastor in ihrer Mitte, zu
5849
speisen fortfuhren, geleiteten der Konsul und seine Gattin das junge
5850
Paar, das sich reisefertig gemacht hatte, in die weißnebelige Schneeluft
5851
hinaus. Der große Reisewagen hielt, mit Koffern und Taschen bepackt, vor
5854
Nachdem Tony mehrere Male die Überzeugung ausgesprochen hatte, daß sie
5855
sehr bald zu Besuch nach Hause kommen und daß auch der Besuch der Eltern
5856
in Hamburg nicht lange auf sich warten lassen werde, stieg sie guten
5857
Mutes in die Kutsche und ließ sich von der Konsulin sorgfältig in die
5858
warme Pelzdecke hüllen. Auch ihr Gatte nahm Platz.
5860
»Und ... Grünlich«, sagte der Konsul, »die neuen Spitzen liegen in der
5861
kleineren Handtasche zu oberst. Sie nehmen sie vor Hamburg ein bißchen
5862
unter den Paletot, wie? Diese Akzise ... man muß das nach Möglichkeit
5863
umgehen. Leben Sie wohl! Leb' wohl, noch einmal, meine liebe Tony! Gott
5866
»Sie werden doch in Arensburg gute Unterkunft finden?« fragte die
5869
»Bestellt, teuerste Mama, alles bestellt!« antwortete Herr Grünlich.
5871
Anton, Line, Trine, Sophie verabschiedeten sich von »Ma'm Grünlich« ...
5873
Man war im Begriffe, den Schlag zu schließen, als Tony von einer
5874
plötzlichen Bewegung überkommen ward. Trotz der Umstände, die es
5875
verursachte, wickelte sie sich noch einmal aus der Reisedecke heraus,
5876
stieg rücksichtslos über Herrn Grünlichs Knie hinweg, der zu murren
5877
begann, und umarmte mit Leidenschaft ihren Vater.
5879
»Adieu, Papa ... Mein guter Papa!« Und dann flüsterte sie ganz leise:
5880
»Bist du zufrieden mit mir?«
5882
Der Konsul preßte sie einen Augenblick wortlos an sich; dann schob er
5883
sie ein wenig von sich und schüttelte mit innigem Nachdruck ihre beiden
5886
Hierauf war alles bereit. Der Schlag knallte, der Kutscher schnalzte,
5887
die Pferde zogen an, daß die Scheiben klirrten, und die Konsulin ließ
5888
ihr Batisttüchlein im Winde spielen, bis der Wagen, der rasselnd die
5889
Straße hinunterfuhr, im Schneenebel zu verschwinden begann.
5891
Der Konsul stand gedankenvoll neben seiner Gattin, die ihre Pelzpelerine
5892
mit graziöser Bewegung fester um die Schultern zog.
5894
»Da fährt sie hin, Bethsy.«
5896
»Ja, Jean, das Erste, das davongeht. -- Glaubst du, daß sie glücklich
5899
»Ach, Bethsy, sie ist zufrieden mit sich selbst; das ist das solideste
5900
Glück, das wir auf Erden erlangen können.«
5902
Sie kehrten zu ihren Gästen zurück.
5907
Thomas Buddenbrook ging die Mengstraße hinunter bis zum »Fünfhausen«. Er
5908
vermied es, oben herum durch die Breitestraße zu gehen, um nicht der
5909
vielen Bekannten wegen den Hut beständig in der Hand tragen zu müssen.
5910
Beide Hände in den weiten Taschen seines warmen, dunkelgrauen
5911
Kragenmantels schritt er ziemlich in sich gekehrt über den
5912
hartgefrorenen, kristallisch aufblitzenden Schnee, der unter seinen
5913
Stiefeln knarrte. Er ging seinen eigenen Weg, von dem niemand wußte ...
5914
Der Himmel leuchtete hell, blau und kalt; es war eine frische, herbe,
5915
würzige Luft, ein windstilles, hartes, klares und reinliches Wetter von
5916
fünf Grad Frost, ein Februartag sondergleichen.
5918
Thomas schritt den »Fünfhausen« hinunter, er durchquerte die Bäckergrube
5919
und gelangte durch eine schmale Querstraße in die Fischergrube. Diese
5920
Straße, die in gleicher Richtung mit der Mengstraße steil zur Trave hin
5921
abfiel, verfolgte er ein paar Schritte weit abwärts, bis er vor einem
5922
kleinen Hause stand, einem ganz bescheidenen Blumenladen mit schmaler
5923
Tür und dürftigem Schaufensterchen, in dem ein paar Töpfe mit
5924
Zwiebelgewächsen nebeneinander auf einer grünen Glasscheibe standen.
5926
Er trat ein, wobei die Blechglocke oben an der Tür zu kleffen begann wie
5927
ein wachsames Hündchen. Drinnen vorm Ladentisch stand im Gespräch mit
5928
der jungen Verkäuferin eine kleine, dicke, ältliche Dame in türkischem
5929
Umhang. Sie wählte unter einigen Blumentöpfen, prüfte, roch, mäkelte und
5930
schwatzte, daß sie beständig genötigt war, sich mit dem Schnupftuch den
5931
Mund zu wischen. Thomas Buddenbrook grüßte sie höflich und trat zur
5932
Seite ... Sie war eine unbegüterte Verwandte der Langhals', eine
5933
gutmütige und schwatzhafte alte Jungfer, die den Namen einer Familie aus
5934
der ersten Gesellschaft trug, ohne dieser Gesellschaft doch zuzugehören,
5935
die nicht zu großen Diners und Bällen, sondern nur zu kleinen
5936
Kaffeezirkeln gebeten ward und mit wenigen Ausnahmen von aller Welt
5937
»Tante Lottchen« genannt wurde. Einen in Seidenpapier gewickelten
5938
Blumentopf unter dem Arme, wandte sie sich zur Tür, und Thomas sagte,
5939
nachdem er aufs neue gegrüßt hatte, mit lauter Stimme zum Ladenmädchen:
5940
»Geben Sie mir ... ein paar Rosen, bitte ... Ja, gleichgültig. _La
5943
Dann als Tante Lottchen die Tür hinter sich geschlossen hatte und
5944
verschwunden war, sagte er leiser: »So, leg' nur wieder weg, Anna ...
5945
Guten Tag, kleine Anna! Ja, heute bin ich recht schweren Herzens
5948
Anna trug eine weiße Schürze über ihrem schwarzen, schlichten Kleide.
5949
Sie war wunderbar hübsch. Sie war zart wie eine Gazelle und besaß einen
5950
beinahe malaiischen Gesichtstypus: ein wenig hervorstehende
5951
Wangenknochen, schmale, schwarze Augen voll eines weichen Schimmers und
5952
einen mattgelblichen Teint, wie er weit und breit nicht ähnlich zu
5953
finden war. Ihre Hände, von derselben Farbe, waren schmal und für ein
5954
Ladenmädchen von außerordentlicher Schönheit.
5956
Sie ging hinter dem Verkaufstisch an das rechte Ende des kleinen Ladens,
5957
wo man durchs Schaufenster nicht gesehen werden konnte. Thomas folgte
5958
ihr diesseits des Tisches, beugte sich hinüber und küßte sie auf die
5959
Lippen und die Augen.
5961
»Du bist ganz verfroren, du Ärmster!« sagte sie.
5963
»Fünf Grad!« sagte Tom ... »Ich habe nichts gemerkt, ich ging ziemlich
5966
Er setzte sich auf den Ladentisch, behielt ihre Hand in der seinen und
5967
fuhr fort: »Ja, hörst du, Anna?... heute müssen wir nun vernünftig sein.
5970
»Ach Gott ...!« sagte sie kläglich und erhob voll Furcht und Kummer ihre
5973
»Einmal mußte es doch herankommen, Anna ... So! nicht weinen! Wir
5974
wollten doch vernünftig sein, wie? -- Was ist da zu tun? Dergleichen muß
5975
durchgemacht werden.«
5977
»Wann ...?« fragte Anna schluchzend.
5981
»Ach Gott ... warum übermorgen? Eine Woche noch ... Bitte!... Fünf
5984
»Das geht nicht, liebe kleine Anna. Alles ist bestimmt und in Ordnung
5985
... Sie erwarten mich in Amsterdam ... Ich könnte auch nicht einen Tag
5986
zulegen, wenn ich es noch so gerne wollte!«
5988
»Und das ist so fürchterlich weit fort ...!«
5990
»Amsterdam? Pah! gar nicht! Und =denken= kann man doch immer aneinander,
5991
wie? Und ich schreibe! Paß auf, ich schreibe, sowie ich dort bin ...«
5993
»Weißt du noch ...«, sagte sie, »vor einundeinhalb Jahren? Beim
5996
Er unterbrach sie entzückt ...
5998
»Gott, ja, einundeinhalb Jahre!... Ich hielt dich für eine Italienerin
5999
... Ich kaufte eine Nelke und steckte sie ins Knopfloch ... Ich habe sie
6000
noch ... Ich nehme sie mit nach Amsterdam ... Was für ein Staub und eine
6001
Hitze war auf der Wiese!...«
6003
»Ja, du holtest mir ein Glas Limonade aus der Bude nebenan ... Ich
6004
erinnere das wie heute! Alles roch nach Schmalzgebäck und Menschen ...«
6006
»Aber schön war es doch! Sahen wir uns nicht gleich an den Augen an, was
6007
für eine Bewandtnis es mit uns hatte?«
6009
»Und du wolltest mit mir Karussell fahren ... aber das ging nicht; ich
6010
mußte doch verkaufen! Die Frau hätte gescholten ...«
6012
»Nein, es ging nicht, Anna, das sehe ich vollkommen ein.«
6014
Sie sagte leise: »Und es ist auch das Einzige geblieben, was ich dir
6017
Er küßte sie aufs neue, auf die Lippen und die Augen.
6019
»Adieu, meine liebe, gute, kleine Anna!... Ja, man muß anfangen, Adieu
6022
»Ach, du kommst doch morgen noch einmal wieder?«
6024
»Ja, sicher, um diese Zeit. Und auch übermorgen früh noch, wenn ich mich
6025
irgend losmachen kann ... Aber jetzt will ich dir eines sagen, Anna ...
6026
Ich gehe nun ziemlich weit fort, ja, es ist immerhin recht weit,
6027
Amsterdam ... und du bleibst hier zurück. Aber wirf dich nicht weg,
6028
hörst du, Anna?... Denn bis jetzt hast du dich =nicht= weggeworfen, das
6031
Sie weinte in ihre Schürze, die sie mit ihrer freien Hand vors Gesicht
6034
»Und du?... Und du?...«
6036
»Das weiß Gott, Anna, wie die Dinge gehen werden! Man bleibt nicht immer
6037
jung ... du bist ein kluges Mädchen, du hast niemals etwas von heiraten
6038
gesagt und dergleichen ...«
6040
»Nein, behüte!... daß ich das von dir verlange ...«
6042
»Man wird getragen, siehst du ... Wenn ich am Leben bin, werde ich das
6043
Geschäft übernehmen, werde eine Partie machen ... ja, ich bin offen
6044
gegen dich, beim Abschied ... Und auch du ... das wird so gehen ... Ich
6045
wünsche dir alles Glück, meine liebe, gute, kleine Anna! Aber wirf dich
6046
nicht weg, hörst du?... Denn bis jetzt hast du dich =nicht= weggeworfen,
6047
das sage ich dir ...!«
6049
Hier drinnen war es warm. Ein feuchter Duft von Erde und Blumen lag in
6050
dem kleinen Laden. Draußen schickte schon die Wintersonne sich an,
6051
unterzugehen. Ein zartes, reines und wie auf Porzellan gemalt blasses
6052
Abendrot schmückte jenseits des Flusses den Himmel. Das Kinn in die
6053
aufgeschlagenen Kragen ihrer Überzieher versteckt, eilten die Leute am
6054
Schaufenster vorüber und sahen nichts von den beiden, die in dem Winkel
6055
des kleinen Blumenladens voneinander Abschied nahmen.
6069
tausend Dank für Deinen Brief, in welchem Du mir Armgard von Schillings
6070
Verlobung mit Herrn von Maiboom auf Pöppenrade mitteiltest. Armgard
6071
selbst hat mir ebenfalls eine Anzeige geschickt (sehr vornehm, Goldrand)
6072
und dazu einen Brief geschrieben, in dem sie sich äußerst entzückt über
6073
den Bräutigam ausläßt. Es soll ein bildschöner Mann sein und von
6074
vornehmem Wesen. Wie glücklich sie sein muß! Alles heiratet; auch aus
6075
München habe ich eine Anzeige von Eva Ewers. Sie bekömmt einen
6078
Aber nun muß ich Dich eines fragen, liebe Mama: warum nämlich noch immer
6079
nichts über einen Besuch von Konsul Buddenbrooks hierselbst verlautet!
6080
Wartet Ihr vielleicht auf eine offizielle Einladung Grünlichs? Das wäre
6081
nicht nötig, denn er denkt, glaube ich, gar nicht daran, und wenn ich
6082
ihn erinnere, so sagt er: Ja, ja, Kind, Dein Vater hat anderes zu tun.
6083
Oder glaubt Ihr vielleicht, Ihr stört mich? Ach nein, nicht im
6084
allergeringsten! Oder glaubt Ihr vielleicht, Ihr macht mir nur wieder
6085
Heimweh? Du lieber Gott, ich bin doch eine verständige Frau, ich stehe
6086
mitten im Leben und bin gereift.
6088
Soeben war ich zum Kaffee bei Madame Käselau, in der Nähe; es sind
6089
angenehme Leute, und auch unsere Nachbarn linkerhand, namens Gußmann
6090
(aber die Häuser liegen ziemlich weit voneinander), sind umgängliche
6091
Menschen. Wir haben ein paar gute Hausfreunde, die beide ebenfalls hier
6092
draußen wohnen: den Doktor Klaaßen (von welchem ich Dir nachher noch
6093
werde erzählen müssen) und den Bankier Kesselmeyer, Grünlichs intimen
6094
Freund. Du glaubst nicht, was für ein komischer alter Herr das ist! Er
6095
hat einen weißen, geschorenen Backenbart und schwarz-weiße dünne Haare
6096
auf dem Kopf, die aussehen wie Flaumfedern und in jedem Luftzuge
6097
flattern. Da er auch so drollige Kopfbewegungen hat wie ein Vogel und
6098
ziemlich geschwätzig ist, nenne ich ihn immer »die Elster«; aber
6099
Grünlich verbietet mir dies, denn er sagt, die Elster stehle, Herr
6100
Kesselmeyer aber sei ein Ehrenmann. Beim Gehen bückt er sich und rudert
6101
mit den Armen. Seine Flaumfedern reichen nur bis zur Hälfte des
6102
Hinterkopfes, und von da an ist sein Nacken ganz rot und rissig. Er hat
6103
etwas so äußerst Fröhliches an sich! Manchmal klopft er mir auf die
6104
Wange und sagt: Sie gute kleine Frau, welch Gottessegen für Grünlich,
6105
daß er Sie bekommen hat! Dann sucht er einen Zwicker hervor (er hat
6106
stets drei davon bei sich, an langen Schnüren, die sich beständig auf
6107
seiner weißen Weste verwickeln), schlägt ihn sich auf die Nase, die er
6108
ganz kraus dabei macht, und sieht mich mit offenem Munde so vergnüglich
6109
an, daß ich ihm laut ins Gesicht lache. Aber das nimmt er gar nicht
6112
Grünlich selbst ist viel beschäftigt, fährt morgens mit unserem kleinen
6113
gelben Wagen zur Stadt und kommt oft erst spät nach Hause. Manchmal
6114
sitzt er bei mir und liest die Zeitung.
6116
Wenn wir in Gesellschaft fahren, zum Beispiel zu Kesselmeyer oder Konsul
6117
Goudstikker am Alsterdamm oder Senator Bock in der Rathausstraße, so
6118
müssen wir eine Mietkutsche nehmen. Ich habe Grünlich schon oft um
6119
Anschaffung eines Coupés gebeten, denn das ist nötig hier draußen. Er
6120
hat es mir auch halb und halb versprochen, aber er begibt sich
6121
merkwürdigerweise überhaupt nicht gern mit mir in Gesellschaft und sieht
6122
es augenscheinlich nicht gern, wenn ich mich mit den Leuten in der Stadt
6123
unterhalte. Sollte er eifersüchtig sein?
6125
Unsere Villa, die ich Dir schon eingehend beschrieb, liebe Mama, ist
6126
wirklich sehr hübsch und hat sich durch neuerliche Möbelanschaffungen
6127
noch verschönert. Gegen den Salon im Hochparterre hättest Du nichts
6128
einzuwenden: ganz in brauner Seide. Das Eßzimmer nebenan ist sehr hübsch
6129
getäfelt; die Stühle haben 25 Kurant-Mark das Stück gekostet. Ich sitze
6130
im Penseezimmer, das als Wohnstube dient. Dann ist da noch ein Rauch-
6131
und Spielkabinett. Der Saal, der jenseits des Korridors die andere
6132
Hälfte des Parterres einnimmt, hat jetzt noch gelbe Stores bekommen und
6133
nimmt sich vornehm aus. Oben sind Schlaf-, Bade-, Ankleide- und
6134
Dienerschaftszimmer. Für den gelben Wagen haben wir einen kleinen Groom.
6135
Mit den beiden Mädchen bin ich ziemlich zufrieden. Ich weiß nicht, ob
6136
sie ganz ehrlich sind; aber Gott sei Dank brauche ich ja nicht auf jeden
6137
Dreier zu sehen! Kurz, es ist alles, wie es unserem Namen zukommt.
6139
Nun aber kommt etwas, liebe Mama, das Wichtigste, welches ich mir bis
6140
zum Schlusse aufgehoben. Vor einiger Zeit nämlich fühlte ich mich ein
6141
bißchen sonderbar, weißt Du, nicht ganz gesund und doch wieder noch
6142
anders; bei Gelegenheit sagte ich es dem Doktor Klaaßen. Das ist ein
6143
ganz kleiner Mensch mit einem großen Kopf und einem noch größeren
6144
geschweiften Hut darauf. Immer drückt er sein spanisches Rohr, das als
6145
Griff eine runde Knochenplatte hat, an seinen langen Kinnbart, der
6146
beinahe hellgrün ist, weil er ihn lange Jahre schwarz gefärbt hat. Nun,
6147
Du hättest ihn sehen sollen! Er antwortete gar nicht, rückte an seiner
6148
Brille, zwinkerte mit seinen roten Äuglein, nickte mir mit seiner
6149
Kartoffelnase zu, kicherte und musterte mich so impertinent, daß ich
6150
nicht wußte, wo ich bleiben sollte. Dann untersuchte er mich und sagte,
6151
alles lasse sich aufs prächtigste an, nur müsse ich Mineralwasser
6152
trinken, denn ich sei vielleicht ein =bißchen= bleichsüchtig. -- O Mama,
6153
vertraue es dem guten Papa ganz vorsichtig an, damit er es in die
6154
Familienpapiere schreibt. Sobald als möglich hörst Du Weiteres!
6156
Grüße Papa, Christian, Klara, Thilda und Ida Jungmann innig von mir. An
6157
Thomas, nach Amsterdam, habe ich kürzlich geschrieben.
6159
Deine treugehorsame Tochter
6166
mit Vergnügen habe ich Deine Mitteilungen über Dein Zusammensein mit
6167
Christian in Amsterdam empfangen; es mögen einige fröhliche Tage gewesen
6168
sein. Ich habe über Deines Bruders Weiterreise über Ostende nach England
6169
noch keine Nachrichten, hoffe jedoch zu Gott, daß sie glücklich
6170
vonstatten gegangen sein wird. Möchte es doch, nachdem Christian sich
6171
entschlossen, den wissenschaftlichen Beruf fahren zu lassen, noch nicht
6172
zu spät für ihn sein, bei seinem Prinzipale Mr. Richardson etwas
6173
Tüchtiges zu lernen, und möchte seine merkantile Laufbahn von Erfolg und
6174
Segen begleitet sein! Mr. Richardson (Threedneedle Street) ist, wie Du
6175
weißt, ein naher Geschäftsfreund meines Hauses. Ich schätze mich
6176
glücklich, meine beiden Söhne in Firmen untergebracht zu haben, die mir
6177
freundschaftlichst verbunden sind. Den Segen davon darfst Du jetzt schon
6178
verspüren: Ich empfinde vollkommene Genugtuung, daß Herr van der Kellen
6179
Dein Salair bereits in diesem Vierteljahr erhöht hat und Dir weiterhin
6180
Nebenverdienste einräumen wird; ich bin überzeugt, daß Du durch ein
6181
tüchtig Führen Dich dieses Entgegenkommens würdig gezeigt hast und
6184
Bei alledem schmerzt es mich, daß Deine Gesundheit sich nicht völlig auf
6185
der Höhe befindet. Was Du mir von Nervosität geschrieben, gemahnte mich
6186
an meine eigene Jugend, als ich in Antwerpen arbeitete und von dort nach
6187
Ems gehen mußte, um die Kur zu gebrauchen. Wenn etwas ähnliches sich für
6188
Dich als nötig erweisen sollte, mein Sohn, so bin ich, versteht sich,
6189
bereit, Dir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, wiewohl ich für uns
6190
andere derartige Ausgaben in diesen politisch unruhigen Zeiten scheue.
6192
Immerhin haben Deine Mutter und ich um die Mitte des Junius eine Fahrt
6193
nach Hamburg unternommen, um Deine Schwester Tony zu besuchen. Ihr Gatte
6194
hatte uns nicht aufgefordert, empfing uns jedoch mit großer Herzlichkeit
6195
und widmete sich uns während der zwei Tage, die wir bei ihm verbrachten,
6196
so vollständig, daß er sein Geschäft vernachlässigte und mir kaum Zeit
6197
zu einer Visite in der Stadt bei Duchamps' ließ. Antonie befand sich im
6198
fünften Monat; ihr Arzt versicherte, daß alles in normaler und
6199
erfreulicher Weise verlaufen werde. --
6201
Noch möchte ich eines Briefes des Herrn van der Kellen erwähnen, dem ich
6202
mit Freude entnahm, daß Du auch privatim in seinem Familienkreise ein
6203
gern gesehener Gast bist. Du bist nun, mein Sohn, in dem Alter, wo Du
6204
die Früchte der Erziehung zu ernten beginnst, die Deine Eltern Dir
6205
zuteil werden ließen. Es möge Dir als Ratschlag dienen, daß ich in
6206
Deinem Alter, sowohl in Bergen als in Antwerpen, es mir immer angelegen
6207
sein ließ, mich meinen =Prinzipalinnen= dienstlich und angenehm zu
6208
machen, was mir zum höchsten Vorteil gereicht hat. Abgesehen selbst von
6209
der ehrenden Annehmlichkeit eines näheren Verkehrs mit der
6210
Vorstandsfamilie, schafft man sich in der Prinzipalin eine fördernde
6211
Fürsprecherin, wenn der allerdings möglichst zu vermeidende,
6212
nichtsdestoweniger mögliche Fall eintreten sollte, daß ein Versehen im
6213
Geschäft sich ereignete oder die Zufriedenheit des Prinzipals hie oder
6214
da zu wünschen übrigließe. --
6216
Was Deine geschäftlichen Zukunftspläne angeht, mein Sohn, so erfreuen
6217
sie mich durch das lebhafte Interesse, das sich in ihnen ausspricht,
6218
ohne zwar, daß ich ihnen vollkommen beizustimmen vermöchte. Du gehst von
6219
der Ansicht aus, daß der Absatz derjenigen Produkte, welche die Umgegend
6220
unserer Vaterstadt hervorbringe, als: Getreide, Rappsaat, Häute und
6221
Felle, Wolle, Öl, Ölkuchen, Knochen usw. das natürlichste, nachhaltigste
6222
Geschäft Deiner Vaterstadt sei und denkst Dich neben dem
6223
Kommissionshandel vorzugsweise jener Branche zuzuwenden. Ich habe mich
6224
zu einer Zeit, als die Konkurrenz in diesem Geschäftszweige noch sehr
6225
gering war (während sie jetzt erheblich gewachsen), gleichfalls mit
6226
diesem Gedanken beschäftigt und, soweit Raum und Gelegenheit dazu
6227
vorlagen, auch einige Experimente gemacht. Meine Reise nach England
6228
hatte hauptsächlich den Zweck, auch in diesem Lande Verbindungen für
6229
meine Unternehmungen nachzusuchen. Ich ging zu diesem Ende bis
6230
Schottland hinauf und machte manche nutzbringende Bekanntschaften,
6231
erkannte aber alsbald auch den gefährlichen Charakter, welchen die
6232
Exportgeschäfte dorthin an sich trugen, weshalb eine weitere
6233
Kultivierung derselben in der Folge auch unterblieb, zumal ich immer des
6234
Mahnwortes eingedenk gewesen bin, welches unser Vorfahr, der Gründer der
6235
Firma, uns hinterlassen: »Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am
6236
Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können!«
6238
Diesen Grundsatz gedenke ich heilig zu halten bis an mein Lebensende,
6239
obgleich man ja hie und da in Zweifel geraten kann angesichts von
6240
Leuten, die ohne solche Prinzipien scheinbar besser fahren. Ich denke an
6241
Strunck & Hagenström, die eminent im Wachsen begriffen sind, während
6242
unsere Angelegenheiten einen allzu ruhigen Gang gehen. Du weißt, daß das
6243
Haus nach der Verkleinerung infolge des Todes Deines Großvaters nicht
6244
mehr gewachsen ist, und ich bete zu Gott, daß ich Dir die Geschäfte
6245
wenigstens in dem jetzigen Zustande werde hinterlassen können. An dem
6246
Prokuristen Herrn Marcus habe ich ja einen erfahrenen und bedächtigen
6247
Helfer. Wenn nur die Familie Deiner Mutter ihre Groschen ein wenig
6248
besser beieinander halten wollte; die Erbschaft wird für uns von so
6249
großer Wichtigkeit sein!
6251
Ich bin mit geschäftlichen und städtischen Arbeiten außerordentlich
6252
überhäuft. Ich bin Ältermann des Bergenfahrer-Kollegiums, und hat man
6253
mich sukzessive zum bürgerlichen Deputierten fürs Finanzdepartement, das
6254
Kommerzkollegium, die Rechnungsrevisionsdeputation und das St.
6255
Annen-Armenhaus gewählt.
6257
Deine Mutter, Klara und Klothilde grüßen Dich herzlich. Auch haben mir
6258
mehrere Herren: die Senatoren Möllendorpf und Doktor Överdieck, Konsul
6259
Kistenmaker, der Makler Gosch, C. F. Köppen sowie im Kontor Herr Marcus
6260
und die Kapitäne Kloot und Klötermann Grüße an Dich aufgetragen. Gottes
6261
Segen mit Dir, mein Sohn! Arbeite, bete und spare!
6266
Den 8. Oktober 1846.
6268
Liebe und hochverehrte Eltern!
6270
Unterfertigter sieht sich in der angenehmen Lage, Sie von der vor einer
6271
halben Stunde erfolgten, glücklichen Niederkunft Ihrer Tochter, meiner
6272
innig geliebten Gattin Antonie zu benachrichtigen. Es ist nach Gottes
6273
Willen ein Mädchen, und finde ich keine Worte, zu sagen, wie freudig
6274
bewegt ich bin. Das Befinden der teuren Wöchnerin sowie des Kindes ist
6275
ein ausgezeichnetes, und zeigte sich Doktor Klaaßen völligst vom
6276
Verlaufe der Sache befriedigt. Auch Frau Großgeorgis, die Hebamme, sagt,
6277
es wäre gar nichts gewesen. -- Die Erregung zwingt mich, die Feder
6278
niederzulegen. Ich empfehle mich den würdigsten Eltern in
6279
hochachtungsvoller Zärtlichkeit.
6283
Wenn es ein Junge wäre, so wüßte ich einen sehr hübschen Namen. Jetzt
6284
möchte ich sie Meta nennen, aber Gr. ist für Erika.
6291
»Was fehlt dir, Bethsy?« sagte der Konsul, als er zu Tische kam und den
6292
Teller erhob, mit dem man seine Suppe bedeckt hatte. »Fühlst du dich
6293
unwohl? Was hast du? Mir scheint du siehst leidend aus?«
6295
Der runde Tisch in dem weitläufigen Speisesaal war sehr klein geworden.
6296
Außer den Eltern saßen alltäglich nur Mamsell Jungmann, die zehnjährige
6297
Klara und die hagere, demütige und still essende Klothilde daran. Der
6298
Konsul blickte umher ... alle Gesichter waren lang und bekümmert. Was
6299
war geschehen? Er selbst war nervös und sorgenvoll, denn die Börse ward
6300
in Unruhe gehalten von dieser verzwickten schleswig-holsteinischen
6301
Angelegenheit ... Und noch eine andere Unruhe lag in der Luft: Später,
6302
als Anton hinausgegangen war, um das Fleischgericht zu holen, erfuhr der
6303
Konsul, was im Hause vorgefallen war. Trina, die Köchin Trina, ein
6304
Mädchen, das bislang nur Treue und Biedersinn an den Tag gelegt hatte,
6305
war plötzlich zu unverhüllter Empörung übergegangen. Zum großen Verdrusse
6306
der Konsulin unterhielt sie seit einiger Zeit eine Freundschaft, eine
6307
Art von geistigem Bündnis mit einem Schlachtergesellen, und dieser ewig
6308
blutige Mensch mußte die Entwicklung ihrer politischen Ansichten in der
6309
nachteiligsten Weise beeinflußt haben. Als die Konsulin ihr wegen einer
6310
mißratenen Chalottensauce einen Verweis hatte zuteil werden lassen,
6311
hatte sie die nackten Arme in die Hüften gestemmt und sich wie folgt
6312
geäußert: »Warten Sie man bloß, Fru Konsulin, dat duert nu nich mehr
6313
lang, denn kommt ne annere Ordnung in de Saak; denn sitt =ick= doar
6314
up'm Sofa in' sieden Kleed, un =Sei= bedeinen mich denn ...«
6315
Selbstverständlich war ihr sofort gekündigt worden.
6317
Der Konsul schüttelte den Kopf. Er selbst hatte in letzter Zeit
6318
allerhand Besorgniserregendes verspüren müssen. Freilich, die älteren
6319
Träger und Speicherarbeiter waren bieder genug, sich nichts in den Kopf
6320
setzen zu lassen; aber unter den jungen Leuten hatte dieser und jener
6321
durch sein Benehmen Zeugnis davon gegeben, daß der neue Geist der
6322
Empörung sich tückisch Einlaß zu verschaffen gewußt hatte ... Im
6323
Frühjahr hatte ein Straßenkrawall stattgefunden, obgleich eine neue
6324
Verfassung, die den Anforderungen der neuen Zeit entsprach, bereits im
6325
Entwurf vorhanden war, welcher ein wenig später, trotz des Widerspruches
6326
Lebrecht Krögers und einiger anderer störrischer alter Herren, durch
6327
Senatsdekret zum Staatsgrundgesetz erhoben wurde. Volksvertreter wurden
6328
gewählt, eine Bürgerschaft trat zusammen. Aber es gab keine Ruhe. Die
6329
Welt war ganz in Unordnung. Jeder wollte die Verfassung und das
6330
Wahlrecht revidieren, und die Bürger zankten sich. »Ständisches
6331
Prinzip!« sagten die einen; auch Johann Buddenbrook, der Konsul, sagte
6332
es. »Allgemeines Wahlrecht!« sagten die anderen; auch Hinrich Hagenström
6333
sagte es. Noch andere schrien: »Allgemeine Ständewahl!« und vielleicht
6334
wußten sie sogar, was darunter zu verstehen war. Dann schwirrten noch
6335
solche Ideen in der Luft umher wie Aufhebung des Unterschiedes zwischen
6336
Bürgern und Einwohnern, Ausdehnung der Möglichkeit, das Bürgerrecht zu
6337
erlangen, auch auf Nichtchristen ... Kein Wunder, daß Buddenbrooks Trina
6338
auf Gedanken verfiel, wie der mit dem Sofa und dem seidenen Kleid! Ach,
6339
es sollte noch ärger kommen. Die Dinge drohten eine fürchterliche
6340
Wendung zu nehmen ...
6342
Es war ein erster Oktobertag des Jahres achtundvierzig, ein blauer
6343
Himmel mit einigen leichten, schwebenden Wolken daran, silberweiß
6344
durchleuchtet von einer Sonne, deren Kraft freilich nicht mehr so groß
6345
war, daß nicht hinter dem hohen, blanken Gitter im Landschaftszimmer
6346
schon der Ofen geknistert hätte.
6348
Die kleine Klara, ein dunkelblondes Kind mit ziemlich strengen Augen,
6349
saß mit einer Strickerei vorm Nähtische am Fenster, während Klothilde,
6350
auf gleiche Weise beschäftigt, den Sofaplatz neben der Konsulin
6351
innehatte. Obgleich Klothilde Buddenbrook nicht viel älter war als ihre
6352
verheiratete Kusine, also erst einundzwanzig Jahre zählte, begann ihr
6353
langes Gesicht bereits scharfe Linien zu zeigen, und ihr
6354
glattgescheiteltes Haar, das niemals blond, sondern von jeher mattgrau
6355
gewesen, trug dazu bei, daß das Bild der alten Jungfer schon fertig war.
6356
Sie war zufrieden damit, sie tat nichts, um dem abzuhelfen. Vielleicht
6357
war es ihr Bedürfnis, schnell alt zu werden, um schnell über alle
6358
Zweifel und Hoffnungen hinauszugelangen. Da sie keinen Silbergroschen
6359
besaß, so wußte sie, daß niemand in der weiten Welt sich finden würde,
6360
sie zu heiraten, und mit Demut sah sie ihrer Zukunft entgegen, die darin
6361
bestand, in irgendeiner kleinen Stube eine kleine Rente zu verzehren,
6362
die ihr mächtiger Onkel ihr aus der Kasse irgendeiner wohltätigen
6363
Anstalt für arme Mädchen aus angesehener Familie verschaffen würde.
6365
Die Konsulin ihrerseits war mit der Lektüre zweier Briefe beschäftigt.
6366
Tony erzählte von dem glücklichen Gedeihen der kleinen Erika, und
6367
Christian berichtete eifrig von dem Londoner Leben und Treiben, ohne
6368
freilich seiner Tätigkeit bei Mr. Richardson eingehend zu erwähnen ...
6369
Die Konsulin, die sich der Mitte der Vierziger näherte, beklagte sich
6370
bitterlich über das Schicksal der blonden Frauen, so rasch zu altern.
6371
Der zarte Teint, der einem rötlichen Haar entspricht, wird in diesen
6372
Jahren trotz aller Erfrischungsmittel matt, und das Haar selbst würde
6373
unerbittlich zu ergrauen beginnen, wenn man nicht Gott sei Dank das
6374
Rezept einer Pariser Tinktur besäße, die das fürs erste verhütete. Die
6375
Konsulin war entschlossen, niemals weiß zu werden. Wenn das Färbemittel
6376
sich nicht mehr als tauglich erwiese, so würde sie eine Perücke von der
6377
Farbe ihres jugendlichen Haares tragen ... Auf der Höhe ihrer noch immer
6378
kunstvollen Coiffure war eine kleine, von weißen Spitzen umgebene
6379
seidene Schleife angebracht: der Beginn, die erste Andeutung einer
6380
Haube. Ihr seidener Kleiderrock umgab sie weit und bauschig; ihre
6381
glockenförmigen Ärmel waren mit steifem Mull unterlegt. Wie stets
6382
klirrten ein paar goldene Reifen leise an ihrem Handgelenk. -- Es war
6383
drei Uhr nachmittags.
6385
Plötzlich wurde Rufen und Schreien, eine Art von übermütigem Johlen,
6386
Pfeifen und das Gestampf vieler Schritte auf der Straße vernehmbar, ein
6387
Lärm, der sich näherte und anwuchs ...
6389
»Mama, was ist das?« sagte Klara, die durchs Fenster und in den »Spion«
6390
blickte. »All die Leute ... Was haben sie? Worüber freuen sie sich so?«
6392
»Mein Gott!« rief die Konsulin, indem sie die Briefe von sich warf,
6393
angstvoll aufsprang und zum Fenster eilte. »Sollte es ... O mein Gott,
6394
ja, die Revolution ... Es ist das Volk ...«
6396
Die Sache war die, daß während des ganzen Tages bereits Unruhen in der
6397
Stadt geherrscht hatten. In der Breiten Straße war am Morgen die
6398
Schaufensterscheibe des Tuchhändlers Benthien vermittels Steinwurfes
6399
zertrümmert worden, wobei Gott allein wußte, was das Fenster des Herrn
6400
Benthien mit der hohen Politik zu schaffen hatte.
6402
»Anton?!« rief die Konsulin mit bebender Stimme in den Eßsaal hinüber,
6403
wo der Bediente mit dem Silberzeug hantierte ... »Anton, geh hinunter!
6404
Schließe die Haustür! Mach' alles zu! Es ist das Volk ...«
6406
»Ja, Frau Konsulin!« sagte Anton. »Kann ich das auch wagen? Ich bin ein
6407
Herrschaftsknecht ... Wenn sie meine Livree zu sehen kriegen ...«
6409
»Die bösen Menschen«, sagte Klothilde traurig und gedehnt, ohne ihrer
6410
Handarbeit Einhalt zu tun. -- In diesem Augenblick kam der Konsul durch
6411
die Säulenhalle und trat durch die Glastür ein. Er trug seinen Paletot
6412
über dem Arm und den Hut in der Hand.
6414
»Du willst ausgehen, Jean?« fragte die Konsulin entsetzt ...
6416
»Ja, Liebe, ich muß in die Bürgerschaft ...«
6418
»Aber das Volk, Jean, die Revolution ...«
6420
»Ach, lieber Gott, das ist nicht so ernst, Bethsy ... Wir stehen in
6421
Gottes Hand. Sie sind schon am Hause vorüber. Ich gehe durch das
6424
»Jean, wenn du mich lieb hast ... Du willst dich dieser Gefahr
6425
aussetzen, willst uns hier allein lassen ... Oh, ich ängstige mich, ich
6428
»Liebste, ich bitte dich, du echauffierst dich auf eine Weise ... die
6429
Leute werden vorm Rathaus oder auf dem Markt ein bißchen spektakeln ...
6430
Vielleicht wird es dem Staat noch ein paar Fensterscheiben kosten, das
6433
»=Wohin= willst du, Jean?«
6435
»In die Bürgerschaft ... Ich komme schon fast zu spät, die Geschäfte
6436
haben mich aufgehalten. Es wäre eine Schande, da heute zu fehlen. Meinst
6437
du, daß dein Vater sich abhalten läßt? So alt er ist ...«
6439
»Ja, dann geh mit Gott, Jean ... Aber sei vorsichtig, ich bitte dich,
6440
nimm dich in acht! Und habe ein Auge auf meinen Vater! Wenn ihm etwas
6443
»Unbesorgt, meine Liebe ...«
6445
»Wann kommst du zurück?« rief die Konsulin ihm nach ...
6447
»Je nun, um halb fünf, um fünf Uhr ... je nachdem. Es steht Wichtiges
6448
auf der Tagesordnung, es kommt darauf an ...«
6450
»Ach, ich ängstige mich, ich ängstige mich!« wiederholte die Konsulin,
6451
indem sie mit ratlosen Seitenblicken sich im Zimmer auf und nieder
6457
Konsul Buddenbrook durchschritt eilig sein weitläufiges Grundstück. Als
6458
er in die Bäckergrube hinaustrat, vernahm er hinter sich Schritte und
6459
erblickte den Makler Gosch, welcher, malerisch in seinen langen Mantel
6460
gehüllt, gleichfalls die schräge Straße hinauf zur Sitzung strebte.
6461
Während er mit der einen seiner langen und mageren Hände den Jesuitenhut
6462
lüftete und mit der anderen eine glatte Gebärde der Demut vollführte,
6463
sprach er mit gepreßter und verbissener Stimme: »Herr Konsul ... ich
6466
Dieser Makler Siegismund Gosch, ein Junggeselle von etwa vierzig Jahren,
6467
war trotz seines Gebarens der ehrlichste und gutmütigste Mensch von der
6468
Welt; nur war er ein Schöngeist, ein origineller Kopf. Sein
6469
glattrasiertes Gesicht zeichnete sich aus durch eine gebogene Nase, ein
6470
spitz hervorspringendes Kinn, scharfe Züge und einen breiten, abwärts
6471
gezogenen Mund, dessen schmale Lippen er in verschlossener und
6472
bösartiger Weise zusammenpreßte. Es war sein Bestreben - und es gelang
6473
ihm nicht übel -- ein wildes, schönes und teuflisches Intrigantenhaupt
6474
zur Schau zu stellen, eine böse, hämische, interessante und
6475
furchtgebietende Charakterfigur zwischen Mephistopheles und Napoleon ...
6476
Sein ergrautes Haar war tief und düster in die Stirn gestrichen. Er
6477
bedauerte aufrichtig, nicht bucklig zu sein. -- Er war eine fremdartige
6478
und liebenswürdige Erscheinung unter den Bewohnern der alten
6479
Handelsstadt. Er gehörte zu ihnen, weil er in aller Bürgerlichkeit ein
6480
kleines, solides und in seiner Bescheidenheit geachtetes
6481
Vermittlungsgeschäft betrieb; in seinem engen, dunklen Kontor aber stand
6482
ein großer Bücherschrank, der mit Dichtwerken in allen Sprachen gefüllt
6483
war, und es ging das Gerücht, daß er seit seinem zwanzigsten Jahre an
6484
einer Übersetzung von Lope de Vegas sämtlichen Dramen arbeite ... Einmal
6485
jedoch hatte er bei einer Liebhaberaufführung von Schillers »Don Carlos«
6486
den Domingo gespielt. Dies war der Höhepunkt seines Lebens. -- Niemals
6487
war ein unedles Wort über seine Lippen gekommen, und selbst in
6488
geschäftlichen Gesprächen brachte er die üblichen Redewendungen nur
6489
zwischen den Zähnen und mit einem Mienenspiele hervor, als wollte er
6490
sagen: »Schurke, ha! Im Grab verfluch' ich deine Ahnen!« Er war, in
6491
mancher Beziehung, der Erbe und Nachfolger des seligen Jean Jacques
6492
Hoffstede; nur daß sein Wesen düsterer und pathetischer war und daß ihm
6493
nichts von der scherzhaften Heiterkeit eignete, die der Freund des
6494
älteren Johann Buddenbrook aus dem vorigen Jahrhundert herübergerettet
6495
hatte. -- Eines Tages verlor er an der Börse mit einem Schlage sechs und
6496
einen halben Kuranttaler an zwei oder drei Papieren, die er
6497
spekulativerweise gekauft hatte. Da riß sein dramatisches Empfinden ihn
6498
mit sich fort, und er gab eine Vorstellung. Er ließ sich auf einer Bank
6499
nieder in einer Haltung, als habe er die Schlacht bei Waterloo verloren,
6500
preßte eine geballte Faust gegen die Stirn und wiederholte mehrere Male
6501
mit einem gotteslästerlichen Augenaufschlag: »Ha, verflucht!« Da die
6502
kleinen, ruhigen, sicheren Gewinste, die er beim Verkaufe dieses oder
6503
jenes Grundstückes einstrich, ihn im Grunde langweilten, so war dieser
6504
Verlust, dieser tragische Schlag, mit dem der Himmel ihn, den
6505
Intriganten, getroffen, ein Genuß, ein Glück für ihn, an dem er
6506
wochenlang zehrte. Auf die Anrede: »Ich höre, Sie haben Unglück gehabt,
6507
Herr Gosch? Das tut mir leid ...«, pflegte er zu antworten: »Oh, mein
6508
werter Freund! _Uomo non educato dal dolore riman sempre bambino!_«
6509
Begreiflicherweise verstand das niemand. War es von Lope de Vega? Fest
6510
stand, daß dieser Siegismund Gosch ein gelehrter und merkwürdiger Mensch
6513
»Welche Zeiten, in denen wir leben!« sagte er zu Konsul Buddenbrook,
6514
während er, in gebückter Haltung auf seinen Stock gestützt, neben ihm
6515
die Straße hinaufschritt. »Zeiten des Sturmes und der Bewegung!«
6517
»Da haben Sie recht«, erwiderte der Konsul. Die Zeiten seien bewegt. Man
6518
dürfe auf die heutige Sitzung gespannt sein. Das ständische Prinzip ...
6520
»Nein, hören Sie!« fuhr Herr Gosch zu sprechen fort. »Ich bin den ganzen
6521
Tag unterwegs gewesen, ich habe den Pöbel beobachtet. Es waren herrliche
6522
Bursche darunter, das Auge flammend von Haß und Begeisterung ...«
6524
Johann Buddenbrook fing an zu lachen. »Sie sind mir der Rechte, mein
6525
Freund! Sie scheinen Gefallen daran zu finden? Nein, erlauben Sie mir
6526
... eine Kinderei, das alles! Was wollen diese Menschen? Eine Anzahl
6527
ungezogener junger Leute, die die Gelegenheit benützen, ein bißchen
6528
Spektakel zu machen ...«
6530
»Gewiß! Allein man kann nicht leugnen ... Ich war dabei, als
6531
Schlachtergeselle Berkemeyer Herrn Benthiens Fensterscheibe zerwarf ...
6532
Er war wie ein Panther!« Das letzte Wort sprach Herr Gosch mit besonders
6533
fest zusammengebissenen Zähnen und fuhr dann fort: »Oh, man kann nicht
6534
leugnen, daß die Sache ihre erhabene Seite besitzt! Es ist endlich
6535
einmal etwas anderes, wissen Sie, etwas Unalltägliches, Gewalttätiges,
6536
Sturm, Wildheit ... ein Gewitter ... Ach, das Volk ist unwissend, ich
6537
weiß es! Jedoch mein Herz, dieses mein Herz, es ist mit ihm ...« Sie
6538
waren schon vor das einfache, mit gelber Ölfarbe gestrichene Haus
6539
gelangt, in dessen Erdgeschoß sich der Sitzungssaal der Bürgerschaft
6542
Dieser Saal gehörte zu der Bier- und Tanzwirtschaft einer Witwe namens
6543
Suerkringel, stand aber an gewissen Tagen den Herren von der
6544
»Bürgerschaft« zur Verfügung. Von einem schmalen, gepflasterten Korridor
6545
aus, an dessen rechter Seite sich Restaurationslokalitäten befanden, und
6546
auf dem es nach Bier und Speisen roch, betrat man ihn linkerhand durch
6547
eine aus grüngestrichenen Brettern gefertigte Tür, die weder Griff noch
6548
Schloß besaß und so schmal und niedrig war, daß niemand hinter ihr einen
6549
so großen Raum vermutet hätte. Der Saal war kalt, kahl, scheunenartig,
6550
mit geweißter Decke, an der die Balken hervortraten, und geweißten
6551
Wänden; seine drei ziemlich hohen Fenster hatten grüngemalte Kreuze und
6552
waren ohne Gardinen. Ihnen gegenüber erhoben sich amphitheatralisch
6553
aufsteigend die Sitzreihen, an deren Fuß ein grün gedeckter, mit einer
6554
großen Glocke, Aktenstücken und Schreibutensilien geschmückter Tisch für
6555
den Wortführer, den Protokollführer und die anwesenden Senatskommissare
6556
bestimmt war. An der Wand, die den Türen gegenüberlag, waren mehrere
6557
hohe Garderobehalter mit Mänteln und Hüten bedeckt.
6559
Stimmengewirr schlug dem Konsul und seinem Begleiter entgegen, als sie
6560
hintereinander durch die schmale Tür den Saal betraten. Sie waren
6561
ersichtlich die Letzten, die ankamen. Der Raum war gefüllt mit Bürgern,
6562
welche, die Hände in den Hosentaschen, auf dem Rücken, in der Luft, in
6563
Gruppen beieinander standen und disputierten. Von den 120 Mitgliedern
6564
der Körperschaft waren sicherlich 100 versammelt. Eine Anzahl von
6565
Abgeordneten der Landbezirke hatte es unter den obwaltenden Umständen
6566
vorgezogen, zu Hause zu bleiben.
6568
Dem Eingang zunächst stand eine Gruppe, die aus kleineren Leuten, aus
6569
zwei oder drei unbedeutenden Geschäftsinhabern, einem Gymnasiallehrer,
6570
dem »Waisenvater« Herrn Mindermann und Herrn Wenzel, dem beliebten
6571
Barbier, bestand. Herr Wenzel, ein kleiner, kräftiger Mann mit schwarzem
6572
Schnurrbart, intelligentem Gesicht und roten Händen, hatte den Konsul
6573
noch heute morgen rasiert; hier jedoch war er ihm gleichgestellt. Er
6574
rasierte nur in den ersten Kreisen, er rasierte fast ausschließlich die
6575
Möllendorpfs, Langhals', Buddenbrooks und Överdiecks, und seiner
6576
Allwissenheit in städtischen Dingen, seiner Umgänglichkeit und
6577
Gewandtheit, seinem bei aller Unterordnung merklichen Selbstbewußtsein
6578
verdankte er seine Wahl in die Bürgerschaft.
6580
»Wissen Herr Konsul das Neueste?« rief er eifrig und mit ernsten Augen
6581
seinem Gönner entgegen ...
6583
»Was soll ich wissen, mein lieber Wenzel?«
6585
»Man konnte es heute morgen noch nicht erfahren haben ... Herr Konsul
6586
entschuldigen, es ist das Neueste! Das Volk zieht nicht vor das Rathaus
6587
oder auf den Markt! Es kommt hierher und will die Bürgerschaft bedrohen!
6588
Redakteur Rübsam hat es aufgewiegelt ...«
6590
»Ei, nicht möglich!« sagte der Konsul. Er drängte sich zwischen den
6591
vorderen Gruppen hindurch nach der Mitte des Saales, wo er seinen
6592
Schwiegervater zusammen mit den anwesenden Senatoren Doktor Langhals und
6593
James Möllendorpf erblickte. »Ist es denn wahr, meine Herren?« fragte
6594
er, indem er ihnen die Hände schüttelte ...
6596
In der Tat, die ganze Versammlung war voll davon; die Tumultuanten zogen
6597
hierher, sie waren schon zu hören ...
6599
»Die Canaille!« sagte Lebrecht Kröger kalt und verächtlich. Er war in
6600
seiner Equipage hierhergekommen. Die hohe, distinguierte Gestalt des
6601
ehemaligen »_à la mode_-Kavaliers« begann, unter gewöhnlichen Umständen
6602
von der Last seiner achtzig Jahre gebeugt zu werden; heute aber stand er
6603
ganz aufrecht, mit halb geschlossenen Augen, die Mundwinkel, über denen
6604
die kurzen Spitzen seines weißen Schnurrbartes senkrecht emporstarrten,
6605
vornehm und geringschätzig gesenkt. An seiner schwarzen Sammetweste
6606
blitzten zwei Reihen von Edelsteinknöpfen ...
6608
Unweit dieser Gruppe gewahrte man Hinrich Hagenström, einen
6609
untersetzten, beleibten Herrn mit rötlichem, ergrautem Backenbart, einer
6610
dicken Uhrkette auf der blau karierten Weste und offenem Leibrock. Er
6611
stand zusammen mit seinem Kompagnon, Herrn Strunck, und grüßte den
6612
Konsul durchaus nicht.
6614
Weiterhin hatte der Tuchhändler Benthien, ein wohlhabend aussehender
6615
Mann, eine große Anzahl anderer Herren um sich versammelt, denen er
6616
haarklein erzählte, wie es sich mit seiner Fensterscheibe begeben habe
6617
... »Ein Ziegelstein, ein halber Ziegelstein, meine Herren! Krach ...
6618
hindurch und dann auf eine Rolle grünen Rips ... Das Pack!... Nun, es
6619
ist Sache des Staates ...«
6621
In irgendeinem Winkel vernahm man unaufhörlich die Stimme des Herrn
6622
Stuht aus der Glockengießerstraße, welcher, einen schwarzen Rock über
6623
dem wollenen Hemd, sich an der Auseinandersetzung beteiligte, indem er
6624
mit entrüsteter Betonung beständig wiederholte: »Unerhörte Infamie!« --
6625
Übrigens sagte er »Infamje«.
6627
Johann Buddenbrook ging umher, um hier seinen alten Freund C. F. Köppen,
6628
dort den Konkurrenten desselben, Konsul Kistenmaker, zu begrüßen. Er
6629
drückte dem Doktor Grabow die Hand und wechselte ein paar Worte mit dem
6630
Branddirektor Gieseke, dem Baumeister Voigt, dem Wortführer Doktor
6631
Langhals, einem Bruder des Senators, mit Kaufleuten, Lehrern und
6634
Die Sitzung war nicht eröffnet, aber die Debatte war äußerst rege. Alle
6635
Herren verfluchten diesen Skribifax, diesen Redakteur, diesen Rübsam,
6636
von dem man wußte, daß er die Menge aufgewiegelt habe ... und zwar wozu?
6637
Man war hier, um festzustellen, ob das ständische Prinzip in der
6638
Volksvertretung beizubehalten oder das allgemeine und gleiche Wahlrecht
6639
einzuführen sei. Der Senat hatte bereits das letztere beantragt. Was
6640
aber wollte das Volk? Es wollte den Herren an den Kragen, das war alles.
6641
Es war, zum Teufel, die faulste Lage, in der sich die Herren jemals
6642
befunden hatten! Man umringte die Senatskommissare, um ihre Meinung zu
6643
erfahren. Man umringte auch Konsul Buddenbrook, der wissen mußte, wie
6644
Bürgermeister Överdieck sich zu der Sache verhielt; denn seitdem im
6645
vorigen Jahre Senator Doktor Överdieck, ein Schwager Konsul Justus
6646
Krögers, Senatspräsident geworden war, waren Buddenbrooks mit dem
6647
Bürgermeister verwandt, was sie in der öffentlichen Achtung beträchtlich
6648
hatte steigen lassen ...
6650
Plötzlich schwoll draußen das Getöse an ... Die Revolution war unter den
6651
Fenstern des Sitzungssaales angelangt! Mit einem Schlage verstummten die
6652
erregten Meinungsäußerungen hier drinnen. Man faltete, stumm vor
6653
Entsetzen, die Hände auf dem Bauch und sah einander ins Gesicht oder auf
6654
die Fenster, hinter denen sich Fäuste erhoben und ein ausgelassenes,
6655
unsinniges und betäubendes Hoh- und Höhgeheul die Luft erfüllte. Dann
6656
jedoch, ganz überraschend, als ob die Aufständischen selbst über ihr
6657
Betragen erschrocken gewesen wären, ward es draußen ebenso still wie im
6658
Saale, und in der tiefen Lautlosigkeit, die sich über das Ganze legte,
6659
ward lediglich in der Gegend der untersten Sitzreihen, wo Lebrecht
6660
Kröger sich niedergelassen hatte, ein Wort vernehmbar, das kalt, langsam
6661
und nachdrücklich sich dem Schweigen entrang: »=Die Canaille!=«
6663
Gleich darauf tat in irgendeinem Winkel ein dumpfes und entrüstetes
6664
Organ den Ausspruch: »Unerhörte Infamje!«
6666
Und dann flatterte plötzlich die eilige, zitternde und geheimnisvolle
6667
Stimme des Tuchhändlers Benthien über die Versammlung hin ...
6669
»Meine Herren ... meine Herren ... hören Sie auf mich ... Ich kenne das
6670
Haus ... Wenn man auf den Boden steigt, so gibt es da eine Dachluke ...
6671
Ich habe schon als Junge Katzen dadurch geschossen ... Man kann ganz gut
6672
aufs Nachbardach klettern und sich in Sicherheit bringen ...«
6674
»Nichtswürdige Feigheit!« zischte der Makler Gosch zwischen den Zähnen.
6675
Er lehnte mit verschränkten Armen am Wortführertische und starrte,
6676
gesenkten Hauptes, mit einem grauenerregenden Blick zu den Fenstern
6679
»Feigheit, Herr? Wieso? Gottesdunner ... Die Leute werfen mit
6680
Ziegelsteinen! Ick heww da nu 'naug von ...«
6682
In diesem Augenblick wuchs draußen der Lärm von neuem an, aber ohne sich
6683
wieder zu der anfänglichen stürmischen Höhe zu erheben, tönte er nun
6684
ruhig und ununterbrochen fort, ein geduldiges, singendes und beinahe
6685
vergnügt klingendes Gesumme, in welchem man hie und da Pfiffe sowie
6686
einzelne Ausrufe wie »Prinzip!« und »Bürgerrecht!« unterschied ... Die
6687
Bürgerschaft lauschte mit Andacht.
6689
»Meine Herren«, sprach nach einer Weile der Wortführer Herr Doktor
6690
Langhals mit gedämpfter Stimme über die Versammlung hin. »Ich hoffe,
6691
mich mit Ihnen im Einverständnis zu befinden, wenn ich nunmehr die
6692
Sitzung eröffne ...«
6694
Das war ein unmaßgeblicher Vorschlag, dem aber weit und breit nicht die
6695
geringste Unterstützung zuteil wurde.
6697
»Da bün ick nich für tau haben«, sagte jemand mit einer biederen
6698
Entschlossenheit, die keinen Einwand gestattete. Es war ein bäuerlicher
6699
Mann namens Pfahl, aus dem Ritzerauer Landbezirk, der Deputierte für das
6700
Dorf Klein-Schretstaken. Niemand erinnerte sich, seine Stimme schon
6701
einmal in den Verhandlungen vernommen zu haben; allein in der
6702
gegenwärtigen Lage fiel die Meinung auch des schlichtesten Kopfes schwer
6703
ins Gewicht ... Unerschrocken und mit sicherem politischen Instinkt
6704
hatte Herr Pfahl der Anschauung der gesamten Bürgerschaft Ausdruck
6707
»Gott soll uns bewahren!« sagte Herr Benthien entrüstet. »Da oben auf
6708
den Sitzen kann man von der Straße aus gesehen werden! Die Leute werfen
6709
mit Ziegelsteinen! Nee, Gottesdunner, ick heww da nu 'naug von ...«
6711
»Daß auch die verfluchte Tür so eng ist!« stieß der Weinhändler Köppen
6712
verzweifelt hervor. »Wenn wir hinaus wollen, drücken wir ja wol dot ...
6713
drücken wir uns ja wol!«
6715
»Unerhörte Infamje«, sprach dumpf Herr Stuht.
6717
»Meine Herren!« begann der Wortführer eindringlich aufs neue. »Ich bitte
6718
Sie, doch zu erwägen ... Ich habe binnen drei Tagen eine Ausfertigung
6719
des heute zu führenden Protokolles dem regierenden Bürgermeister
6720
zuzustellen ... Überdies erwartet die Stadt die Veröffentlichung durch
6721
den Druck ... Ich möchte jedenfalls zur Abstimmung darüber schreiten, ob
6722
die Sitzung eröffnet werden soll ...«
6724
Aber abgesehen von einigen wenigen Bürgern, die den Wortführer
6725
unterstützten, fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, zur
6726
Tagesordnung überzugehen. Eine Abstimmung hätte sich als zwecklos
6727
erwiesen. Man durfte das Volk nicht reizen. Niemand wußte, was es
6728
wollte. Man durfte es nicht durch einen Beschluß nach irgendeiner
6729
Richtung hin vor den Kopf stoßen. Man mußte abwarten und sich nicht
6730
regen. Von der Marienkirche schlug es halb fünf ...
6732
Man bestärkte einander in dem Entschlusse, geduldig auszuharren. Man
6733
begann, sich an das Geräusch zu gewöhnen, das dort draußen anschwoll,
6734
abnahm, pausierte und wieder einsetzte. Man fing an, ruhiger zu werden,
6735
sich's bequemer zu machen, sich auf den unteren Sitzreihen und den
6736
Stühlen niederzulassen ... Die Betriebsamkeit all dieser tüchtigen
6737
Bürger begann sich zu regen ... Man wagte hie und da, über Geschäfte zu
6738
sprechen, hie und da sogar ein Geschäft zu machen ... Die Makler
6739
näherten sich den Großkaufleuten ... Die eingeschlossenen Herren
6740
plauderten miteinander wie Leute, die während eines heftigen Gewitters
6741
beisammen sitzen, von anderen Dingen reden und manchmal mit ernsten und
6742
respektvollen Gesichtern auf den Donner horchen. Es wurde fünf Uhr, halb
6743
sechs Uhr, und die Dämmerung sank. Dann und wann seufzte jemand darüber,
6744
daß seine Frau mit dem Kaffee warte, worauf Herr Benthien sich erlaubte,
6745
die Dachluke in Erinnerung zu bringen. Aber die meisten dachten darüber
6746
wie Herr Stuht, der mit einem fatalistischen Kopfschütteln erklärte:
6747
»Ich bin ja doch zu dick dazu!«
6749
Johann Buddenbrook hatte sich, eingedenk der Mahnung der Konsulin, neben
6750
seinem Schwiegervater gehalten, und er betrachtete ihn etwas besorgt,
6751
als er ihn fragte: »Dies kleine Abenteuer geht Ihnen hoffentlich nicht
6754
Unter dem schneeweißen Toupet waren auf Lebrecht Krögers Stirn zwei
6755
bläuliche Adern in besorgniserregender Weise geschwollen, und während
6756
die eine seiner aristokratischen Greisenhände mit den opalisierenden
6757
Knöpfen an seiner Weste spielte, zitterte die andere, mit einem großen
6758
Brillanten geschmückt, auf seinen Knien.
6760
»Papperlapapp, Buddenbrook!« sagte er mit sonderbarer Müdigkeit. »Ich
6761
bin ennuyiert, das ist das Ganze.« Aber er strafte sich selber Lügen,
6762
indem er plötzlich hervorzischte: »_Parbleu_, Jean! man müßte diesen
6763
infamen Schmierfinken den Respekt mit Pulver und Blei in den Leib
6764
knallen ... Das Pack ...! Die Canaille ...!«
6766
Der Konsul summte begütigend. »So ... so ... Sie haben ja recht, es ist
6767
eine ziemlich unwürdige Komödie ... Aber was soll man tun? Man muß gute
6768
Miene machen. Es wird Abend. Die Leute werden schon abziehen ...«
6770
»Wo ist mein Wagen?... Ich befehle meinen Wagen!« kommandierte Lebrecht
6771
Kröger gänzlich außer sich. Seine Wut explodierte, er bebte am ganzen
6772
Leibe. »Ich habe ihn auf fünf Uhr bestellt!... Wo ist er?... Die Sitzung
6773
wird nicht abgehalten ... Was soll ich hier?... Ich bin nicht gesonnen,
6774
mich narren zu lassen!... Ich will meinen Wagen!... Insultiert man
6775
meinen Kutscher? Sehen Sie nach, Buddenbrook!«
6777
»Lieber Schwiegervater, um Gottes willen, beruhigen Sie sich! Sie
6778
alterieren sich ... das bekommt Ihnen nicht! Selbstverständlich ... ich
6779
gehe nun, mich nach Ihrem Wagen umzusehen. Ich selbst bin dieser Lage
6780
überdrüssig. Ich werde mit den Leuten sprechen, sie auffordern, nach
6783
Und obgleich Lebrecht Kröger protestierte, obgleich er mit plötzlich
6784
ganz kalter und verächtlicher Betonung befahl: »Halt, hiergeblieben! Sie
6785
vergeben sich nichts, Buddenbrook!« schritt der Konsul schnell durch den
6788
Dicht bei der kleinen grünen Tür wurde er von Siegismund Gosch
6789
eingeholt, der ihn mit knochiger Hand am Arm ergriff und mit gräßlicher
6790
Flüsterstimme fragte: »Wohin, Herr Konsul?...«
6792
Das Gesicht des Maklers war in tausend tiefe Falten gelegt. Mit dem
6793
Ausdruck wilder Entschlossenheit schob sich sein spitzes Kinn fast bis
6794
zur Nase empor, sein graues Haar fiel düster in Schläfen und Stirn, und
6795
er hielt seinen Kopf so tief zwischen den Schultern, daß es ihm
6796
wahrhaftig gelang, das Aussehen eines Verwachsenen zu bieten, als er
6797
hervorstieß: »Sie sehen mich gewillt, zum Volke zu reden!«
6799
Der Konsul sagte: »Nein, lassen Sie mich das lieber tun, Gosch ... Ich
6800
habe wahrscheinlich mehr Bekannte unter den Leuten ...«
6802
»Es sei!« antwortete der Makler tonlos. »Sie sind ein größerer Mensch
6803
als ich.« Und indem er seine Stimme erhob, fuhr er fort: »Aber ich werde
6804
Sie begleiten, ich werde an Ihrer Seite stehen, Konsul Buddenbrook! Mag
6805
die Wut der entfesselten Sklaven mich zerreißen ...«
6807
»Ach, welch ein Tag! Welch ein Abend!« sagte er, als sie hinausgingen
6808
... Sicherlich hatte er sich noch niemals so glücklich gefühlt. »Ha,
6809
Herr Konsul! Da ist das Volk!«
6811
Die beiden hatten den Korridor überschritten und traten vor die Haustür
6812
hinaus, indem sie auf der oberen der drei schmalen Stufen stehen
6813
blieben, die auf das Trottoir führten. Die Straße bot einen
6814
befremdenden Anblick. Sie war ausgestorben, und an den offenen, schon
6815
erleuchteten Fenstern der umliegenden Häuser gewahrte man Neugierige,
6816
die auf die schwärzliche, sich vorm Bürgerschaftshause drängende Menge
6817
der Aufrührer hinabblickten. Diese Menge war an Zahl nicht viel stärker
6818
als die Versammlung im Saale und bestand aus jugendlichen Hafen- und
6819
Lagerarbeitern, Dienstmännern, Volksschülern, einigen Matrosen von
6820
Kauffahrteischiffen und anderen Leuten, die in den geringen
6821
Stadtgegenden, in den »Twieten«, »Gängen«, »Wischen« und »Höfen« zu
6822
Hause waren. Auch drei oder vier Frauen waren dabei, die sich von diesem
6823
Unternehmen wohl ähnliche Erfolge versprachen, wie die Buddenbrooksche
6824
Köchin. Einige Empörer, des Stehens müde, hatten sich, die Füße im
6825
Rinnstein, auf den Bürgersteig gesetzt und aßen Butterbrot.
6827
Es war bald sechs Uhr, und obgleich die Dämmerung weit vorgeschritten
6828
war, hingen die Öllampen unangezündet an ihren Ketten über der Straße.
6829
Diese Tatsache, diese offenbare und unerhörte Unterbrechung der Ordnung,
6830
war das erste, was den Konsul Buddenbrook aufrichtig erzürnte, und sie
6831
war schuld daran, daß er in ziemlich kurzem und ärgerlichem Tone zu
6832
sprechen begann: »Lüd, wat is dat nu bloß für dumm Tüg, wat Ji da
6835
Die Vespernden waren vom Trottoir emporgesprungen. Die Hinteren,
6836
jenseits des Fahrdammes, stellten sich auf die Zehenspitzen. Einige
6837
Hafenarbeiter, die im Dienste des Konsuls standen, nahmen ihre Mützen
6838
ab. Man machte sich aufmerksam, stieß sich in die Seiten und sagte
6839
gedämpft: »Dat's Kunsel Buddenbrook! Kunsel Buddenbrook will 'ne Red'
6840
hollen! Holl din Mul, Krischan, hei kann höllschen fuchtig warn!...
6841
Dat's Makler Gosch ... kiek! Dat's son Aap!... Is hei 'n beeten
6844
»Corl Smolt!« fing der Konsul wieder an, indem er seine kleinen,
6845
tiefliegenden Augen auf einen etwa 22jährigen Lagerarbeiter mit krummen
6846
Beinen richtete, der, die Mütze in der Hand und den Mund voll Brot,
6847
unmittelbar vor den Stufen stand. »Nu red' mal, Corl Smolt! Nu is' Tiet!
6848
Ji heww hier den leewen langen Namiddag bröllt ...«
6850
»Je, Herr Kunsel ...«, brachte Corl Smolt kauend hervor. »Dat's nu so 'n
6851
Saak ... öäwer ... Dat is nu so wied ... Wi maaken nu Revolutschon.«
6853
»Wat's dat för Undög, Smolt!«
6855
»Je, Herr Kunsel, dat seggen Sei woll, öäwer dat is nu so wied ... wi
6856
sünd nu nich mihr taufreeden mit de Saak ... Wie verlangen nu ne anner
6857
Ordnung, un dat is ja ook gor nich mihr, daß dat =wat= is ...«
6859
»Hür mal, Smolt, un ihr annern Lüd! Wer nu 'n verstännigen Kierl is, der
6860
geht naa Hus un scheert sich nich mihr um Revolution und stört hier nich
6863
»Die heilige Ordnung!« unterbrach Herr Gosch ihn zischend ...
6865
»De Ordnung, seg ick!« beschloß Konsul Buddenbrook. »Nicht mal die
6866
Lampen sind angezündet ... Dat geiht denn doch tau wied mit de
6869
Corl Smolt aber hatte nun seinen Bissen verschluckt und, die Menge im
6870
Rücken, stand er breitbeinig da und hatte seine Einwände ...
6872
»Je, Herr Kunsel, dat seggen Sei woll! Öäwer dat is man bloß wegen das
6873
allgemeine Prinzip von dat Wahlrecht ...«
6875
»Großer Gott, du Tropf!« rief der Konsul und vergaß, platt zu sprechen
6876
vor Indignation ... »Du redest ja lauter Unsinn ...«
6878
»Je, Herr Kunsel«, sagte Corl Smolt ein bißchen eingeschüchtert; »dat is
6879
nu allens so as dat is. Öäwer Revolutschon mütt sien, dat is tau gewiß.
6880
Revolutschon is öwerall, in Berlin und in Poris ...«
6882
»Smolt, wat wull Ji nu eentlich! Nu seggen Sei dat mal!«
6884
»Je, Herr Kunsel, ick seg man bloß: wi wull nu 'ne Republike, seg ick
6887
»Öwer du Döskopp ... Ji =heww= ja schon een!«
6889
»Je, Herr Kunsel, denn wull wi noch een.«
6891
Einige der Umstehenden, die es besser wußten, begannen schwerfällig und
6892
herzlich zu lachen, und obgleich die wenigsten die Antwort Corl Smolts
6893
verstanden hatten, pflanzte diese Heiterkeit sich fort, bis die ganze
6894
Menge der Republikaner in breitem und gutmütigem Gelächter stand. An den
6895
Fenstern des Bürgerschaftssaales erschienen mit neugierigen Gesichtern
6896
einige Herren mit Bierseideln in den Händen ... Der einzige, den diese
6897
Wendung der Dinge enttäuschte und schmerzte, war Siegismund Gosch.
6899
»Na Lüd«, sagte schließlich Konsul Buddenbrook, »ick glöw, dat is nu dat
6900
beste, wenn ihr alle naa Hus gaht!«
6902
Corl Smolt, gänzlich verdutzt über die Wirkung, die er hervorgebracht,
6903
antwortete: »Je, Herr Kunsel, dat is nu so, un denn möht man de Saak je
6904
woll up sick beruhn laten, un ick bün je ook man froh, dat Herr Kunsel
6905
mi dat nich öwelnehmen daut, un adjüs denn ook, Herr Kunsel ...«
6907
Die Menge fing an, sich in der allerbesten Laune zu zerstreuen.
6909
»Smolt, töf mal 'n Oogenblick!« rief der Konsul. »Seg mal, hast du den
6910
Krögerschen Wagen nich seihn, de Kalesch' vorm Burgtor?«
6912
»Jewoll, Herr Kunsel! De is kamen. De is doar unnerwarts upp Herr Kunsel
6913
sin Hoff ruppfoahrn ...«
6915
»Schön; denn loop mal fixing hin, Smolt, un seg tau Jochen, hei sall mal
6916
'n beeten rannerkommen; sin Herr will naa Hus.«
6918
»Jewoll, Herr Kunsel!« ... Und indem er seine Mütze auf den Kopf warf
6919
und den Lederschirm ganz tief in die Augen zog, lief Corl Smolt mit
6920
breitspurigen, wiegenden Schritten die Straße hinunter.
6925
Als Konsul Buddenbrook mit Siegismund Gosch in die Versammlung
6926
zurückkehrte, bot der Saal ein behaglicheres Bild als vor einer
6927
Viertelstunde. Er war von zwei großen Paraffinlampen erleuchtet, die auf
6928
dem Wortführertisch standen, und in ihrem gelben Licht saßen und standen
6929
die Herren beieinander, gossen sich Flaschenbier in blanke Seidel,
6930
stießen an und plauderten geräuschvoll in fröhlichster Stimmung. Frau
6931
Suerkringel, die Witwe Suerkringel war dagewesen, sie hatte sich
6932
treuherzig ihrer eingeschlossenen Gäste angenommen, mit beredten Worten,
6933
da die Belagerung ja noch lange dauern könne, eine kleine Stärkung in
6934
Vorschlag gebracht und sich die erregten Zeiten zunutze gemacht, um eine
6935
bedeutende Quantität ihres hellen und ziemlich spirituösen Bieres
6936
abzusetzen. Soeben, beim Wiedereintritt der beiden Unterhändler,
6937
schleppte der Hausknecht in Hemdärmeln und mit wohlmeinendem Lächeln
6938
einen neuen Vorrat von Flaschen herbei, und obgleich der Abend
6939
vorgeschritten, obgleich es zu spät war, der Verfassungsrevision noch
6940
Aufmerksamkeit zu schenken, war niemand geneigt, schon jetzt dies
6941
Beisammensein zu unterbrechen und nach Hause zu gehen. Mit dem Kaffee
6942
war es in jedem Fall für heute vorbei ...
6944
Nachdem der Konsul mehrere Händedrücke entgegengenommen, die ihn zu
6945
seinem Erfolge beglückwünschten, begab er sich ohne Verzug zu seinem
6946
Schwiegervater. Lebrecht Kröger schien der einzige zu sein, dessen
6947
Stimmung sich nicht verbessert hatte. Hoch, kalt und abweisend saß er an
6948
seinem Platze und antwortete auf den Bericht, in diesem Augenblick fahre
6949
der Wagen vor, mit höhnischer Stimme, die vor Erbitterung mehr als vor
6950
Greisenalter zitterte: »Beliebt der Pöbel, mich in mein Haus
6951
zurückkehren zu lassen?«
6953
Mit steifen Bewegungen, die nicht im entferntesten an die scharmanten
6954
Gesten gemahnten, die man sonst an ihm kannte, ließ er sich den
6955
Pelzmantel um die Schultern legen und schob, da der Konsul sich erbot,
6956
ihn zu begleiten, mit einem nachlässigen »_merci_« seinen Arm unter den
6957
seines Schwiegersohnes.
6959
Die majestätische Kalesche, mit zwei großen Laternen am Bock, hielt vor
6960
der Tür, woselbst man nun zur herzlichen Genugtuung des Konsuls begann,
6961
die Lampen in Brand zu setzen, und die beiden stiegen ein. Steil, stumm,
6962
ohne sich zurückzulehnen, mit halb geschlossenen Augen saß Lebrecht
6963
Kröger, die Wagendecke über den Knien, zur Rechten des Konsuls, während
6964
der Wagen durch die Straßen rollte, und unter den kurzen Spitzen seines
6965
weißen Schnurrbartes liefen seine abwärts gezogenen Mundwinkel in zwei
6966
senkrechte Falten aus, die sich bis zum Kinn hinunterzogen. Der Grimm
6967
über die erlittene Demütigung zehrte und nagte in ihm. Matt und kalt
6968
blickte er auf das leere Polster ihm gegenüber.
6970
In den Straßen ging es lebhafter zu als an einem Sonntagabend.
6971
Augenscheinlich herrschte Feststimmung. Das Volk, entzückt über den
6972
glücklichen Verlauf der Revolution, zog wohlgelaunt umher. Es wurde
6973
sogar gesungen. Hie und da schrien Jungen Hurra! wenn der Wagen
6974
vorüberfuhr, und warfen ihre Mützen in die Luft.
6976
»Ich glaube wahrhaftig, Sie lassen sich die Sache zu nahegehn, Vater«,
6977
sagte der Konsul. »Wenn man bedenkt, was für eine Narrensposse das Ganze
6978
war ... Eine Farce ...« Und um irgendeine Antwort und Äußerung des Alten
6979
zu erlangen, fing er an, lebhaft über die Revolution im allgemeinen zu
6980
sprechen ... »Wenn die besitzlose Menge zu der Erkenntnis gelangte, wie
6981
wenig sie in diesen Zeiten ihrer eigenen Sache dient ... Ach, mein Gott,
6982
es ist überall das nämliche! Ich hatte heute nachmittag ein kurzes
6983
Gespräch mit dem Makler Gosch, diesem wunderlichen Manne, der alles mit
6984
den Augen eines Poeten und Stückeschreibers betrachtet ... Sehen Sie,
6985
Schwiegervater, die Revolution ist in Berlin an ästhetischen Teetischen
6986
vorbereitet worden ... Dann hat das Volk die Sache ausgefochten und
6987
seine Haut zu Markte getragen ... Wird es auf seine Kosten kommen?«
6989
»Sie täten gut, das Fenster an Ihrer Seite zu öffnen«, sagte Herr
6992
Johann Buddenbrook warf ihm einen raschen Blick zu und ließ eilig die
6995
»Fühlen Sie sich nicht ganz wohl, lieber Vater?« fragte er besorgt ...
6997
»Nein. Durchaus nicht«, antwortete Lebrecht Kröger streng.
6999
»Sie haben einen Imbiß und Ruhe nötig«, sagte der Konsul, indem er, um
7000
irgend etwas zu tun, die Felldecke fester um die Knie seines
7001
Schwiegervaters zog.
7003
Plötzlich -- die Equipage rasselte durch die Burgstraße -- geschah etwas
7004
Erschreckendes. Als nämlich der Wagen, fünfzehn Schritte etwa von dem in
7005
Halbdunkel getauchten Gemäuer des Tores, eine Ansammlung lärmender und
7006
vergnügter Gassenjungen passierte, flog durch das offene Fenster ein
7007
Stein herein. Es war ein ganz harmloser Feldstein, kaum von der Größe
7008
eines Hühnereies, der, zur Feier der Revolution von der Hand irgendeines
7009
Krischan Snut oder Heine Voß geschleudert, sicherlich nicht böse gemeint
7010
und wahrscheinlich gar nicht nach dem Wagen gezielt worden war. Lautlos
7011
kam er durchs Fenster herein, prallte lautlos gegen Lebrecht Krögers von
7012
dickem Pelze bedeckte Brust, rollte ebenso lautlos an der Felldecke
7013
hinab und blieb am Boden liegen.
7015
»Täppische Flegelei!« sagte der Konsul ärgerlich. »Ist man denn heute
7016
abend aus Rand und Band?... Aber er hat Sie nicht verletzt, wie,
7019
Der alte Kröger schwieg, er schwieg beängstigend. Es war zu dunkel im
7020
Wagen, um den Ausdruck seines Gesichtes zu unterscheiden. Gerader,
7021
höher, steifer noch, denn zuvor, saß er, ohne das Rückenpolster zu
7022
berühren. Dann aber kam es ganz tief aus ihm heraus ... langsam, kalt
7023
und schwer, ein einziges Wort: »=Die Canaille.=«
7025
Aus Besorgnis, ihn noch mehr zu reizen, antwortete der Konsul nicht. Der
7026
Wagen rollte mit hallendem Geräusch durch das Tor und befand sich drei
7027
Minuten später in der breiten Allee vor dem mit vergoldeten Spitzen
7028
versehenen Gatter, welches das Krögersche Besitztum begrenzte. Zu beiden
7029
Seiten der breiten Gartenpforte, die den Eingang zu einer mit Kastanien
7030
besetzten Anfahrt zur Terrasse bildete, brannten hell zwei Laternen mit
7031
vergoldeten Knöpfen auf ihren Deckeln. Der Konsul entsetzte sich, als er
7032
hier in das Gesicht seines Schwiegervaters sah. Es war gelb und von
7033
schlaffen Furchen zerrissen. Der kalte, feste und verächtliche Ausdruck,
7034
den der Mund bis dahin bewahrt, hatte sich zu einer schwachen, schiefen,
7035
hängenden und blöden Greisengrimasse verzerrt ... Der Wagen hielt an der
7038
»Helfen Sie mir«, sagte Lebrecht Kröger, obgleich der Konsul, der zuerst
7039
ausgestiegen war, schon die Felldecke zurückwarf und ihm Arm und
7040
Schulter als Stütze darbot. Er führte ihn auf dem Kiesboden langsam die
7041
wenigen Schritte bis zu der weißglänzenden Freitreppe, die zum
7042
Speisezimmer emporführte. Am Fuße der Stufen knickte der Greis in die
7043
Knie. Der Kopf fiel so schwer auf die Brust, daß der hängende
7044
Unterkiefer mit klapperndem Geräusch gegen den oberen schlug. Die Augen
7045
verdrehten sich und brachen ...
7047
Lebrecht Kröger, der _à la mode_-Kavalier, war bei seinen Vätern.
7052
Ein Jahr und zwei Monate später, an einem schneedunstigen Januarmorgen
7053
des Jahres 1850, saßen Herr und Madame Grünlich nebst ihrem kleinen
7054
dreijährigen Töchterchen in dem mit hellbraunfarbigem Holze getäfelten
7055
Speisezimmer auf Stühlen, von denen ein jeder 25 Kurantmark gekostet
7056
hatte, beim ersten Frühstück.
7058
Die Scheiben der Fenster waren vor Nebel beinahe undurchsichtig;
7059
verschwommen gewahrte man nackte Bäume und Sträucher dahinter. In dem
7060
grünglasierten niedrigen Ofen, der in einem Winkel stand -- neben der
7061
offenen Tür, die ins »Penseezimmer« führte, woselbst man Blattgewächse
7062
erblickte -- knisterte die rote Glut und erfüllte den Raum mit einer
7063
sanften, ein wenig riechenden Wärme. An der entgegengesetzten Seite
7064
gestatteten halb zurückgeschlagene grüne Tuchportieren den Durchblick in
7065
den braunseidenen Salon und auf eine hohe Glastür, deren Ritzen mit
7066
wattierten Rollen verstopft waren und hinter der eine kleine Terrasse
7067
sich in dem weißgrauen, undurchsichtigen Nebel verlor. Seitwärts führte
7068
ein dritter Ausgang auf den Korridor.
7070
Der schneeweiße gewirkte Damast auf dem runden Tische war von einem
7071
grüngestickten Tischläufer durchzogen und bedeckt mit goldgerändertem
7072
und so durchsichtigem Porzellan, daß es hie und da wie Perlmutter
7073
schimmerte. Eine Teemaschine summte. In einem dünnsilbernen, flachen
7074
Brotkorb, der die Gestalt eines großen, gezackten, leicht gerollten
7075
Blattes hatte, lagen Rundstücke und Schnitten von Milchgebäck. Unter
7076
einer Kristallglocke türmten sich kleine, geriefelte Butterkugeln, unter
7077
einer anderen waren verschiedene Arten von Käse, gelber,
7078
grünmarmorierter und weißer sichtbar. Es fehlte nicht an einer Flasche
7079
Rotwein, welche vor dem Hausherrn stand, denn Herr Grünlich frühstückte
7082
Mit frisch frisierten Favoris und einem Gesicht, das um diese
7083
Morgenstunde besonders rosig erschien, saß er, den Rücken dem Salon
7084
zugewandt, fertig angekleidet, in schwarzem Rock und hellen,
7085
großkarierten Beinkleidern, und verspeiste nach englischer Sitte ein
7086
leicht gebratenes Kotelett. Seine Gattin fand dies zwar vornehm,
7087
außerdem aber auch in so hohem Grade widerlich, daß sie sich niemals
7088
hatte entschließen können, ihr gewohntes Brot- und Eifrühstück dagegen
7091
Tony war im Schlafrock; sie schwärmte für Schlafröcke. Nichts erschien
7092
ihr vornehmer als ein elegantes Negligé, und da sie sich im Elternhause
7093
dieser Leidenschaft nicht hatte überlassen dürfen, frönte sie ihr nun
7094
als verheiratete Frau desto eifriger. Sie besaß drei dieser schmiegsamen
7095
und zarten Kleidungsstücke, bei deren Herstellung mehr Geschmack,
7096
Raffinement und Phantasie entfaltet werden kann, als bei einer
7097
Balltoilette. Heute aber trug sie das dunkelrote Morgenkleid, dessen
7098
Farbe genau mit dem Tone der Tapete über der Holztäfelung übereinstimmte
7099
und dessen großgeblümter Stoff, weicher als Watte, überall mit einem
7100
Sprühregen ganz winziger Glasperlchen von derselben Färbung durchwirkt
7101
war ... Eine gerade und dichte Reihe von roten Sammetschleifen lief vom
7102
Halsverschluß bis zum Saume hinunter.
7104
Ihr starkes aschblondes Haar, mit einer dunkelroten Sammetschleife
7105
geschmückt, war über der Stirn gelockt. Obgleich, wie sie selbst wohl
7106
wußte, ihr Äußeres seinen Höhepunkt bereits erreicht hatte, war der
7107
kindliche, naive und kecke Ausdruck ihrer etwas hervorstehenden
7108
Oberlippe derselbe geblieben wie ehemals. Die Lider ihrer graublauen
7109
Augen waren vom kalten Wasser gerötet. Ihre Hände, die weißen, ein wenig
7110
kurzen, aber feingegliederten Hände der Buddenbrooks, deren zarte
7111
Gelenke von den Sammetrevers der Ärmel weich umschlossen wurden,
7112
handhabten Messer, Löffel und Tasse mit Bewegungen, die heute aus
7113
irgendeinem Grunde ein wenig abrupt und hastig waren.
7115
Neben ihr, in einem turmartigen Kinderstuhl und bekleidet mit einem aus
7116
dicker hellblauer Wolle gestrickten, formlosen und drolligen Röckchen,
7117
saß die kleine Erika, ein wohlgenährtes Kind mit kurzen hellblonden
7118
Locken. Sie hielt mit beiden Händchen eine große Tasse umklammert, in
7119
der ihr Gesichtchen völlig verschwand, und schluckte ihre Milch, indem
7120
sie hie und da kleine, hingebende Seufzer vernehmen ließ.
7122
Hierauf klingelte Frau Grünlich, und Thinka, das Folgmädchen, trat vom
7123
Korridor ein, um das Kind aus dem Turm zu heben und es hinauf in die
7124
Spielstube zu tragen.
7126
»Du kannst sie eine halbe Stunde draußen spazierenfahren, Thinka«, sagte
7127
Tony. »Aber nicht länger, und in der dickeren Jacke, hörst du?... Es
7128
nebelt.« -- Sie blieb mit ihrem Gatten allein.
7130
»Du machst dich ja lächerlich«, sagte sie nach einigem Stillschweigen,
7131
indem sie ersichtlich ein unterbrochenes Gespräch wieder aufnahm ...
7132
»Hast du Gegengründe? Gib doch Gegengründe an!... Ich =kann= mich nicht
7133
immer um das Kind bekümmern ...«
7135
»Du bist nicht kinderlieb, Antonie.«
7137
»Kinderlieb ... kinderlieb ... Es fehlt mir an Zeit! Der Haushalt nimmt
7138
mich in Anspruch! Ich wache mit zwanzig Gedanken auf, die tagsüber
7139
auszuführen sind, und gehe mit vierzig zu Bett, die noch nicht
7140
ausgeführt sind ...«
7142
»Es sind zwei Mädchen da. Eine so junge Frau ...«
7144
»Zwei Mädchen, gut. Thinka hat abzuwaschen, zu putzen, reinzumachen, zu
7145
bedienen. Die Köchin ist über und über beschäftigt. Du ißt schon am
7146
frühen Morgen Koteletts ... Denke doch nach, Grünlich! Erika muß über
7147
kurz oder lang jedenfalls eine Bonne, eine Erzieherin haben ...«
7149
»Es entspricht nicht unseren Verhältnissen, ihr schon jetzt ein eigenes
7150
Kindermädchen zu halten.«
7152
»Unseren Verhältnissen!... O Gott, du =machst= dich lächerlich! Sind wir
7153
denn Bettler? Sind wir gezwungen, uns das Notwendigste abgehen zu
7154
lassen? Meines Wissens habe ich dir achtzigtausend Mark in die Ehe
7157
»Ach, mit deinen achtzigtausend!«
7159
»Gewiß!... Du sprichst geringschätzig davon ... Es kam dir nicht darauf
7160
an ... Du hast mich aus Liebe geheiratet ... Gut. Aber liebst du mich
7161
überhaupt noch? Du gehst über meine berechtigten Wünsche hinweg. Das
7162
Kind soll kein Mädchen haben ... Von dem Coupé, das uns nötig ist, wie
7163
das tägliche Brot, ist überhaupt keine Rede mehr ... Warum läßt du uns
7164
dann beständig auf dem Lande wohnen, wenn es unseren =Verhältnissen=
7165
nicht =entspricht=, einen Wagen zu halten, in dem wir anständigerweise
7166
in Gesellschaft fahren können? Warum siehst du es niemals gern, daß ich
7167
in die Stadt komme?... Am liebsten möchtest du, daß wir uns hier ein für
7168
alle Male vergrüben und daß ich keinen Menschen mehr zu Gesichte bekäme.
7169
Du bist sauertöpfig!«
7171
Herr Grünlich goß sich Rotwein ins Glas, erhob die Kristallglocke und
7172
ging zum Käse über. Er antwortete durchaus nicht.
7174
»Liebst du mich überhaupt noch?« wiederholte Tony ... »Dein Schweigen
7175
ist so ungezogen, daß ich mir sehr wohl erlauben darf, dich an einen
7176
gewissen Auftritt in unserem Landschaftszimmer zu erinnern ... Damals
7177
machtest du eine andere Figur!... Vom ersten Tage an hast du nur abends
7178
bei mir gesessen, und das nur, um die Zeitung zu lesen. Anfangs nahmst
7179
du wenigstens einige Rücksicht auf meine Wünsche. Aber seit langer Zeit
7180
ist es auch damit zu Ende. Du vernachlässigst mich!«
7182
»Und du? Du ruinierst mich.«
7184
»Ich?... Ich ruiniere dich ...«
7186
»Ja. Du ruinierst mich mit deiner Trägheit, deiner Sucht nach Bedienung
7189
»Oh! wirf mir nicht meine gute Erziehung vor! Ich habe bei meinen Eltern
7190
nicht nötig gehabt, einen Finger zu rühren. Jetzt habe ich mich mühsam
7191
in den Haushalt einleben müssen, aber ich kann verlangen, daß du mir
7192
nicht die einfachsten Hilfsmittel verweigerst. Vater ist ein reicher
7193
Mann; er konnte nicht erwarten, daß es mir jemals an Personal fehlen
7196
»Dann warte mit dem dritten Mädchen, bis dieser Reichtum uns etwas
7199
»Willst du etwa Vaters Tod wünschen?!... Ich sage, daß wir vermögende
7200
Leute sind, daß ich nicht mit leeren Händen zu dir gekommen bin ...«
7202
Obgleich Herr Grünlich im Kauen begriffen war, lächelte er; er lächelte
7203
überlegen, wehmütig und schweigend. Dies verwirrte Tony.
7205
»Grünlich«, sagte sie ruhiger ... »Du lächelst, du sprichst von unseren
7206
Verhältnissen ... Täusche ich mich über die Lage? Hast du schlechte
7207
Geschäfte gemacht? Hast du ...«
7209
In diesem Augenblicke geschah ein Klopfen, ein kurzer Trommelwirbel
7210
gegen die Korridortür, und Herr Kesselmeyer trat ein.
7215
Herr Kesselmeyer kam als Hausfreund unangemeldet, ohne Hut und Paletot
7216
in die Stube und blieb an der Türe stehen. Sein Äußeres entsprach
7217
durchaus der Beschreibung, die Tony in einem Briefe an ihre Mutter davon
7218
gemacht hatte. Er war von leicht untersetzter Gestalt und weder dick
7219
noch dünn. Er trug einen schwarzen und schon etwas blanken Rock,
7220
ebensolche Beinkleider, die eng und kurz waren und eine weiße Weste, auf
7221
der sich eine lange dünne Uhrkette mit zwei oder drei Kneiferschnüren
7222
kreuzte. Von seinem roten Gesicht hob sich scharf der geschorene weiße
7223
Backenbart ab, der die Wangen bedeckte und Kinn und Lippen frei ließ.
7224
Sein Mund war klein, beweglich, drollig und enthielt lediglich im
7225
Unterkiefer zwei Zähne. Während Herr Kesselmeyer, die Hände in seinen
7226
senkrechten Hosentaschen vergraben, konfus, abwesend und nachdenklich
7227
stehenblieb, setzte er diese beiden gelben, kegelförmigen Eckzähne auf
7228
die Oberlippe. Die weißen und schwarzen Flaumfedern auf seinem Kopfe
7229
flatterten leise, obgleich nicht der geringste Lufthauch fühlbar war.
7231
Endlich zog er die Hände hervor, bückte sich, ließ die Unterlippe hängen
7232
und befreite mühselig ein Kneiferband aus der allgemeinen Verwicklung
7233
auf seiner Brust. Dann hieb er sich das Pincenez mit einem Schlag auf
7234
die Nase, wobei er die abenteuerlichste Grimasse schnitt, musterte das
7235
Ehepaar und bemerkte: »Ahah.«
7237
Es ist, da er diese Redewendung außerordentlich oft gebrauchte, sofort
7238
zu bemerken, daß er sie in sehr verschiedener und sehr eigenartiger
7239
Weise hervorzubringen pflegte. Er konnte sie mit zurückgelegtem Kopf,
7240
krausgezogener Nase, weit offenem Munde und in der Luft umherfuchtelnden
7241
Händen mit einem langgezogenen, nasalen und metallischen Klange ertönen
7242
lassen, der an den Gesang eines chinesischen Gongs erinnerte ... und er
7243
konnte sie, andererseits und abgesehen von vielen Nuancen, ganz kurz,
7244
beiläufig und sanft beiseite werfen, was sich vielleicht noch drolliger
7245
ausnahm; denn er sprach ein sehr getrübtes und näselndes A. Heute ließ
7246
er ein flüchtiges, heiteres und von einem kleinen krampfhaften
7247
Kopfschütteln begleitetes »Ahah« verlauten, das aus einer ungeheuer
7248
fröhlichen Gemütsstimmung hervorzugehen schien ... und doch durfte dem
7249
nicht getraut werden, denn es bestand die Tatsache, daß der Bankier
7250
Kesselmeyer sich desto lustiger benahm, in je gefährlicherer Laune er
7251
sich befand. Wenn er mit tausend Ahahs umhersprang, den Kneifer auf die
7252
Nase hieb und wieder fallen ließ, mit den Armen flatterte, schwatzte und
7253
sich vor übermäßiger Albernheit ersichtlich nicht zu lassen wußte, so
7254
konnte man sicher sein, daß die Bosheit an seinem Inneren zehrte ...
7255
Herr Grünlich sah ihn blinzelnd und mit unverhohlenem Mißtrauen an.
7257
»Schon so früh?« fragte er ...
7259
»Jaha ...« antwortete Herr Kesselmeyer und schüttelte eine seiner
7260
kleinen, roten, runzligen Hände in der Luft, als wollte er sagen:
7261
Gedulde dich nur, es gibt eine Überraschung!... »Ich habe mit Ihnen zu
7262
reden! Unverzüglich zu reden mit Ihnen, mein Lieber!« Er sprach höchst
7263
lächerlich. Er wälzte jedes Wort im Munde umher und gab es mit
7264
unsinnigem Kraftaufwand seines kleinen, zahnarmen, beweglichen Mundes
7265
von sich. Das R rollte er in einer Weise, als sei sein Gaumen gefettet.
7266
Herrn Grünlichs Blinzeln wurde noch mißtrauischer.
7268
»Kommen Sie her, Herr Kesselmeyer«, sagte Tony. »Setzen Sie sich hin. Es
7269
ist hübsch, daß Sie kommen ... Passen Sie mal auf. Sie sollen
7270
Schiedsrichter sein. Ich habe eben einen Streit mit Grünlich gehabt ...
7271
Nun sagen Sie mal: Muß ein dreijähriges Kind ein Kindermädchen haben
7272
oder nicht! Nun?...«
7274
Allein Herr Kesselmeyer schien gar nicht auf sie zu achten. Er hatte
7275
Platz genommen, kraute, indem er seinen winzigen Mund so weit wie nur
7276
immer möglich öffnete und die Nase in Falten legte, mit einem
7277
Zeigefinger seinen geschorenen Backenbart, was ein nervös machendes
7278
Geräusch ergab, und musterte über das Pincenez hinweg mit unsäglich
7279
fröhlicher Miene den eleganten Frühstückstisch, den silbernen Brotkorb,
7280
die Etikette der Rotweinflasche ...
7282
»Nämlich«, fuhr Tony fort, »Grünlich behauptet, ich ruiniere ihn!«
7284
Hier blickte Herr Kesselmeyer sie an ... und dann blickte er Herrn
7285
Grünlich an ... und dann brach er in ein unerhörtes Gelächter aus! »Sie
7286
ruinieren ihn ...?« rief er. »Sie ... ruin ... Sie ... Sie ruinieren ihn
7287
also?... O Gott! Ach Gott! Du liebe Zeit!... Das ist spaßhaft!... Das
7288
ist höchst, höchst, =höchst= spaßhaft!« Worauf er sich einer Flut von
7289
unterschiedlichen Ahahs überließ.
7291
Herr Grünlich rückte sichtlich nervös auf seinem Stuhl hin und her.
7292
Abwechselnd fuhr er mit seinem langen Zeigefinger zwischen Kragen und
7293
Hals und ließ hastig seine goldgelben Favoris durch die Hände
7296
»Kesselmeyer!« sagte er. »Fassen Sie sich doch! Sind Sie von Sinnen?
7297
Hören Sie doch auf zu lachen! Wollen Sie Wein haben? Wollen Sie eine
7298
Zigarre haben? Worüber lachen Sie eigentlich?«
7300
»Worüber ich lache?... Ja, geben Sie mir ein Glas Wein, geben Sie mir
7301
eine Zigarre ... Worüber ich lache? Sie finden also, daß Ihre Frau
7302
Gemahlin Sie ruiniert?«
7304
»Sie ist allzu luxuriös veranlagt«, sagte Herr Grünlich ärgerlich.
7306
Tony bestritt dies durchaus nicht. Ganz ruhig zurückgelehnt, die Hände
7307
im Schoße, auf den Sammetschleifen ihres Schlafrockes, sagte sie mit
7308
keck hervorgeschobener Oberlippe: »Ja ... So bin ich einmal. Das ist
7309
klar. Ich habe es von Mama. Alle Krögers haben immer Hang zum Luxus
7312
Sie würde mit der gleichen Ruhe erklärt haben, daß sie leichtsinnig,
7313
jähzornig, rachsüchtig sei. Ihr ausgeprägter Familiensinn entfremdete
7314
sie nahezu den Begriffen des freien Willens und der Selbstbestimmung und
7315
machte, daß sie mit einem beinahe fatalistischen Gleichmut ihre
7316
Eigenschaften feststellte und anerkannte ... ohne Unterschied und ohne
7317
den Versuch, sie zu korrigieren. Sie war, ohne es selbst zu wissen, der
7318
Meinung, daß jede Eigenschaft, gleichviel welcher Art, ein Erbstück,
7319
eine Familientradition bedeute und folglich etwas Ehrwürdiges sei, wovor
7320
man in jedem Falle Respekt haben müsse.
7322
Herr Grünlich hatte fertig gefrühstückt, und der Duft der beiden
7323
Zigarren vermischte sich mit dem warmen Ofendunst.
7325
»Haben Sie Luft, Kesselmeyer?« fragte der Hausherr ... »Nehmen Sie eine
7326
andere. Ich schenke Ihnen noch ein Glas Rotwein ein ... Sie wollen also
7327
mit mir reden? Ist es eilig? Von Belang?... Finden Sie es vielleicht zu
7328
warm hier?... Wir fahren nachher zusammen zur Stadt ... Im Rauchzimmer
7329
ist es übrigens kühler ...« Aber zu allen diesen Bemühungen schüttelte
7330
Herr Kesselmeyer lediglich eine Hand in der Luft, als wollte er sagen:
7331
Das führt zu nichts, mein Lieber!
7333
Endlich erhob man sich, und während Tony im Speisezimmer verblieb, um
7334
das Folgmädchen beim Abdecken zu überwachen, führte Herr Grünlich
7335
seinen Geschäftsfreund durch das Penseezimmer. Indem er die Spitze
7336
seines linken Backenbartes nachdenklich zwischen den Fingern drehte,
7337
schritt er geneigten Hauptes voran; mit den Armen rudernd, verschwand
7338
Herr Kesselmeyer hinter ihm im Rauchzimmer.
7340
Zehn Minuten verstrichen. Tony hatte sich auf einen Augenblick in den
7341
Salon begeben, um persönlich mit einem bunten Federbüschel über die
7342
glänzende Nußholzplatte des winzigen Sekretärs und die geschweiften
7343
Beine des Tisches zu fahren, und ging nun langsam durch das Eßzimmer ins
7344
Wohngemach hinüber. Sie schritt ruhig und mit unverkennbarer Würde.
7345
Demoiselle Buddenbrook hatte als Madame Grünlich ersichtlich an
7346
Selbstbewußtsein nichts eingebüßt. Sie hielt sich überaus aufrecht,
7347
drückte das Kinn ein wenig auf die Brust und betrachtete die Dinge von
7348
oben herab. In der einen Hand den zierlichen lackierten Schlüsselkorb,
7349
die andere leichthin in die Seitentasche ihres dunkelroten Schlafrockes
7350
geschoben, ließ sie sich ernsthaft von den langen, weichen Falten
7351
umspielen, während doch der naive und unwissende Ausdruck ihres Mundes
7352
verriet, daß diese ganze Würde etwas unendlich Kindliches, Harmloses und
7355
Im Penseezimmer bewegte sie sich mit der kleinen messingnen Brause
7356
umher, um die schwarze Erde der Blattgewächse zu tränken. Sie liebte
7357
ihre Palmen sehr, die so prachtvoll zur Vornehmheit der Wohnung
7358
beitrugen. Sie betastete behutsam einen jungen Trieb an einem der
7359
dicken, runden Schäfte, prüfte zärtlich die majestätisch entfalteten
7360
Fächer und entfernte hie und da eine gelbe Spitze mit der Schere ...
7361
Plötzlich horchte sie auf. Die Unterredung im Rauchzimmer, die schon
7362
seit mehreren Minuten einen lebhaften Klang angenommen hatte, ward jetzt
7363
so laut, daß man hier drinnen jedes Wort verstand, obgleich die Türe
7364
stark und die Portiere schwer war.
7366
»Schreien Sie doch nicht! Mäßigen Sie sich doch, Gott im Himmel!« hörte
7367
man Herrn Grünlich rufen, dessen weiche Stimme die Überanstrengung nicht
7368
vertragen konnte und sich daher quiekend überschlug ... »Nehmen Sie doch
7369
noch eine Zigarre!« setzte er dann mit verzweifelter Milde hinzu.
7371
»Ja, mit dem größesten Vergnügen, danke sehr«, antwortete der Bankier,
7372
worauf eine Pause eintrat, während derer Herr Kesselmeyer sich wohl
7373
bediente. Hierauf sagte er: »Kurz und gut, wollen Sie nun oder wollen
7374
Sie nicht, eins von beidem!«
7376
»Kesselmeyer, prolongieren Sie!«
7378
»Ahah? Na...hein, =nein=, mein Lieber, keineswegs, davon ist überhaupt
7381
»Warum nicht? Was ficht Sie an? Seien Sie doch verständig um des Himmels
7382
willen! Haben Sie so lange gewartet ...«
7384
»Keinen Tag länger, mein Lieber! Ja, sagen wir acht Tage, aber keine
7385
Stunde länger! Verläßt sich denn noch irgend jemand auf ...«
7387
»Keinen Namen, Kesselmeyer!«
7389
»Keinen Namen ... schön. Verläßt sich noch irgend jemand auf Ihren
7390
wohllöblichen Herrn Schw ...«
7392
»Keine Bezeichnung ...! Allmächtiger Gott, seien Sie doch nicht albern!«
7394
»Schön, keine Bezeichnung! Verläßt sich noch irgend jemand auf die
7395
bewußte Firma, mit der Ihr Kredit steht und fällt, mein Lieber? Wieviel
7396
hat sie verloren bei dem Bankerott in Bremen? Fünfzigtausend?
7397
Siebzigtausend? Hunderttausend? Noch mehr? Daß sie engagiert war, ganz
7398
ungeheuer engagiert war, das wissen die Spatzen auf den Dächern ...
7399
Dergleichen ist Stimmungssache. Gestern war ... schön, keinen Namen!
7400
Gestern war die bewußte Firma gut und schützte Sie unbewußt vollkommen
7401
vor Bedrängnis ... Heute ist sie flau, und B. Grünlich ist
7402
fläuer-am-fläuesten ... das ist doch klar? Merken Sie es denn nicht? Sie
7403
sind doch der erste, der solche Schwankungen zu fühlen hat ... Wie
7404
begegnet man Ihnen denn? Wie sieht man Sie denn an? Bock und Goudstikker
7405
sind wohl ungeheuer zuvorkommend und vertrauensvoll? Wie benimmt sich
7406
denn die Kreditbank?«
7410
»Ahah? Sie lügen ja? Ich weiß ja, daß sie Ihnen schon gestern einen
7411
Tritt versetzt hat? Einen höchst, höchst aufmunternden Tritt?... Nun
7412
sehen Sie mal!... Aber schämen Sie sich nur nicht. Es liegt natürlich in
7413
Ihrem Interesse, mir weiszumachen, daß die anderen nach wie vor ruhig
7414
und sicher sind ... Na -- hein, mein Lieber! Schreiben Sie dem Konsul.
7415
Ich warte eine Woche.«
7417
»Eine Abschlagssumme, Kesselmeyer!«
7419
»Abschlagssumme her und hin! Abschlagssummen läßt man sich erlegen, um
7420
sich vorderhand von jemandes Zahlungsfähigkeit zu überzeugen! Habe ich
7421
das Bedürfnis, =darüber= Experimente anzustellen? Ich weiß doch
7422
wundervoll Bescheid, wie es mit =Ihrer= Zahlungsfähigkeit bestellt ist!
7423
Ha-ahah ... Abschlagssumme finde ich höchst, höchst spaßhaft ...«
7425
»Mäßigen Sie doch Ihre Stimme, Kesselmeyer! Lachen Sie doch nicht
7426
fortwährend so gottverflucht! Meine Lage ist so ernst ... ja, ich
7427
gestehe, sie ist ernst; aber ich habe soundso viele Geschäfte in der
7428
Schwebe ... Alles kann sich zum Guten wenden. Hören Sie, passen Sie auf:
7429
Prolongieren Sie, und ich unterschreibe Ihnen 20 Prozent ...«
7431
»Nichtsda, nichtsda ... höchst lächerlich, mein Lieber! Na-hein, ich bin
7432
ein Freund des Verkaufs zur rechten Zeit! Sie haben mir 8 Prozent
7433
geboten, und ich habe prolongiert. Sie haben mir 12 und 16 Prozent
7434
geboten, und ich habe jedesmal prolongiert. Jetzt könnten Sie mir 40
7435
bieten, und ich würde nicht denken an Prolongation, nicht einmal daran
7436
denken, mein Lieber!... Seit Gebrüder Westfahl in Bremen auf die Nase
7437
fielen, sucht für den Augenblick jeder seine Interessen von der bewußten
7438
Firma abzuwickeln und sich sicherzustellen ... Wie gesagt, ich bin für
7439
rechtzeitigen Verkauf. Ich habe Ihre Unterschriften behalten, solange
7440
Johann Buddenbrook zweifellos gut war ... mittlerweile konnte ich ja die
7441
rückständigen Zinsen zum Kapitale schlagen und Ihnen die Prozente
7442
steigern! Aber man behält eine Sache doch nur so lange, als sie steigt
7443
oder wenigstens solide feststeht ... wenn sie anfängt zu fallen, so
7444
verkauft man ... will sagen, ich verlange mein Kapital.«
7446
»Kesselmeyer, Sie sind schamlos!«
7448
»A-aha, schamlos finde ich höchst spaßhaft!... Was wollen Sie überhaupt?
7449
Sie müssen sich ja sowieso an Ihren Schwiegervater wenden! Die
7450
Kreditbank tobt, und im übrigen sind Sie doch auch nicht grade
7453
»Nein, Kesselmeyer ... ich beschwöre Sie, hören Sie jetzt mal ruhig
7454
zu!... Ja, ich bin offen, ich gestehe Ihnen unumwunden, meine Lage ist
7455
ernst. Sie und die Kreditbank sind ja nicht die einzigen ... Es sind mir
7456
Wechsel vorgelegt worden ... Alles scheint sich verabredet zu haben ...«
7458
»Selbstverständlich. Unter diesen Umständen ... Aber da ist es doch ein
7461
»Nein, Kesselmeyer, hören Sie mich an!... Tun Sie mir doch die Liebe,
7462
noch eine Zigarre zu nehmen ...«
7464
»Ich bin ja mit dieser noch nicht zur Hälfte fertig?! Lassen Sie mich
7465
mit Ihren Zigarren in Ruhe! Bezahlen Sie ...«
7467
»Kesselmeyer, lassen Sie mich jetzt nicht fallen ... Sie sind mein
7468
Freund, Sie haben an meinem Tische gesessen ...«
7470
»Sie vielleicht nicht an meinem, mein Lieber?«
7472
»Jaja ... aber kündigen Sie mir jetzt Ihren Kredit nicht,
7475
»Kredit? =Kredit= auch noch? Sind Sie eigentlich bei Troste? Eine neue
7478
»Ja, Kesselmeyer, ich beschwöre Sie ... wenig, eine Kleinigkeit!... Ich
7479
brauche nur nach rechts und links ein paar Aus- und Abschlagszahlungen
7480
zu machen, um mir wieder Respekt und Geduld zu verschaffen ... Halten
7481
Sie mich, und Sie werden ein großes Geschäft machen! Wie gesagt, eine
7482
Menge Angelegenheiten befinden sich in der Schwebe ... Alles wird sich
7483
zum Guten wenden ... Sie wissen, ich bin rege und findig ...«
7485
»Ja, ein Geck, ein Tapps sind Sie, mein Lieber! Wollen Sie nicht die
7486
übergroße Güte haben, mir zu sagen, was Sie jetzt noch ausfindig machen
7487
wollen?... Vielleicht irgendwo in der weiten Welt eine Bank, die Ihnen
7488
auch nur einen Silbergroschen auf den Tisch legt? Oder noch einen
7489
Schwiegervater?... Ach nein ... Ihren Hauptcoup haben Sie doch wohl
7490
hinter sich! Dergleichen machen Sie nicht noch einmal! Alle Achtung!
7491
Na-hein, meine höchste Anerkennung ...«
7493
»Sprechen Sie doch leiser in Teufels Namen ...«
7495
»Ein Geck sind Sie! Rege und findig ... ja, aber immer nur zugunsten
7496
anderer Leute! Sie sind gar nicht skrupulös, und doch haben Sie noch
7497
niemals Vorteile davon gehabt. Sie haben Spitzbübereien begangen, Sie
7498
haben sich Kapital ergaunert, nur um mir statt 12 Prozent 16 zu zahlen.
7499
Sie haben Ihre ganze Ehrlichkeit über Bord geworfen, ohne den geringsten
7500
Nutzen davon zu haben. Sie haben ein Gewissen wie ein Schlachterhund und
7501
sind doch ein Pechvogel, ein Tropf, ein armer Narr! Es gibt solche
7502
Leute; sie sind höchst, höchst spaßhaft!... Warum haben Sie eigentlich
7503
solche Angst, sich endgültig mit der ganzen Geschichte an den Bewußten
7504
zu wenden? Weil Sie sich nicht ganz wohl dabei fühlen? Weil es damals
7505
vor vier Jahren nicht alles in Ordnung war? nicht alles ganz säuberlich
7506
zugegangen ist, wie? Fürchten Sie, daß gewisse Dinge ...«
7508
»Gut, Kesselmeyer, ich werde schreiben. Aber wenn er sich weigert? Wenn
7509
er mich fallen läßt?...«
7511
»Oh ... aha! Dann machen wir einen kleinen Bankerott, ein höchst
7512
spaßhaftes Bankeröttchen, mein Lieber! Das ficht mich gar nicht an,
7513
nicht im allermindesten! Ich persönlich bin durch die Zinsen, die Sie
7514
hie und da zusammengekratzt haben, schon ungefähr auf meine Kosten
7515
gekommen ... und bei der Konkursmasse habe ich die Vorhand, mein Teurer
7516
... Und passen Sie auf, ich werde nicht zu kurz kommen. Ich weiß hier
7517
Bescheid bei Ihnen, mein Verehrter! Ich habe die Inventaraufnahme schon
7518
zum voraus in der Tasche ... aha! ich werde schon dafür sorgen, daß auch
7519
kein silbernes Brotkörbchen und kein Schlafrock beiseite geschafft
7522
»Kesselmeyer, Sie haben an meinem Tische gesessen ...«
7524
»Lassen Sie mich mit Ihrem Tische in Ruhe!... In acht Tagen hole ich mir
7525
Antwort. Ich =gehe= zur Stadt; ein bißchen Bewegung wird mir ungeheuer
7526
gut tun. Guten Morgen, mein Lieber! Fröhlichen guten Morgen ...«
7528
Und Herr Kesselmeyer schien aufzubrechen; ja, er ging. Man vernahm seine
7529
sonderbaren, schlürfenden Schritte auf dem Korridor und sah ihn im
7530
Geiste mit den Armen rudern ...
7532
Als Herr Grünlich ins Penseezimmer trat, stand Tony dort, die messingne
7533
Brause in der Hand, und blickte ihm in die Augen.
7535
»Was stehst du ... was starrst du ...«, sagte er, indem er die Zähne
7536
zeigte, mit den Händen vage Bewegungen in der Luft beschrieb und den
7537
Oberkörper hin und her wiegte. Sein rosiges Gesicht besaß nicht die
7538
Fähigkeit, völlig bleich zu werden. Es war rot gefleckt, wie das eines
7544
Der Konsul Johann Buddenbrook traf nachmittags um 2 Uhr in der Villa
7545
ein; im grauen Reisemantel betrat er den Salon der Grünlichs und umarmte
7546
mit einer gewissen schmerzlichen Innigkeit seine Tochter. Er war bleich
7547
und schien gealtert. Seine kleinen Augen lagen tief in den Höhlen, seine
7548
Nase sprang scharf und groß zwischen den eingefallenen Wangen hervor,
7549
seine Lippen schienen schmaler geworden zu sein, und sein Bart, den er
7550
neuerdings nicht mehr als zwei gelockte Streifen trug, die von den
7551
Schläfen bis zur Mitte der Wangen liefen, sondern der, halb verdeckt von
7552
den steifen Vatermördern und der hohen Halsbinde, unterhalb des Kinnes
7553
und der Kinnladen an seinem Halse wuchs, war so stark ergraut wie sein
7556
Der Konsul hatte schwere und aufreibende Tage hinter sich. Thomas war an
7557
einer Lungenblutung erkrankt; durch einen Brief des Herrn van der Kellen
7558
war der Vater von dem Unglücksfalle benachrichtigt worden. Er hatte die
7559
Geschäfte in den bedächtigen Händen seines Prokuristen zurückgelassen
7560
und war auf dem kürzesten Wege nach Amsterdam geeilt. Es hatte sich
7561
erwiesen, daß die Erkrankung seines Sohnes keine unmittelbare Gefahr in
7562
sich schließe, daß aber eine Luftkur im Süden, in Südfrankreich,
7563
dringend ratsam sei, und da es sich günstig getroffen hatte, daß auch
7564
für den jungen Sohn des Prinzipals eine Erholungsreise geplant worden
7565
war, so hatte er die beiden jungen Leute, sobald Thomas reisefähig war,
7566
gemeinsam nach Pau abreisen lassen.
7568
Kaum nach Hause zurückgekehrt, war er von diesem Schlage getroffen
7569
worden, der sein Haus für einen Augenblick in seinen Grundfesten
7570
erschüttert hatte: diesem Bankerotte in Bremen, bei welchem er »auf
7571
einem Brett« achtzigtausend Mark verloren hatte ... wodurch? Die auf
7572
»Gebr. Westfahl« gezogenen, diskontierten Wechsel waren, da die Käufer
7573
ihre Zahlungen eingestellt hatten, auf die Firma zurückgekommen. Nicht
7574
als ob Deckung gefehlt hätte; die Firma hatte gezeigt, was sie
7575
vermochte, sofort, ohne Zögern und Verlegenheit vermochte. Dies aber war
7576
kein Hindernis dafür gewesen, daß der Konsul all die plötzliche Kälte,
7577
die Zurückhaltung, das Mißtrauen auszukosten bekommen hatte, welches ein
7578
solcher Unglücksfall, eine solche Schwächung des Betriebskapitals bei
7579
Banken, bei »Freunden«, bei Firmen im Auslande hervorzurufen pflegt ...
7581
Nun, er hatte sich aufgerichtet, hatte alles ins Auge gefaßt, beruhigt,
7582
geregelt, die Stirne geboten ... Da aber, mitten im Kampf, mitten unter
7583
Depeschen, Briefen, Berechnungen, war noch dies über ihn
7584
hereingebrochen: Grünlich, B. Grünlich, der Mann seiner Tochter, war
7585
zahlungsunfähig, und in einem langen, verwirrten und unendlich
7586
kläglichen Brief erbat, erflehte, erjammerte er eine Aushilfe von
7587
hundert- bis hundertzwanzigtausend Mark! Der Konsul hatte kurz,
7588
oberflächlich und schonend seiner Gattin Mitteilung gemacht, hatte kalt
7589
und unverbindlich geantwortet, er ersuche Herrn Grünlich in Gemeinschaft
7590
mit dem erwähnten Bankier Kesselmeyer um eine Unterredung im Hause des
7591
ersteren, und war abgereist.
7593
Tony empfing ihn im Salon. Sie schwärmte dafür, in dem braunseidenen
7594
Salon Besuch zu empfangen, und da sie, ohne klar zu sehen, eine
7595
durchdringende und feierliche Empfindung von der Wichtigkeit der
7596
gegenwärtigen Lage hatte, so machte sie heute auch mit dem Vater keine
7597
Ausnahme. Sie sah wohl, hübsch und ernsthaft aus und trug ein
7598
hellgraues, auf der Brust und an den Handgelenken mit Spitzen besetztes
7599
Kleid mit Glockenärmeln, stark geschweiftem Reifrock nach neuester Mode
7600
und einer kleinen Brillantspange am Halsverschluß.
7602
»Guten Tag, Papa, =endlich= sieht man dich einmal wieder! Wie geht es
7603
Mama?... Hast du gute Nachrichten von Tom?... Lege doch ab, setz' dich
7604
doch, bitte, lieber Papa!... Willst du nicht ein bißchen Toilette
7605
machen? Ich habe das Fremdenzimmer oben für dich herrichten lassen ...
7606
Grünlich macht auch gerade Toilette ...«
7608
»Laß ihn nur, mein Kind; ich will ihn hier unten erwarten. Du weißt, ich
7609
bin zu einer Unterredung mit deinem Mann gekommen ... zu einer sehr,
7610
sehr ernsten Unterredung, meine liebe Tony. Ist Herr Kesselmeyer hier?«
7612
»Jawohl, Papa, er sitzt im Penseezimmer und besieht das Album ...«
7616
»Oben, mit Thinka, im Kinderzimmer, es geht ihr gut. Sie badet ihre
7617
Puppe ... natürlich nicht im Wasser ... eine Wachspuppe ... kurzum, sie
7620
»Versteht sich.« Der Konsul atmete auf und fuhr fort: »Ich kann nicht
7621
annehmen, liebes Kind, daß du über die Lage ... die Lage deines Mannes
7624
Er hatte sich auf einem der Fauteuils niedergelassen, die den großen
7625
Tisch umgaben, während Tony auf einem kleinen Sessel, der drei schräg
7626
übereinander getürmte seidene Kissen darstellte, zu seinen Füßen saß.
7627
Die Finger seiner Rechten spielten behutsam mit den Diamanten an ihrem
7630
»Nein, Papa«, antwortete Tony; »das muß ich dir gestehen, ich weiß gar
7631
nichts. Mein Gott, ich bin eine Gans, weißt du, ich habe gar keine
7632
Einsicht! Neulich habe ich ein bißchen zugehört, als Kesselmeyer mit
7633
Grünlich sprach ... Zum Schlusse schien es mir, als ob Herr Kesselmeyer
7634
wieder nur Spaß machte ... er redet immer so lächerlich. Ein- oder
7635
zweimal verstand ich deinen Namen ...«
7637
»Du verstandest meinen Namen? In welcher Beziehung?«
7639
»Nein, von der Beziehung weiß ich gar nichts, Papa!... Grünlich war seit
7640
diesem Tage mürrisch ... ja, unausstehlich, das muß ich sagen!... Bis
7641
gestern ... gestern war er sanft gestimmt und fragte zehn- oder
7642
zwölfmal, ob ich ihn liebe, ob ich ein gutes Wort bei dir für ihn
7643
einlegen würde, wenn er dich etwas zu bitten hätte ...«
7647
»Ja ... er teilte mir mit, er habe dir geschrieben, du würdest kommen
7648
... Gut, daß du da bist! Es ist ein bißchen unheimlich ... Grünlich hat
7649
den grünen Spieltisch hergerichtet ... es liegen eine Menge Papiere und
7650
Bleistifte darauf ... daran sollst du nachher mit ihm und Kesselmeyer
7651
eine Beratung abhalten ...«
7653
»Höre, mein liebes Kind«, sagte der Konsul, indem er mit der Hand über
7654
ihr Haar strich ... »Ich muß dich nun etwas fragen, etwas Ernstes! Sage
7655
mir einmal ... du liebst doch deinen Mann von ganzem Herzen?«
7657
»Gewiß, Papa«, sagte Tony mit einem so kindisch heuchlerischen Gesicht,
7658
wie sie es ehemals zustande gebracht, wenn man sie gefragt hatte: Du
7659
wirst nun doch niemals wieder die Puppenliese ärgern, Tony?... Der
7660
Konsul schwieg einen Augenblick.
7662
»Du liebst ihn doch so«, fragte er dann, »daß du nicht ohne ihn leben
7663
könntest ... unter keinen Umständen, wie? auch wenn durch Gottes Willen
7664
seine Lage sich ändern sollte, wenn er in Verhältnisse versetzt werden
7665
würde, die es ihm nicht mehr erlaubten, dich fernerhin mit allen diesen
7666
Dingen zu umgeben ...?« Und seine Hand beschrieb eine flüchtige Bewegung
7667
über die Möbel und Portieren des Zimmers hin, über die vergoldete
7668
Stutzuhr auf der Spiegeletagere und endlich über ihr Kleid hinunter.
7670
»Gewiß, Papa«, wiederholte Tony in dem tröstenden Ton, den sie beinahe
7671
immer annahm, wenn jemand ernst zu ihr sprach. Sie blickte an ihres
7672
Vaters Gesicht vorbei aufs Fenster, hinter dem lautlos ein zarter und
7673
dichter Schleierregen sich hernieder bewegte. Ihre Augen waren voll von
7674
einem Ausdruck, wie Kinder ihn annehmen, wenn man beim Märchenvorlesen
7675
so taktlos ist, eine allgemeine Betrachtung über Moral und Pflichten
7676
einfließen zu lassen ... einem Mischausdruck von Verlegenheit und
7677
Ungeduld, Frömmigkeit und Verdrossenheit.
7679
Der Konsul betrachtete sie während einer Minute stumm und mit
7680
nachdenklichem Blinzeln. War er mit ihrer Antwort zufrieden? Er hatte
7681
daheim und unterwegs alles reiflich erwogen ...
7683
Jeder Mensch begreift, daß Johann Buddenbrooks erster und aufrichtigster
7684
Beschluß dahin ging, eine Auszahlung irgendwelcher Höhe an seinen
7685
Schwiegersohn nach Kräften zu vermeiden. Als er sich aber erinnerte, wie
7686
dringend er, um ein gelindes Wort zu gebrauchen, diese Ehe befürwortet
7687
hatte, als er sich den Blick ins Gedächtnis zurückrief, mit dem das
7688
Kind nach der Hochzeitsfeier von ihm Abschied genommen und ihn gefragt
7689
hatte: »Bist du mit mir zufrieden?«, da mußte er einem ziemlich
7690
niederdrückenden Schuldbewußtsein seiner Tochter gegenüber Raum geben
7691
und sich sagen, daß diese Sache ganz und gar durch ihren Willen
7692
entschieden werden müsse. Er wußte wohl, daß sie in diese Verbindung
7693
nicht aus Gründen der Liebe gewilligt hatte, aber er rechnete mit der
7694
Möglichkeit, daß diese vier Jahre, die Gewöhnung und die Geburt des
7695
Kindes vieles verändert haben konnten, daß Tony sich jetzt ihrem Manne
7696
mit Leib und Seele verbunden fühlen und aus guten christlichen und
7697
weltlichen Gründen jeden Gedanken an eine Trennung zurückweisen konnte.
7698
In diesem Falle, überlegte der Konsul, müsse er sich zur Hergabe jeder
7699
Geldsumme bequemen. Zwar verlangten Christenpflicht und Frauenwürde, daß
7700
Tony ihrem angetrauten Gatten bedingungslos auch ins Unglück folgte;
7701
wenn sie aber tatsächlich diesen Entschluß an den Tag legen würde, so
7702
fühlte er sich nicht berechtigt, sie fortan alle die Verschönerungen und
7703
Bequemlichkeiten des Lebens, an die sie von Kindesbeinen an gewöhnt war,
7704
unverschuldet entbehren zu lassen ... so fühlte er sich verpflichtet,
7705
eine Katastrophe zu verhüten und B. Grünlich um jeden Preis zu halten.
7706
Kurz, das Ergebnis seiner Erwägungen war der Wunsch gewesen, seine
7707
Tochter mitsamt ihrem Kinde zu sich zu nehmen und Herrn Grünlich seiner
7708
Wege gehen zu lassen. Mochte Gott dies Äußerste verhüten! Für jeden Fall
7709
bewegte er den Rechtsparagraphen bei sich, der bei bestehender
7710
Unfähigkeit des Gatten, Frau und Kinder zu ernähren, zur Scheidung
7711
berechtigte. Vor allem aber mußte er die Ansichten seiner Tochter
7714
»Ich sehe«, sagte er, indem er fortfuhr, zärtlich ihr Haar zu
7715
streicheln, »ich sehe, mein liebes Kind, daß du von guten und
7716
lobenswerten Grundsätzen beseelt bist. Allein ... ich kann nicht
7717
annehmen, daß du die Dinge betrachtest, wie sie, Gott sei's geklagt,
7718
betrachtet werden müssen: nämlich als Tatsachen. Ich habe dich nicht
7719
gefragt, was du in diesem oder jenem Falle vielleicht tun =würdest=,
7720
sondern was du jetzt, heute, sogleich tun =wirst=. Ich weiß nicht,
7721
inwiefern du die Verhältnisse kennst oder ahnst ... ich habe also die
7722
traurige Pflicht, dir zu sagen, daß dein Mann sich genötigt sieht,
7723
seine Zahlungen einzustellen, daß er sich geschäftlich nicht mehr halten
7724
kann ... ich glaube, du verstehst mich ...«
7726
»Grünlich macht Bankerott ...?« fragte Tony leise, indem sie sich halb
7727
von ihren Kissen erhob und rasch des Konsuls Hand ergriff ...
7729
»Ja, mein Kind«, sagte er ernst. »Du vermutetest das nicht?«
7731
»Ich habe nichts Bestimmtes vermutet ...«, stammelte sie. »Dann hat
7732
Kesselmeyer also nicht Spaß gemacht ...?« fuhr sie fort, indem sie
7733
schräg vor sich hin auf den braunen Teppich starrte ... »=O Gott!=«
7734
stieß sie plötzlich hervor und sank auf ihren Sitz zurück. Erst in
7735
diesem Augenblick ging alles vor ihr auf, was in dem Worte »Bankerott«
7736
verschlossen lag, alles, was sie schon als kleines Kind dabei an Vagem
7737
und Fürchterlichem empfunden hatte ... »Bankerott« ... das war etwas
7738
Gräßlicheres als der Tod, das war Tumult, Zusammenbruch, Ruin, Schmach,
7739
Schande, Verzweiflung und Elend ... »Er macht Bankerott!« wiederholte
7740
sie. Sie war dermaßen geschlagen und niedergeschmettert von diesem
7741
Schicksalswort, daß sie an keine Hilfe dachte, auch nicht an eine, die
7742
von ihrem Vater kommen könnte.
7744
Er betrachtete sie mit emporgezogenen Brauen, mit seinen kleinen,
7745
tiefliegenden Augen, die traurig und müde aussahen und dennoch eine ganz
7746
außerordentliche Spannung verrieten.
7748
»Ich fragte dich also«, sagte er sanft, »meine liebe Tony, ob du dich
7749
bereit hältst, deinem Manne auch in die Armut hinein zu folgen?...«
7750
Gleich darauf gestand er sich, daß er das harte Wort »Armut« instinktiv
7751
als Abschreckungsmittel gewählt habe, und fügte hinzu: »Er kann sich
7752
wieder emporarbeiten ...«
7754
»Gewiß, Papa«, antwortete Tony. Aber das hinderte nicht, daß sie in
7755
Tränen ausbrach. Sie schluchzte in ihr Batisttüchlein, das mit Spitzen
7756
besetzt war und das Monogramm _AG_ trug. Sie hatte noch völlig ihr
7757
Kinderweinen: ganz ungeniert und ohne Ziererei. Ihre Oberlippe machte
7758
einen unaussprechlich rührenden Eindruck dabei.
7760
Ihr Vater fuhr fort, sie mit den Augen zu prüfen. »Das ist dein Ernst,
7761
mein Kind?« fragte er. Er war genau so ratlos wie sie.
7763
»Muß ich nicht ...«, schluchzte sie. »Ich muß doch ...«
7765
»Durchaus nicht!« sagte er lebhaft; aber schuldbewußt verbesserte er
7766
sich sofort: »Ich würde dich nicht unbedingt dazu zwingen, meine liebe
7767
Tony. Gesetzt den Fall, daß deine Gefühle dich nicht unverbrüchlich an
7768
deinen Mann fesselten ...«
7770
Sie sah ihn mit in Tränen schwimmenden und verständnislosen Augen an.
7774
Der Konsul wand sich ein wenig hin und her und fand ein Auskunftsmittel.
7776
»Mein gutes Kind, du kannst glauben, daß ich es sehr schmerzhaft
7777
empfinden würde, dich all den Unbilden und Peinlichkeiten aussetzen zu
7778
müssen, die durch das Unglück deines Mannes, durch die Auflösung des
7779
Geschäftes und deines Hausstandes unmittelbar werden herbeigeführt
7780
werden ... Ich habe den Wunsch, dich diesen ersten Unannehmlichkeiten zu
7781
entziehen und dich sowie unsere kleine Erika vorderhand zu uns nach
7782
Hause zu nehmen. Ich glaube, daß du mir das danken wirst ...?«
7784
Tony schwieg einen Augenblick, während dessen sie ihre Tränen trocknete.
7785
Sie hauchte umständlich auf ihr Taschentuch und drückte es gegen die
7786
Augen, um die Entzündung zu verhüten. Hierauf fragte sie in
7787
entschiedenem Tone, ohne die Stimme zu erheben: »Papa, =ist= Grünlich
7788
schuldig! =kommt= er aus Leichtsinn und Unredlichkeit ins Unglück!«
7790
»Höchst wahrscheinlich!...« sagte der Konsul. »Das heißt ... nein, ich
7791
weiß es nicht, mein Kind. Ich sagte dir, daß die Auseinandersetzung mit
7792
ihm und seinem Bankier noch aussteht ...«
7794
Tony schien auf diese Antwort gar nicht geachtet zu haben. Gebückt auf
7795
ihren drei seidenen Kissen stützte sie den Ellenbogen auf das Knie und
7796
das Kinn in die Hand und blickte mit tiefgesenktem Kopfe versunken und
7797
träumerisch von unten herauf ins Zimmer hinein.
7799
»Ach, Papa«, sagte sie leise und beinahe ohne die Lippen zu bewegen,
7800
»wäre es damals nicht besser gewesen ...«
7802
Der Konsul konnte ihr Gesicht nicht sehen; aber es trug den Ausdruck,
7803
der an manchem Sommerabend, wenn sie zu Travemünde an dem Fenster ihres
7804
kleinen Zimmers lehnte, darauf gelegen hatte ... Ihr einer Arm ruhte
7805
auf den Knien ihres Vaters, während die Hand schlaff und ohne Stütze
7806
nach unten hing. Selbst diese Hand drückte eine unendlich wehmütige und
7807
zärtliche Hingebung aus, eine erinnerungsvolle und süße Sehnsucht, die
7808
in die Ferne schweifte.
7810
»Besser ...?« fragte Konsul Buddenbrook. »Wenn was nicht geschehen wäre,
7813
Er war von Herzen zu dem Geständnis bereit, daß es besser gewesen wäre,
7814
diese Ehe nicht zu schließen; aber Tony sagte nur mit einem Seufzer:
7817
Es schien, daß ihre Gedanken sie fesselten, daß sie weit abseits weilte
7818
und den »Bankerott« beinahe vergessen hatte. Der Konsul sah sich
7819
genötigt, selbst auszusprechen, was er lieber nur bestätigt hätte.
7821
»Ich glaube deine Gedanken zu erraten, liebe Tony«, sagte er, »und auch
7822
ich meinerseits, ich zögere nicht, dir zu bekennen, daß ich den Schritt,
7823
der mir vor vier Jahren als klug und heilsam erschien, in dieser Stunde
7824
bereue ... aufrichtig bereue. Ich glaube, vor Gott nicht schuldig zu
7825
sein. Ich glaube, meine Pflicht getan zu haben, indem ich mich bemühte,
7826
dir eine deiner Herkunft angemessene Existenz zu schaffen ... Der Himmel
7827
hat es anders gewollt ... du wirst von deinem Vater nicht glauben, daß
7828
er damals, leichtfertig und unüberlegt, dein Glück aufs Spiel gesetzt
7829
hat! Grünlich trat mit mir in Verbindung, versehen mit den besten
7830
Empfehlungen, ein Pastorssohn, ein christlicher und weltläufiger Mann
7831
... Später habe ich geschäftliche Erkundigungen über ihn eingezogen, die
7832
so günstig lauteten als möglich. Ich habe die Verhältnisse geprüft ...
7833
Das alles ist dunkel, dunkel und harrt noch der Aufklärung. Aber nicht
7834
wahr, du klagst mich nicht an ...«
7836
»Nein, Papa! wie kannst du dergleichen sagen! Komm, laß es dir nicht zu
7837
Herzen gehen, armer Papa ... Du siehst blaß aus, soll ich nicht ein paar
7838
Magentropfen herunterholen?« Sie hatte ihre Arme um seinen Hals gelegt
7839
und küßte ihn auf die Wangen.
7841
»Ich danke dir«, sagte er; »so, so ... laß nur, ich danke dir. Ja, ich
7842
habe angreifende Tage hinter mir ... Was soll man tun? Ich habe viel
7843
Ärgernis gehabt. Das sind Prüfungen von Gott. Aber das hindert nicht,
7844
daß ich mich dir gegenüber nicht ganz ohne Schuld fühlen kann, mein
7845
Kind. Alles kommt jetzt auf die Frage an, die ich dir schon vorgelegt
7846
habe, die du mir aber noch nicht hinlänglich beantwortet hast. Sprich
7847
offen zu mir, Tony ... hast du in diesen Jahren der Ehe deinen Mann
7850
Tony weinte aufs neue, und indem sie mit beiden Händen, in denen sie das
7851
Batisttüchlein hielt, ihre Augen bedeckte, brachte sie unter Schluchzen
7852
hervor: »Ach ... was fragst du, Papa!... Ich habe ihn niemals geliebt
7853
... er war mir immer widerlich ... weißt du das denn nicht ...?«
7855
Es wäre schwer zu sagen, was auf dem Gesichte Johann Buddenbrooks sich
7856
abspielte. Seine Augen blickten erschrocken und traurig, und dennoch
7857
kniff er die Lippen zusammen, so daß Mundwinkel und Wangen sich
7858
falteten, wie es zu geschehen pflegte, wenn er ein vorteilhaftes
7859
Geschäft zum Abschluß gebracht hatte. Er sagte leise: »Vier Jahre ...«
7861
Tonys Tränen versiegten plötzlich. Das feuchte Taschentuch in der Hand,
7862
richtete sie sich auf ihrem Sitze empor und sagte zornig: »Vier Jahre
7863
... ha! manchmal hat er abends bei mir gesessen und die Zeitung gelesen
7864
in diesen vier Jahren ...!«
7866
»Gott hat euch beiden ein Kind geschenkt ...«, sagte der Konsul bewegt.
7868
»Ja, Papa ... und ich habe Erika sehr lieb ... obgleich Grünlich
7869
behauptet, ich sei nicht kinderlieb ... Ich würde mich nie von ihr
7870
trennen, das sage ich dir ... aber Grünlich -- nein!... Grünlich --
7871
nein!... Nun macht er auch noch Bankerott!... Ach Papa, wenn du mich und
7872
Erika nach Hause nehmen willst ... mit Freuden! Nun weißt du es!«
7874
Der Konsul kniff wiederum die Lippen zusammen; er war äußerst zufrieden.
7875
Immerhin mußte der Hauptpunkt noch berührt werden, aber bei der
7876
Entschlossenheit, die Tony an den Tag legte, riskierte man wenig damit.
7878
»Bei alledem«, sagte er, »scheinst du völlig zu vergessen, mein Kind,
7879
daß ja Hilfe denkbar wäre ... und zwar durch mich. Dein Vater hat dir
7880
bereits bekannt, daß er sich dir gegenüber nicht unbedingt schuldlos
7881
fühlen kann, und in dem Falle ... nun, in dem Falle, daß du es von ihm
7882
erhoffst ... erwartest ... würde er einspringen, würde er das Falliment
7883
verhüten, würde er die Schulden deines Mannes wohl oder übel decken und
7884
sein Geschäft flott erhalten ...«
7886
Er prüfte sie gespannt, und ihr Mienenspiel erfüllte ihn mit Genugtuung.
7887
Es drückte Enttäuschung aus.
7889
»Um wieviel handelt es sich eigentlich?« fragte sie.
7891
»Was tut das zur Sache, mein Kind ... um eine große, große Summe!« Und
7892
Konsul Buddenbrook nickte einigemal mit dem Kopfe, als ob die Wucht des
7893
Gedankens an diese Summe ihn langsam hin und her schüttelte. »Dabei«,
7894
fuhr er fort, »darf ich dir nicht verhehlen, daß die Firma, ganz
7895
abgesehen von dieser Sache, Verluste erlitten hat, und daß die Hergabe
7896
dieser Summe eine Schwächung für sie bedeuten würde, von der sie sich
7897
schwer ... schwer wieder erholen könnte. Ich sage das keineswegs,
7900
Er vollendete nicht. Tony war aufgesprungen, sie war sogar ein paar
7901
Schritte zurückgetreten und, noch immer das nasse Spitzentüchlein in der
7902
Hand, rief sie: »Gut! Genug! Nie!«
7904
Sie sah beinahe heroisch aus. Das Wort »Firma« hatte eingeschlagen.
7905
Höchst wahrscheinlich wirkte es entscheidender als selbst ihre Abneigung
7906
gegen Herrn Grünlich.
7908
»Das tust du =nicht=, Papa!« redete sie ganz außer sich fort. »Willst
7909
auch du noch Bankerott machen? Genug! Niemals!«
7911
In diesem Augenblick öffnete sich die Korridortür ein wenig zögernd, und
7912
Herr Grünlich trat ein.
7914
Johann Buddenbrook erhob sich mit einer Bewegung, welche ausdrückte:
7920
Herrn Grünlichs Gesicht war rot gefleckt, aber er war aufs sorgfältigste
7921
gekleidet. Er trug einen ähnlichen schwarzen, faltigen, soliden
7922
Leibrock, ähnliche erbsenfarbene Beinkleider, wie diejenigen, in denen
7923
er einstmals in der Mengstraße seine ersten Visiten gemacht. In einer
7924
schlaffen Haltung blieb er stehen und sprach, den Blick zu Boden
7925
gerichtet, mit weicher und matter Stimme: »Vater ...«
7927
Der Konsul verbeugte sich kalt und ordnete dann mit einigen energischen
7928
Griffen seine Halsbinde.
7930
»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, setzte Herr Grünlich hinzu.
7932
»Das war meine Pflicht, mein Freund«, erwiderte der Konsul; »nur fürchte
7933
ich, daß es das einzige bleiben wird, was ich in Ihrer Sache zu tun
7936
Sein Schwiegersohn warf ihm einen hastigen Blick zu und nahm dann eine
7937
noch schlaffere Haltung an.
7939
»Ich höre«, fuhr der Konsul fort, »daß Ihr Bankier, Herr Kesselmeyer,
7940
uns erwartet ... welchen Ort haben Sie für die Unterredung bestimmt? Ich
7941
stehe zu Ihrer Verfügung ...«
7943
»Ich bitte Sie um die Güte, mir zu folgen«, murmelte Herr Grünlich.
7945
Konsul Buddenbrook küßte seine Tochter auf die Stirn und sagte: »Geh
7946
hinauf zu deinem Kinde, Antonie!«
7948
Dann schritt er mit Herrn Grünlich, der sich bald vor ihm, bald hinter
7949
ihm bewegte und die Portieren öffnete, durch das Speisezimmer ins
7952
Als Herr Kesselmeyer, der am Fenster stand, sich umwandte, richteten die
7953
weißen und schwarzen Flaumfedern auf seinem Kopfe sich auf und sanken
7954
dann sanft auf den Schädel zurück.
7956
»Herr Bankier Kesselmeyer ... Großhändler Konsul Buddenbrook, mein
7957
Schwiegervater ...«, sagte Herr Grünlich ernst und bescheiden. Des
7958
Konsuls Gesicht war bewegungslos. Herr Kesselmeyer bückte sich mit
7959
hängenden Armen, indem er seine beiden gelben Eckzähne auf die Oberlippe
7960
setzte und sagte: »Ihr Diener, Herr Konsul! Meine lebhafte Satisfaktion,
7961
das Vergnügen zu haben!«
7963
»Verzeihen Sie gütigst, daß Sie haben warten müssen, Kesselmeyer«, sagte
7964
Herr Grünlich. Er war voll Höflichkeit für den einen wie für den
7967
»Kommen wir zur Sache?« bemerkte der Konsul, indem er sich suchend hin
7968
und her wandte ... Der Hausherr beeilte sich zu antworten: »Ich bitte
7971
Während man ins Rauchkabinett hinüberging, sagte Herr Kesselmeyer
7972
aufgeräumt: »Eine angenehme Reise gehabt, Herr Konsul?... Aha, Regen?
7973
Ja, eine schlechte Jahreszeit, eine häßliche, schmutzige Jahreszeit!
7974
Gäbe es ein bißchen Frost, ein bißchen Schnee ...! Aber nichts da!
7975
Regen! Kot! Höchst, höchst widerwärtig ...«
7977
Was für ein sonderbarer Mensch, dachte der Konsul.
7979
In der Mitte des kleinen Zimmers, dessen Tapeten dunkel geblümt waren,
7980
stand ein ziemlich umfangreicher, viereckiger, grünbezogener Tisch. Der
7981
Regen draußen hatte zugenommen. Es war so finster, daß Herr Grünlich die
7982
drei Kerzen, die in silbernen Leuchtern auf der Tafel standen, alsbald
7983
entzündete. Bläuliche, mit Firmenstempeln versehene Geschäftsbriefe und
7984
abgegriffene, hie und da eingerissene, mit Daten und Namenszügen
7985
bedeckte Papiere lagen auf dem grünen Tuch. Außerdem bemerkte man ein
7986
dickleibiges Hauptbuch und ein von wohlgeschärften Gänsefedern und
7987
Bleistiften starrendes Tinten- und Streusandfaß aus Metall.
7989
Herr Grünlich machte die Honneurs mit den stillen, taktvollen und
7990
zurückhaltenden Mienen und Bewegungen, mit denen man die Gäste bei einem
7991
Begräbnis komplimentiert.
7993
»Lieber Vater, bitte, nehmen Sie den Armstuhl«, sagte er sanft. »Herr
7994
Kesselmeyer, haben Sie die Freundlichkeit, sich =hier= zu setzen?...«
7996
Endlich war die Ordnung hergestellt. Der Bankier saß dem Hausherrn
7997
gegenüber, während der Konsul im Armsessel an der Breitseite des Tisches
7998
präsidierte. Die Rückenlehne seines Stuhles berührte die Korridortür.
8000
Herr Kesselmeyer bückte sich, ließ die Unterlippe hängen, entwirrte auf
8001
seiner Weste einen Kneifer und hieb ihn sich auf die Nase, indem er
8002
dieselbe krauste und den Mund aufriß. Dann kraute er sich mit einem
8003
nervös machenden Geräusch den geschorenen Backenbart, stemmte die Hände
8004
auf die Knie, nickte den Papieren zu und bemerkte kurz und fröhlich:
8005
»Aha! Da haben wir die ganze Bescherung!«
8007
»Sie erlauben nun, daß ich mir einen genaueren Einblick in die Lage der
8008
Dinge verschaffe«, sagte der Konsul und griff nach dem Hauptbuch.
8009
Plötzlich jedoch streckte Herr Grünlich schirmend beide Hände über den
8010
Tisch hin, lange, von hohen blauen Adern durchzogene Hände, die
8011
ersichtlich zitterten, und rief mit bewegter Stimme: »Einen Augenblick!
8012
Noch einen Augenblick, Vater! Oh, lassen Sie mich noch eine einleitende
8013
Bemerkung vorausschicken!... Ja, Sie werden Einblick gewinnen, Ihrem
8014
Blick wird nichts entgehen ... Aber glauben Sie mir: Sie werden Einblick
8015
in die Lage eines Unglücklichen gewinnen, nicht eines Schuldigen! Sehen
8016
Sie in mir einen Mann, Vater, der sich ohn' Ermatten gegen das Schicksal
8017
gewehrt hat, der aber von ihm zu Boden geschlagen ist! In diesem
8020
»Ich werde sehen, mein Freund, ich werde sehen!« sagte der Konsul mit
8021
sichtlicher Ungeduld; und Herr Grünlich zog seine Hände zurück, um dem
8022
Geschicke seinen Lauf zu lassen.
8024
Es vergingen lange, furchtbare Minuten des Schweigens. In dem unruhigen
8025
Kerzenlicht saßen die drei Herren, eingeschlossen von vier dunklen
8026
Wänden, dicht beieinander. Man vernahm keine Bewegung als das Rascheln
8027
des Papieres, mit dem der Konsul hantierte. Sonst war draußen der
8028
fallende Regen das einzige Geräusch.
8030
Herr Kesselmeyer hatte seine Daumen in die Armlöcher der Weste
8031
geschoben, spielte mit den übrigen Fingern an den Schultern Klavier und
8032
sah mit unsäglicher Heiterkeit von einem zum anderen. Herr Grünlich saß
8033
ohne sich zurückzulehnen, die Hände auf dem Tisch, starrte trüb vor sich
8034
hin und ließ dann und wann einen ängstlichen Blick seitwärts zu seinem
8035
Schwiegervater gleiten. Der Konsul blätterte im Hauptbuch, verfolgte mit
8036
dem Fingernagel Kolonnen von Zahlen, verglich Daten und warf mit dem
8037
Bleistift seine kleinen, unleserlichen Ziffern aufs Papier. Sein
8038
abgespanntes Gesicht drückte Entsetzen vor den Verhältnissen aus, in die
8039
er nun »Einblick gewann« ... Endlich legte er seine Linke auf Herrn
8040
Grünlichs Arm und sagte erschüttert: »Sie armer Mann!«
8042
»Vater ...« brachte Herr Grünlich hervor. Dem bedauernswerten Menschen
8043
liefen zwei große Tränen die Wangen hinab und in die goldgelben Favoris
8044
hinein. Herr Kesselmeyer verfolgte den Weg dieser beiden Tropfen mit dem
8045
größten Interesse; er stand sogar ein wenig auf, beugte sich vor und
8046
starrte seinem Gegenüber mit offenem Munde ins Gesicht. Konsul
8047
Buddenbrook war heftig bewegt. Weich gemacht durch das Unglück, das ihn
8048
selbst betroffen, fühlte er, wie das Erbarmen ihn mit sich fortriß; aber
8049
rasch wurde er wieder Herr seiner Gefühle.
8051
»Wie ist es möglich!« sagte er mit einem trostlosen Kopfschütteln ...
8052
»In diesen wenigen Jahren!«
8054
»Kinderspiel!« antwortete Herr Kesselmeyer gut gelaunt. »In vier Jahren
8055
kann man allerliebst vor die Hunde kommen! Wenn man bedenkt, wie munter
8056
Gebrüder Westfahl in Bremen vor kurzer Zeit noch umhersprangen ...«
8058
Der Konsul sah ihn blinzelnd an, indem er ihn weder sah noch hörte. Er
8059
hatte keineswegs seinem wirklichen Gedanken Ausdruck gegeben, über den
8060
er grübelte ... Warum, fragte er sich argwöhnisch und dennoch
8061
verständnislos, warum dies alles gerade jetzt? B. Grünlich hätte schon
8062
vor zwei, vor drei Jahren stehen können, wo er jetzt stand; das übersah
8063
man mit einem Blick. Aber sein Kredit war unerschöpflich gewesen, er
8064
hatte von den Banken Kapital erhalten, er hatte die Unterschriften von
8065
soliden Häusern wie Senator Bock und Konsul Goudstikker immer wieder für
8066
seine Unternehmungen in Empfang genommen, und seine Wechsel hatten
8067
kursiert wie Bargeld. Warum gerade jetzt, jetzt, jetzt -- und der Chef
8068
der Firma Johann Buddenbrook wußte wohl, was er unter diesem Jetzt
8069
verstand -- dieser Zusammenbruch auf allen Seiten, dieses totale
8070
Zurückziehen alles Vertrauens wie auf Verabredung, dieses einmütige
8071
Herfallen über B. Grünlich unter Hintansetzung jeder Rücksicht, ja jeder
8072
Höflichkeitsform? Der Konsul wäre allzu naiv gewesen, hätte er nicht
8073
gewußt, daß das Ansehen seines eignen Hauses nach der Verlobung
8074
Grünlichs mit seiner Tochter auch seinem Schwiegersohne hatte zugute
8075
kommen müssen. Aber hatte der Kredit des Letzteren so vollkommen, so
8076
eklatant, so ausschließlich von dem seinen abgehangen? War Grünlich
8077
selbst denn nichts gewesen? Und die Erkundigungen, die der Konsul
8078
eingezogen, die Bücher, die er geprüft hatte?... Mochte es sich damit
8079
verhalten, wie es wollte, so stand sein Entschluß, in dieser Sache auch
8080
nicht das Glied eines Fingers zu regen, fester als jemals. Man sollte
8081
sich verrechnet haben! Augenscheinlich hatte B. Grünlich die Anschauung
8082
zu erwecken gewußt, als sei er mit Johann Buddenbrook solidarisch?
8083
Diesem, wie es schien, entsetzlich weit verbreiteten Irrtum mußte ein
8084
für alle Male vorgebeugt werden! Und auch dieser Kesselmeyer sollte sich
8085
wundern! Besaß dieser Bajazz ein Gewissen? Es sprang in die Augen, wie
8086
schamlos er ganz allein darauf spekuliert hatte, daß er, Johann
8087
Buddenbrook, den Mann seiner Tochter nicht würde fallen lassen, wie er
8088
dem längst vernichteten Grünlich zwar fort und fort Kredit gewährt, ihn
8089
aber immer blutigere Wucherzinsen hatte unterschreiben lassen ...
8091
»Gleichviel«, sagte er kurz. »Kommen wir zur Sache. Wenn ich hier als
8092
Kaufmann mein Gutachten abgeben soll, so bedauere ich, aussprechen zu
8093
müssen, daß dies die Lage eines zwar unglücklichen, aber auch eines in
8094
hohem Grade schuldigen Mannes ist.«
8096
»Vater ...« stammelte Herr Grünlich.
8098
»Diese Anrede klingt mir =schlecht= in die Ohren!« sagte der Konsul
8099
rasch und hart. »Ihre Forderungen, mein Herr«, fuhr er fort, indem er
8100
sich flüchtig dem Bankier zuwandte, »an Herrn Grünlich betragen
8101
sechzigtausend Mark ...«
8103
»Mit den rückständigen und den zum Kapital geschlagenen Zinsen
8104
achtundsechzigtausendsiebenhundertundfünfundfünfzig Mark und fünfzehn
8105
Schillinge«, antwortete Herr Kesselmeyer behaglich.
8107
»Sehr wohl ... Und Sie wären unter keinen Umständen geneigt, Ihre Geduld
8110
Herr Kesselmeyer begann einfach zu lachen. Er lachte mit offenem Munde,
8111
stoßweise, ohne eine Spur von Hohn und sogar gutmütig, indem er dem
8112
Konsul ins Gesicht sah, als wollte er ihn auffordern, gleichfalls
8115
Johann Buddenbrooks kleine, tiefliegende Augen trübten sich und umgaben
8116
sich plötzlich mit roten Rändern, die sich bis zu den Wangenknochen
8117
hinzogen. Er hatte nur der Form wegen gefragt und wußte sehr wohl, daß
8118
ein Aufschub von seiten dieses einen Gläubigers die Sachlage ganz
8119
unwesentlich verändert haben würde. Aber die Art, in der dieser Mensch
8120
ihn zurückwies, beschämte und erbitterte ihn aufs äußerste. Mit einer
8121
einzigen Handbewegung schob er alles weit von sich, was vor ihm lag,
8122
legte mit einem Ruck den Bleistift auf den Tisch und sagte: »So erkläre
8123
ich, daß ich nicht willens bin, mich länger in irgendeiner Weise mit
8124
dieser Angelegenheit zu beschäftigen.«
8126
»Aha!« rief Herr Kesselmeyer, indem er seine Hände in der Luft
8127
schüttelte ... »Das nenne ich ein Wort, das nenne ich würdig gesprochen.
8128
Der Herr Konsul wird die Sache ganz einfach regeln! Ohne langes
8129
Parlamentieren! Schlanker Hand!«
8131
Johann Buddenbrook sah ihn nicht einmal an.
8133
»Ich kann Ihnen nicht helfen, mein Freund«, wandte er sich ruhig an
8134
Herrn Grünlich. »Die Dinge müssen den Weg nehmen, den sie eingeschlagen
8135
haben ... Ich sehe mich nicht in der Lage, sie aufzuhalten. Fassen Sie
8136
sich und suchen Sie Trost und Kraft bei Gott. Ich muß diese Unterredung
8137
als geschlossen betrachten.«
8139
Überraschenderweise nahm Herrn Kesselmeyers Gesicht einen ernsten
8140
Ausdruck an, was sich ganz wunderlich ausnahm; dann aber nickte er Herrn
8141
Grünlich aufmunternd zu. Dieser saß bewegungslos und rang nur seine
8142
langen Hände auf dem Tische so heftig, daß die Finger leise krachten.
8144
»Vater ... Herr Konsul ...« sagte er mit wankender Stimme, »Sie werden
8145
... Sie können meinen Ruin, mein Elend nicht wollen! Hören Sie mich an!
8146
Es handelt sich in Summa um ein Manko von hundertzwanzigtausend ... Sie
8147
können mich retten! Sie sind ein reicher Mann! Betrachten Sie die Summe
8148
wie Sie wollen ... als eine endgültige Abfindung, als das Erbteil Ihrer
8149
Tochter, als ein verzinsbares Darlehen ... Ich werde arbeiten ... Sie
8150
wissen, daß ich rege und findig bin ...«
8152
»Ich habe mein letztes Wort gesprochen«, sagte der Konsul.
8154
»Erlauben Sie nur ... =können= Sie nicht?« fragte Herr Kesselmeyer und
8155
sah ihn durch seinen Kneifer mit krauser Nase an ... »Wenn ich dem Herrn
8156
Konsul zu bedenken geben dürfte ... dies wäre eigentlich gerade jetzt
8157
eine allerliebste Okkasion, die Stärke der Firma Johann Buddenbrook zu
8160
»Sie täten gut daran, mein Herr, die Sorge für das Ansehen meines Hauses
8161
mir selbst zu überlassen. Um meine Zahlungsfähigkeit klarzustellen,
8162
habe ich nicht nötig, mein Geld in die nächste Pfütze zu werfen ...«
8164
»Nicht doch, nicht doch! A-aha, `Pfütze´ ist höchst spaßhaft! Aber
8165
meinen Herr Konsul nicht, daß der Konkurs Ihres Herrn Schwiegersohnes
8166
auch Ihre Lage in eine falsche und schiefe Beleuchtung ... wie?...
8167
bringen würde ... wie?... rücken würde?...«
8169
»Ich kann Ihnen nur noch einmal empfehlen, meinen Ruf in der
8170
Geschäftswelt meine eigene Sache sein zu lassen«, sagte der Konsul.
8172
Herr Grünlich sah ratlos seinem Bankier ins Gesicht und begann von
8173
neuem: »Vater ... ich flehe Sie an, bedenken Sie, was Sie tun!... Ist
8174
denn von mir allein die Rede? Oh, ich ... mag ich immerhin zugrunde
8175
gehen! Aber Ihre Tochter, mein Weib, sie, die ich so liebe, die ich mir
8176
in so heißem Kampfe erworben ... und unser Kind, unser beider
8177
unschuldiges Kind ... auch sie im Elend! Nein, Vater, ich würde es nicht
8178
tragen! Ich würde mich töten! Ja, mit dieser meiner eigenen Hand würde
8179
ich mich töten ... glauben Sie mir! Und möge der Himmel Sie dann von
8180
jeder Schuld freisprechen!«
8182
Johann Buddenbrook lehnte bleich und mit pochendem Herzen in seinem
8183
Armsessel. Zum zweiten Male stürmten die Empfindungen dieses Mannes auf
8184
ihn ein, deren Äußerung durchaus das Gepräge der Echtheit trug, wieder
8185
mußte er, wie damals, als er Herrn Grünlich den Travemünder Brief seiner
8186
Tochter mitgeteilt hatte, dieselbe gräßliche Drohung vernehmen, und
8187
wieder durchschauerte ihn die schwärmerische Ehrfurcht seiner Generation
8188
vor menschlichen Gefühlen, die stets mit seinem nüchternen und
8189
praktischen Geschäftssinn in Hader gelegen hatte. Dieser Anfall aber
8190
währte nicht länger als eine Sekunde. Hundertundzwanzigtausend Mark ...
8191
wiederholte er innerlich, und dann sagte er ruhig und fest: »Antonie ist
8192
meine Tochter. Ich werde zu verhindern wissen, daß sie unschuldig
8195
»Was wollen Sie damit sagen ...?« fragte Herr Grünlich, indem er langsam
8198
»Das werden Sie erfahren«, antwortete der Konsul. »Für jetzt habe ich
8199
meinen Worten nichts hinzuzufügen.« Und damit erhob er sich, stellte
8200
seinen Stuhl fest auf den Boden und wandte sich zur Tür.
8202
Herr Grünlich saß stumm, steif, fassungslos, und sein Mund bewegte sich
8203
ruckweise nach beiden Seiten, ohne daß sich ihm ein Wort zu entringen
8204
vermochte. Herrn Kesselmeyers Munterkeit aber kehrte bei dieser
8205
abschließenden und endgültigen Bewegung des Konsuls zurück ... ja, sie
8206
nahm überhand, sie überschritt alle Grenzen und wurde fürchterlich! Das
8207
Binokel fiel von seiner Nase, die sich zwischen die Augen hinaufzog,
8208
während sein winziger Mund, in dem die beiden Eckzähne gelb und einsam
8209
ragten, zu zerreißen drohte. Seine kleinen, roten Hände ruderten in der
8210
Luft, seine Flaumfedern flatterten, sein gänzlich verschobenes und vor
8211
übermäßiger Fröhlichkeit verzerrtes Gesicht mit dem weißen, geschorenen
8212
Backenbart war zinnoberfarben ...
8214
»A-aha!« schrie er, daß seine Stimme sich überschlug ... »Das finde ich
8215
höchst ... höchst spaßhaft! Aber Sie sollten es sich überlegen, Herr
8216
Konsul Buddenbrook, ein solch allerliebstes, ein solch köstliches
8217
Exemplar von einem Schwiegersöhnchen in den Graben zu werfen!... So
8218
etwas von Regsamkeit und Findigkeit gibt es auf Gottes weiter, lieber
8219
Erdenwelt nicht zum zweiten Male! Aha! schon vor vier Jahren, als uns
8220
schon einmal das Messer an der Kehle stand ... der Strick um den Hals
8221
lag ... wie wir da plötzlich die Verlobung mit Mademoiselle Buddenbrook
8222
an der Börse ausschreien ließen, noch bevor sie wirklich stattgefunden
8223
hatte ... jederlei Achtung! Na-hein, meine höchste Anerkennung ...!«
8225
»Kesselmeyer!« kreischte Herr Grünlich, machte krampfhafte Bewegungen
8226
mit den Händen, als ob er ein Gespenst von sich abwehrte, und lief in
8227
einen Winkel des Zimmers, woselbst er sich auf einen Stuhl setzte, das
8228
Gesicht in den Händen verbarg und sich so tief bückte, daß die Enden
8229
seiner Favoris auf seinen Schenkeln lagen. Einige Male zog er sogar die
8232
»Wie haben wir das eigentlich gemacht?« fuhr Herr Kesselmeyer fort. »Wie
8233
haben wir es eigentlich angefangen, das Töchterchen und die
8234
achtzigtausend Mark zu ergattern? O-ho! das arrangiert sich! Wenn man
8235
auch nur für einen Sechsling Regsamkeit und Findigkeit besitzt, so
8236
arrangiert sich das! Man legt dem rettenden Herrn Papa recht hübsche
8237
Bücher vor, allerliebste, reinliche Bücher, in denen alles aufs beste
8238
bestellt ist ... nur daß sie mit der rauhen Wirklichkeit nicht völlig
8239
übereinstimmen ... Denn in der rauhen Wirklichkeit sind drei Viertel der
8240
Mitgift schon Wechselschulden!«
8242
Der Konsul stand totenblaß an der Tür, den Griff in der Hand. Das Grauen
8243
rann ihm den Rücken hinunter. Befand er sich in dieser kleinen, unruhig
8244
beleuchteten Stube allein mit einem Gauner und einem vor Bosheit tollen
8247
»Herr, ich verachte Ihre Worte«, brachte er mit geringer Sicherheit
8248
hervor. »Ich verachte Ihre wahnsinnigen Verleumdungen um so mehr, als
8249
sie auch mich treffen ... mich, der ich meine Tochter nicht
8250
leichtfertigerweise ins Unglück gebracht habe. Ich habe sichere
8251
Erkundigungen über meinen Schwiegersohn eingezogen ... das übrige war
8254
Er wandte sich, er =wollte= nichts mehr hören, er öffnete die Tür. Aber
8255
Herr Kesselmeyer schrie ihm nach: »Aha? Erkundigungen? Bei wem? Bei
8256
Bock? Bei Goudstikker? Bei Petersen? Bei Maßmann & Timm? Die waren ja
8257
alle engagiert! Die waren ja alle ganz ungeheuer engagiert! Die waren ja
8258
alle ungemein froh, daß sie durch die Heirat sichergestellt wurden ...«
8260
Der Konsul schlug die Tür hinter sich zu.
8265
Im Speisezimmer hantierte Dora, die nicht ganz ehrliche Köchin.
8267
»Bitte Madame Grünlich herunterzukommen«, befahl der Konsul.
8269
»Mach' dich fertig, mein Kind«, sagte er, als Tony erschien. Er ging mit
8270
ihr in den Salon hinüber. »Mach' dich in aller Eile bereit und trage
8271
Sorge, daß auch Erika bald reisefertig ist ... Wir fahren zur Stadt ...
8272
Wir werden im Gasthof übernachten und morgen nach Hause fahren.«
8274
»Ja, Papa«, sagte Tony. Ihr Gesicht war rot, verstört und ratlos. Sie
8275
machte unnütze und eilfertige Handbewegungen an ihrer Taille, ohne zu
8276
wissen, womit sie ihre Vorbereitungen beginnen sollte, und ohne noch
8277
recht an die Wirklichkeit dieses Erlebnisses glauben zu können.
8279
»Was soll ich mitnehmen, Papa?« fragte sie ängstlich und erregt ...
8280
»Alles? Alle Kleider? Einen oder zwei Koffer?... Macht Grünlich wirklich
8281
Bankerott?... O Gott!... Aber kann ich dann meine Schmucksachen
8282
mitnehmen?... Papa, die Mädchen müssen doch gehen ... ich kann sie nicht
8283
mehr ablohnen ... Grünlich hätte mir heute oder morgen Wirtschaftsgeld
8286
»Laß das, mein Kind; diese Dinge werden hier geordnet werden. Nimm nur
8287
das Notwendigste ... einen Koffer ... einen kleinen. Man wird dir dein
8288
Eigentum nachschicken. Spute dich, hörst du? Wir haben ...«
8290
In diesem Augenblicke wurden die Portieren auseinandergeschlagen und in
8291
den Salon kam Herr Grünlich. Mit raschen Schritten, die Arme
8292
ausgebreitet und den Kopf zur Seite geneigt, in der Haltung eines
8293
Mannes, welcher sagen will: Hier bin ich! Töte mich, wenn du willst!
8294
eilte er auf seine Gattin zu und sank dicht vor ihr auf beide Knie
8295
nieder. Sein Anblick war mitleiderregend. Seine goldgelben Favoris waren
8296
zerzaust, sein Leibrock war zerknittert, seine Halsbinde verschoben,
8297
sein Kragen stand offen, und auf seiner Stirn waren kleine Tropfen zu
8300
»Antonie ...!« sagte er. »Sieh mich hier ... Hast du ein Herz, ein
8301
fühlendes Herz?... Höre mich an ... du siehst einen Mann vor dir, der
8302
vernichtet, zugrunde gerichtet ist, wenn ... ja, der vor Kummer sterben
8303
wird, wenn du seine Liebe verschmähst! Hier liege ich ... bringst du es
8304
über das Herz, mir zu sagen: Ich verabscheue dich --? Ich verlasse
8307
Tony weinte. Es war genau wie damals im Landschaftszimmer. Wieder sah
8308
sie dies angstverzerrte Gesicht, diese flehenden Augen auf sich
8309
gerichtet, und wieder sah sie mit Erstaunen und Rührung, daß diese Angst
8310
und dieses Flehen ehrlich und ungeheuchelt waren.
8312
»Steh' auf, Grünlich«, sagte sie schluchzend. »Bitte, steh' doch auf!«
8313
Und sie versuchte, ihn an den Schultern emporzuheben. Ich verabscheue
8314
dich nicht! Wie kannst du dergleichen sagen!...« Ohne zu wissen, was sie
8315
sonst noch sprechen sollte, wandte sie sich vollkommen hilflos ihrem
8316
Vater zu. Der Konsul ergriff ihre Hand, verneigte sich vor seinem
8317
Schwiegersohn und ging mit ihr der Korridortüre zu.
8319
»Du gehst?« rief Herr Grünlich und sprang auf die Füße ...
8321
»Ich habe Ihnen schon ausgesprochen«, sagte der Konsul, »daß ich es
8322
nicht verantworten kann, mein Kind so ganz unverschuldet dem Unglück zu
8323
überlassen, und ich füge hinzu, daß auch Sie das nicht können. Nein,
8324
mein Herr, Sie haben den Besitz meiner Tochter verscherzt. Und danken
8325
Sie Ihrem Schöpfer dafür, daß er das Herz dieses Kindes so rein und
8326
ahnungslos erhalten hat, daß sie sich =ohne= Abscheu von Ihnen trennt!
8329
Hier aber verlor Herr Grünlich den Kopf. Er hätte von kurzer Trennung,
8330
von Rückkehr und neuem Leben sprechen und vielleicht die Erbschaft
8331
retten können; aber es war zu Ende mit seiner Überlegung, seiner
8332
Regsamkeit und Findigkeit. Er hätte den großen, unzerbrechlichen,
8333
bronzenen Teller nehmen können, der auf der Spiegeletagere stand, aber
8334
er nahm die dünne, mit Blumen bemalte Vase, die sich dicht daneben
8335
befand, und warf sie zu Boden, daß sie in tausend Stücke zersprang ...
8337
»Ha! Schön! Gut!« schrie er. »Geh' nur! Meinst du, daß ich dir
8338
nachheule, du Gans? Ach nein, Sie irren sich, meine Teuerste! Ich habe
8339
dich =nur= deines Geldes wegen geheiratet, aber da es noch lange nicht
8340
genug war, so mach' nur, daß du wieder nach Hause kommst! Ich bin deiner
8341
überdrüssig ... überdrüssig ... überdrüssig ...!«
8343
Johann Buddenbrook führte seine Tochter schweigend hinaus. Er selbst
8344
aber kehrte noch einmal zurück, schritt auf Herrn Grünlich zu, der, die
8345
Hände auf dem Rücken, am Fenster stand und in den Regen hinausstarrte,
8346
berührte sanft seine Schulter und sprach leise und mahnend: »Fassen Sie
8352
Das große Haus in der Mengstraße blieb lange Zeit von einer gedämpften
8353
Stimmung erfüllt, als Madame Grünlich, zusammen mit ihrer kleinen
8354
Tochter, dort wieder eingezogen war. Man ging behutsam umher und sprach
8355
nicht gerne »davon« ... ausgenommen die Hauptperson der ganzen
8356
Angelegenheit selbst, die im Gegenteile mit Leidenschaft davon sprach
8357
und sich dabei wahrhaft in ihrem Elemente fühlte.
8359
Tony bezog mit Erika im zweiten Stockwerk die Zimmer, die ehemals, zur
8360
Zeit der alten Buddenbrooks, ihre Eltern innegehabt hatten. Sie war ein
8361
wenig enttäuscht, als ihr Papa es sich keineswegs in den Sinn kommen
8362
ließ, ein eignes Dienstmädchen für sie zu engagieren, und sie durchlebte
8363
eine nachdenkliche halbe Stunde, als er ihr mit sanften Worten
8364
auseinandersetzte, es zieme sich vorderhand nichts anderes für sie, als
8365
in Zurückgezogenheit zu leben und auf die Geselligkeit in der Stadt zu
8366
verzichten, denn wenn sie auch an dem Geschick, das Gott als Prüfung
8367
über sie verhängt, nach menschlichen Begriffen unschuldig sei, so lege
8368
doch ihre Stellung als geschiedene Frau ihr fürs erste die äußerste
8369
Zurückhaltung auf. Aber Tony besaß die schöne Gabe, sich jeder
8370
Lebenslage mit Talent, Gewandtheit und lebhafter Freude am Neuen
8371
anzupassen. Sie gefiel sich bald in ihrer Rolle als eine von
8372
unverschuldetem Unglück heimgesuchte Frau, kleidete sich dunkel, trug
8373
ihr hübsches aschblondes Haar glatt gescheitelt wie als junges Mädchen
8374
und hielt sich für die mangelnde Geselligkeit schadlos, indem sie zu
8375
Hause mit ungeheurer Wichtigkeit und unermüdlicher Freude an dem Ernst
8376
und der Bedeutsamkeit ihrer Lage Betrachtungen über ihre Ehe, über Herrn
8377
Grünlich und über Leben und Schicksal im allgemeinen anstellte.
8379
Nicht jedermann bot ihr Gelegenheit dazu. Die Konsulin war zwar
8380
überzeugt, daß ihr Gatte korrekt und pflichtgemäß gehandelt habe; aber
8381
sie erhob, wenn Tony zu sprechen begann, nur leicht ihre schöne weiße
8382
Hand und sagte: »_Assez_, mein Kind. Ich höre nicht gern von dieser
8385
Klara, erst zwölfjährig, verstand nichts von der Sache, und Cousine
8386
Thilda war gleichfalls zu dumm. »O Tony, wie traurig!« war alles, was
8387
sie langgedehnt und erstaunt hervorzubringen wußte. Dagegen fand die
8388
junge Frau eine aufmerksame Zuhörerin in Mamsell Jungmann, die nun schon
8389
35 Jahre zählte und sich rühmen durfte, im Dienste der ersten Kreise
8390
ergraut zu sein. »Brauchst nicht Furcht haben, Tonychen, mein
8391
Kindchen«, sagte sie; »bist noch jung, wirst dich wieder verheiraten.«
8392
Übrigens widmete sie sich mit Liebe und Treue der Erziehung der kleinen
8393
Erika und erzählte ihr dieselben Erinnerungen und Geschichten, denen vor
8394
fünfzehn Jahren die Kinder des Konsuls gelauscht hatten: von einem Onkel
8395
im besonderen, der zu Marienwerder am Schluckauf gestorben war, weil er
8396
»sich das Herz abgestoßen« hatte.
8398
Am liebsten und längsten aber plauderte Tony, nach dem Mittagessen oder
8399
morgens beim ersten Frühstück, mit ihrem Vater. Ihr Verhältnis zu ihm
8400
war mit einem Schlage weit inniger geworden als früher. Sie hatte
8401
bislang, bei seiner Machtstellung in der Stadt, bei seiner emsigen,
8402
soliden, strengen und frommen Tüchtigkeit, mehr ängstliche Ehrfurcht als
8403
Zärtlichkeit für ihn empfunden; während jener Auseinandersetzung aber in
8404
ihrem Salon war er ihr menschlich nahegetreten, und es hatte sie mit
8405
Stolz und Rührung erfüllt, daß er sie eines vertrauten und ernsten
8406
Gespräches über diese Sache gewürdigt, daß er die Entscheidung ihr
8407
selbst anheim gestellt und daß er der Unantastbare, ihr fast mit Demut
8408
gestanden, er fühle sich nicht schuldlos ihr gegenüber. Es ist sicher,
8409
daß Tony selbst niemals auf diesen Gedanken gekommen wäre; da er es aber
8410
sagte, so glaubte sie es, und ihre Gefühle für ihn wurden weicher und
8411
zarter dadurch. Was den Konsul selbst anging, so änderte er seine
8412
Anschauungsweise nicht und glaubte seiner Tochter mit verdoppelter Liebe
8413
ihr schweres Geschick entgelten zu müssen.
8415
Johann Buddenbrook war in keiner Weise persönlich gegen seinen
8416
betrügerischen Schwiegersohn vorgegangen. Zwar hatten Tony und ihre
8417
Mutter aus dem Verlaufe einiger Gespräche erfahren, zu welch unredlichen
8418
Mitteln Herr Grünlich gegriffen hatte, um 80000 Mark zu erlangen; aber
8419
der Konsul hütete sich wohl, die Sache der Öffentlichkeit oder gar der
8420
Justiz zu übergeben. Er fühlte in seinem Stolz als Geschäftsmann sich
8421
bitter gekränkt und verwand schweigend die Schmach, so plump übers Ohr
8422
gehauen worden zu sein.
8424
Jedenfalls strengte er, sobald der Konkurs des Hauses B. Grünlich
8425
erfolgt -- der übrigens in Hamburg verschiedenen Firmen nicht
8426
unerhebliche Verluste bereitete --, mit Entschlossenheit den
8427
Scheidungsprozeß an ... und dieser Prozeß war es hauptsächlich, der
8428
Gedanke, daß sie, sie selbst den Mittelpunkt eines wirklichen Prozesses
8429
bildete, der Tony mit einem unbeschreiblichen Würdegefühl erfüllte.
8431
»Vater«, sagte sie; denn in solchen Gesprächen nannte sie den Konsul
8432
niemals »Papa«. »Vater, wie geht unsere Sache vorwärts? Du meinst doch,
8433
daß alles gut gehen wird? Der Paragraph ist vollkommen klar; ich habe
8434
ihn genau studiert! `Unfähigkeit des Mannes, seine Familie zu
8435
ernähren ...´ Die Herren müssen das einsehen. Wenn ein Sohn da wäre,
8436
würde Grünlich ihn behalten ...«
8438
Ein anderes Mal sagte sie: »Ich habe noch viel über die Jahre meiner Ehe
8439
nachgedacht, Vater. Ha! also =deshalb= wollte der Mensch durchaus nicht,
8440
daß wir in der Stadt wohnten, was ich doch so sehr wünschte. Also
8441
=deshalb= sah er es niemals gern, daß ich überhaupt in der Stadt
8442
verkehrte und Gesellschaften besuchte! Die Gefahr war dort wohl größer
8443
als in Eimsbüttel, daß ich auf irgendeine Weise erfuhr, wie es
8444
eigentlich um ihn bestellt war!... Was für ein Filou!«
8446
»Wir sollen nicht richten, mein Kind«, erwiderte der Konsul.
8448
Oder sie begann, als die Ehescheidung ausgesprochen war, mit wichtiger
8449
Miene: »Du hast es doch schon in die Familienpapiere eingetragen, Vater?
8450
Nein? Oh, dann darf ich es wohl tun ... Bitte, gib mir den Schlüssel zum
8453
Und emsig und stolz schrieb sie unter die Zeilen, die sie vor vier
8454
Jahren hinter ihren Namen gesetzt: »Diese Ehe ward _anno_ 1850 im
8455
Februar rechtskräftig wieder aufgelöst.«
8457
Dann legte sie die Feder fort und dachte einen Augenblick nach.
8459
»Vater«, sagte sie, »ich weiß wohl, daß dies Ereignis einen Flecken in
8460
unserer Familiengeschichte bildet. Ja, ich habe schon viel darüber
8461
nachgedacht. Es ist genau, als wäre hier ein Tintenklecks in diesem
8462
Buche. Aber sei ruhig ... es ist meine Sache, ihn wieder fortzuradieren!
8463
Ich bin noch jung ... findest du nicht, daß ich noch ziemlich hübsch
8464
bin? Obgleich Madame Stuht, als sie mich wiedersah, zu mir sagte: `O
8465
Gott, Madame Grünlich, wie sind Sie alt geworden!´ Nun, man kann
8466
unmöglich sein Lebtag eine solche Gans bleiben, wie ich vor vier Jahren
8467
war ... das Leben nimmt einen natürlich mit ... Kurz, nein, ich werde
8468
mich wieder verheiraten! Du sollst sehen, alles wird durch eine neue
8469
vorteilhafte Partie wieder gut gemacht werden! Meinst du nicht?«
8471
»Das steht in Gottes Hand, mein Kind. Aber es schickt sich durchaus
8472
nicht, jetzt über solche Dinge zu sprechen.«
8474
Im übrigen begann Tony um diese Zeit sich sehr oft der Redewendung »Wie
8475
es im Leben so geht ...« zu bedienen, und bei dem Worte »Leben« hatte
8476
sie einen hübschen und ernsten Augenaufschlag, welcher zu ahnen gab,
8477
welch tiefe Blicke sie in Menschenleben und -schicksal getan ...
8479
Der Tisch im Eßsaale vergrößerte sich noch mehr, und Tony erhielt neue
8480
Gelegenheit, sich auszusprechen, als Thomas im August dieses Jahres von
8481
Pau nach Hause zurückkehrte. Sie liebte und verehrte diesen Bruder, der
8482
ja auch damals bei der Abreise von Travemünde ihren Schmerz gekannt und
8483
gewürdigt hatte und in dem sie den zukünftigen Firmenchef, das
8484
einstmalige Familienhaupt erblickte, von ganzem Herzen.
8486
»Ja, ja«, sagte er, »wir beide haben schon allerhand durchgemacht,
8487
Tony ...« Dann zog er eine Braue empor, ließ die russische Zigarette in
8488
den anderen Mundwinkel wandern und dachte wahrscheinlich an das kleine
8489
Blumenmädchen mit dem malaiischen Gesichtstypus, das vor kurzer Zeit den
8490
Sohn ihrer Brotgeberin geheiratet hatte und nun auf eigene Hand das
8491
Blumengeschäft in der Fischergrube fortführte.
8493
Thomas Buddenbrook, noch ein wenig blaß, war eine auffallend elegante
8494
Erscheinung. Es schien, daß diese letzten Jahre seine Erziehung durchaus
8495
vollendet hatten. Mit seiner über den Ohren zu kleinen Hügeln
8496
zusammengebürsteten Frisur, mit seinen nach französischer Mode sehr
8497
spitz gedrehten und mit der Brennzange waagerecht ausgezogenen
8498
Schnurrbart und seiner untersetzten, ziemlich breitschulterigen Gestalt
8499
machte seine Figur einen beinahe militärischen Eindruck. Aber das
8500
bläuliche, allzu sichtbare Geäder an seinen schmalen Schläfen, von denen
8501
das Haar in zwei Einbuchtungen zurücktrat, sowie eine leichte Neigung
8502
zum Schüttelfrost, die der gute Doktor Grabow vergebens bekämpfte,
8503
deutete an, daß seine Konstitution nicht besonders kräftig war. Was
8504
Einzelheiten der Körperbildung, wie das Kinn, die Nase und besonders die
8505
Hände ... wunderbar echt Buddenbrooksche Hände! betraf, so war seine
8506
Ähnlichkeit mit dem Großvater noch größer geworden.
8508
Er sprach ein mit spanischen Lauten untermischtes Französisch und setzte
8509
jedermann durch seine Liebhaberei für gewisse moderne Schriftsteller
8510
satirischen und polemischen Charakters in Erstaunen ... Nur bei dem
8511
finsteren Makler, Herrn Gosch, fand er in der Stadt für diese Neigung
8512
Verständnis; sein Vater verurteilte sie aufs strengste.
8514
Das hinderte nicht, daß der Stolz und das Glück, das der Konsul über
8515
seinen ältesten Sohn empfand, ihm in den Augen zu lesen war. Mit Rührung
8516
und Freude begrüßte er ihn alsbald nach seiner Ankunft aufs neue als
8517
Mitarbeiter in seinen Kontors, in denen er selbst jetzt wieder mit
8518
größerer Genugtuung zu wirken begann: und zwar nach dem Tode der alten
8519
Madame Kröger, der am Ende des Jahres erfolgte.
8521
Man mußte den Verlust der alten Dame mit Fassung ertragen. Sie war
8522
steinalt geworden und hatte zuletzt ganz einsam gelebt. Sie ging zu
8523
Gott, und Buddenbrooks bekamen eine Menge Geld, volle runde 100000 Taler
8524
Kurant, die das Betriebskapital der Firma in wünschenswertester Weise
8527
Eine weitere Folge dieses Sterbefalles war diejenige, daß des Konsuls
8528
Schwager Justus, sobald er den Rest seines Erbteiles in Händen hatte,
8529
müde seiner beständigen geschäftlichen Mißerfolge, liquidierte und sich
8530
zur Ruhe setzte. Justus Kröger, der Suitier, des _à la mode_-Kavaliers
8531
lebensfroher Sohn, war kein sehr glücklicher Mensch. Er hatte, mit
8532
seiner Kulanz und seiner heiteren Leichtlebigkeit, es niemals zu einer
8533
sicheren, soliden und zweifellosen Position in der Kaufmannswelt bringen
8534
können, er hatte einen bedeutenden Teil seines elterlichen Erbes im
8535
voraus eingebüßt, und neuerdings kam hinzu, daß Jakob, sein ältester
8536
Sohn, ihm schwere Kümmernisse bereitete.
8538
Der junge Mann, der in dem großen Hamburg sich sittenlose Gesellschaft
8539
gewählt zu haben schien, hatte seinem Vater mit den Jahren eine
8540
ungebührliche Menge Kurantmark gekostet, und da, wenn Konsul Kröger
8541
sich weigerte, noch mehr zu leisten, seine Gattin, eine schwache und
8542
zärtliche Frau, dem lockeren Sohne heimlich weitere Geldsummen zukommen
8543
ließ, so waren zwischen dem Ehepaar traurige Mißhelligkeiten entstanden.
8544
Um allem die Krone aufzusetzen, war fast zur selben Zeit, als B.
8545
Grünlich seine Zahlungen einstellte, in Hamburg, wo Jakob Kröger bei den
8546
Herren Dalbeck & Comp. arbeitete, noch etwas anderes, Unheimliches
8547
vorgefallen ... Ein Übergriff, eine Unredlichkeit hatte stattgefunden
8548
... Man sprach nicht davon und richtete keine Fragen an Justus Kröger;
8549
aber es hieß, daß Jakob in Neuyork eine Stellung als Reisender gefunden
8550
habe und demnächst zu Schiff gehen werde. Einmal, vor seiner Fahrt,
8551
wurde er in der Stadt gesehen, wohin er wahrscheinlich gekommen war, um
8552
außer dem Reisegelde, das sein Vater ihm zugeschickt, von seiner Mutter
8553
noch mehr zu erlangen: ein geckenhaft gekleideter Jüngling von
8554
ungesundem Aussehen.
8556
Kurz, es war dahin gekommen, daß Konsul Justus, als ob er nur einen
8557
Leibeserben besäße, ausschließlich von »meinem Sohne« sprach ... womit
8558
er Jürgen meinte, der sich zwar niemals eines Vergehens schuldig
8559
gemacht, aber geistig allzu beschränkt erschien. Er hatte das Gymnasium
8560
mit großer Mühe absolviert und befand sich seit einiger Zeit in Jena, wo
8561
er sich, ohne viel Freude und Erfolg, wie es den Anschein hatte, der
8562
Jurisprudenz widmete.
8564
Johann Buddenbrook empfand aufs schmerzlichste die wenig ehrenvolle
8565
Entwicklung der Familie seiner Frau und blickte mit desto ängstlicherer
8566
Erwartung auf seine eigenen Kinder. Er war berechtigt, die vollste
8567
Zuversicht in die Tüchtigkeit und den Ernst seines ältesten Sohnes zu
8568
setzen; was aber Christian betraf, so hatte Mr. Richardson geschrieben,
8569
der junge Mann habe sich zwar mit entschiedener Begabung die englische
8570
Sprache zu eigen gemacht, zeige aber im Geschäft nicht immer
8571
hinreichendes Interesse und lege eine allzu große Schwäche für die
8572
Zerstreuungen der Weltstadt, zum Beispiel für das Theater, an den Tag.
8573
Christian selbst bewies in seinen Briefen ein lebhaftes Wanderbedürfnis
8574
und bat eifrig um die Erlaubnis, »drüben«, das heißt in Südamerika,
8575
vielleicht in Chile, eine Stellung annehmen zu dürfen. »Aber das ist
8576
Abenteuerlust«, sagte der Konsul und befahl ihm, vorerst während eines
8577
vierten Jahres seine merkantilen Kenntnisse bei Mr. Richardson zu
8578
vervollständigen. Es wurden dann noch einige Briefe über seine Pläne
8579
gewechselt, und im Sommer 1851 segelte Christian Buddenbrook in der Tat
8580
nach Valparaiso, wo er sich eine Position verschafft hatte. Er reiste
8581
direkt von England, ohne vorher in die Heimat zurückzukehren.
8583
Abgesehen aber von den beiden Söhnen, bemerkte der Konsul zu seiner
8584
Genugtuung, mit welcher Entschiedenheit und welchem Selbstgefühle Tony
8585
ihre Stellung als eine geborene Buddenbrook in der Stadt verteidigte ...
8586
obgleich man hatte vorhersehen müssen, daß sie in ihrer Eigenschaft als
8587
geschiedene Frau allerlei Schadenfreude und Voreingenommenheiten auf
8588
seiten der anderen Familien werde zu überwinden haben.
8590
»Ha!« sagte sie, als sie mit gerötetem Gesicht von einem Spaziergang
8591
zurückkam, und warf ihren Hut auf das Sofa im Landschaftszimmer ...
8592
»Diese Möllendorpf, diese geborene Hagenström, diese Semmlinger, dieses
8593
Julchen, dieses Geschöpf ... was meinst du wohl, Mama! Sie grüßt mich
8594
nicht ... nein, sie grüßt mich nicht! Sie wartet, daß ich sie zuerst
8595
grüße! Was sagst du dazu! Ich bin in der Breiten Straße mit erhobenem
8596
Kopfe an ihr vorübergegangen und habe ihr gerade ins Gesicht
8599
»Du gehst zu weit, Tony ... Nein, alles hat seine Grenzen. Warum
8600
konntest du Madame Möllendorpf nicht zuerst grüßen? Ihr seid
8601
gleichaltrig, und sie ist eine verheiratete Frau so gut wie du es
8604
»Niemals, Mama! O Gott, das Geschmeiß!«
8606
»_Assez_, meine Liebe! So undelikate Worte ...«
8608
»Oh, man kann sich hinreißen lassen!«
8610
Ihr Haß gegen diese »hergelaufene Familie« wurde durch die bloße
8611
Vorstellung genährt, daß die Hagenströms sich nun vielleicht berechtigt
8612
fühlen könnten, auf sie herabzusehen, und nicht minder durch das Glück,
8613
mit dem dies Geschlecht emporblühte. Der alte Hinrich starb zu Anfang
8614
des Jahres 51, und sein Sohn Hermann ... Hermann mit den Zitronensemmeln
8615
und der Ohrfeige, führte nun an der Seite des Herrn Strunck das glänzend
8616
gehende Exportgeschäft fort und heiratete ein kurzes Jahr später die
8617
Tochter des Konsuls Huneus, des reichsten Mannes der Stadt, der es mit
8618
seinem Holzhandel dahin gebracht hatte, jedem seiner drei Kinder zwei
8619
Millionen hinterlassen zu können. Sein Bruder Moritz hatte trotz seiner
8620
Brustschwächlichkeit ein ungewöhnlich erfolgreiches Studium hinter sich
8621
und ließ sich in der Stadt als Rechtsgelehrter nieder. Er galt für einen
8622
hellen, schlauen, witzigen, ja sogar schöngeistigen Kopf und zog rasch
8623
eine beträchtliche Praxis an sich. Er hatte nichts Semlingersches in
8624
seinem Äußern, besaß aber ein gelbes Gesicht und spitzige, lückenhafte
8627
Sogar in der Familie selbst galt es den Kopf hochzuhalten. Seit Onkel
8628
Gotthold fern den Geschäften lebte, mit seinen kurzen Beinen und weiten
8629
Hosen sorglos in seiner bescheidenen Wohnung umherging und aus einer
8630
Blechbüchse Brustbonbons aß, denn er liebte sehr die Süßigkeiten ... war
8631
seine Stimmung gegen den bevorzugten Stiefbruder mit den Jahren immer
8632
milder und resignierter geworden, was freilich nicht ausschloß, daß er
8633
angesichts seiner drei unverheirateten Töchter einige stille Genugtuung
8634
über Tonys mißglückte Ehe empfand. Um aber vor seiner Frau, der
8635
geborenen Stüwing, und besonders von den drei nun schon sechs-, sieben-
8636
und achtundzwanzig Jahre alten Mädchen zu reden, so bewiesen sie für das
8637
Unglück ihrer Cousine und den Scheidungsprozeß ein beinahe
8638
übertriebenes, ein weitaus lebhafteres Interesse, als sie damals für die
8639
Verlobung und Hochzeit selbst offenbart hatten. An den »Kindertagen«,
8640
die seit dem Tode der alten Madame Kröger Donnerstags wieder in der
8641
Mengstraße abgehalten wurden, hatte Tony keinen leichten Stand ihnen
8644
»O Gott, du Ärmste!« sagte Pfiffi, die Jüngste, die klein und beleibt
8645
war und eine drollige Art hatte, sich bei jedem Worte zu schütteln und
8646
Feuchtigkeit in die Mundwinkel zu bekommen. »Nun ist es also
8647
ausgesprochen? Nun bist du also gerade so weit wie vorher?«
8649
»Ach, im Gegenteile!« sagte Henriette, die wie ihre ältere Schwester von
8650
außerordentlich langer und dürrer Gestalt war. »Du bist sehr viel
8651
trauriger daran, als wenn du dich überhaupt nicht verheiratet hättest.«
8653
»Das muß ich sagen«, bestätigte Friederike. »=Dann= ist es ja
8654
unvergleichlich viel besser, =niemals= zu heiraten.«
8656
»O nein, liebe Friederike!« sagte Tony, indem sie den Kopf zurücklegte
8657
und sich eine recht schlagkräftige und formgewandte Erwiderung
8658
ausdachte. »Da dürftest du denn doch wohl in einem Irrtum befangen sein,
8659
nicht wahr?! Man hat doch immerhin das Leben kennengelernt, weißt du!
8660
Man ist doch keine Gans mehr! Und dann habe ich ja immer noch mehr
8661
Aussicht, mich wieder zu verheiraten, als so manche andere, es zum
8662
ersten Male zu tun.«
8664
»Zo?« sagten die Kusinen einstimmig ... Sie sagten »Zo« mit einem Z, was
8665
sich desto spitziger und ungläubiger ausnahm.
8667
Sesemi Weichbrodt aber war viel zu gut und taktvoll, um die Sache auch
8668
nur zu erwähnen. Tony besuchte ihre ehemalige Pflegerin zuweilen in dem
8669
roten Häuschen, am Mühlenbrink Nr. 7, das noch immer von einer Anzahl
8670
junger Mädchen belebt wurde, obgleich die Pension anfing, langsam aus
8671
der Mode zu kommen; und auch das tüchtige alte Mädchen ward hie und da
8672
in die Mengstraße auf einen Rehrücken oder eine gefüllte Gans gebeten.
8673
Dann erhob sie sich auf die Zehenspitzen und küßte Tony gerührt,
8674
ausdrucksvoll und mit leise knallendem Geräusch auf die Stirn. Was ihre
8675
ungelehrte Schwester, Madame Kethelsen anging, so begann sie neuerdings
8676
mit großer Schnelligkeit taub zu werden und hatte fast nichts von Tonys
8677
Geschichte verstanden. Sie stieß bei immer unpassenderen Gelegenheiten
8678
ihr unwissendes und vor unbefangener Herzlichkeit fast klagendes Lachen
8679
aus, so daß Sesemi sich beständig genötigt sah, auf den Tisch zu pochen
8680
und »Nally!« zu rufen ...
8682
Die Jahre schwanden dahin. Der Eindruck, den das Erlebnis von Konsul
8683
Buddenbrooks Tochter in der Stadt und in der Familie hervorgerufen
8684
hatte, verwischte sich mehr und mehr. Tony selbst wurde an ihre Ehe nur
8685
dann und wann erinnert, wenn sie im Gesicht der gesund heranwachsenden
8686
kleinen Erika diese oder jene Ähnlichkeit mit Bendix Grünlich bemerkte.
8687
Aber sie kleidete sich wieder hell, trug ihr Haar wieder über die Stirn
8688
gekraust und besuchte wie ehemals Gesellschaften in ihrem
8691
Immerhin war sie recht froh, daß ihr Gelegenheit geboten wurde, jährlich
8692
im Sommer die Stadt auf längere Zeit zu verlassen ... denn leider machte
8693
das Befinden des Konsuls jetzt weitere Kurreisen notwendig.
8695
»Man weiß nicht, was es heißt, alt zu werden!« sagte er. »Ich bekomme
8696
einen Kaffeefleck in mein Beinkleid und kann nicht kaltes Wasser
8697
daraufbringen, ohne sofort den heftigsten Rheumatismus davonzutragen ...
8698
Was konnte man sich früher erlauben?« Auch litt er manchmal an
8701
Man ging nach Obersalzbrunn, nach Ems und Baden-Baden, nach Kissingen,
8702
man machte von dort aus sogar eine so bildende wie unterhaltende Reise
8703
über Nürnberg nach München, durchs Salzburgische über Ischl nach Wien,
8704
über Prag, Dresden, Berlin nach Hause ... und obgleich Madame Grünlich
8705
wegen einer nervösen Magenschwäche, die sich neuerdings bei ihr
8706
bemerkbar zu machen begann, in den Bädern gezwungen war, sich einer
8707
strengen Kur zu unterwerfen, empfand sie diese Reisen als eine höchst
8708
erwünschte Abwechselung, denn sie verhehlte durchaus nicht, daß sie sich
8709
zu Hause ein wenig langweilte.
8711
»Oh, mein Gott, weißt du, wie es im Leben so geht, Vater!« sagte sie,
8712
indem sie gedankenvoll die Zimmerdecke betrachtete ... »Gewiß, ich habe
8713
das Leben kennengelernt ... aber gerade darum ist es eine etwas trübe
8714
Aussicht für mich, hier nun immer zu Hause sitzen zu müssen wie ein
8715
dummes Ding. Du glaubst hoffentlich nicht, daß ich nicht gern bei euch
8716
bin, Papa ... ich müßte ja Schläge haben, es wäre die höchste
8717
Undankbarkeit! Aber wie es im Leben so ist, weißt du ...«
8719
Hauptsächlich aber ärgerte sie sich über den immer religiöseren Geist,
8720
der ihr weitläufiges Vaterhaus erfüllte, denn des Konsuls fromme
8721
Neigungen traten in dem Grade, in welchem er betagt und kränklich wurde,
8722
immer stärker hervor, und seitdem die Konsulin alterte, begann auch sie
8723
an dieser Geistesrichtung Geschmack zu finden. Die Tischgebete waren
8724
stets im Buddenbrookschen Hause üblich gewesen; jetzt aber bestand seit
8725
längerer Zeit das Gesetz, daß sich morgens und abends die Familie
8726
gemeinsam mit den Dienstboten im Frühstückszimmer versammelte, um aus
8727
dem Munde des Hausherrn einen Bibelabschnitt zu vernehmen. Außerdem
8728
mehrten die Besuche von Pastoren und Missionaren sich von Jahr zu Jahr,
8729
denn das würdige Patrizierhaus in der Mengstraße, wo man, nebenbei
8730
bemerkt, so vorzüglich speiste, war in der Welt der lutherischen und
8731
reformierten Geistlichkeit, der inneren und äußeren Mission längst als
8732
ein gastlicher Hafen bekannt, und aus allen Teilen des Vaterlandes kamen
8733
gelegentlich schwarzgekleidete und langhaarige Herren herbei, um ein
8734
paar Tage hier zu verweilen ... gottgefälliger Gespräche, einiger
8735
nahrhafter Mahlzeiten und klingender Unterstützung zu heiligen Zwecken
8736
gewiß. Auch die Prediger der Stadt gingen als Hausfreunde aus und
8739
Tom war viel zu diskret und verständig, um auch nur ein Lächeln sichtbar
8740
werden zu lassen, aber Tony mokierte sich ganz einfach, ja, sie ließ es
8741
sich leider angelegen sein, die geistlichen Herren lächerlich zu machen,
8742
sobald sich ihr Gelegenheit dazu bot.
8744
Zuweilen, wenn die Konsulin an Migräne litt, war es Madame Grünlichs
8745
Sache, die Wirtschaft zu besorgen und das Menü zu bestimmen. Eines
8746
Tages, als eben ein fremder Prediger, dessen Appetit die allgemeine
8747
Freude erregte, im Hause zu Gast war, ordnete sie heimtückisch
8748
Specksuppe an, das städtische Spezialgericht, eine mit säuerlichem
8749
Kraute bereitete Bouillon, in die man das ganze Mittagsmahl: Schinken,
8750
Kartoffeln, saure Pflaumen, Backbirnen, Blumenkohl, Erbsen, Bohnen,
8751
Rüben und andere Dinge mitsamt der Fruchtsauce hineinrührte, und die
8752
niemand auf der Welt genießen konnte, der nicht von Kindesbeinen daran
8755
»Schmeckt es? Schmeckt es, Herr Pastor?« fragte Tony beständig ...
8756
»Nein? O Gott, wer hätte das gedacht!« Und dabei machte sie ein wahrhaft
8757
spitzbübisches Gesicht und ließ ihre Zungenspitze, wie sie es zu tun
8758
pflegte, wenn sie einen Streich erdachte oder ausführte, ganz leicht an
8759
der Oberlippe spielen.
8761
Der dicke Herr legte mit Ergebung den Löffel nieder und sagte arglos:
8762
»Ich werde mich an das nächste Gericht halten.«
8764
»Ja, es gibt noch ein kleines Apres«, sagte die Konsulin hastig ... denn
8765
ein »nächstes Gericht« war nach dieser Suppe undenkbar, und trotz
8766
einiger Armeritter mit Apfelgelee, welche nachfolgten, mußte der
8767
betrogene Geistliche, während Tony vor sich hin kicherte und Tom mit
8768
Selbstüberwindung eine Braue emporzog, sich ungesättigt vom Tische
8771
Ein anderes Mal stand Tony mit der Köchin Stina in häuslichem Gespräche
8772
auf der Diele, als Pastor Mathias aus Kannstatt, der wieder einmal
8773
während einiger Tage im Hause weilte, von einem Ausgang zurückkehrte und
8774
an der Windfangtür klingelte. Mit ländlich watschelnden Schritten ging
8775
Trina zu öffnen, und der Pastor, in der Absicht, ein leutseliges Wort an
8776
sie zu richten und sie ein wenig zu prüfen, fragte freundlich: »Liebscht
8777
den Herrn?« ... Vielleicht war er willens, ihr etwas zu schenken, wenn
8778
sie sich treu zu ihrem Heiland bekannte.
8780
»Je, Herr Paster« ... sagte Trine zögernd, errötend und mit großen
8781
Augen. »Wekken meenen's denn? den Ollen oder den Jungen?«
8783
Madame Grünlich verfehlte nicht, diese Geschichte bei Tische mit lauter
8784
Stimme zu erzählen, so daß selbst die Konsulin in ihr pruschendes
8785
Krögersches Lachen ausbrach.
8787
Der Konsul freilich sah ernst und indigniert auf seinen Teller nieder.
8789
»Ein Mißverständnis ...« sagte Pastor Mathias verwirrt.
8794
Was folgt, geschah im Spätsommer des Jahres fünfundfünfzig, an einem
8795
Sonntagnachmittage. Buddenbrooks saßen im Landschaftszimmer und warteten
8796
auf den Konsul, der sich unten noch ankleidete. Man hatte mit der
8797
Familie Kistenmaker ein Festtagsunternehmen, einen Spaziergang zu einem
8798
Vergnügungsgarten vorm Tore, verabredet. Ausgenommen Klara und
8799
Klothilde, die jeden Sonntagabend im Hause einer Freundin für kleine
8800
Negerkinder Strümpfe strickten, wollte man dort Kaffee trinken und
8801
vielleicht, wenn das Wetter es erlaubte, eine Ruderpartie auf dem Flusse
8804
»Mit Papa ist es zum Heulen«, sagte Tony, indem sie nach ihrer
8805
Gewohnheit starke Worte wählte. »Kann er jemals zur festgesetzten Zeit
8806
fertig sein? Er sitzt an seinem Pult und sitzt ... und sitzt ... dies
8807
und das =muß= noch fertig werden ... großer Gott, vielleicht ist es
8808
wirklich notwendig, ich will nichts gesagt haben ... obgleich ich nicht
8809
glaube, daß wir geradezu Bankerott ansagen müßten, wenn er die Feder
8810
eine Viertelstunde früher weggelegt hätte. Gut ... wenn es schon zehn
8811
Minuten zu spät ist, fällt ihm sein Versprechen ein, und er kommt die
8812
Treppen herauf, indem er immer zwei Stufen überspringt, obgleich er
8813
weiß, daß er oben Kongestionen und Herzklopfen bekommt ... So ist es vor
8814
jeder Gesellschaft, vor jedem Ausgang! Kann er sich nicht Zeit lassen?
8815
Kann er nicht rechtzeitig aufbrechen und langsam gehen? Es ist
8816
unverantwortlich. Ich würde meinem Manne einmal ernstlich ins Gewissen
8819
Sie saß, nach der Mode in changierende Seide gekleidet, auf dem Sofa bei
8820
der Konsulin, die ihrerseits eine schwerere Robe aus grauer, gerippter,
8821
mit schwarzen Spitzen besetzter Seide trug. Die Enden ihrer aus Spitzen
8822
und steifem Tüll gefertigten Haube, die unterm Kinn mit einer
8823
Atlasschleife zusammengefaßt waren, fielen auf die Brust hinab. Ihr
8824
glattgescheiteltes Haar war unveränderlich rotblond. Sie hielt einen
8825
Pompadour in ihren beiden weißen und zartblau geäderten Händen. Neben
8826
ihr im Fauteuil lehnte Tom und rauchte seine Zigarette, während am
8827
Fenster Klara und Thilda einander gegenübersaßen. Es war unfaßlich, wie
8828
völlig erfolglos die arme Klothilde täglich so gute und reichliche
8829
Nahrung zu sich nahm. Sie wurde beständig magerer, und ihr schwarzes
8830
Kleid, welches überhaupt gar keinen Schnitt hatte, beschönigte diese
8831
Tatsache nicht. In ihrem langen, stillen, grauen Gesicht unter dem
8832
glatten, aschfarbenen Scheitel stand eine gerade und poröse Nase, die
8833
sich vorn verdickte ...
8835
»Meint ihr, daß es =nicht= regnen wird!« sagte Klara. Das junge Mädchen
8836
hatte die Gewohnheit, bei einer Frage niemals die Stimme zu erheben, und
8837
sah mit einem bestimmten und ziemlich strengen Blick jedem einzelnen ins
8838
Gesicht. Ihr braunes Kleid war lediglich mit einem kleinen, weißen,
8839
gestärkten Fallkragen und ebensolchen Manschetten geschmückt. Sie saß
8840
aufrecht, die Hände im Schoße zusammengelegt. Die Dienstboten fürchteten
8841
sie am meisten, und sie hielt morgens und abends die Andacht ab, denn
8842
der Konsul konnte nicht mehr vorlesen, ohne sich Beschwerden im Kopf zu
8845
»Nimmst du für heute abend deinen =Baschlik= mit, Tony!« fragte sie
8846
wieder. »Er wird verregnen. Schade um den neuen Baschlik. Ich halte es
8847
für richtiger, daß ihr euren Spaziergang verschiebt ...«
8849
»Nein«, erwiderte Tom; »Kistenmakers kommen. Es macht nichts ... das
8850
Barometer ist zu plötzlich gefallen ... Es gibt irgendeine kleine
8851
Katastrophe, einen Guß ... nichts Dauerndes. Papa ist noch nicht fertig,
8852
schön. Wir können ruhig warten, bis es vorüber ist.«
8854
Die Konsulin erhob abwehrend eine Hand. »Du glaubst, daß ein Gewitter
8855
kommt, Tom? Ach, du weißt, ich ängstige mich.«
8857
»Nein«, sagte Tom. »Ich habe heute morgen am Hafen mit Kapitän Kloot
8858
gesprochen. Er ist unfehlbar. Es gibt bloß einen Platzregen ... nicht
8859
einmal stärkeren Wind.«
8861
Verspätete Hundstage hatte diese zweite Septemberwoche gebracht. Bei
8862
Süd-Süd-Ostwind hatte der Sommer schwerer als im Juli auf der Stadt
8863
gelastet. Ein fremdartig dunkelblauer Himmel hatte über den Giebeln
8864
geleuchtet, fahl am Horizonte, wie in der Wüste; und nach
8865
Sonnenuntergang hatten in den schmalen Straßen Häuser und Bürgersteige
8866
wie Öfen eine dumpfe Wärme ausgestrahlt. Heute war der Wind ganz nach
8867
Westen hin umgeschlagen, und gleichzeitig hatte dieser plötzliche
8868
Barometersturz stattgefunden ... Noch war ein großer Teil des Himmels
8869
blau, aber langsam zog ein Komplex von graublauen Wolken daran herauf,
8870
dick und weich wie Kissen.
8872
Tom fügte hinzu: »Ich finde auch, der Regen käme höchst erwünscht. Wir
8873
würden verschmachten, wenn wir in dieser Luft marschieren müßten. Es ist
8874
eine unnatürliche Wärme. Ich habe dergleichen in Pau nicht gehabt ...«
8876
In diesem Augenblick trat Ida Jungmann, die kleine Erika an der Hand,
8877
ins Zimmer. Das Kind stak in einem frisch gesteiften Kattunkleidchen,
8878
verbreitete einen Geruch von Stärke und Seife und sah sehr drollig aus.
8879
Es hatte ganz die rosige Gesichtsfarbe und die Augen des Herrn Grünlich;
8880
aber die Oberlippe war diejenige Tonys.
8882
Die gute Ida war schon ganz grau, beinahe weiß, obgleich sie kaum die
8883
Vierzig überschritten hatte. Aber das lag in ihrer Familie; auch der
8884
Onkel, welcher am Schluckauf zugrunde gegangen war, hatte mit dreißig
8885
Jahren schon weißes Haar gehabt; übrigens blickten ihre kleinen braunen
8886
Augen treu, frisch und aufmerksam. Sie war nun zwanzig Jahre bei
8887
Buddenbrooks und empfand mit Stolz ihre Unentbehrlichkeit. Sie führte
8888
die Aufsicht über Küche, Speisekammer, Wäscheschränke und Porzellan, sie
8889
machte die wichtigeren Einkäufe, sie las der kleinen Erika vor, machte
8890
ihr Puppenkleider, arbeitete mit ihr und holte sie, bewaffnet mit einem
8891
Paket von belegtem Franzbrot, mittags von der Schule ab, um mit ihr auf
8892
dem Mühlenwall spazieren zu gehen. Jede Dame sagte zur Konsulin
8893
Buddenbrook oder ihrer Tochter: »Was für eine Mamsell haben Sie, Liebe!
8894
Gott, die Person ist goldeswert, was ich Ihnen sage! Zwanzig Jahre!...
8895
und sie wird mit sechzig und länger noch rüstig sein! Diese knochigen
8896
Leute ... und dann die treuen Augen! Ich beneide Sie, -- Liebe!« Aber
8897
Ida Jungmann hielt auch auf sich. Sie wußte, wer sie war, und wenn auf
8898
dem Mühlenwall sich ein gewöhnliches Dienstmädchen mit ihrem Zögling auf
8899
derselben Bank niederließ und von gleich zu gleich ein Gespräch beginnen
8900
wollte, so sagte Mamsell Jungmann: »Erikachen, hier zieht's«, und ging
8903
Tony zog ihre kleine Tochter zu sich heran und küßte sie auf eine der
8904
rosigen Bäckchen, worauf die Konsulin ihr mit etwas zerstreutem Lächeln
8905
die Handfläche entgegenstreckte ... denn sie beobachtete ängstlich den
8906
Himmel, der dunkler und dunkler wurde. Ihre linke Hand fingerte nervös
8907
auf dem Sofapolster, und ihre hellen Augen wanderten unruhig seitwärts
8910
Erika durfte sich neben die Großmutter setzen, und Ida nahm, ohne die
8911
Rückenlehne zu benützen, auf einem Sessel Platz und begann zu häkeln. So
8912
saßen alle eine Weile schweigend und warteten auf den Konsul. Die Luft
8913
war dumpf. Draußen war das letzte Stück Blau verschwunden, und tief,
8914
schwer und trächtig hing der dunkelgraue Himmel hernieder. Die Farben
8915
des Zimmers, die Tinten der Landschaften auf den Tapeten, das Gelb der
8916
Möbel und der Vorhänge, waren erloschen, die Nuancen in Tonys Kleide
8917
spielten nicht mehr, und die Augen der Menschen waren ohne Glanz. Und
8918
der Wind, der Westwind, der eben noch drüben in den Bäumen auf dem
8919
Marienkirchhof gespielt hatte und den Staub auf der dunklen Straße in
8920
kleinen Wirbeln umhergetrieben hatte, regte sich nicht mehr. Es war
8921
einen Augenblick vollkommen still.
8923
Da, plötzlich, trat dieser Moment ein ... ereignete sich etwas
8924
Lautloses, Erschreckendes. Die Schwüle schien verdoppelt, die Atmosphäre
8925
schien einen, sich binnen einer Sekunde rapide steigernden Druck
8926
auszuüben, der das Gehirn beängstigte, das Herz bedrängte, die Atmung
8927
verwehrte ... drunten flatterte eine Schwalbe so dicht über der Straße,
8928
daß ihre Flügel das Pflaster schlugen ... Und dieser unentwirrbare
8929
Druck, diese Spannung, diese wachsende Beklemmung des Organismus wäre
8930
unerträglich geworden, wenn sie den geringsten Teil eines Augenblicks
8931
länger gedauert hätte, wenn nicht auf ihrem sofort erreichten Höhepunkt
8932
eine Abspannung, ein Überspringen stattgefunden hätte ... ein kleiner,
8933
erlösender Bruch, der sich unhörbar irgendwo ereignete und den man
8934
gleichwohl zu hören glaubte ... wenn nicht in demselben Moment, fast
8935
ohne daß ein Tropfenfall vorhergegangen wäre, der Regen
8936
herniedergebrochen wäre, daß das Wasser im Rinnstein schäumte und auf
8937
dem Bürgersteig hoch emporsprang ...
8939
Thomas, durch Krankheit daran gewöhnt, die Kundgebungen seiner Nerven zu
8940
beobachten, hatte sich in dieser seltsamen Sekunde vorgebeugt, eine
8941
Handbewegung nach dem Kopfe gemacht und die Zigarette fortgeworfen. Er
8942
sah im Kreise umher, ob auch die anderen es gefühlt und beachtet hätten.
8943
Er glaubte etwas bei seiner Mutter bemerkt zu haben; den übrigen schien
8944
nichts bewußt geworden zu sein. Jetzt blickte die Konsulin in den dicken
8945
Regen hinaus, der die Marienkirche völlig verhüllte, und seufzte: »Gott
8948
»So«, sagte Tom. »Das kühlt in zwei Minuten. Nun werden draußen die
8949
Tropfen an den Bäumen hängen, und wir werden in der Veranda Kaffee
8950
trinken. Thilda, mach' mal das Fenster auf.«
8952
Das Geräusch des Regens drang stärker herein. Er lärmte förmlich. Alles
8953
rauschte, plätscherte, rieselte und schäumte. Der Wind war wieder
8954
aufgekommen und fuhr lustig in den dichten Wasserschleier, zerriß ihn
8955
und trieb ihn umher. Jede Minute brachte neue Kühlung.
8957
Da kam Line, das Folgmädchen Line im Laufschritt durch die Säulenhalle
8958
und fuhr so heftig ins Zimmer herein, daß Ida Jungmann beschwichtigend
8959
und vorwurfsvoll ausrief: »Gott, ich sage!...«
8961
Lines ausdruckslose blaue Augen waren weit aufgerissen, und ihre
8962
Kinnbacken arbeiteten eine Weile vergebens ...
8964
»Ach, Fru Konsulin, ach nee, nu kamen's man flink ... ach Gottes nee,
8965
wat heww ick mi verfiert ...!«
8967
»Gut«, sagte Tony, »nun hat sie wieder Stücke gemacht! Wahrscheinlich
8968
aus gutem Porzellan! Nein, Mama, dein Personal ...!«
8970
Aber das Mädchen stieß geängstigt hervor: »Ach nee, Ma'm' Grünlich ...
8971
un wenn es dat man wier ... öäwer dat is mit den Herrn, und ick wollt
8972
man die Stiefel bringen, un doar sitt Herr Kunsel doar upp'm Lehnstaul
8973
und kann nich reden und kiemt man immer bloß so, un ick glöw, dat geht
8974
nich gaut, denn Herr Kunsel is ook goar tau geel ...«
8976
»Zu Grabow!« schrie Thomas und drängte sie zur Tür hinaus.
8978
»Mein Gott! O mein Gott!« rief die Konsulin, indem sie die Hände neben
8979
ihrem Gesichte faltete und hinauseilte ...
8981
»Zu Grabow ... mit einem Wagen ... sofort!« wiederholte Tony atemlos.
8983
Man flog die Treppe hinunter, durchs Frühstückszimmer, ins Schlafzimmer.
8985
Aber Johann Buddenbrook war schon tot.
8995
»Guten Abend, Justus«, sagte die Konsulin. »Geht es dir gut? Nimm
8998
Konsul Kröger umarmte sie zart und flüchtig und schüttelte seiner
8999
ältesten Nichte die Hand, die gleichfalls im Eßsaale zugegen war. Er
9000
zählte nun ungefähr fünfundfünfzig Jahre und hatte sich zu seinem
9001
kleinen Schnurrbart einen starken runden Backenbart wachsen lassen, der
9002
das Kinn frei ließ und ganz grau war. Über seine breite und rosige
9003
Glatze waren sorgfältig ein paar spärliche Haarstreifen frisiert. Ein
9004
breiter Trauerflor saß an dem Ärmel seines eleganten Leibrockes.
9006
»Weißt du das Neueste, Bethsy?« fragte er. »Ja, Tony, dich wird es
9007
besonders interessieren. Kurz, unser Grundstück vorm Burgtor ist nun
9008
verkauft ... an wen? Nicht etwa an =einen= Mann, sondern an zwei, denn
9009
es wird geteilt, das Haus wird abgebrochen, ein Zaun quer
9010
hindurchgezogen, und dann baut sich rechts Kaufmann Benthien und links
9011
Kaufmann Sörenson eine Hundehütte ... nun, Gott befohlen.«
9013
»Unerhört«, sagte Frau Grünlich, indem sie die Hände im Schoße faltete
9014
und zum Plafond emporblickte ... »Großvaters Grundstück! Gut, damit ist
9015
das Besitztum verpfuscht. Der Reiz bestand gerade in der Weitläufigkeit
9016
... die eigentlich überflüssig war ... aber das war das Vornehme. Der
9017
große Garten ... bis zur Trave hinunter ... und das zurückliegende Haus
9018
mit der Auffahrt, der Kastanienallee ... Nun wird es also geteilt.
9019
Benthien wird vor der einen Tür stehen und seine Pfeife rauchen, und
9020
Sörenson vor der anderen. Ja, ich sage auch `Gott befohlen´, Onkel
9021
Justus. Es ist wohl niemand mehr vornehm genug, um das Ganze zu
9022
bewohnen. Gut, daß Großpapa es nicht mehr zu sehen bekommt ...«
9024
Die Trauerstimmung lag noch zu schwer und ernst in der Luft, als daß
9025
Tony ihrer Entrüstung in lauteren und stärkeren Worten hätte Ausdruck
9026
geben mögen. Es war am Tage der Testamentseröffnung, zwei Wochen nach
9027
des Konsuls Ableben, nachmittags halb sechs Uhr. Die Konsulin
9028
Buddenbrook hatte ihren Bruder in die Mengstraße gebeten, damit er sich
9029
mit Thomas und Herrn Marcus, dem Prokuristen, an einer Unterredung über
9030
die Verfügungen des Verstorbenen und die Vermögensverhältnisse
9031
beteilige, und Tony hatte den Entschluß kundgetan, gleichfalls an den
9032
Auseinandersetzungen teilzunehmen. Dieses Interesse, hatte sie gesagt,
9033
sei sie der Firma sowohl wie der Familie schuldig, und sie trug Sorge,
9034
dieser Zusammenkunft den Charakter einer Sitzung, eines Familienrates zu
9035
verleihen. Sie hatte die Fenstervorhänge geschlossen und trotz der
9036
beiden Paraffinlampen, die auf dem ausgezogenen, grüngedeckten
9037
Speisetisch brannten, zum Überfluß sämtliche Kerzen auf den großen
9038
vergoldeten Kandelabern entzündet. Außerdem hatte sie auf der Tafel eine
9039
Menge Schreibpapiers und gespitzter Bleistifte verteilt, von denen
9040
niemand wußte, wozu sie eigentlich gebraucht werden sollten.
9042
Das schwarze Kleid gab ihrer Gestalt eine mädchenhafte Schlankheit, und
9043
obgleich sie den Tod des Konsuls, dem sie während der letzten Zeit so
9044
herzlich nahegestanden, vielleicht von allen am schmerzlichsten empfand,
9045
obgleich sie noch heute bei dem Gedanken an ihn zweimal in bittere
9046
Tränen ausgebrochen war, vermochte die Aussicht auf diesen kleinen
9047
Familienrat, diese kleine ernsthafte Unterredung, an der sie mit Würde
9048
teilzunehmen gedachte, ihre hübschen Wangen zu röten, ihren Blick zu
9049
beleben, ihren Bewegungen Freude und Wichtigkeit zu geben ... Die
9050
Konsulin dagegen, ermattet vom Schrecken, vom Schmerz, von tausend
9051
Trauerformalitäten und den Begräbnisfeierlichkeiten, sah leidend aus.
9052
Ihr Gesicht, von den schwarzen Spitzen der Haubenbänder umrahmt,
9053
erschien noch bleicher dadurch, und ihre hellblauen Augen blickten matt.
9054
In ihrem glattgescheitelten, rotblonden Haar aber war noch immer kein
9055
einziges weißes Fädchen zu sehen ... War auch dies noch die Pariser
9056
Tinktur oder schon die Perücke? Das wußte Mamsell Jungmann allein, und
9057
sie würde es nicht einmal den Damen des Hauses verraten haben.
9059
Man saß am Ende des Speisetisches und wartete, daß Thomas und Herr
9060
Marcus aus dem Kontor kämen. Weiß und stolz hoben sich die gemalten
9061
Götterbilder auf ihren Sockeln von dem himmelblauen Hintergrunde ab.
9063
Die Konsulin sagte: »Die Sache ist diese, mein lieber Justus ... ich
9064
habe dich bitten lassen ... kurz zu sein, es handelt sich um Klara, das
9065
Kind. Mein lieber seliger Jean hat die Wahl eines Vormundes, dessen die
9066
Dirn noch während dreier Jahre bedarf, mir überlassen ... Ich weiß, du
9067
liebst es nicht, mit Verpflichtungen überhäuft zu werden; du hast
9068
Pflichten gegen deine Frau, gegen deine Söhne ...«
9070
»Gegen meinen Sohn, Bethsy.«
9072
»Gut, gut, wir sollen christlich und barmherzig sein, Justus. Wie wir
9073
vergeben unseren Schuldigern, heißt es. Gedenke unseres gnädigen Vaters
9076
Ihr Bruder sah sie ein wenig verwundert an. Man hatte bisher nur aus des
9077
verstorbenen Konsuls Munde solche Redewendungen vernommen ...
9079
»Genug!« fuhr sie fort, »es sind so gut wie keine Mühseligkeiten mit
9080
diesem Liebesamte verbunden ... Ich möchte dich bitten, die
9081
Vormundschaft zu übernehmen.«
9083
»Gern, Bethsy, wahrhaftig, das tu ich gern. Darf ich mein Mündel nicht
9084
sehen? Ein bißchen zu ernst das gute Kind ...«
9086
Klara ward gerufen. Schwarz und bleich erschien sie langsam, mit traurig
9087
zurückhaltenden Bewegungen. Sie hatte die Zeit nach ihres Vaters Tode
9088
fast unaufhörlich mit Beten auf ihrem Zimmer verbracht. Ihre dunklen
9089
Augen waren unbeweglich; sie schien erstarrt in Schmerz und
9092
Onkel Justus, galant wie er war, schritt ihr entgegen und verbeugte sich
9093
beinahe, als er ihr die Hand drückte; dann richtete er einige
9094
wohlgesetzte Worte an sie, und sie ging wieder, nachdem sie von der
9095
Konsulin einen Kuß auf ihre unbeweglichen Lippen entgegengenommen hatte.
9097
»Wie geht es dem guten Jürgen?« begann die Konsulin aufs neue. »Wie
9098
fühlt er sich in Wismar?«
9100
»Gut«, antwortete Justus Kröger, indem er sich mit einem Achselzucken
9101
wieder niedersetzte ... »Ich glaube, er hat nun seinen Platz gefunden.
9102
Er ist ein braver Junge, Bethsy, ein Junge von Ehre; aber ... nachdem
9103
ihm das Examen zweimal mißglückt, war es das beste ... Die Jurisprudenz
9104
machte ihm selbst keinen Spaß, und die Position an der Post in Wismar
9105
ist ganz akzeptabel ... Sage mal, ich höre, dein Christian kommt?«
9107
»Ja, Justus, er wird kommen, und Gott behüte ihn auf der See! Ach, es
9108
dauert so fürchterlich lange! Obgleich ich ihm am nächsten Tage nach
9109
Jeans Tode geschrieben habe, hat er den Brief noch lange nicht, und dann
9110
braucht er mit dem Segelschiff noch ungefähr zwei Monate. Aber er muß
9111
kommen, ich habe so sehr das Bedürfnis, Justus! Tom sagte zwar, Jean
9112
würde es niemals zugegeben haben, daß er seine Stelle in Valparaiso
9113
fahren läßt ... aber ich bitte dich: acht Jahre beinahe, daß ich ihn
9114
nicht gesehen habe! Und dann unter diesen Umständen! Nein, ich will sie
9115
alle um mich haben in dieser schweren Zeit ... das ist natürlich für
9118
»Sicherlich, sicherlich!« sagte Konsul Kröger, denn ihr kamen die
9121
»Jetzt ist auch Thomas einverstanden«, fuhr sie fort, »denn wo ist
9122
Christian besser aufgehoben als in dem Geschäft seines seligen Vaters,
9123
in Toms Geschäft? Er kann hierbleiben, hier arbeiten ... ach, ich bin
9124
auch beständig in Angst, daß ihm dort drüben das Klima ein Übel tut ...«
9126
Nun kam, begleitet von Herrn Marcus, Thomas Buddenbrook in den Saal.
9127
Friedrich Wilhelm Marcus, des verstorbenen Konsuls langjähriger
9128
Prokurist, war ein hochgewachsener Mann in braunem Schoßrock mit
9129
Trauerflor. Er sprach sehr leise, zögernd, ein wenig stotternd, jedes
9130
Wort eine Sekunde lang überlegend, und pflegte mit dem gerade
9131
ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger seiner Linken langsam und
9132
vorsichtig über seinen rotbraunen, ungepflegt den Mund bedeckenden
9133
Schnurrbart zu streichen oder sich mit Sorgfalt die Hände zu reiben,
9134
wobei er seine runden, braunen Augen so bedächtig zur Seite wandern
9135
ließ, daß er den Eindruck völliger Konfusion und Abwesenheit machte,
9136
obgleich er stets aufmerksam prüfend bei der Sache war.
9138
Thomas Buddenbrook, in so jungen Jahren bereits der Chef des großen
9139
Handelshauses, legte in Miene und Haltung ein ernstes Würdegefühl an
9140
den Tag; aber er war bleich, und seine Hände im besonderen, an deren
9141
einer nun der große Erbsiegelring mit grünem Steine glänzte, waren weiß
9142
wie die Manschetten, die aus den schwarzen Tuchärmeln hervorsahen, von
9143
einer frostigen Blässe, die erkennen ließ, daß sie vollkommen trocken
9144
und kalt waren. Diese Hände, deren schön gepflegte ovale Fingernägel
9145
dazu neigten, eine bläuliche Färbung zu zeigen, konnten in gewissen
9146
Augenblicken, in gewissen, ein wenig krampfhaften und unbewußten
9147
Stellungen einen unbeschreiblichen Ausdruck von abweisender
9148
Empfindsamkeit und einer beinahe ängstlichen Zurückhaltung annehmen,
9149
einen Ausdruck, der den ziemlich breiten und bürgerlichen, wenn auch
9150
fein gegliederten Händen der Buddenbrooks bis dahin fremd gewesen war
9151
und wenig zu ihnen paßte ... Toms erste Sorge war, die Flügeltür zum
9152
Landschaftszimmer zu öffnen, um die Wärme des Ofens, der dort hinter dem
9153
schmiedeeisernen Gitter brannte, dem Saale zugute kommen zu lassen.
9155
Dann wechselte er einen Händedruck mit Konsul Kröger und nahm, Herrn
9156
Marcus gegenüber, Platz an der Tafel, wobei er seine Schwester Tony mit
9157
erhobener Augenbraue ziemlich verwundert ansah. Aber sie legte in einer
9158
Weise den Kopf zurück und das Kinn auf die Brust, daß er jede Bemerkung
9159
über ihre Gegenwart unterdrückte.
9161
»Also man darf noch nicht `Herr Konsul´ sagen?« fragte Justus Kröger ...
9162
»Die Niederlande hoffen vergebens auf deine Vertretung, alter Tom?«
9164
»Ja, Onkel Justus; ich habe es für besser gehalten ... sieh mal, ich
9165
hätte das Konsulat sofort übernehmen können, mit so manch anderer
9166
Verpflichtung; aber erstens bin ich noch ein bißchen jung ... und dann
9167
habe ich mit Onkel Gotthold gesprochen; er freute sich und akzeptierte.«
9169
»Sehr vernünftig, mein Junge. Sehr politisch ... Vollkommen
9172
»Herr Marcus«, sagte die Konsulin, »mein lieber Herr Marcus!« Und sie
9173
reichte ihm die Hand, deren Fläche sie ganz weit herumdrehte, und die er
9174
langsam, mit einem bedächtigen und verbindlichen Seitenblick
9175
entgegennahm. »Ich habe Sie heraufgebeten ... Sie wissen, um was es
9176
sich handelt, und ich weiß, daß Sie einig mit uns sind. Mein seliger
9177
Mann hat in seinen letztwilligen Verfügungen den Wunsch ausgesprochen,
9178
Sie möchten nach seinem Heimgang Ihre treue, bewährte Kraft nicht länger
9179
als fremder Mitarbeiter, sondern als Teilhaber in den Dienst der Firma
9182
»Gewiß, allerdings Frau Konsulin«, sprach Herr Marcus. »Ich bitte
9183
ergebenst, überzeugt zu sein, daß ich die Ehrung meiner Person, welche
9184
in diesem Anerbieten liegt, mit Dankbarkeit zu schätzen weiß, denn die
9185
Mittel, welche ich der Firma entgegenzubringen vermag, sind nur allzu
9186
geringe. Ich weiß vor Gott und den Menschen nichts Besseres zu tun, als
9187
Ihre und Ihres Herrn Sohnes Offerte dankbarst zu akzeptieren.«
9189
»Ja, Marcus, dann danke ich Ihnen herzlich für Ihre Bereitwilligkeit,
9190
einen Teil der großen Verantwortlichkeit zu übernehmen, die für mich
9191
vielleicht zu schwer wäre.« Dies sprach Thomas schnell und leichthin,
9192
indem er seinem Associé über den Tisch hinüber die Hand reichte, denn
9193
die beiden waren längst einig, und dies alles war Formalität.
9195
»Kumpanie is Lumperie ... na, Sie beide werden den Schnack ja wohl
9196
zuschanden machen!« sagte Konsul Kröger. »Und nun wollen wir die
9197
Verhältnisse mal durchgehen, Kinder. Ich habe hier bloß auf die Mitgift
9198
meines Mündels zu achten; das übrige ist mir egal. Hast du eine Kopie
9199
des Testamentes da, Bethsy? Und du, Tom, einen kleinen Überschlag?«
9201
»Den habe ich im Kopf«, sagte Thomas und begann, während er sein goldnes
9202
Crayon auf der Tischplatte hin und her bewegte und, zurückgelehnt,
9203
ins Landschaftszimmer hinüberblickte, den Stand der Dinge
9204
auseinanderzusetzen ...
9206
Die Sache war die, daß des Konsuls hinterlassenes Vermögen
9207
beträchtlicher war, als irgendein Mensch geglaubt hatte. Die Mitgift
9208
seiner ältesten Tochter freilich war verlorengegangen, die Einbuße, die
9209
die Firma gelegentlich des Bremer Konkurses im Jahre 51 erlitten, war
9210
ein schwerer Schlag gewesen. Und auch das Jahr 48 sowie das gegenwärtige
9211
Jahr 55 mit ihren Unruhen und Kriegsläuften hatten Verluste gebracht.
9212
Aber der Buddenbrooksche Anteil an der Krögerschen Hinterlassenschaft
9213
von 400000 Kurantmark hatte, da Justus eine Menge im voraus verbraucht,
9214
volle 300000 betragen, und obgleich Johann Buddenbrook nach Kaufmannsart
9215
beständig geklagt hatte, war den Verlusten doch durch einen etwa
9216
fünfzehnjährigen Verdienst von 30000 Talern Kurant die Waage gehalten
9217
worden. Das Vermögen also betrug, abgesehen von jedem Grundbesitz, in
9218
runder Zahl 750000 Mark Kurant.
9220
Selbst Thomas war, bei aller Einsicht in den Geschäftsgang, von seinem
9221
Vater über diese Höhe im unklaren gelassen worden, und während die
9222
Konsulin mit ruhiger Diskretion die Zahl entgegennahm, während Tony mit
9223
einer allerliebsten und verständnislosen Würde geradeaus blickte und
9224
dennoch einen ängstlichen Zweifel aus ihrer Miene nicht verbannen
9225
konnte, welcher ausdrückte: Ist das auch viel? Sehr viel? Sind wir auch
9226
reiche Leute?... während Herr Marcus sich langsam und anscheinend
9227
zerstreut die Hände rieb und Konsul Kröger sich ersichtlich langweilte,
9228
erfüllte ihn selbst diese Zahl, die er aussprach, mit einem nervösen und
9229
treibenden Stolz, der sich beinahe wie Unmut ausnahm.
9231
»Wir müßten längst die Million erreicht haben!« sagte er mit vor
9232
Erregung gepreßter Stimme, indes seine Hände zitterten ... »Großvater
9233
hat in seiner besten Zeit schon 900000 zur Verfügung gehabt ... Und
9234
welche Anstrengungen seitdem, welch hübscher Erfolg, welche guten Coups
9235
hie und da! Und Mamas Mitgift! Mamas Erbe! Ach, aber die beständige
9236
Zersplitterung ... Mein Gott, sie liegt in der Natur der Dinge;
9237
verzeiht, wenn ich in diesem Augenblick allzu ausschließlich im Sinne
9238
der Firma rede und wenig familiär ... Diese Mitgiften, diese
9239
Auszahlungen an Onkel Gotthold und nach Frankfurt, diese
9240
Hunderttausende, die dem Betrieb entzogen werden mußten ... Und das
9241
waren damals nur =zwei= Geschwister des Firmenchefs ... Genug, wir
9242
werden zu tun bekommen, Marcus!«
9244
Die Sehnsucht nach Tat, Sieg und Macht, die Begier, das Glück auf die
9245
Knie zu zwingen, flammte kurz und heftig in seinen Augen auf. Er fühlte
9246
die Blicke aller Welt auf sich gerichtet, erwartungsvoll, ob er das
9247
Prestige der Firma, der alten Familie zu fördern und auch nur zu wahren
9248
wissen werde. An der Börse begegnete er diesen musternden Seitenblicken
9249
aus alten jovialen, skeptischen und ein bißchen mokanten
9250
Geschäftsmannsaugen, welche zu fragen schienen: »Wirst de Saak ook
9251
unnerkregen, min Söhn?« Ich werde es, dachte er ...
9253
Friedrich Wilhelm Marcus rieb sich bedächtig die Hände, und Justus
9256
»Na, ruhig Blut, alter Tom! Die Zeiten sind nicht mehr wie damals, als
9257
dein Großpapa preußischer Heereslieferant war.« --
9259
Und nun begann ein ausführliches Gespräch über die großen und kleinen
9260
Anordnungen des Testamentes, ein Gespräch, an dem sich alle beteiligten,
9261
und in welchem Konsul Kröger die gute Laune vertrat, indem er von Thomas
9262
beständig als von »Seiner Hoheit dem nunmehr regierenden Fürsten«
9263
sprach. »Der Speicher-Grundbesitz bleibt der Tradition gemäß ohne
9264
weiteres bei der Krone«, sagte er.
9266
Im übrigen gingen, wie sich versteht, die Bestimmungen dahin, daß alles
9267
nach Möglichkeit beisammengelassen werden sollte, daß Frau Elisabeth
9268
Buddenbrook im Prinzip Universalerbin sei und das ganze Vermögen im
9269
Geschäfte verbleibe, wobei Herr Marcus konstatierte, daß er das
9270
Betriebskapital als Teilhaber um 120000 Kurant verstärke. Für Thomas
9271
waren als vorläufiges Privatvermögen 50000 ausgesetzt und die gleiche
9272
Summe für Christian, in dem Falle, daß er sich selbständig etabliere.
9273
Justus Kröger war eifrig bei der Sache, als der Passus verlesen ward:
9274
»Die Fixierung der Mitgiftsumme für meine inniggeliebte jüngere Tochter
9275
Klara im Falle ihrer Verehelichung überlasse ich dem Ermessen meiner
9276
inniggeliebten Frau« ... »Sagen wir 100000!« schlug er vor, indem er
9277
sich zurücklehnte, ein Bein über das andere schlug und mit beiden Händen
9278
seinen kurzen grauen Schnurrbart empordrehte. Er war die Kulanz selbst.
9279
Aber man setzte die hergebrachte Summe von 80000 Kurantmark fest.
9281
»Im Falle einer abermaligen Verheiratung meiner inniggeliebten ältesten
9282
Tochter Antonie«, hieß es weiter, »darf, angesichts der Tatsache, daß
9283
bereits an ihre erste Ehe 80000 Kurantmark gewendet worden, als
9284
Aussteuer die Summe von 17000 Talern Kurant nicht überschritten
9285
werden ...« Frau Antonie bewegte mit ebenso graziöser wie erregter Geste
9286
die Arme nach vorn, um die Ärmel der Taille zurückzuschieben, und sie
9287
blickte zur Decke empor, indem sie ausrief: »=Grünlich -- ha!=« Es klang
9288
wie ein Kriegsruf, wie ein kleiner Trompetenstoß. »Wissen Sie
9289
eigentlich, wie es sich mit dem Manne verhält, Herr Marcus?« fragte sie.
9290
»Wir sitzen eines harmlosen Nachmittags im Garten ... vorm Portal ...
9291
Sie wissen, Herr Marcus: unser Portal. -- Gut! Wer erscheint? Eine
9292
Person mit einem goldfarbenen Backenbart ... Was für ein Filou!...«
9294
»So«, sagte Thomas. »Wir reden nachher von Herrn Grünlich, nicht wahr?«
9296
»Gut, gut; aber das wirst du mir zugeben, Tom, du bist ein kluger
9297
Mensch, und die Erfahrung habe ich gemacht, weißt du, obgleich ich vor
9298
kurzer Zeit noch so sehr einfältig war, nämlich daß im Leben nicht alles
9299
immer mit ehrlichen und gerechten Dingen zugeht« ...
9301
»Ja ...«, sagte Tom. Und man fuhr fort, man ging ins Detail, man nahm
9302
Kenntnis von den Bestimmungen über die große Familienbibel, über des
9303
Konsuls Diamantknöpfe, über viele einzelne Dinge ... Justus Kröger und
9304
Herr Marcus blieben zum Abendbrot.
9309
Zu Beginn des Februar 1856, nach achtjähriger Abwesenheit, kehrte
9310
Christian Buddenbrook in die Vaterstadt zurück. Er kam, in einem gelben
9311
und großkarierten Anzug, der durchaus etwas Tropisches an sich hatte,
9312
mit der Postkutsche von Hamburg, brachte den Schnabel eines
9313
Schwertfisches und ein großes Zuckerrohr mit und nahm in halb
9314
zerstreuter, halb verlegener Haltung die Umarmungen der Konsulin
9317
Diese Haltung bewahrte er auch, als gleich am nächsten Vormittag nach
9318
seiner Ankunft die Familie vors Burgtor hinaus zum Friedhofe ging, um
9319
auf dem Grabe einen Kranz niederzulegen. Sie standen alle beieinander
9320
auf dem verschneiten Wege vor der umfangreichen Platte, auf welcher die
9321
Namen der hier Ruhenden das in Stein gearbeitete Wappen der Familie
9322
umgaben ... vor dem aufrechten Marmorkreuz, das sich an den Rand des
9323
kleinen, winterlich kahlen Friedhofgehölzes lehnte: Alle, ausgenommen
9324
Klothilde, die auf »Ungnade« weilte, um ihren kranken Vater zu pflegen.
9326
Tony legte den Kranz auf den in goldenen Buchstaben frisch in die Platte
9327
eingelassenen Namen des Vaters und kniete dann trotz des Schnees am
9328
Grabe nieder, um leise zu beten; der schwarze Schleier umspielte sie,
9329
und ihr weiter Kleiderrock lag ein wenig malerisch schwungvoll neben ihr
9330
ausgebreitet. Gott allein wußte, wieviel Schmerz und Religiosität, und
9331
andererseits wieviel Selbstgefälligkeit einer hübschen Frau in dieser
9332
hingegossenen Stellung lag. Thomas war nicht in der Stimmung, darüber
9333
nachzudenken. Christian aber blickte seine Schwester mit einem
9334
Mischausdruck von Moquerie und Ängstlichkeit von der Seite an, als
9335
wollte er sagen: »Wirst du das auch verantworten können? Wirst du auch
9336
nicht verlegen werden, wenn du aufstehst? Wie unangenehm!« Tony fing
9337
diesen Blick auf, als sie sich erhob; aber sie geriet durchaus nicht in
9338
Verlegenheit. Sie legte den Kopf zurück, ordnete Schleier und Rock und
9339
wandte sich mit würdevoller Sicherheit zum Gehen, was Christian
9340
sichtlich erleichterte.
9342
War der verstorbene Konsul, mit seiner schwärmerischen Liebe zu Gott und
9343
dem Gekreuzigten, der erste seines Geschlechtes gewesen, der
9344
unalltägliche, unbürgerliche und differenzierte Gefühle gekannt und
9345
gepflegt hatte, so schienen seine beiden Söhne die ersten Buddenbrooks
9346
zu sein, die vor dem freien und naiven Hervortreten solcher Gefühle
9347
empfindlich zurückschreckten. Sicherlich hatte Thomas mit reizbarerer
9348
Schmerzfähigkeit den Tod seines Vaters erlebt, als etwa sein Großvater
9349
den Verlust des seinen. Dennoch pflegte er nicht am Grabe in die Knie zu
9350
sinken, hatte er sich niemals, wie seine Schwester Tony, über den Tisch
9351
geworfen, um zu schluchzen wie ein Kind, empfand er als im höchsten
9352
Grade peinlich, die großen, mit Tränen gemischten Worte, mit denen
9353
Madame Grünlich zwischen Braten und Nachtisch die Charaktereigenschaften
9354
und die Person des toten Vaters zu feiern liebte. Solchen Ausbrüchen
9355
gegenüber hatte er einen taktvollen Ernst, ein gefaßtes Schweigen, ein
9356
zurückhaltendes Kopfnicken ... und gerade dann, wenn niemand des
9357
Verstorbenen erwähnt oder gedacht hatte, füllten sich, ohne daß sein
9358
Gesichtsausdruck sich verändert hätte, langsam seine Augen mit Tränen.
9360
Es war anders mit Christian. Er vermochte bei den naiven und kindlichen
9361
Ergüssen seiner Schwester schlechterdings nicht, seine Haltung zu
9362
bewahren; er bückte sich über seinen Teller, wandte sich ab, zeigte das
9363
Bedürfnis, sich zu verkriechen und unterbrach sie mehrere Male sogar mit
9364
einem leisen und gequälten: »Gott ... Tony ...«, wobei seine große Nase
9365
in unzählige Fältchen gezogen war.
9367
Ja, er legte Unruhe und Verlegenheit an den Tag, sobald das Gespräch
9368
sich dem Verstorbenen zuwandte, und es schien, als ob er nicht nur die
9369
undelikaten Äußerungen tiefer und feierlicher Gefühle, sondern auch die
9370
Gefühle selbst fürchtete und mied.
9372
Man hatte ihn noch keine Träne über den Tod des Vaters vergießen sehen.
9373
Die lange Entwöhnung allein erklärte dies nicht. Das Merkwürdige aber
9374
war, daß er, im Gegensatze zu seinem sonstigen Widerwillen gegen
9375
derartige Gespräche, immer wieder seine Schwester Tony ganz allein
9376
beiseite nahm, um sich von ihr die Vorgänge jenes fürchterlichen
9377
Sterbenachmittages so recht anschaulich und im einzelnen erzählen zu
9378
lassen: denn Madame Grünlich erzählte am lebhaftesten.
9380
»Also gelb sah er aus?« fragte er zum fünften Male ... »Was schrie das
9381
Mädchen, als es zu euch hereinstürzte?... Er sah also ganz gelb aus?...
9382
Und hat nichts mehr sagen können, bevor er starb?... Was sagte das
9383
Mädchen? Wie hat er nur noch machen können? `Ua ... ua´?...« Er schwieg,
9384
schwieg lange Zeit, indes seine kleinen, runden, tiefliegenden Augen
9385
schnell und gedankenvoll im Zimmer umherirrten. »=Gräßlich=«, sagte er
9386
plötzlich, und man sah, daß ein Schauer ihn überlief, während er
9387
aufstand. Und immer mit unruhigen und grübelnden Augen ging er auf und
9388
nieder, während Tony sich wunderte, daß ihr Bruder, der sich aus
9389
unbegreiflichen Gründen zu schämen schien, wenn sie laut den Vater
9390
betrauerte, mit einer Art schauerlicher Nachdenklichkeit ganz laut die
9391
Todeslaute desselben wiederholen mochte, die er mit vieler Mühe von
9392
Line, dem Mädchen, erfragt hatte ...
9394
Christian hatte sich durchaus nicht verschönt. Er war hager und bleich.
9395
Die Haut umspannte überall straff seinen Schädel, zwischen den
9396
Wangenknochen sprang die große, mit einem Höcker versehene Nase scharf
9397
und fleischlos hervor, und das Haupthaar war schon merklich gelichtet.
9398
Sein Hals war dünn und zu lang, und seine mageren Beine zeigten eine
9399
starke Krümmung nach außen ... Übrigens schien sein Londoner Aufenthalt
9400
ihn am nachhaltigsten beeinflußt zu haben, und da er auch in Valparaiso
9401
am meisten mit Engländern verkehrt hatte, so hatte seine ganze
9402
Erscheinung etwas Englisches angenommen, was nicht übel zu ihr paßte. Es
9403
lag etwas davon in dem bequemen Schnitt und dem wolligen, durablen Stoff
9404
seines Anzuges, in der breiten und soliden Eleganz seiner Stiefel und in
9405
der Art, wie sein rotblonder, starker Schnurrbart mit etwas säuerlichem
9406
Ausdruck ihm über den Mund hing. Ja selbst seine Hände, die von jenem
9407
matten und porösen Weiß waren, wie die Hitze es hervorbringt, machten
9408
mit ihren rund und kurz geschnittenen sauberen Nägeln aus irgendwelchen
9409
Gründen einen englischen Eindruck.
9411
»Sage mal ...« fragte er unvermittelt, »kennst du das Gefühl ... es ist
9412
schwer zu beschreiben ... wenn man einen harten Bissen verschluckt und
9413
es tut hinten den ganzen Rücken hinunter weh?« Dabei war wieder seine
9414
ganze Nase in straffe kleine Fältchen gezogen.
9416
»Ja«, sagte Tony, »das ist etwas ganz Gewöhnliches. Man trinkt einen
9419
»So?« erwiderte er unbefriedigt. »Nein, ich glaube nicht, daß wir
9420
dasselbe meinen.« Und ein unruhiger Ernst bewegte sich auf seinem
9421
Gesichte hin und her ...
9423
Dabei war er der erste, der im Hause eine freie und der Trauer
9424
abgewandte Stimmung vertrat. Er hatte von der Kunst, den verstorbenen
9425
Marcellus Stengel nachzuahmen, nichts verlernt und redete oft
9426
stundenlang in seiner Sprache. Bei Tische erkundigte er sich nach dem
9427
Stadttheater ... ob eine gute Truppe dort sei, was gespielt werde ...
9429
»Ich weiß nicht«, sagte Tom mit einer Betonung, die übertrieben
9430
gleichgültig war, um nicht ungeduldig zu sein. »Ich kümmere mich jetzt
9433
Christian aber überhörte dies völlig und fing an, vom Theater zu
9434
sprechen ... »Ich kann gar nicht sagen, wie gern ich im Theater bin!
9435
Schon das Wort `Theater´ macht mich geradezu glücklich ... Ich weiß
9436
nicht, ob jemand von euch dies Gefühl kennt? Ich könnte stundenlang
9437
stillsitzen und den geschlossenen Vorhang ansehen ... Dabei freue ich
9438
mich wie als Kind, wenn wir hier herein zur Weihnachtsbescherung gingen
9439
... Schon das Stimmen der Orchesterinstrumente! Ich würde ins Theater
9440
gehen, nur um =das= zu hören!... Besonders gern habe ich die
9441
Liebesszenen ... Einige Liebhaberinnen verstehen es, den Kopf des
9442
Liebhabers so zwischen beide Hände zu nehmen ... Überhaupt die
9443
Schauspieler ... ich habe in London und auch in Valparaiso viel mit
9444
Schauspielern verkehrt. Zu Anfang war ich wahrhaftig stolz, mit ihnen so
9445
im ganz gewöhnlichen Leben sprechen zu können. Im Theater achte ich auf
9446
jede ihrer Bewegungen ... das ist sehr interessant! Einer sagt sein
9447
letztes Wort, dreht sich in aller Ruhe um und geht ganz langsam und
9448
sicher und ohne Verlegenheit zur Tür, obgleich er weiß, daß die Augen
9449
des ganzen Theaters auf seinem Rücken liegen ... wie man das kann!...
9450
Früher habe ich mich fortwährend gesehnt, einmal hinter die Kulissen zu
9451
kommen -- ja, jetzt bin ich da ziemlich zu Hause, das kann ich sagen.
9452
Stellt euch vor ... in einem Operettentheater -- es war in London --
9453
ging eines Abends der Vorhang auf, als ich noch auf der Bühne stand ...
9454
Ich unterhielt mich mit Miß Watercloose ... einem Fräulein Watercloose
9455
... ein sehr hübsches Mädchen! Genug! plötzlich öffnet sich der
9456
Zuschauerraum ... mein Gott, ich weiß nicht, wie ich von der Bühne
9457
heruntergekommen bin!«
9459
Madame Grünlich lachte so ziemlich allein in der kleinen Tafelrunde;
9460
aber Christian fuhr mit umherwandernden Augen zu sprechen fort. Er
9461
sprach von englischen Kaffee-Konzertsängerinnen, er erzählte von einer
9462
Dame, die mit einer gepuderten Perücke aufgetreten sei, mit einem langen
9463
Stock auf die Erde gestoßen und ein Lied namens »_That's Maria_«!
9464
gesungen habe ... »_Maria_, wißt ihr, _Maria_ ist die Schändlichste von
9465
allen ... Wenn eine das Sündhafteste begangen hat: _that's Maria!_
9466
_Maria_ ist die =Allerschlimmste=, wißt ihr ... das Laster ...« Und das
9467
letzte Wort sprach er mit abscheulichem Ausdruck, indem er die Nase
9468
krauste und die rechte Hand mit gekrümmten Fingern erhob.
9470
»_Assez_, Christian!« sagte die Konsulin. »Dies interessiert uns
9473
Allein Christians Blick schweifte abwesend über sie hin, und er hätte
9474
auch wohl ohne ihren Einwurf zu sprechen aufgehört, denn, während seine
9475
kleinen, runden, tiefliegenden Augen rastlos wanderten, schien er in ein
9476
tiefes, unruhiges Nachdenken über _Maria_ und das Laster versunken.
9478
Plötzlich sagte er: »Sonderbar ... manchmal kann ich nicht schlucken!
9479
Nein, da ist nichts zu lachen; ich finde es furchtbar ernst. Mir fällt
9480
ein, daß ich vielleicht nicht schlucken kann, und dann kann ich es
9481
wirklich nicht. Der Bissen sitzt schon ganz hinten, aber dies hier, der
9482
Hals, die Muskeln ... es versagt ganz einfach ... Es gehorcht dem Willen
9483
nicht, wißt ihr. Ja, die Sache ist: ich wage nicht einmal, es ordentlich
9486
Tony rief ganz außer sich: »Christian! mein Gott, was für dummes Zeug!
9487
Du wagst nicht, schlucken zu wollen ... Nein, du machst dich ja
9488
lächerlich! Was erzählst du uns eigentlich alles ...!«
9490
Thomas schwieg. Die Konsulin aber sagte: »Das sind die Nerven,
9491
Christian, ja, es war höchste Zeit, daß du nach Hause kamst; das Klima
9492
drüben hätte dich noch krank gemacht.« --
9494
Nach Tische setzte er sich an das kleine Harmonium, das im Eßsaale
9495
stand, und machte einen Klaviervirtuosen. Er tat, als ob er sein Haar
9496
zurückwürfe, rieb sich die Hände und blickte von unten herauf ins
9497
Zimmer; dann, lautlos, ohne die Bälge zu treten, denn er konnte durchaus
9498
nicht spielen und war überhaupt unmusikalisch wie die meisten
9499
Buddenbrooks, begann er, emsig vornübergebeugt, den Baß zu bearbeiten,
9500
vollführte wahnsinnige Passagen, warf sich zurück, blickte entzückt nach
9501
oben und griff mit beiden Händen machtvoll und sieghaft in die Tasten
9502
... Selbst Klara geriet ins Lachen. Sein Spiel war täuschend, voll von
9503
Leidenschaft und Charlatanerie, voll von unwiderstehlicher Komik, die
9504
den burlesken und exzentrischen englisch-amerikanischen Charakter trug
9505
und weit entfernt war, einen Augenblick unangenehm zu berühren, denn er
9506
selbst fühlte sich allzu wohl und sicher darin.
9508
»Ich bin immer sehr häufig in Konzerte gegangen«, sagte er; »ich sehe es
9509
gar zu gern, wie die Leute sich mit ihren Instrumenten benehmen!... Ja,
9510
es ist wahrhaftig wunderschön, ein Künstler zu sein!«
9512
Dann begann er von neuem. Plötzlich jedoch brach er ab. Ganz
9513
unvermittelt wurde er ernst: so überraschend, daß es aussah, als ob eine
9514
Maske von seinem Gesicht hinunterfiel; er stand auf, strich mit der Hand
9515
durch sein spärliches Haar, begab sich an einen anderen Platz und blieb
9516
dort, schweigsam, übellaunig, mit unruhigen Augen und einem
9517
Gesichtsausdruck, als horche er auf irgendein unheimliches Geräusch.
9519
... »Manchmal finde ich Christian ein bißchen sonderbar«, sagte Madame
9520
Grünlich eines Abends zu ihrem Bruder Thomas, als sie allein waren ...
9521
»Wie spricht er eigentlich? Er geht so merkwürdig ins Detail, dünkt mich
9522
... oder wie soll ich sagen! Er sieht die Dinge von einer so
9523
fremdartigen Seite an, wie?...«
9525
»Ja«, sagte Tom, »ich verstehe recht wohl, was du meinst, Tony.
9526
Christian ist herzlich indiskret ... es ist schwer, es auszudrücken. Ihm
9527
fehlt etwas, was man das Gleichgewicht, das persönliche Gleichgewicht
9528
nennen kann. Einerseits ist er nicht imstande, taktlosen Naivitäten
9529
anderer Leute gegenüber die Fassung zu bewahren ... Er ist dem nicht
9530
gewachsen, er versteht nicht, es zu vertuschen, er verliert ganz und gar
9531
die Contenance ... Aber andererseits kann er auch in =der= Weise die
9532
Contenance verlieren, daß er selbst in das unangenehmste Ausplaudern
9533
gerät und sein Intimstes nach außen kehrt. Das mutet manchmal geradezu
9534
unheimlich an. Ist es nicht, wie wenn einer im Fieber spricht? Dem
9535
Phantasierenden fehlt in ganz derselben Weise die Haltung und die
9536
Rücksicht ... Ach, die Sache ist ganz einfach die, daß Christian sich zu
9537
viel mit sich selbst beschäftigt, mit den Vorgängen in seinem eignen
9538
Inneren. Manchmal ergreift ihn eine wahre Manie, die kleinsten und
9539
tiefsten dieser Vorgänge ans Licht zu ziehen und auszusprechen ...
9540
Vorgänge, um die ein verständiger Mensch sich gar nicht bekümmert, von
9541
denen er gar nichts wissen will, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil
9542
er sich genieren würde, sie mitzuteilen. Es liegt so viel Schamlosigkeit
9543
in solcher Mitteilerei, Tony!... Siehst du: auch ein anderer Mensch als
9544
Christian mag sagen, daß er das Theater liebt; aber er wird es mit einem
9545
anderen Akzent, beiläufiger, kurz: bescheidener sagen. Christian aber
9546
sagt es mit einer Betonung, die bedeutet: Ist meine Schwärmerei für die
9547
Bühne nicht etwas ungeheuer Merkwürdiges und Interessantes? Er kämpft
9548
mit den Worten dabei, er tut, als ringe er danach, etwas ausbündig
9549
Feines, Verborgenes und Seltsames zum Ausdruck zu bringen ...«
9551
»Ich will dir eines sagen«, fuhr er nach einer Pause fort, indem er
9552
seine Zigarette durch die schmiedeeiserne Gittertür in den Ofen warf ...
9553
»Ich selbst habe manchmal über diese ängstliche, eitle und neugierige
9554
Beschäftigung mit sich selbst nachgedacht, denn ich habe früher
9555
ebenfalls dazu geneigt. Aber ich habe gemerkt, daß sie zerfahren,
9556
untüchtig und haltlos macht ... und die Haltung, das Gleichgewicht ist
9557
für mich meinerseits die Hauptsache. Es wird immer Menschen geben, die
9558
zu diesem Interesse an sich selbst, diesem eingehenden Beobachten ihrer
9559
Empfindungen berechtigt sind, Dichter, die ihr bevorzugtes Innenleben
9560
mit Sicherheit und Schönheit auszusprechen vermögen und damit die
9561
Gefühlswelt der anderen Leute bereichern. Aber wir sind bloß einfache
9562
Kaufleute, mein Kind; unsere Selbstbeobachtungen sind verzweifelt
9563
unbeträchtlich. Wir können zur Not hervorbringen, daß das Stimmen von
9564
Orchesterinstrumenten uns ein merkwürdiges Vergnügen macht, und daß wir
9565
manchmal nicht wagen, schlucken zu wollen ... Ach, wir sollen uns
9566
hinsetzen, zum Teufel, und etwas leisten, wie unsere Vorfahren etwas
9567
geleistet haben ...«
9569
»Ja, Tom, du sprichst meine Ansicht aus. Wenn ich bedenke, daß diese
9570
Hagenströms sich immer mehr aufnehmen ... O Gott, das =Geschmeiß=, weißt
9571
du ... Mutter will das Wort nicht hören, aber es ist das einzig
9572
richtige. Glauben sie vielleicht, daß es außer ihnen keine vornehmen
9573
Familien mehr gibt in der Stadt? Ha! ich muß lachen, weißt du, ich muß
9579
Der Chef der Firma »Johann Buddenbrook« hatte seinen Bruder bei dessen
9580
Ankunft mit einem längeren, prüfenden Blick gemessen, er hatte ihm
9581
während der ersten Tage eine ganz unauffällige und beiläufige
9582
Beobachtung zugewandt, und dann, ohne daß ein Urteil auf seinem ruhigen
9583
und diskreten Gesicht zu lesen gewesen wäre, schien seine Neugier
9584
befriedigt, seine Meinung abgeschlossen zu sein. Er sprach mit ihm im
9585
Familienkreise mit gleichgültigem Tone über gleichgültige Dinge und
9586
amüsierte sich wie die übrigen, wenn Christian irgendeine Vorstellung
9589
Nach acht Tagen etwa sagte er zu ihm: »Wir werden also zusammen
9590
arbeiten, mein Junge?... Soviel ich weiß, bist du mit Mamas Wunsch im
9591
Einverständnis, nicht wahr?... Na, wie du weißt, ist Marcus mein
9592
Kompagnon geworden, gegen die Quote, die seinem eingezahlten Vermögen
9593
entspricht. Ich denke mir, daß du äußerlich, als mein Bruder, ungefähr
9594
seinen früheren Platz einnehmen wirst, eine Prokuristenstellung ...
9595
wenigstens repräsentativ ... Was deine Beschäftigung betrifft, so weiß
9596
ich ja nicht, wie weit deine kaufmännischen Kenntnisse vorgeschritten
9597
sind. Ich denke mir, daß du bislang ein bißchen gebummelt hast, wie?...
9598
Jedenfalls wird dir in der Hauptsache die englische Korrespondenz am
9599
meisten zusagen ... Dann aber muß ich dich um eines bitten, mein Lieber!
9600
In deiner Eigenschaft als Bruder des Chefs nimmst du natürlich
9601
tatsächlich unter den übrigen Angestellten eine bevorzugte Stellung ein
9602
... aber ich brauche dir nicht zu sagen, nicht wahr, daß du ihnen viel
9603
mehr durch Gleichstellung und energische Pflichterfüllung imponierst,
9604
als indem du von Vorrechten Gebrauch machst und dir Freiheiten nimmst.
9605
Also die Kontorstunden innehalten und immer die _dehors_ wahren,
9608
Und dann machte er ihm einen Vorschlag in betreff der Prokura, den
9609
Christian ohne Besinnen und Handeln akzeptierte: mit einem verlegenen
9610
und zerstreuten Gesicht, das von sehr wenig Habsucht und einem eifrigen
9611
Bestreben zeugte, die Sache rasch zu erledigen.
9613
Am folgenden Tage führte Thomas ihn in die Kontors ein, und Christians
9614
Tätigkeit im Dienste der alten Firma begann ...
9616
Die Geschäfte hatten nach dem Tode des Konsuls ihren ununterbrochenen
9617
und soliden Gang genommen. Aber bald wurde bemerkbar, daß, seitdem
9618
Thomas Buddenbrook die Zügel in Händen hielt, ein genialerer, ein
9619
frischerer und unternehmenderer Geist den Betrieb beherrschte. Hie und
9620
da ward etwas gewagt, hie und da ward der Kredit des Hauses, der unter
9621
dem früheren _régime_ eigentlich bloß ein Begriff, eine Theorie, ein
9622
Luxus gewesen war, mit Selbstbewußtsein angespannt und ausgenützt ...
9623
Die Herren an der Börse nickten einander zu. »Buddenbrook will mit
9624
_avec_ Geld verdienen«, sagten sie. Aber sie fanden es doch ganz gut,
9625
daß Thomas den ehrenfesten Herrn Friedrich Wilhelm Marcus wie eine
9626
Bleikugel am Fuße hinter sich drein zu ziehen hatte. Herrn Marcus'
9627
Einfluß bildete das retardierende Moment im Gang der Geschäfte. Er
9628
strich mit zwei Fingern sorgsam über seinen Schnurrbart, rückte mit
9629
peinlicher Ordnungsliebe seine Schreibutensilien und das Glas Wasser
9630
zurecht, das stets auf seinem Pulte stand, prüfte eine Sache mit
9631
abwesendem Gesichtsausdruck von mehreren Seiten und hatte übrigens die
9632
Gewohnheit, fünf- oder sechsmal während der Kontorzeit hinaus auf den
9633
Hof und in die Waschküche zu gehen, um seinen ganzen Kopf unter den
9634
Strahl der Wasserleitung zu halten und sich so zu erfrischen.
9636
»Die beiden ergänzen sich«, sagten die Chefs der größeren Häuser
9637
zueinander: Konsul Huneus vielleicht zu Konsul Kistenmaker; und unter
9638
Schiffsleuten und Speichereiarbeitern wie in den kleinen Bürgersfamilien
9639
wiederholte man sich dieses Urteil, denn die Stadt nahm Anteil daran,
9640
wie der junge Buddenbrook »de Saak woll befingern« werde ... Auch Herr
9641
Stuht in der Glockengießerstraße sagte zu seiner Frau, welche in den
9642
ersten Kreisen verkehrte: »Die beiden ergänzen sich ganz gaut, will 'k
9645
Die »Persönlichkeit« im Geschäfte aber, darüber bestand kein Zweifel,
9646
war dennoch der jüngere der beiden Kompagnons. Das zeigte sich schon
9647
darin, daß er es war, der mit den Bediensteten des Hauses, mit den
9648
Kapitänen, den Geschäftsführern in den Speicherkontors, den Fuhrleuten
9649
und den Lagerarbeitern zu verkehren wußte. Er verstand es, mit
9650
Ungezwungenheit ihre Sprache zu reden und sich dennoch in unnahbarer
9651
Entfernung zu halten ... Wenn aber Herr Marcus zu einem biederen
9652
Arbeitsmann: »Verstahn Sie mich?« sagte, so klang dies so völlig
9653
unmöglich, daß sein Sozius, ihm gegenüber am Pulte, einfach anfing zu
9654
lachen, auf welches Zeichen das ganze Kontor sich der Heiterkeit
9657
Thomas Buddenbrook, ganz voll von dem Wunsche, der Firma den Glanz zu
9658
wahren und zu mehren, der ihrem alten Namen entsprach, liebte es
9659
überhaupt, im täglichen Kampf um den Erfolg seine Person einzusetzen,
9660
denn er wußte wohl, daß er seinem sicheren und eleganten Auftreten,
9661
seiner gewinnenden Liebenswürdigkeit, seinem gewandten Takt im Gespräche
9662
manch gutes Geschäft verdankte.
9664
»Ein Geschäftsmann darf kein Bürokrat sein!« sagte er zu Stephan
9665
Kistenmaker -- von »Kistenmaker & Söhne« -- seinem ehemaligen
9666
Schulkameraden, dessen geistig überlegener Freund er geblieben war, und
9667
der auf jedes seiner Worte horchte, um es dann als seine eigene Meinung
9668
weiterzugeben ... »Es gehört Persönlichkeit dazu, das ist =mein=
9669
Geschmack. Ich glaube nicht, daß ein großer Erfolg vom Kontorbock aus zu
9670
erkämpfen ist ... wenigstens würde er mir nicht viel Freude machen. Der
9671
Erfolg will nicht bloß am Pulte berechnet sein ... Ich habe stets das
9672
Bedürfnis, den Gang der Dinge ganz gegenwärtig mit Blick, Mund und Geste
9673
zu dirigieren ... ihn mit dem unmittelbaren Einfluß meines Willens,
9674
meines Talentes, meines Glückes, wie du es nennen willst, zu
9675
beherrschen. Aber das kommt leider allmählich aus der Mode, dies
9676
persönliche Eingreifen des Kaufmannes ... Die Zeit schreitet fort, aber
9677
sie läßt, wie mich dünkt, das Beste zurück ... Der Verkehr erleichtert
9678
sich immer mehr, die Kurse sind immer schneller bekannt ... Das Risiko
9679
verringert sich und mit ihm auch der Profit ... Ja, die alten Leute
9680
hatten es anders. Mein Großvater zum Beispiel ... er kutschierte
9681
vierspännig nach Süddeutschland, der alte Herr mit seinem Puderkopf und
9682
seinen Eskarpins, als preußischer Heereslieferant. Und dann scharmierte
9683
er umher und ließ seine Künste spielen und machte ein unglaubliches
9684
Geld, Kistenmaker! -- Ach, ich fürchte beinahe, daß der Kaufmann eine
9685
immer banalere Existenz wird, mit der Zeit ...«
9687
So klagte er manchmal, und darum waren es im Grunde seine liebsten
9688
Geschäfte, wenn er ganz gelegentlich, auf einem Familienspaziergange
9689
vielleicht, in eine Mühle eintrat, mit dem Besitzer, der sich geehrt
9690
fühlte, plauderte und leichthin, _en passant_, in guter Laune, einen
9691
guten Kontrakt mit ihm abschloß ... Dergleichen lag seinem Sozius fern.
9693
... Was Christian betraf, so schien er sich zunächst mit wirklichem
9694
Eifer und Vergnügen seiner Tätigkeit zu widmen; ja, er schien sich
9695
ausnehmend wohl und zufrieden darin zu befinden und hatte während
9696
mehrerer Tage eine Art, mit Appetit zu essen, seine kurze Pfeife zu
9697
rauchen und seine Schultern in dem englischen Jackett zurechtzuschieben,
9698
die seiner behaglichen Genugtuung Ausdruck gab. Er ging morgens ungefähr
9699
gleichzeitig mit Thomas ins Kontor hinunter und nahm neben Herrn Marcus
9700
und seinem Bruder schräg gegenüber in seinem verstellbaren Armsessel
9701
Platz, denn er hatte wie die beiden Chefs einen Armsessel. Zunächst las
9702
er die »Anzeigen«, wobei er in Gemütlichkeit seine Morgenzigarette zu
9703
Ende rauchte. Dann holte er sich aus dem unteren Pultschranke einen
9704
alten Kognak, streckte die Arme aus, um sich Bewegungsfreiheit zu
9705
verschaffen, sagte »Na!« und ging, während er die Zunge zwischen den
9706
Zähnen umherwandern ließ, guten Mutes zur Arbeit über. Seine englischen
9707
Briefe waren ganz außerordentlich gewandt und wirksam, denn wie er das
9708
Englische sprach, schlechthin, ungewählt, gleichgültig und mühelos
9709
dahinplätschernd, so schrieb er es auch.
9711
Seiner Art gemäß verlieh er im Familienkreise der Stimmung Worte, die
9714
»Der Kaufmannsstand ist doch ein schöner, wirklich beglückender Beruf!«
9715
sagte er. »Solide, genügsam, emsig, behaglich ... ich bin wahrhaftig
9716
ganz dafür geboren! Und so als Angehöriger des Hauses, wißt ihr ...
9717
kurz, ich fühle mich so wohl wie nie. Man kommt morgens frisch ins
9718
Kontor, man sieht die Zeitung durch, raucht, denkt an dies und jenes und
9719
wie gut man es hat, nimmt seinen Kognak und arbeitet mal eben ein
9720
bißchen. Es kommt die Mittagszeit, man ißt mit seiner Familie, ruht sich
9721
aus, und dann geht's wieder an die Arbeit ... Man schreibt, man hat
9722
gutes, glattes, reinliches Firmenpapier, eine gute Feder ... Lineal,
9723
Papiermesser, Stempel, alles ist prima Sorte, ordentlich ... und damit
9724
erledigt man alles, emsig, nach der Reihe, eins nach dem anderen, bis
9725
man schließlich zusammenpackt. Morgen ist wieder ein Tag. Und wenn man
9726
zum Abendbrot hinaufgeht, fühlt man sich so durchdringend zufrieden ...
9727
jedes Glied fühlt sich zufrieden ... die Hände fühlen sich
9730
»Gott, Christian!« rief Tony. »Du machst dich ja lächerlich! Die Hände
9731
fühlen sich zufrieden ...«
9733
»Doch! Ja! Das kennst du also nicht? Ich meine ...« Und ereiferte sich
9734
in dem Bestreben, dies auszudrücken, dies zu erklären ... »Man schließt
9735
die Faust, weißt du ... sie ist nicht besonders kräftig, denn man ist
9736
müde von der Arbeit. Aber sie ist nicht feucht ... sie ärgert einen
9737
nicht ... Sie fühlt sich selbst gut und behaglich an ... Es ist ein
9738
Gefühl von Selbstgenügsamkeit ... Man kann ganz stillsitzen, ohne sich
9741
Alle schwiegen. Dann sagte Thomas ganz gleichgültig, um seinen
9742
Widerwillen zu verbergen: »Mir scheint, daß man nicht arbeitet,
9743
damit ...« Aber er brach ab, er wiederholte nichts. »Ich wenigstens habe
9744
andere Ziele dabei vor Augen«, fügte er hinzu.
9746
Christian jedoch, dessen Augen wanderten, überhörte dies, denn er befand
9747
sich in Gedanken, und alsbald begann er eine Geschichte aus Valparaiso
9748
zu erzählen, eine Mord- und Totschlagaffäre, bei der er persönlich
9749
zugegen gewesen war ... »Aber da reißt der Kerl das Messer heraus -- --«
9750
Aus irgendwelchen Gründen wurden solche Erzählungen, an denen Christian
9751
reich war, und über die Madame Grünlich sich köstlich amüsierte, während
9752
die Konsulin, Klara und Klothilde sich entsetzten und Mamsell Jungmann
9753
nebst Erika mit offenem Munde zuhörten, von Thomas stets ohne Beifall
9754
aufgenommen. Er pflegte sie mit kühlen und spöttischen Bemerkungen zu
9755
begleiten und sich den deutlichen Anschein zu geben, als glaube er, daß
9756
Christian übertreibe und blagiere ... was sicherlich nicht der Fall war;
9757
aber er erzählte mit Verve und Farbe. Erfuhr Thomas es nicht gern, daß
9758
sein jüngerer Bruder weiter herumgekommen sei und mehr gesehen habe als
9759
er? Oder empfand er mit Widerwillen ein Lob der Unordnung und der
9760
exotischen Gewalttätigkeit in diesen Messer- und Revolvergeschichten?...
9761
Feststeht, daß Christian sich durchaus nicht um die Ablehnung seiner
9762
Erzählungen von seiten seines Bruders bekümmerte; er selbst war
9763
allzusehr in Anspruch genommen von seinen Schilderungen, als daß er auf
9764
Erfolg oder Mißerfolg bei anderen geachtet hätte, und wenn er geendet
9765
hatte, so blickte er nachdenklich und abwesend im Zimmer um.
9767
Wenn überhaupt das Verhältnis der beiden Buddenbrooks zueinander mit der
9768
Zeit sich nicht zum Guten gestaltete, so war Christian dabei nicht
9769
derjenige, der es sich beifallen ließ, irgendwelche Gehässigkeit gegen
9770
seinen Bruder zu zeigen oder zu hegen, sich irgendeine Meinung, ein
9771
Urteil, eine Abschätzung desselben anzumaßen. Er ließ mit
9772
stillschweigender Selbstverständlichkeit keinen Zweifel darüber, daß er
9773
die Überlegenheit, den größeren Ernst, die größere Fähigkeit,
9774
Tüchtigkeit und Respektabilität des Älteren anerkannte. Aber gerade
9775
diese unbegrenzte, gleichgültige und kampflose Unterordnung reizte
9776
Thomas, denn Christian ging bei jeder Gelegenheit leichten Herzens so
9777
weit darin, daß es den Anschein gewann, als lege er überhaupt gar keinen
9778
Wert auf Überlegenheit, Tüchtigkeit, Respektabilität und Ernst.
9780
Er schien es durchaus nicht zu bemerken, daß der Firmenchef ihm mehr und
9781
mehr mit stillem Unwillen entgegenkam ... wozu derselbe Gründe hatte, denn
9782
leider begann Christians geschäftlicher Eifer bereits nach der ersten
9783
Woche, mehr noch jedoch nach der zweiten, sich erheblich zu verringern.
9784
Dies äußerte sich zuerst darin, daß die Vorbereitungen zur Arbeit,
9785
die anfangs wie eine künstlich und raffiniert verlängerte Vorfreude
9786
ausgesehen hatten: das Zeitunglesen, Frühstückszigarettenrauchen und
9787
Kognaktrinken immer mehr Zeit in Anspruch nahmen und sich schließlich
9788
über den ganzen Vormittag erstreckten. Dann aber machte es sich ganz
9789
von selbst, daß Christian sich über den Zwang der Kontorstunden
9790
hinwegzusetzen begann, daß er des Morgens immer später mit seiner
9791
Frühstückszigarette erschien, um Vorbereitungen zur Arbeit zu treffen,
9792
daß er mittags zum Essen in den Klub ging und zu spät, zuweilen erst
9793
abends, zuweilen auch gar nicht zurückkehrte ...
9795
Dieser Klub, dem vorwiegend unverheiratete Kaufleute angehörten, besaß
9796
im ersten Stock eines Weinrestaurants ein paar komfortable Lokalitäten,
9797
woselbst man seine Mahlzeiten nahm und sich zu zwanglosen und oft nicht
9798
ganz harmlosen Unterhaltungen zusammenfand: denn es gab eine Roulette.
9799
Auch einige ein wenig flatterhafte Familienväter, wie Konsul Kröger und
9800
selbstverständlicherweise Peter Döhlmann, waren Mitglieder, und der
9801
Polizeisenator Cremer war hier »der erste Mann an der Spritze«. So
9802
drückte Doktor Gieseke, Andreas Gieseke, Sohn des Branddirektors,
9803
sich aus, Christians alter Schulkamerad, der in der Stadt sich als
9804
Rechtsanwalt niedergelassen hatte, und dem sich, trotzdem er für
9805
einen ziemlich wüsten Suitier galt, der junge Buddenbrook alsbald in
9806
erneuerter Freundschaft anschloß.
9808
Christian oder, wie er schlecht und recht meistens genannt wurde,
9809
Krischan, der aus früherer Zeit mit allen mehr oder weniger bekannt oder
9810
befreundet war -- denn die meisten waren Schüler des seligen Marcellus
9811
Stengel --, ward hier mit offenen Armen empfangen, denn wenn auch weder
9812
Kaufleute noch Gelehrte seine Geistesfähigkeiten für groß hielten, so
9813
kannte man doch seine amüsante, gesellschaftliche Begabung. In der Tat
9814
gab er hier seine besten Vorstellungen, erzählte er hier seine besten
9815
Geschichten. Er machte am Klubklavier einen Virtuosen, er ahmte
9816
englische und transatlantische Schauspieler und Opernsänger nach, er gab
9817
in der harmlosesten und unterhaltendsten Art Weiberaffären aus
9818
verschiedenen Gegenden zum besten -- denn kein Zweifel: Christian
9819
Buddenbrook war ein »Suitier« --, er berichtete Abenteuer, die er auf
9820
Schiffen, auf Eisenbahnen, in St. Pauli, in Whitechapel, im Urwald
9821
erlebt hatte ... Er erzählte bezwingend, hinreißend, in mühelosem Fluß,
9822
mit leicht klagender und schleppender Aussprache, burlesk und harmlos
9823
wie ein englischer Humorist. Er erzählte die Geschichte eines Hundes,
9824
der in einer Schachtel von Valparaiso nach San Franzisko geschickt
9825
worden und obendrein räudig war. Gott weiß, worin eigentlich die Pointe
9826
der Anekdote bestand; aber in seinem Munde war sie von ungeheurer Komik.
9827
Und wenn dann ringsumher sich niemand vor Lachen zu lassen wußte, so saß
9828
er selbst, mit seiner großen, gebogenen Nase, seinem dünnen, zu langen
9829
Halse und seinem rötlichblonden, schon spärlichen Haar und ließ, einen
9830
unruhigen und unerklärlichen Ernst auf dem Gesichte, eins seiner
9831
mageren, nach außen gekrümmten Beine über das andere geschlagen, seine
9832
kleinen, runden, tiefliegenden Augen nachdenklich umherschweifen ...
9833
Beinahe schien es, als lache man auf seine Kosten, als lache man über
9834
ihn ... Aber daran dachte er nicht.
9836
Zu Hause erzählte er mit besonderer Vorliebe von seinem Kontor in
9837
Valparaiso, von der unmäßigen Temperatur, die dort geherrscht, und von
9838
einem jungen Londoner namens Johnny Thunderstorm, einem Bummelanten,
9839
einem unglaublichen Kerl, den er, »Gott verdamm' mich, niemals hatte
9840
arbeiten sehen«, und der doch ein sehr gewandter Kaufmann gewesen sei
9841
... »Du lieber Gott!« sagte er. »Bei der Hitze! Na, der Chef kommt ins
9842
Kontor ... wir liegen, acht Mann, wie die Fliegen umher und rauchen
9843
Zigaretten, um wenigstens die Moskitos wegzujagen. Du lieber Gott!
9844
`Nun´, sagt der Chef, `Sie arbeiten nicht, meine Herren?!´ ... `_No,
9845
Sir!_´ sagt Johnny Thunderstorm. `Wie Sie sehen, Sir!´ Und dabei blasen
9846
wir ihm alle unseren Zigarettenrauch ins Gesicht. Du lieber Gott!«
9848
»Warum sagst du eigentlich fortwährend `Du lieber Gott´?« fragte Thomas
9849
gereizt. Aber das war es nicht, was ihn ärgerte. Sondern er fühlte, daß
9850
Christian diese Geschichte nur deshalb mit soviel Freude erzählte, weil
9851
sie ihm eine Gelegenheit bot, mit Spott und Verachtung von der Arbeit zu
9854
Dann ging ihre Mutter diskret zu etwas anderem über.
9856
Es gibt viele häßliche Dinge auf Erden, dachte die Konsulin Buddenbrook,
9857
geborene Kröger. Auch Brüder können sich hassen und verachten; das kommt
9858
vor, so schauerlich es klingt. Aber man spricht nicht davon. Man
9859
vertuscht es. Man braucht nichts davon zu wissen.
9864
Im Mai geschah es, daß Onkel Gotthold, Konsul Gotthold Buddenbrook, nun
9865
sechzigjährig, in einer traurigen Nacht von Herzkrämpfen befallen ward
9866
und in den Armen seiner Gattin, der geborenen Stüwing, eines schweren
9869
Der Sohn der armen Madame Josephine, der, gegenüber seiner nachgeborenen
9870
und mächtigeren Geschwisterschaft von seiten Madame Antoinettens, im
9871
Leben zu kurz gekommen war, hatte sich längst mit seinem Geschicke
9872
beschieden und in den letzten Jahren, besonders nachdem ihm sein Neffe
9873
das niederländische Konsulat überlassen, ganz ohne Ranküne aus seiner
9874
Blechdose Brustbonbons gegessen. Wer den alten Familienzwist in Form
9875
einer allgemeinen und unbestimmten Animosität hegte und bewahrte, das
9876
waren vielmehr seine Damen: seine gutmütige und beschränkte Gattin nicht
9877
sowohl, wie die drei ältlichen Mädchen, die weder die Konsulin, noch
9878
Antonie, noch Thomas ohne ein kleines giftiges Flämmchen in den Augen
9879
anzublicken vermochten ...
9881
Donnerstags, an den überlieferungsgemäßen »Kindertagen«, um vier Uhr,
9882
fand man sich in dem großen Hause in der Mengstraße zusammen, um dort zu
9883
Mittag zu speisen und den Abend zuzubringen -- manchmal erschienen auch
9884
Konsul Krögers oder Sesemi Weichbrodt mit ihrer ungelehrten Schwester --
9885
und hier war es, wo die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße mit
9886
ungezwungener Vorliebe die Rede auf Tonys verflossene Ehe brachten, um
9887
Madame Grünlich zu einigen großen Worten zu veranlassen und sich dabei
9888
kurze, spitzige Blicke zuzusenden ... oder wo sie allgemeine
9889
Betrachtungen darüber anstellten, welche unwürdige Eitelkeit es doch
9890
sei, sich das Haar zu färben, und allzu anteilnehmende Erkundigungen
9891
über Jakob Kröger, den Neffen der Konsulin, einzogen. Sie gaben der
9892
armen, unschuldigen und geduldigen Klothilde, der einzigen, die sich in
9893
der Tat auch ihnen noch unterlegen fühlen mußte, einen Spott zu kosten,
9894
der durchaus nicht so harmlos war wie der, den das mittellose und
9895
hungrige Mädchen alltäglich von Tom oder Tony mit gedehnter und
9896
erstaunter Freundlichkeit entgegennahm. Sie mokierten sich über Klaras
9897
Strenge und Bigotterie, sie fanden schnell heraus, daß Christian mit
9898
Thomas sich nicht zum besten stand, und daß sie ihn überhaupt, Gott sei
9899
Dank, nicht zu achten brauchten, denn er war ein Hans Quast, ein
9900
lächerlicher Mensch. Was Thomas selbst betraf, an dem durchaus keine
9901
Schwäche erfindlich war, und der ihnen seinerseits mit einem
9902
nachsichtigen Gleichmut entgegenkam, welcher andeutete: Ich verstehe
9903
euch, und ihr tut mir leid ... so behandelten sie ihn mit leicht
9904
vergifteter Hochachtung. Von der kleinen Erika aber, rosig und
9905
wohlgepflegt, wie sie war, mußte denn doch gesagt werden, daß sie in
9906
beunruhigender Weise im Wachstum zurückgeblieben sei. Worauf Pfiffi,
9907
indem sie sich schüttelte und Feuchtigkeit in die Mundwinkel bekam, zum
9908
Überfluß auf die erschreckende Ähnlichkeit des Kindes mit dem Betrüger
9909
Grünlich aufmerksam machte ...
9911
Nun umstanden sie weinend mit ihrer Mutter das Sterbebett des Vaters,
9912
und trotzdem es ihnen schien, als ob selbst dieser Tod noch von der
9913
Verwandtschaft in der Mengstraße verschuldet sei, ward doch ein Bote
9916
Mitten in der Nacht hallte die Haustürglocke über die große Diele, und
9917
da Christian spät nach Hause gekommen war und sich leidend fühlte,
9918
machte Thomas sich allein auf den Weg, in den Frühlingsregen hinaus.
9920
Er kam nur zur rechten Zeit, um die letzten konvulsivischen Zuckungen
9921
des alten Herrn zu sehen, und dann stand er lange mit gefalteten Händen
9922
im Sterbezimmer und blickte auf diese kurze Gestalt, die sich unter den
9923
Umhüllungen abzeichnete, in dieses tote Gesicht mit den etwas
9924
weichlichen Zügen und den weißen Koteletts ...
9926
»Du hast es nicht sehr gut gehabt, Onkel Gotthold«, dachte er. »Du hast
9927
es zu spät gelernt, Zugeständnisse zu machen, Rücksicht zu nehmen ...
9928
Aber das ist nötig ... Wenn ich wäre wie du, hätte ich vor Jahr und Tag
9929
bereits einen Laden geheiratet ... Die _dehors_ wahren!... Wolltest du
9930
es überhaupt anders, als du es gehabt hast? Obgleich du trotzig warst
9931
und wohl glaubtest, dieser Trotz sei etwas Idealistisches, besaß dein
9932
Geist wenig Schwungkraft, wenig Phantasie, wenig von dem Idealismus, der
9933
jemanden befähigt, mit einem stillen Enthusiasmus, süßer, beglückender,
9934
befriedigender als eine heimliche Liebe, irgendein abstraktes Gut, einen
9935
alten Namen, ein Firmenschild zu hegen, zu pflegen, zu verteidigen, zu
9936
Ehren und Macht und Glanz zu bringen. Der Sinn für Poesie ging dir ab,
9937
obgleich du so tapfer warst, trotz dem Befehl deines Vaters zu lieben
9938
und zu heiraten. Du besaßest auch keinen Ehrgeiz, Onkel Gotthold.
9939
Freilich, der alte Name ist bloß ein Bürgername, und man pflegt ihn,
9940
indem man einer Getreidehandlung zum Flor verhilft, indem man seine
9941
eigene Person in einem kleinen Stück Welt geehrt, beliebt und mächtig
9942
macht ... Dachtest du: Ich heirate die Stüwing, die ich liebe, und
9943
schere mich um keine praktischen Rücksichten, denn sie sind Kleinkram
9944
und Pfahlbürgertum?... Oh, auch wir sind gerade gereist und gebildet
9945
genug, um recht gut zu erkennen, daß die Grenzen, die unserem Ehrgeize
9946
gesteckt sind, von außen und oben gesehen nur eng und kläglich sind.
9947
Aber alles ist bloß ein Gleichnis auf Erden, Onkel Gotthold! Wußtest du
9948
nicht, daß man auch in einer kleinen Stadt ein großer Mann sein kann?
9949
Daß man ein Cäsar sein kann an einem mäßigen Handelsplatz an der Ostsee?
9950
Freilich, dazu gehört ein wenig Phantasie, ein wenig Idealismus ... und
9951
den besaßest du nicht, was du auch von dir selbst gedacht haben magst.«
9953
Und Thomas Buddenbrook wandte sich ab. Er trat ans Fenster und blickte,
9954
die Hände auf dem Rücken, ein Lächeln auf seinem intelligenten Gesicht,
9955
zu der schwachbeleuchteten und in Regen gehüllten gotischen Fassade des
9960
Wie es in der Natur der Dinge lag, gingen Amt und Titel des königlich
9961
niederländischen Konsulats, das Thomas sofort nach dem Tode seines
9962
Vaters hätte für sich in Anspruch nehmen können, zu Tony Grünlichs
9963
maßlosem Stolze jetzt an ihn über, und das gewölbte Schild mit Löwen,
9964
Wappen und Krone war nunmehr wieder an der Giebelfront in der Mengstraße
9965
unter dem »_Dominus providebit_« zu sehen.
9967
Gleich nach Erledigung dieser Angelegenheit, im Juni bereits desselben
9968
Jahres, trat der junge Konsul eine Reise an, eine Geschäftsreise nach
9969
Amsterdam, von der er nicht wußte, wieviel Zeit sie in Anspruch nehmen
9975
Todesfälle pflegen eine dem Himmlischen zugewandte Stimmung
9976
hervorzubringen, und niemand wunderte sich, aus dem Munde der Konsulin
9977
Buddenbrook nach dem Dahinscheiden ihres Gatten diese oder jene
9978
hochreligiöse Wendung zu vernehmen, die man früher nicht an ihr gewohnt
9981
Bald jedoch zeigte es sich, daß dies nichts Vorübergehendes war, und
9982
rasch war in der Stadt die Tatsache bekannt, daß die Konsulin gewillt
9983
war, das Andenken des Verewigten in erster Linie dadurch zu ehren, daß
9984
sie, die schon in den letzten Jahren seines Lebens, und zwar seit sie
9985
alterte, mit seinen geistlichen Neigungen sympathisiert hatte, nun seine
9986
fromme Weltanschauung vollends zu der ihren machte.
9988
Sie strebte danach, das weitläufige Haus mit dem Geiste des
9989
Heimgegangenen zu erfüllen, mit dem milden und christlichen Ernst, der
9990
eine vornehme Herzensheiterkeit nicht ausschloß. Die Morgen- und
9991
Abendandachten wurden in ausgedehnterem Umfange fortgesetzt. Die Familie
9992
versammelte sich im Eßsaale, während das Dienstpersonal in der
9993
Säulenhalle stand, und die Konsulin oder Klara verlasen aus der großen
9994
Familienbibel mit den ungeheuren Lettern einen Abschnitt, worauf man aus
9995
dem Gesangbuch ein paar Verse zum Harmonium sang, das die Konsulin
9996
spielte. Auch trat oft an die Stelle der Bibel eines der Predigt- und
9997
Erbauungsbücher mit schwarzem Einband und Goldschnitt, dieser
9998
Schatzkästchen, Psalter, Weihestunden, Morgenklänge und Pilgerstäbe,
9999
deren beständige Zärtlichkeit für das süße, wonnesame Jesulein ein wenig
10000
widerlich anmutete und von denen allzu viele im Hause vorhanden waren.
10002
Christian erschien nicht oft zu den Andachten. Ein Einwand, den Thomas
10003
bei Gelegenheit ganz vorsichtig und halb im Scherze gegen die Übungen
10004
erhoben hatte, war mit Milde und Würde zurückgewiesen worden. Was Madame
10005
Grünlich anging, so benahm sie sich leider nicht immer völlig korrekt
10006
dabei. Eines Morgens -- es war gerade ein fremder Prediger bei
10007
Buddenbrooks zu Gast -- war man genötigt, zu einer feierlichen,
10008
glaubensfesten und innigen Melodie die Worte zu singen:
10010
»Ich bin ein rechtes Rabenaas,
10011
Ein wahrer Sündenkrüppel,
10012
Der seine Sünden in sich fraß,
10013
Als wie der Rost den Zwippel.
10014
Ach Herr, so nimm mich Hund beim Ohr,
10015
Wirf mir den Gnadenknochen vor
10016
Und nimm mich Sündenlümmel
10017
In deinen Gnadenhimmel!«
10019
... worauf Frau Grünlich vor innerlicher Zerknirschung das Buch von sich
10020
warf und den Saal verließ.
10022
Die Konsulin selbst aber verlangte weit mehr noch von sich, als von
10023
ihren Kindern. Sie richtete zum Beispiel eine Sonntagsschule ein. Am
10024
Sonntagvormittag klingelten lauter kleine Volksschulmädchen in der
10025
Mengstraße, und Stine Voß, die an der Mauer, und Mike Stuht, die in der
10026
Glockengießerstraße, und Fike Snut, die an der Trave oder in der Kleinen
10027
Gröpelgrube oder im Engelswisch zu Hause waren, wanderten mit ihrem
10028
semmelblonden, mit Wasser gekämmtem Haar über die große Diele in das
10029
helle Gartenzimmer, dort hinten, das als Kontor seit längerer Zeit nicht
10030
mehr benutzt wurde, wo Sitzbänke aufgeschlagen waren und wo die Konsulin
10031
Buddenbrook, geborene Kröger, mit ihrem Kleid aus schwerem schwarzem
10032
Atlas, ihrem weißen, vornehmen Gesicht und ihrer noch weißeren
10033
Spitzenhaube, ihnen an einem Tischchen, auf welchem ein Glas
10034
Zuckerwasser stand, gegenübersaß und sie eine Stunde lang katechisierte.
10036
Auch begründete sie den »Jerusalemsabend«, und an diesem mußte außer
10037
Klara und Klothilde auch Tony sich wohl oder übel beteiligen. Einmal
10038
wöchentlich saßen an der langausgezogenen Tafel im Eßsaale beim Scheine
10039
von Lampen und Kerzen etwa zwanzig Damen, die in dem Alter standen, wo
10040
es an der Zeit ist, sich nach einem guten Platze im Himmel umzusehen,
10041
tranken Tee oder Bischof, aßen fein belegtes Butterbrot und Pudding,
10042
lasen sich geistliche Lieder und Abhandlungen vor und fertigten
10043
Handarbeiten an, die am Ende des Jahres in einem Basar verkauft wurden
10044
und deren Erlös zu Missionszwecken nach Jerusalem geschickt ward.
10046
Der fromme Verein ward in der Hauptsache von Damen aus der
10047
Gesellschaftssphäre der Konsulin gebildet, und die Senatorin Langhals,
10048
die Konsulin Möllendorpf und die alte Konsulin Kistenmaker gehörten ihm
10049
an, während andere alte Damen, die weltlicher und profaner angelegt
10050
waren, wie Madame Köppen, sich über ihre Freundin Bethsy mokierten. Auch
10051
die Predigersgattinnen der Stadt sowie die verwitwete Konsulin
10052
Buddenbrook, geborene Stüwing, und Sesemi Weichbrodt nebst ihrer
10053
ungelehrten Schwester waren Mitglieder. Vor Jesu jedoch ist kein Rang
10054
und kein Unterschied, und so nahmen am Jerusalemsabend auch armseligere
10055
und seltsamere Gestalten teil, wie zum Beispiel ein kleines, runzeliges
10056
Geschöpf, reich an Gottgefälligkeit und Häkelmustern, das im
10057
Heiligen-Geist-Hospitale wohnte, Himmelsbürger hieß und die Letzte ihres
10058
Geschlechtes war ... »Die letzte Himmelsbürgern« nannte sie sich
10059
wehmütig, und dabei fuhr sie mit der Stricknadel unter ihre Haube, um
10062
Weit bemerkenswerter aber waren zwei andere Mitglieder, ein
10063
Zwillingspaar, zwei sonderbare alte Mädchen, die mit Schäferhüten aus
10064
dem achtzehnten Jahrhundert und seit manchem Jahr schon verblichenen
10065
Kleidern Hand in Hand in der Stadt umhergingen und Gutes taten. Sie
10066
hießen Gerhardt und beteuerten, in gerader Linie von Paul Gerhardt
10067
abzustammen. Man sagte, daß sie durchaus nicht mittellos seien; aber sie
10068
lebten aufs jämmerlichste und gaben alles den Armen ... »Liebe!«
10069
bemerkte die Konsulin Buddenbrook, die sich ihrer zuweilen ein bißchen
10070
schämte, »Gott sieht ins Herze, aber Ihre Kleider sind wenig adrett ...
10071
Man muß auf sich halten ...« Aber dann küßten sie ihre elegante
10072
Freundin, welche die Weltdame nicht verleugnen konnte, nur auf die Stirn
10073
... mit der ganzen nachsichtigen, liebevollen und mitleidigen
10074
Überlegenheit des Geringen über den Vornehmen, der das Heil sucht. Es
10075
waren keineswegs dumme Geschöpfe, und in ihren kleinen, häßlichen,
10076
verschrumpften Papageiköpfen saßen blanke, sanft verschleierte braune
10077
Augen, die mit einem seltsamen Ausdruck von Milde und Wissen in die Welt
10078
schauten ... Ihre Herzen waren voll von wunderbaren und geheimnisvollen
10079
Kenntnissen. Sie wußten, daß in unserer letzten Stunde all unsere zu
10080
Gott vorangegangenen Lieben in Sang und Seligkeit kommen, uns abzuholen.
10081
Sie sprachen das Wort »der Herr« mit der Leichtigkeit und
10082
Ursprünglichkeit von ersten Christen, die aus des Meisters eigenem Munde
10083
noch das »Über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen« vernommen haben.
10084
Sie besaßen die merkwürdigsten Theorien über innere Lichter und
10085
Ahnungen, über Gedankenübertragung und -wanderungen ... denn Lea, die
10086
eine von ihnen, war taub und wußte gleichwohl fast immer, wovon die Rede
10089
Da Lea Gerhardt taub war, war sie es gewöhnlich, die an den
10090
Jerusalemsabenden vorlas; auch fanden die Damen, daß sie schön und
10091
ergreifend läse. Sie nahm aus ihrem Beutel ein uraltes Buch, welches
10092
lächerlich und unverhältnismäßig viel höher als breit war und vorn, in
10093
Kupfer gestochen, das übermenschlich pausbäckige Bildnis ihres Ahnherrn
10094
enthielt, nahm es in beide Hände und las, damit sie selbst sich ein
10095
wenig hören konnte, mit fürchterlicher Stimme, die klang, wie wenn der
10096
Wind sich im Ofenrohre verfängt:
10098
»Will Satan mich verschlingen ...«
10100
Nun! dachte Tony Grünlich. Welcher Satan möchte die wohl verschlingen!
10101
Aber sie sagte nichts, hielt sich ihrerseits an den Pudding und dachte
10102
darüber nach, ob sie wohl auch dermaleinst so häßlich sein werde wie die
10103
beiden Fräulein Gerhardt.
10105
Sie war nicht glücklich, sie empfand Langeweile und ärgerte sich über
10106
die Pastoren und Missionare, deren Besuche nach dem Tode des Konsuls
10107
sich vielleicht noch vermehrt hatten und die nach Tonys Meinung im Hause
10108
allzusehr das Regiment führten und allzuviel Geld bekamen. Der letztere
10109
Punkt ging Thomas an; aber er schwieg darüber, während seine Schwester
10110
hie und da etwas von Leuten vor sich hin murmelte, die der Witwen Häuser
10111
fressen und lange Gebete vorwenden.
10113
Sie haßte diese schwarzen Herren aufs bitterlichste. Als gereifte Frau,
10114
die das Leben kennengelernt hatte und kein dummes Ding mehr war, sah sie
10115
sich nicht in der Lage, an ihre unbedingte Heiligkeit zu glauben.
10116
»Mutter!« sagte sie; »o Gott, man soll seinem Nächsten nichts Übles
10117
nachsagen ... gut, ich weiß es! Aber das eine muß ich denn doch
10118
aussprechen, und ich würde mich wundern, wenn das Leben dich das nicht
10119
gelehrt hätte, nämlich, daß nicht alle, die einen langen Rock tragen und
10120
`Herr, Herr!´ sagen, immer ganz makellos sind!«
10122
Es blieb unaufgeklärt, wie Thomas sich zu solchen Wahrheiten verhielt,
10123
die seine Schwester mit ungeheurem Nachdruck vertrat. Christian aber
10124
hatte gar keine Meinung; er beschränkte sich darauf, die Herren mit
10125
krauser Nase zu beobachten, um hernach im Klub oder in der Familie ihre
10126
Kopie zu liefern ...
10128
Aber es ist wahr, daß Tony am meisten von den geistlichen Gästen zu
10129
leiden hatte. Eines Tages geschah es wahr und wahrhaftig, daß ein
10130
Missionar namens Jonathan, der sowohl in Syrien als auch in Arabien
10131
gewesen war, ein Mann mit großen, vorwurfsvollen Augen und betrübt
10132
herniederhängenden Wangen, vor sie hintrat und sie mit trauriger Strenge
10133
zur Entscheidung der Frage aufforderte, ob ihre gebrannten Stirnlocken
10134
sich eigentlich mit der wahren christlichen Demut vereinbaren ließen ...
10135
Ach! er hatte nicht mit Tony Grünlichs spitzig sarkastischer
10136
Redegewandtheit gerechnet. Sie schwieg während einiger Augenblicke, und
10137
man sah, wie ihr Hirn arbeitete. Dann aber kam es: »=Darf ich Sie
10138
bitten, mein Herr Pastor, sich um Ihre eigenen Locken zu bekümmern?!=«
10139
... Und hinaus rauschte sie, indem sie die Schultern ein wenig emporzog,
10140
den Kopf zurückwarf und trotzdem das Kinn auf die Brust zu drücken
10141
suchte. -- Und Pastor Jonathan besaß äußerst wenig Haupthaar, ja, sein
10142
Schädel war nackt zu nennen!
10144
Einst aber wurde ihr ein noch größerer Triumph zuteil. Pastor Trieschke
10145
nämlich, Tränen-Trieschke aus Berlin, der diesen Beinamen führte, weil
10146
er allsonntäglich einmal inmitten seiner Predigt an geeigneter Stelle zu
10147
weinen begann ... Tränen-Trieschke, der sich durch ein bleiches Gesicht,
10148
rote Augen und wahre Pferdekinnbacken auszeichnete und acht oder zehn
10149
Tage lang bei Buddenbrooks wechselweise mit der armen Klothilde um die
10150
Wette aß und Andachten abhielt, verliebte sich bei dieser Gelegenheit in
10151
Tony ... nicht etwa in ihre unsterbliche Seele, o nein, sondern in ihre
10152
Oberlippe, ihr starkes Haar, ihre hübschen Augen und ihre blühende
10153
Gestalt! Und dieser Gottesmann, der zu Berlin ein Weib und viele Kinder
10154
besaß, entblödete sich nicht, durch den Bedienten Anton in Madame
10155
Grünlichs Schlafzimmer im zweiten Stock einen Brief niederlegen zu
10156
lassen, der aus Bibelextrakten und einer sonderbar anschmiegsamen
10157
Zärtlichkeit wirksam gemischt war ... Sie fand ihn beim Zubettegehen,
10158
sie las ihn und ging festen Schrittes die Treppen hinunter ins
10159
Zwischengeschoß und ins Schlafzimmer der Konsulin, woselbst sie ihrer
10160
Mutter beim Kerzenscheine das Schreiben des Seelsorgers völlig ungeniert
10161
und mit lauter Stimme vortrug, so daß Tränen-Trieschke fortan in der
10162
Mengstraße unmöglich war.
10164
»So sind sie alle!« sagte Madame Grünlich ... »Ha! so sind sie alle! O
10165
Gott, ich war eine Gans früher, ein dummes Ding, Mama, aber das Leben
10166
hat mir das Vertrauen zu den Menschen genommen. Die meisten sind Filous
10167
... ja, das ist leider wahr. =Grünlich -- --!=« Und der Name klang wie
10168
eine Fanfare, wie ein kleiner Trompetenstoß, den sie mit etwas erhobenen
10169
Schultern und emporgerichteten Augen in die Luft hinein ertönen ließ.
10174
Sievert Tiburtius war ein kleiner schmaler Mann mit großem Kopfe und
10175
trug einen dünnen, aber langen blonden Backenbart, der geteilt war und
10176
dessen Enden er manchmal, der Bequemlichkeit halber, nach beiden Seiten
10177
hin über die Schultern legte. Seinen runden Schädel bedeckte eine Unzahl
10178
ganz kleiner wolliger Ringellöckchen. Seine Ohrmuscheln waren groß,
10179
äußerst abstehend, an den Rändern weit nach innen zusammengerollt und
10180
oben so spitz, wie die eines Fuchses. Seine Nase saß wie ein kleiner
10181
platter Knopf in seinem Gesicht, seine Wangenknochen standen hervor, und
10182
seine grauen Augen, die gemeinhin eng zusammengekniffen ein wenig blöde
10183
umherblinzelten, konnten in gewissen Momenten sich in ungeahnter Weise
10184
erweitern, größer und größer werden, hervorquellen, beinahe
10187
Dies war der Pastor Tiburtius, welcher aus Riga stammte, einige Jahre in
10188
Mitteldeutschland amtiert hatte und nun, auf der Reise nach seiner
10189
Heimat, wo eine Predigersstelle ihm zugefallen war, die Stadt berührte.
10190
Versehen mit der Empfehlung eines Amtsbruders, der ebenfalls einst in
10191
der Mengstraße Mockturtlesuppe und Schinken mit Schalottensauce gegessen
10192
hatte, machte er der Konsulin seine Aufwartung, ward für die Dauer
10193
seines Aufenthaltes, der einige wenige Tage in Anspruch nehmen sollte,
10194
zu Gaste geladen und bewohnte das geräumige Fremdenzimmer im ersten
10195
Stockwerk am Korridor.
10197
Aber er verweilte länger, als er erwartet hatte. Es vergingen acht Tage,
10198
und noch immer hatte er diese oder jene Sehenswürdigkeit, den Totentanz
10199
und das Aposteluhrwerk in der Marienkirche, das Rathaus, die
10200
»Schiffergesellschaft« oder die Sonne mit den beweglichen Augen im Dom
10201
nicht besucht. Es vergingen zehn Tage, und er sprach wiederholt von
10202
seiner Abreise; infolge des ersten Wörtchens jedoch, das ihn zum Bleiben
10203
aufforderte, verzog er aufs neue.
10205
Er war ein besserer Mensch als die Herren Jonathan und Tränen-Trieschke.
10206
Er bekümmerte sich durchaus nicht um Frau Antoniens gebrannte
10207
Stirnlöckchen und schrieb ihr keinerlei Briefe. Desto aufmerksamer aber
10208
beschäftigte er sich mit Klara, ihrer jüngeren und ernsthafteren
10209
Schwester. In =ihrer= Gegenwart, wenn =sie= sprach, ging oder kam,
10210
konnte es geschehen, daß seine Augen sich in ungeahnter Weise
10211
erweiterten, größer und größer wurden, hervorquollen, fast
10212
heraussprangen ... und beinahe den ganzen Tag hielt er sich bei ihr auf,
10213
indem er geistliche und weltliche Gespräche mit ihr pflog oder ihr
10214
vorlas ... mit seiner hohen, sich überschlagenden Stimme und in der
10215
drollig hüpfenden Aussprache seiner baltischen Heimat.
10217
Gleich am ersten Tage hatte er gesagt: »Erbarmen Sie sich, Frau
10218
Konsulin! Welch einen Schatz und Gottessegen besitzen Sie an Ihrer
10219
Tochter Klara. Das ist wohl ein herrliches Kind!«
10221
»Sie haben recht«, erwiderte die Konsulin. Aber er wiederholte es so
10222
oft, daß sie ihre hellen blauen Augen in diskreter Prüfung zu ihm
10223
hinschweifen ließ und ihn veranlaßte, ein wenig eingehender von seiner
10224
Herkunft, seinen Verhältnissen, seinen Aussichten zu erzählen. Es ergab
10225
sich, daß er aus einer Kaufmannsfamilie stammte, daß seine Mutter bei
10226
Gott sei, daß er Geschwister nicht besitze und daß sein alter Vater zu
10227
Riga als Privatier mit einem auskömmlichen Vermögen lebe, welches
10228
einstmals ihm selbst, dem Pastor Tiburtius, gehören werde; übrigens
10229
sichere sein Amt ihm ein hinreichendes Einkommen.
10231
Was Klara Buddenbrook betraf, so stand sie nun im neunzehnten Jahre und
10232
war, mit ihrem dunklen, glattgescheitelten Haar, ihren strenge und
10233
dennoch träumerisch blickenden braunen Augen, ihrer leicht gebogenen
10234
Nase, ihrem ein wenig zu fest geschlossenen Munde und ihrer hohen,
10235
schlanken Gestalt, zu einer jungen Dame von herber und eigentümlicher
10236
Schönheit erwachsen. Im Hause hielt sie am festesten mit ihrer armen und
10237
ebenfalls frommen Cousine Klothilde zusammen, deren Vater kürzlich
10238
gestorben war und die mit dem Gedanken umging, sich demnächst einmal zu
10239
»etablieren«, das heißt, mit einigen Groschen und Möbeln, die sie
10240
ererbt, sich irgendwo in Pension zu begeben ... Von Thildas gedehnter,
10241
geduldiger und hungriger Demut freilich kannte Klara nichts. Im
10242
Gegenteil eignete ihr im Verkehr mit den Dienstboten, ja, auch mit ihren
10243
Geschwistern und ihrer Mutter ein etwas herrischer Ton, und ihre
10244
Altstimme schon, die sich nur mit Bestimmtheit zu senken, nie aber
10245
fragend zu heben verstand, trug einen befehlshaberischen Charakter und
10246
konnte oft eine kurze, harte, unduldsame und hochfahrende Klangfarbe
10247
annehmen: an Tagen nämlich, wo Klara an Kopfschmerzen litt.
10249
Sie hatte, bevor der Tod des Konsuls die Familie in Trauer hüllte, mit
10250
unnahbarer Würde die Gesellschaften im Elternhause und den Häusern von
10251
gleicher Rangstufe mitgemacht ... Die Konsulin betrachtete sie, und sie
10252
konnte sich nicht verhehlen, daß es trotz der stattlichen Mitgift und
10253
Klaras häuslicher Tüchtigkeit schwer halten werde, dies Kind zu
10254
verehelichen. Keinen der skeptischen, rotspontrinkenden und jovialen
10255
Kaufherren ihrer Umgebung, wohl aber einen Geistlichen konnte sie sich
10256
an der Seite des ernsten und gottesfürchtigen Mädchens vorstellen, und
10257
da dieser Gedanke die Konsulin freudig bewegte, so fanden des Pastors
10258
Tiburtius zarte Einleitungen von ihrer Seite ein maßvolles und
10259
freundliches Entgegenkommen.
10261
Und wahrhaftig entwickelte sich die Angelegenheit mit großer Präzision.
10262
An einem warmen und wolkenlosen Julinachmittag machte die Familie einen
10263
Spaziergang. Die Konsulin, Antonie, Christian, Klara, Thilda, Erika
10264
Grünlich mit Mamsell Jungmann und in ihrer Mitte Pastor Tiburtius zogen
10265
weit vors Burgtor hinaus, um bei einem ländlichen Wirte im Freien an
10266
Holztischen Erdbeeren, Sattenmilch oder Rote Grütze zu essen, und nach
10267
der Vespermahlzeit erging man sich in dem großen Nutzgarten, der bis zum
10268
Flusse sich hinzog, im Schatten von allerlei Obstbäumen zwischen
10269
Johannis- und Stachelbeerbüschen, Spargel- und Kartoffelfeldern.
10271
Sievert Tiburtius und Klara Buddenbrook blieben ein wenig zurück. Er,
10272
sehr viel kleiner als sie, den geteilten Backenbart über beiden
10273
Schultern, hatte den geschweiften schwarzen Strohhut von seinem großen
10274
Kopfe genommen und führte, indem er sich hie und da mit dem Tuche die
10275
Stirn trocknete, mit großen Augen ein langes und sanftes Gespräch mit
10276
ihr, in dessen Verlaufe sie beide einmal stehenblieben und Klara mit
10277
ernster und ruhiger Stimme ein Ja sprach.
10279
Dann, nach der Rückkehr, als die Konsulin, ein wenig ermüdet und
10280
erhitzt, allein im Landschaftszimmer saß, setzte sich Pastor Tiburtius
10281
-- draußen lag die nachdenkliche Stille des Sonntagnachmittags -- zu ihr
10282
in den sommerlichen Abendglanz und begann auch mit ihr ein langes und
10283
sanftes Gespräch, an dessen Ende die Konsulin sagte: »Genug, mein lieber
10284
Herr Pastor ... Ihr Antrag entspricht meinen mütterlichen Wünschen, und
10285
Sie Ihrerseits haben nicht schlecht gewählt, dessen kann ich Sie
10286
versichern. Wer hätte gedacht, daß Ihr Eingang und Aufenthalt in unserem
10287
Hause so wunderbar gesegnet sein werde!... Ich will heute mein letztes
10288
Wort noch nicht sprechen, denn es gehört sich, daß ich zuvor meinem
10289
Sohne, dem Konsul, schreibe, der sich augenblicklich, wie Sie wissen, im
10290
Auslande befindet. Sie reisen bei Leben und Gesundheit morgen nach Riga
10291
ab, um Ihr Amt anzutreten, und wir gedenken, uns für einige Wochen an
10292
die See zu begeben ... Sie werden in Bälde Nachricht von mir empfangen,
10293
und der Herr gebe, daß wir uns glücklich wiedersehen.«
10298
Amsterdam, den 20. Juli 56.
10301
Meine liebe Mutter!
10303
Soeben in den Besitz Deines inhaltreichen Schreibens gelangt, beeile ich
10304
mich, Dir auf das herzlichste für die Aufmerksamkeit zu danken, die
10305
darin liegt, daß Du in der bewußten Angelegenheit meine Zustimmung
10306
einziehst; ich erteile selbstverständlicherweise nicht nur sie, sondern
10307
füge auch meine freudigsten Glückwünsche hinzu, vollauf überzeugt, daß
10308
Ihr, Du und Klara, eine gute Wahl werdet getroffen haben. Der schöne
10309
Name Tiburtius ist mir bekannt, und ich glaube bestimmt, daß Papa mit
10310
dem Alten in geschäftlicher Verbindung stand. Klara kommt jedenfalls in
10311
angenehme Verhältnisse, und die Position als Pastorin wird ihrem
10312
Temperamente zusagen.
10314
Tiburtius ist also nach Riga abgereist und wird seine Braut im August
10315
noch einmal besuchen? Nun, es wird wahrhaftig munter zugehen alsdann bei
10316
uns in der Mengstraße -- munterer noch, als Ihr alle vorausseht, denn
10317
Ihr wißt nicht, aus welchen absonderlichen Gründen ich so überaus froh
10318
erstaunt über Mademoiselle Klaras Verlobung bin und um welches
10319
allerliebste Zusammentreffen es sich dabei handelt. Ja, meine
10320
ausgezeichnete Frau Mama, wenn ich mich heute bequeme, meinen
10321
gravitätischen Konsens zu Klaras irdischem Glücke von der Amstel zur
10322
Ostsee zu senden, so geschieht es ganz einfach unter der Bedingung, daß
10323
ich mit wendender Post aus Deiner Feder einen ebensolchen Konsens in
10324
betreff einer ebensolchen Angelegenheit zurückempfange! Drei harte
10325
Gulden würde ich dafür geben, könnte ich Dein Gesicht, besonders aber
10326
dasjenige unserer wackeren Tony sehen, wenn Ihr diese Zeilen lest ...
10327
Aber ich will zur Sache reden.
10329
Mein kleines, reinliches Hotel ist mit hübscher Aussicht auf den Kanal,
10330
inmitten der Stadt, unweit der Börse gelegen, und die Geschäfte, denen
10331
zuliebe ich hierher gekommen (es handelte sich um die Anknüpfung einer
10332
neuen, wertvollen Verbindung: Du weißt, ich besorge dergleichen mit
10333
Vorliebe persönlich), entwickelten sich vom ersten Tage an in
10334
erwünschter Weise. Von meiner Lehrzeit her aber wohlbekannt in der
10335
Stadt, war ich, obgleich viele Familien sich in den Seebädern befinden,
10336
auch gesellschaftlich sofort sehr lebhaft in Anspruch genommen. Ich habe
10337
kleinere Abendgesellschaften bei Van Henkdoms und Moelens mitgemacht,
10338
und schon am dritten Tage meines Hierseins mußte ich mich in Gala
10339
werfen, um einem Diner bei meinem ehemaligen Prinzipale Herrn van der
10340
Kellen beizuwohnen, das er so außerhalb der Saison, ersichtlich mir zu
10341
Ehren, arrangierte. Zu Tische aber führte ich ... habt Ihr Lust zu
10342
raten? Fräulein Arnoldsen, Gerda Arnoldsen, Tonys ehemalige
10343
Pensionsgenossin, deren Vater, der große Kaufmann, und beinahe noch
10344
größere Geigenvirtuos, sowie seine verheiratete Tochter und ihr Gatte
10345
ebenfalls zugegen waren.
10347
Ich erinnere mich sehr wohl, daß Gerda -- gestattet, daß ich mich
10348
bereits ausschließlich des Vornamens bediene -- schon als ganz junges
10349
Mädchen, als sie noch bei Mademoiselle Weichbrodt am Mühlenbrink zur
10350
Schule ging, einen starken und nie ganz verlöschten Eindruck auf mich
10351
gemacht hat. Jetzt aber sah ich sie wieder: größer, entwickelter,
10352
schöner, geistreicher ... Erlaßt mir, da sie leicht ein wenig ungestüm
10353
ausfallen könnte, die Beschreibung ihrer Persönlichkeit, die Ihr bald
10354
von Angesicht zu Angesicht werdet schauen können!
10356
Ihr könnt Euch denken, daß sich eine Menge von Ausgangspunkten zu einem
10357
guten Tischgespräche darboten; aber wir verließen schon nach der Suppe
10358
das Gebiet der alten Anekdoten und gingen zu ernsteren und fesselnderen
10359
Dingen über. In der Musik konnte ich ihr nicht Widerpart halten, denn
10360
wir bedauernswerten Buddenbrooks wissen allzuwenig davon; aber in der
10361
niederländischen Malerei war ich schon besser zu Hause, und in der
10362
Literatur verstanden wir uns durchaus.
10364
Wahrlich, die Zeit verging im Fluge. Nach Tische ließ ich mich dem alten
10365
Arnoldsen präsentieren, der mir mit ausgesuchter Verbindlichkeit
10366
entgegenkam. Später, im Salon, trug er mehrere Konzertpiecen vor, und
10367
auch Gerda produzierte sich. Sie sah prachtvoll dabei aus, und obgleich
10368
ich keine Ahnung vom Violinspiel habe, so weiß ich, daß sie auf ihrem
10369
Instrument (einer echten Stradivari) zu singen verstand, daß einem
10370
beinahe die Tränen in die Augen traten.
10372
Am folgenden Tage machte ich Besuch bei Arnoldsens, Buitenkant. Ich
10373
wurde zunächst von einer alten Gesellschaftsdame empfangen, mit der ich
10374
mich französisch unterhalten mußte; dann aber kam Gerda hinzu, und wir
10375
plauderten wie tagszuvor wohl eine Stunde lang: nur daß wir uns diesmal
10376
noch mehr einander näherten, uns noch mehr bestrebten, einander zu
10377
verstehen und kennenzulernen. Es war wieder von Dir, Mama, von Tony, von
10378
unserer guten, alten Stadt und meiner Tätigkeit daselbst die Rede ...
10380
Schon an diesem Tage stand mein Entschluß fest, welcher lautete: Diese
10381
oder keine, jetzt oder niemals! Ich traf mit ihr noch gelegentlich eines
10382
Gartenfestes bei meinem Freunde van Svindren zusammen, ich ward zu einer
10383
kleinen musikalischen Soiree bei Arnoldsens selbst gebeten, in deren
10384
Verlauf ich der jungen Dame gegenüber das Experiment einer halben und
10385
sondierenden Erklärung machte, die ermutigend beantwortet wurde ... und
10386
nun ist es fünf Tage her, daß ich mich vormittags zu Herrn Arnoldsen
10387
begab, um mir die Erlaubnis zu erbitten, um die Hand seiner Tochter zu
10388
werben. Er empfing mich in seinem Privatkontor. »Mein lieber Konsul«,
10389
sagte er, »Sie sind mir aufs höchste willkommen, so schwer es mir altem
10390
Witwer fallen würde, mich von meiner Tochter zu trennen! Aber sie? Sie
10391
hat bislang ihren Entschluß, niemals zu heiraten, mit Festigkeit
10392
aufrechterhalten. Haben Sie denn Chancen?« Und er war äußerst erstaunt,
10393
als ich ihm erwiderte, daß Fräulein Gerda mir in der Tat Veranlassung zu
10394
einiger Hoffnung gegeben habe.
10396
Er hat ihr einige Tage Zeit zum Besinnen gelassen, und ich glaube, er
10397
hat ihr aus argem Egoismus sogar abgeraten. Aber es hilft nichts: ich
10398
bin der Auserwählte, und seit gestern Nachmittag ist die Verlobung
10401
Nein, meine liebe Mama, ich bitte Dich jetzt nicht um Deinen
10402
schriftlichen Segen zu dieser Verbindung, denn schon übermorgen reise
10403
ich ab; aber ich nehme das Versprechen der Arnoldsens mit, daß sie uns,
10404
der Vater, Gerda und auch ihre verheiratete Schwester, im August
10405
besuchen werden, und dann wirst Du nicht umhin können zuzugestehen, daß
10406
dies die Rechte für mich ist. Denn es liegt für Dich doch kein Einwand
10407
darin, daß Gerda nur drei Jahr jünger ist als ich? Du wirst wohl niemals
10408
angenommen haben, hoffe ich, daß ich irgendeinen Backfisch aus dem
10409
Kreise Möllendorpf-Langhals-Kistenmaker-Hagenström heimführen würde.
10411
Und was die »Partie« betrifft?... Ach, ich ängstige mich beinahe davor,
10412
daß Stephan Kistenmaker und Hermann Hagenström und Peter Döhlmann und
10413
Onkel Justus und die ganze Stadt mich pfiffig anblinzeln wird, wenn man
10414
von der Partie erfährt; denn mein zukünftiger Schwiegervater ist
10415
Millionär ... Mein Gott, was läßt sich darüber sagen? Es gibt so viel
10416
Halbes in uns, das so oder so gedeutet werden kann. Ich verehre Gerda
10417
Arnoldsen mit Enthusiasmus, aber ich bin durchaus nicht gesonnen, tief
10418
genug in mich selbst hinabzusteigen, um zu ergründen, ob und inwiefern
10419
die hohe Mitgift, die man mir gleich bei der ersten Vorstellung in
10420
ziemlich zynischer Weise ins Ohr flüsterte, zu diesem Enthusiasmus
10421
beigetragen hat. Ich liebe sie, aber es macht mein Glück und meinen
10422
Stolz desto größer, daß ich, indem sie mein eigen wird, gleichzeitig
10423
unserer Firma einen bedeutenden Kapitalzufluß erobere.
10425
Ich schließe, liebe Mutter, diesen Brief, der in Anbetracht des
10426
Umstandes, daß wir uns in wenigen Tagen schon mündlich über mein Glück
10427
werden bereden können, schon allzulang geworden ist. Ich wünsche dir
10428
einen angenehmen und erholsamen Badeaufenthalt und bitte Dich, alle die
10429
Unsrigen auf das Herzlichste von mir zu grüßen.
10432
Dein gehorsamer Sohn
10438
In der Tat, es gab dieses Jahr einen lebhaften und festlichen Hochsommer
10439
im Buddenbrookschen Hause.
10441
Am Ende des Juli traf Thomas wieder in der Mengstraße ein und besuchte,
10442
gleich den übrigen Herren, die in der Stadt geschäftlich in Anspruch
10443
genommen waren, seine Familie einige Male am Meere, während Christian
10444
sich daselbst vollkommene Ferien gemacht hatte, denn er klagte über
10445
einen unbestimmten Schmerz im linken Bein, mit dem Doktor Grabow
10446
durchaus nichts anzufangen wußte, und über den Christian daher desto
10447
eingehender nachdachte ...
10449
»Es ist kein Schmerz ... so kann man es nicht nennen«, erklärte er
10450
mühsam, indem er mit der Hand an dem Beine auf und nieder fuhr, seine
10451
große Nase krauste und die Augen wandern ließ. »Es ist eine Qual, eine
10452
fortwährende, leise, beunruhigende Qual im ganzen Bein ... und an der
10453
linken Seite, an der Seite, wo das Herz sitzt ... Sonderbar ... ich
10454
finde es sonderbar! Was denkst du eigentlich darüber, Tom ...«
10456
»Ja, ja ...« sagte Tom. »Du hast nun Ruhe und Seebäder ...«
10458
Und dann ging Christian an die See hinunter, um der Badegesellschaft
10459
Geschichten zu erzählen, daß der Strand von Lachen widerhallte, oder in
10460
den Kursaal, um mit Peter Döhlmann, Onkel Justus, Doktor Gieseke und
10461
einigen Hamburger Suitiers Roulette zu spielen.
10463
Und Konsul Buddenbrook besuchte mit Tony, wie immer, wenn man in
10464
Travemünde war, die alten Schwarzkopfs in der Vorderreihe ... »Good'n
10465
Dag ook, Ma'm' Grünlich!« sagte der Lotsenkommandeur und redete vor
10466
Freude platt. »Na, weetens woll noch? Dat's nu all bangig lang her,
10467
öäwer dat wier ne verdammt nette Tied ... Un uns Morten, de is nu all
10468
lang Dokter in Breslau, un hei hett ook all ne ganz staatsche Praxis,
10469
der Bengel ...« Dann lief Frau Schwarzkopf umher und machte Kaffee, und
10470
sie vesperten in der grünen Veranda wie ehemals ... nur daß alle um
10471
volle zehn Jahre älter waren nunmehr, daß Morten und die kleine Meta,
10472
die den Ortsvorsteher von Haffkrug geheiratet hatte, fern waren, daß der
10473
Kommandeur, schon ganz weiß und ziemlich taub, im Ruhestand lebte, daß
10474
seine Frau in ihrem Netze ebenfalls sehr graues Haar trug und Madame
10475
Grünlich keine Gans mehr war, sondern das Leben kennengelernt hatte, was
10476
sie aber nicht hinderte, eine Menge Scheibenhonig zu essen, denn sie
10477
sagte: »Das ist reines Naturprodukt; da weiß man doch, was man
10480
Zu Anfang des August jedoch kehrten Buddenbrooks wie die meisten anderen
10481
Familien in die Stadt zurück, und dann kam der große Augenblick, wo,
10482
fast gleichzeitig, Pastor Tiburtius von Rußland und die Arnoldsens von
10483
Holland her zu längerem Besuche in der Mengstraße eintrafen.
10485
Es war eine sehr schöne Szene, als der Konsul zum ersten Male seine
10486
Braut ins Landschaftszimmer und zu seiner Mutter führte, die ihr mit
10487
ausgebreiteten Armen, den Kopf zur Seite geneigt, entgegenkam. Gerda,
10488
die mit freier und stolzer Anmut auf dem hellen Teppich dahinschritt,
10489
war hoch und üppig gewachsen. Mit ihrem schweren dunkelroten Haar, ihren
10490
nahe beieinander liegenden, braunen, von feinen bläulichen Schatten
10491
umlagerten Augen, ihren breiten, schimmernden Zähnen, die sie lächelnd
10492
zeigte, ihrer geraden, starken Nase und ihrem wundervoll edel geformten
10493
Munde war dieses siebenundzwanzigjährige Mädchen von einer eleganten,
10494
fremdartigen, fesselnden und rätselhaften Schönheit. Ihr Gesicht war
10495
mattweiß und ein wenig hochmütig; aber sie neigte es dennoch, als die
10496
Konsulin ihr Haupt mit sanfter Innigkeit zwischen beide Hände nahm und
10497
ihr die schneeige, makellose Stirne küßte ... »Ja, nun heiße ich dich
10498
willkommen in unserem Hause und unserer Familie, du liebe, schöne,
10499
gesegnete Tochter«, sagte sie. »Du wirst ihn glücklich machen ... sehe
10500
ich es nicht schon, wie glücklich du ihn machst?« Und sie zog mit dem
10501
rechten Arme Thomas herbei, um ihn ebenfalls zu küssen.
10503
Niemals, höchstens vielleicht zu Großvaters Zeiten, war es heiterer und
10504
geselliger zugegangen in dem großen Hause, das mit Leichtigkeit die
10505
Gäste aufnahm. Nur Pastor Tiburtius hatte aus Bescheidenheit sich im
10506
Rückgebäude beim Billardsaale ein Zimmer erwählt; die übrigen, Herr
10507
Arnoldsen, ein beweglicher, witziger Mann am Ende der Fünfziger mit
10508
grauem Spitzbart und einem liebenswürdigen Elan in jeder Bewegung, seine
10509
ältere Tochter, eine leidend aussehende Dame, sein Schwiegersohn, ein
10510
eleganter Lebemann, der sich von Christian in der Stadt umher und in den
10511
Klub führen ließ, und Gerda verteilten sich in den überflüssigen Räumen
10512
zu ebener Erde, bei der Säulenhalle, im ersten Stock ...
10514
Antonie Grünlich war froh, daß Sievert Tiburtius zur Zeit der einzige
10515
Geistliche im elterlichen Hause war ... sie war mehr als froh! Die
10516
Verlobung ihres verehrten Bruders, die Tatsache, daß ausgemacht ihre
10517
Freundin Gerda die Erwählte war, das Glänzende dieser Partie, die den
10518
Familiennamen und die Firma mit neuem Schimmer bestrahlte, die 300000
10519
Kurantmark Mitgift, von der sie hatte munkeln hören, der Gedanke, was
10520
die Stadt, was die anderen Familien, was im besonderen Hagenströms dazu
10521
sagen würden ... das alles trug dazu bei, sie in einen Zustand
10522
beständiger Entzückung zu versetzen. Dreimal stündlich zum wenigsten
10523
umarmte sie ihre zukünftige Schwägerin mit Leidenschaft ...
10525
»Oh, Gerda!« rief sie. »Ich liebe dich, weißt du, ich habe dich immer
10526
geliebt! Ich weiß ja, du kannst mich nicht leiden, du hast mich immer
10529
»Aber ich bitte dich, Tony!« sagte Fräulein Arnoldsen. »Wie sollte ich
10530
wohl dazu gekommen sein, dich zu hassen? Darf ich fragen, was du mir
10531
eigentlich Greuliches angetan hast?«
10533
Aus irgendwelchen Gründen jedoch, wahrscheinlich ganz allein aus
10534
übermäßiger Freude und bloßer Lust am Reden, beharrte Tony störrisch
10535
dabei, daß Gerda sie immer gehaßt habe, daß sie aber ihrerseits -- und
10536
ihre Augen füllten sich mit Tränen -- diesen Haß stets mit Liebe
10537
vergolten habe. Hierauf nahm sie Thomas beiseite und sagte zu ihm: »Das
10538
hast du gut gemacht, Tom, o Gott, wie hast du das gut gemacht! Nein, daß
10539
=Vater= dies nicht mehr erlebt ... es ist zum Heulen, weißt du! Ja,
10540
hiermit wird manches ausgewetzt ... nicht zuletzt die Sache mit jener
10541
Persönlichkeit, deren Namen ich nicht gern in den Mund nehme ...« Worauf
10542
es ihr einfiel, Gerda in ein leeres Zimmer zu ziehen und ihr ihre ganze
10543
Ehe mit Bendix Grünlich in fürchterlicher Ausführlichkeit zu erzählen.
10544
Auch plauderte sie lange Stunden mit ihr von der Pensionszeit, von ihren
10545
abendlichen Gesprächen damals, von Armgard von Schilling in Mecklenburg
10546
und Eva Ewers in München ... Um Sievert Tiburtius und seine Verlobung
10547
mit Klara bekümmerte sie sich beinahe gar nicht; aber die beiden
10548
trachteten auch nicht danach. Sie saßen meist stille Hand in Hand und
10549
sprachen sanft und ernst von einer schönen Zukunft.
10551
Da das Trauerjahr der Buddenbrooks noch nicht abgelaufen war, so wurden
10552
die beiden Verlobungen nur in der Familie gefeiert; Gerda Arnoldsen aber
10553
war dennoch rasch genug berühmt in der Stadt, ja, ihre Person bildete
10554
den hauptsächlichen Gesprächsstoff an der Börse, im Klub, im
10555
Stadttheater, in Gesellschaft ... »Tipptopp«, sagten die Suitiers und
10556
schnalzten mit der Zunge, denn das war der neueste hamburgische Ausdruck
10557
für etwas auserlesen Feines, handelte es sich nun um eine Rotweinmarke,
10558
um eine Zigarre, um ein Diner oder um geschäftliche Bonität. Aber unter
10559
den soliden, biederen und ehrenfesten Bürgern waren viele, die den Kopf
10560
schüttelten ... »Sonderbar ... diese Toiletten, dieses Haar, diese
10561
Haltung, dieses Gesicht ... ein bißchen reichlich sonderbar.« Kaufmann
10562
Sörensen drückte es aus: »Sie hat ein bißchen was Gewisses ...«, und
10563
dabei wand er sich und machte ein krauses Gesicht, wie wenn ihm an der
10564
Börse eine faule Offerte gemacht wurde. Aber es war Konsul Buddenbrook
10565
... es sah ihm ähnlich. Ein bißchen prätentiös, dieser Thomas
10566
Buddenbrook, ein bißchen ... anders: anders auch als seine Vorfahren.
10567
Man wußte, besonders der Tuchhändler Benthien wußte es, daß er nicht nur
10568
seine sämtlichen feinen und neumodischen Kleidungsstücke -- und er besaß
10569
deren ungewöhnlich viele: Pardessus, Röcke, Hüte, Westen, Beinkleider
10570
und Krawatten -- ja auch seine Wäsche aus Hamburg bezog. Man wußte
10571
sogar, daß er tagtäglich, manchmal sogar zweimal am Tage, das Hemd
10572
wechselte und sich das Taschentuch und den _à la_ Napoleon _III._
10573
ausgezogenen Schnurrbart parfümierte. Und das alles tat er nicht der
10574
Firma und der Repräsentation zuliebe -- das Haus »Johann Buddenbrook«
10575
hatte das nicht nötig --, sondern aus einer persönlichen Neigung zum
10576
Superfeinen und Aristokratischen ... wie sollte man das ausdrücken,
10577
Teufel noch mal! Und dann diese Zitate aus Heine und anderen Dichtern,
10578
die er manchmal bei den praktischsten Gelegenheiten, bei geschäftlichen
10579
oder städtischen Fragen in seine Rede einfließen ließ ... Und nun diese
10580
Frau ... Nein, auch an ihm selbst, an Konsul Buddenbrook war »ein
10581
bißchen was Gewisses« -- -- was selbstverständlich mit jederlei Respekt
10582
bemerkt werden sollte, denn die Familie war hoch achtbar, und die Firma
10583
war von höchster Bonität, und der Chef war ein gescheuter,
10584
liebenswürdiger Mann, der die Stadt liebte und ihr sicher noch
10585
erfolgreich dienen würde ... Und es war ja auch eine höllisch feine
10586
Partie, man sprach von runden 100000 Talern Kurant ... Indessen ... Und
10587
unter den Damen befanden sich manche, die Gerda Arnoldsen ganz einfach
10588
»=albern=« fanden; wobei daran zu erinnern ist, daß »albern« einen sehr
10589
harten Ausdruck der Verurteilung bedeutete.
10591
Wer aber, seitdem er sie zum ersten Male auf der Straße erschaut,
10592
Thomas Buddenbrooks Braut mit einer ingrimmigen Begeisterung verehrte,
10593
das war der Makler Gosch. »Ha!« sagte er im Klub oder in der
10594
»Schiffergesellschaft«, indem er sein Punschglas emporhielt und sein
10595
Intrigantengesicht in greulicher Mimik verzerrte ... »Welch ein Weib,
10596
meine Herren! Here und Aphrodite, Brünhilde und Melusine in einer Person
10597
... Ha, das Leben ist doch schön!« fügte er unvermittelt hinzu; und
10598
keiner der Bürger, die um ihn her auf den schweren geschnitzten
10599
Holzbänken des alten Schifferhauses unter den Seglermodellen und großen
10600
Fischen, die von der Decke herabhingen, saßen und ihren Schoppen
10601
tranken, keiner verstand, welches Ereignis das Erscheinen Gerda
10602
Arnoldsens in dem bescheidenen und nach Außerordentlichem sehnsüchtigen
10603
Leben des Maklers Gosch bedeutete ...
10605
Nicht verpflichtet, wie gesagt, zu größeren Festlichkeiten, hatte die
10606
kleine Gesellschaft in der Mengstraße desto bessere Muße, vertraut
10607
miteinander zu werden. Sievert Tiburtius erzählte, Klaras Hand in der
10608
seinen, von seinen Eltern, seiner Jugend und seinen Zukunftsplänen; die
10609
Arnoldsens erzählten von ihrem Stammbaum, der in Dresden zu Hause war,
10610
und von dem nur dieser eine Zweig in die Niederlande verpflanzt worden
10611
sei; und dann verlangte Madame Grünlich nach dem Schlüssel zum Sekretär
10612
im Landschaftszimmer und schleppte ernsthaft die Mappe mit den
10613
Familienpapieren herbei, in denen Thomas auch die neuesten Daten bereits
10614
vermerkt hatte. Sie kündete mit Wichtigkeit von der Geschichte der
10615
Buddenbrooks, von dem Gewandschneider zu Rostock an, der sich bereits so
10616
sehr gut gestanden, sie las alte Festgedichte vor:
10618
»Tüchtigkeit und zücht'ge Schöne
10619
Sich vor unsrem Blick verband:
10621
Und Vulcani fleiß'ge Hand ...«
10623
wobei sie Tom und Gerda anblinzelte und die Zunge an der Oberlippe
10624
spielen ließ; und aus Achtung vor der Historie überging sie keineswegs
10625
das Eingreifen in die Familiengeschichte von seiten einer
10626
Persönlichkeit, deren Namen sie eigentlich nicht gern in den Mund
10629
Donnerstags um vier Uhr aber kamen die gewohnten Gäste: Justus Kröger kam
10630
mit seiner schwachen Gattin, mit der er sehr in Unfrieden lebte, weil sie
10631
selbst nach Amerika noch dem ungeratenen und enterbten Jakob Geld über
10632
Geld sandte ... sie ersparte es ganz einfach vom Wirtschaftsgelde und aß
10633
mit ihrem Manne beinahe nichts als Buchweizengrütze, da war nichts zu
10634
machen. Es kamen die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße, die denn
10635
doch der Wahrheit die Ehre geben und feststellen mußten, daß Erika
10636
Grünlich wieder nicht zugenommen habe, daß sie ihrem Vater, dem
10637
Betrüger, noch ähnlicher geworden sei, und daß des Konsuls Braut eine
10638
=ziemlich= auffällige Frisur trage ... Und auch Sesemi Weichbrodt kam,
10639
stellte sich auf die Zehenspitzen, küßte Gerda mit leise knallendem
10640
Geräusch auf die Stirn und sagte bewegt: »Sei glöcklich, du gutes Kend!«
10642
Dann sprach bei Tische Herr Arnoldsen einen seiner witzigen und
10643
phantasievollen Toaste zu Ehren der Brautpaare, und hernach, während man
10644
den Kaffee nahm, spielte er die Geige wie ein Zigeuner, mit einer
10645
Wildheit, einer Leidenschaft, einer Fertigkeit ... aber auch Gerda holte
10646
ihre Stradivari herbei, von der sie sich niemals trennte, und griff mit
10647
ihrer süßen Cantilene in seine Passagen ein, und sie spielten pompöse
10648
Duos, im Landschaftszimmer, beim Harmonium, an derselben Stelle, wo
10649
einstmals des Konsuls Großvater seine kleinen, sinnigen Melodien auf der
10650
Flöte geblasen hatte.
10652
»Erhaben!« sagte Tony, die weit zurückgebeugt in ihrem Lehnsessel saß
10653
... »O Gott, wie finde ich es erhaben!« Und ernst, langsam und
10654
gewichtig, mit aufwärts gerichteten Augen fuhr sie fort, ihre lebhaften
10655
und aufrichtigen Empfindungen auszudrücken ... »Nein, wißt ihr, wie es
10656
im Leben so geht ... nicht jedem wird ja immer eine solche Gabe zuteil!
10657
Mir hat der Himmel dergleichen versagt, wißt ihr, obgleich ich ihn in
10658
mancher Nacht darum angefleht ... Ich bin eine Gans, ein dummes Ding ...
10659
Ja, Gerda, laß dir sagen ... ich bin die Ältere und habe das Leben
10660
kennengelernt .... Du solltest täglich deinem Schöpfer auf den Knien
10661
dafür danken, ein solch gottbegnadigtes Geschöpf zu sein ...!«
10663
»... Begnadetes«, sagte Gerda und zeigte lachend ihre schönen, weißen,
10666
Später aber rückten alle zusammen, um gemeinsam über die nächste Zukunft
10667
das Nötige zu beratschlagen und Weingelee dazu zu essen. Am Ende des
10668
Monats oder Anfang September, so ward beschlossen, würden Sievert
10669
Tiburtius sowohl wie Arnoldsens in die Heimat zurückkehren. Gleich nach
10670
der Weihnacht sollte Klaras Trauung in der Säulenhalle mit allem Aufwand
10671
gefeiert werden, während die Hochzeit in Amsterdam, der »bei Leben und
10672
Gesundheit« auch die Konsulin beizuwohnen gedachte, bis zum Beginn des
10673
nächsten Jahres verschoben werden mußte: damit eine Ruhepause
10674
vorherginge. Es half nichts, daß Thomas sich widersetzte. »Bitte!« sagte
10675
die Konsulin und legte die Hand auf seinen Arm ... »Sievert hat das
10678
Der Pastor und seine Braut verzichteten auf eine Hochzeitsreise. Gerda
10679
und Thomas aber wurden sich einig über eine Route durch Oberitalien nach
10680
Florenz. Sie würden etwa zwei Monate abwesend sein; unterdessen aber
10681
sollte Antonie, zusammen mit dem Tapezierer Jacobs aus der Fischstraße,
10682
das hübsche kleine Haus in der Breiten Straße bereitmachen, das einem
10683
nach Hamburg verzogenen Junggesellen gehörte, und dessen Ankauf der
10684
Konsul bereits betrieb. Oh, Tony würde das schon zur Zufriedenheit
10685
ausführen! »Ihr sollt es =vornehm= haben!« sagte sie; und davon waren
10688
Christian aber ging mit seinen dünnen, gebogenen Beinen und seiner
10689
großen Nase in diesem Zimmer umher, in dem zwei Brautpaare sich an den
10690
Händen hielten, und in dem von nichts anderem als von Trauung, Aussteuer
10691
und Hochzeitsreisen die Rede war. Er empfand eine Qual, eine unbestimmte
10692
Qual in seinem linken Bein und sah alle aus seinen kleinen, runden,
10693
tiefliegenden Augen ernst, unruhig und nachdenklich an. Schließlich
10694
sagte er in der Aussprache Marcellus Stengels zu seiner armen Kusine,
10695
die ältlich, still, dürr und selbst nach Tische noch hungrig inmitten
10696
der Glücklichen saß: »Na, Thilda, nun heiraten wir auch bald; das heißt
10697
... jeder für sich!«
10702
Ungefähr sieben Monate später kehrte Konsul Buddenbrook mit seiner
10703
Gattin aus Italien zurück. Märzschnee lag in der Breiten Straße, als
10704
fünf Uhr nachmittags die Droschke an der schlichten, mit Ölfarbe
10705
gestrichenen Fassade ihres Hauses vorfuhr. Ein paar Kinder und
10706
erwachsene Bürger blieben stehen, um die Ankömmlinge aussteigen zu
10707
sehen. Frau Antonie Grünlich stand, stolz auf die Vorbereitungen, die
10708
sie getroffen, in der Haustür, und hinter ihr hielten sich, gleichfalls
10709
zum Empfange bereit, mit weißen Mützen, nackten Armen und dicken,
10710
gestreiften Röcken, die beiden Dienstmädchen, die sie ihrer Schwägerin
10711
kundig erwählt hatte.
10713
Eilfertig und erhitzt von Arbeit und Freude lief sie die flachen Stufen
10714
hinunter und zog Gerda und Thomas, die in ihren Pelzen den mit Koffern
10715
bepackten Wagen verließen, unter Umarmungen in den Hausflur hinein ...
10717
»Da seid ihr! Da seid ihr, ihr Glücklichen, die ihr so weit
10718
herumgekommen seid! Habt ihr das Haus gesehen: auf Säulen ruht sein
10719
Dach?... Gerda, du bist noch schöner geworden, komm, laß mich dich
10720
küssen ... nein, auch auf den Mund ... so! Guten Tag, alter Tom, ja, du
10721
bekömmst auch einen Kuß. Marcus hat gesagt, es sei hier alles sehr gut
10722
gegangen unterdessen. Mutter erwartet euch in der Mengstraße; aber zuvor
10723
macht ihr es euch bequem ... Wollt ihr Tee haben? Ein Bad nehmen? Es ist
10724
alles bereit. Ihr werdet euch nicht zu beklagen haben. Jacobs hat sich
10725
angestrengt, und ich habe auch getan, was ich konnte ...«
10727
Sie gingen zusammen auf den Vorplatz, während die Mädchen mit dem
10728
Kutscher das Gepäck hereinschleppten. Tony sagte: »Die Zimmer hier im
10729
Parterre werdet ihr vorläufig nicht viel gebrauchen ... vorläufig«,
10730
wiederholte sie und ließ die Zungenspitze an der Oberlippe spielen.
10731
»Dies hier ist hübsch« -- und sie öffnete gleich rechts beim Windfang
10732
eine Tür. -- »Da ist Efeu vor den Fenstern ... einfache Holzmöbel ...
10733
Eiche ... Dort hinten, jenseits des Korridors, liegt ein anderes,
10734
größeres. Hier rechts sind Küche und Speisekammer ... Aber wir wollen
10735
hinaufgehen; oh, ich will euch alles zeigen!«
10737
Sie stiegen auf dem breiten, dunkelroten Läufer die bequeme Treppe
10738
empor. Droben, hinter einer gläsernen Etagentür, war ein schmaler
10739
Korridor. Es lag das Speisezimmer daran, mit einem schweren runden
10740
Tisch, auf dem der Samowar kochte, und dunkelroten, damastartigen
10741
Tapeten, an denen geschnitzte Nußholzstühle mit Rohrsitzen und ein
10742
massives Büfett standen. Ein behagliches Wohnzimmer in grauem Tuche war
10743
da, nur durch Portieren getrennt von einem schmalen Salon mit
10744
grüngestreiften Ripsfauteuils und einem Erker. Ein Viertel des ganzen
10745
Stockwerkes aber nahm ein Saal von drei Fenstern ein. Dann gingen sie
10746
ins Schlafzimmer hinüber.
10748
Es lag zur rechten Hand am Korridor, mit geblümten Gardinen und
10749
mächtigen Mahagonibetten. Tony aber ging zu der kleinen, durchbrochenen
10750
Pforte dort hinten, drückte die Klinke und legte den Zugang zu einer
10751
Wendeltreppe frei, deren Windungen ins Souterrain hinabführten: ins
10752
Badezimmer und die Mädchenkammern.
10754
»Hier ist es hübsch. Hier will ich bleiben«, sagte Gerda und sank
10755
aufatmend in den Lehnsessel an einem der Betten.
10757
Der Konsul beugte sich zu ihr und küßte ihr die Stirne. »Müde? Aber es
10758
ist wahr, ich habe auch Lust, mich ein bißchen zu säubern ...«
10760
»Und ich werde nach dem Teewasser sehen«, sagte Frau Grünlich; »ich
10761
erwarte euch im Eßzimmer ...« Und sie ging dorthin.
10763
Der Tee stand dampfend in Meißener Tassen bereit, als Thomas herüberkam.
10764
»Da bin ich«, sagte er, »Gerda möchte noch eine halbe Stunde ruhen. Sie
10765
hat Kopfschmerzen. Wir wollen nachher in die Mengstraße ... Alles
10766
wohlauf, meine liebe Tony? Mutter, Erika, Christian?... Aber nun«, fuhr
10767
er mit seiner liebenswürdigsten Bewegung fort, »unseren herzlichsten
10768
Dank, auch Gerdas, für all deine Mühen, du Gute! Wie hübsch du das alles
10769
gemacht hast! Es fehlt nichts, als daß meine Frau ein paar Palmen für
10770
ihren Erker bekommt, und daß ich mich nach einigen brauchbaren
10771
Ölgemälden umsehe ... Aber nun erzähle mal! Wie geht es dir, was hast du
10772
getrieben unterdessen!«
10774
Er hatte seiner Schwester einen Stuhl zu sich herangezogen, trank
10775
langsam seinen Tee und aß ein Biskuit, während sie sprachen.
10777
»Ach, Tom«, antwortete sie. »Was soll ich treiben? Mein Leben liegt
10780
»Unsinn, Tony! Du mit deinem Leben ... Aber wir langweilen uns wohl
10783
»Ja, Tom, ich langweile mich ganz ungemein. Manchmal heule ich vor
10784
Langerweile. Die Beschäftigung mit diesem Hause hat mir Freude gemacht,
10785
und du glaubst nicht, wie glücklich ich über eure Rückkehr bin ... Aber
10786
ich bin nicht gern zu Hause, weißt du; Gott strafe mich, wenn das eine
10787
Sünde ist. Ich bin nun im Dreißigsten, aber das ist noch nicht das
10788
Alter, um mit der letzten Himmelsbürgern oder den Damen Gerhardt oder
10789
einem von Mutters Dunkelmännern, die der Witwen Häuser fressen,
10790
Busenfreundschaft zu schließen ... Ich glaube nicht an sie, Tom, es sind
10791
Wölfe in Schafspelzen ... Otterngezücht ... Wir sind alle schwache
10792
Menschen mit sündigen Herzen, und wenn sie mitleidig auf mich armes
10793
Weltkind herabsehen wollen, so lache ich sie aus. Ich bin immer der
10794
Meinung gewesen, daß alle Menschen gleich sind, und daß es keiner
10795
Mittlerschaft bedarf zwischen uns und dem lieben Gott. Du kennst auch
10796
meine politischen Grundsätze. Ich will, daß der Bürger zum Staate ...«
10798
»Also du fühlst dich ein wenig vereinsamt, wie?« fragte Thomas, um sie
10799
wieder auf den Weg zu bringen. »Aber höre, du hast doch Erika?«
10801
»Ja, Tom, und ich liebe das Kind von ganzem Herzen, obgleich eine
10802
gewisse Persönlichkeit behauptete, ich sei nicht kinderlieb ... Aber,
10803
siehst du ... ich bin offen zu dir, ich bin ein ehrliches Weib, ich
10804
rede, wie's mir ums Herz ist und halte nichts vom Wortemachen ...«
10806
»Was sehr hübsch von dir ist, Tony.«
10808
»Kurz, das traurige ist, daß das Kind mich allzusehr an Grünlich
10809
erinnert ... auch Buddenbrooks in der Breiten Straße sagen, daß es ihm
10810
so sehr ähnlich ist ... Und dann, wenn ich es vor mir habe, muß ich
10811
beständig denken: Du bist eine alte Frau mit einer großen Tochter und
10812
das Leben liegt hinter dir. Du hast einmal während einiger Jahre
10813
daringestanden, aber nun kannst du siebzig und achtzig Jahre alt werden
10814
und wirst hier sitzen bleiben und Lea Gerhardt vorlesen hören. Der
10815
Gedanke ist mir so traurig, Tom, daß er mir hier in der Kehle sitzt und
10816
drückt. Denn ich empfinde noch so jugendlich, weißt du, und sehne mich
10817
danach, noch einmal ins Leben hinauszukommen ... Und schließlich: nicht
10818
bloß im Hause, auch in der ganzen Stadt fühle ich mich nicht ganz wohl,
10819
denn du mußt nicht glauben, daß ich mit Blindheit geschlagen bin für die
10820
Verhältnisse, ich bin keine Gans mehr und habe meine Augen im Kopfe. Ich
10821
bin eine geschiedene Frau und bekomme es zu fühlen, das ist sehr klar.
10822
Du kannst mir glauben, Tom, daß es mir immer schwer auf dem Herzen
10823
liegt, unseren Namen, wenn auch ohne eigene Schuld, so befleckt zu
10824
haben. Du kannst tun, was du willst, du kannst Geld verdienen und der
10825
erste Mann in der Stadt werden, -- die Leute werden immer noch sagen:
10826
`Ja ... seine Schwester ist übrigens eine geschiedene Frau.´ Julchen
10827
Möllendorpf, geborene Hagenström, grüßt mich nicht ... nun, sie ist eine
10828
Gans! Aber so geht es bei allen Familien ... Und doch, ich =kann= die
10829
Hoffnung nicht aufgeben, Tom, daß alles noch wieder gutzumachen ist! Ich
10830
bin noch jung ... Bin ich nicht noch ziemlich hübsch? Mama kann mir
10831
nicht mehr viel mitgeben, aber es ist immerhin ein annehmbares Stück
10832
Geld. Wenn ich mich wieder verheiratete? Offen gestanden, Tom, es ist
10833
mein lebhaftester Wunsch! Damit wäre alles in Ordnung, der Fleck wäre
10834
ausgelöscht ... O Gott, wenn ich eine unseres Namens würdige Partie
10835
machen, mich wieder einrichten könnte --! Glaubst du, daß es so völlig
10836
ausgeschlossen ist?«
10838
»Bewahre, Tony! Oh, keineswegs! Ich habe niemals aufgehört, damit zu
10839
rechnen. Aber vor allem scheint es mir nötig, daß du mal ein bißchen
10840
hinauskommst, dich ein wenig aufmunterst, Abwechselung hast ...«
10842
»Das ist es eben!« sagte sie eifrig. »Nun muß ich dir mal eine
10843
Geschichte erzählen.«
10845
Sehr befriedigt von diesem Vorschlage lehnte sich Thomas zurück. Er war
10846
schon bei der zweiten Zigarette. Die Dämmerung begann vorzuschreiten.
10848
»Also während euerer Abwesenheit hätte ich beinahe eine Stelle
10849
angenommen, eine Stelle als Gesellschafterin in Liverpool! Hättest du
10850
es empörend gefunden?... Aber immerhin etwas fragwürdig?... Ja, ja, es
10851
wäre wahrscheinlich unwürdig gewesen. Aber es war mein so dringender
10852
Wunsch, fortzukommen ... Kurz, es hat sich zerschlagen. Ich schickte der
10853
Missis meine Photographie, und sie mußte auf meine Dienste verzichten,
10854
weil ich zu hübsch sei; es sei ein erwachsener Sohn im Hause. `Sie sind
10855
zu hübsch´, schrieb sie ... ha, ich habe mich niemals so amüsiert!«
10857
Die beiden lachten sehr herzlich.
10859
»Aber nun habe ich etwas anderes in Aussicht genommen«, fuhr Tony fort.
10860
»Ich bin eingeladen worden; eingeladen nach München von Eva Ewers
10861
... ja, sie heißt übrigens nun Eva Niederpaur, und ihr Mann ist
10862
Brauereidirektor. Genug, sie hat mich gebeten, sie zu besuchen, und ich
10863
denke demnächst von der Aufforderung Gebrauch zu machen. Freilich, Erika
10864
könnte nicht mitgehen. Ich würde sie zu Sesemi Weichbrodt in Pension
10865
geben. Dort wäre sie ausgezeichnet aufgehoben. Hättest du etwas dagegen
10868
»Gar nichts. Jedenfalls ist es nötig, daß du einmal wieder in neue
10869
Verhältnisse kommst.«
10871
»Ja, das ist es!« sagte sie dankbar. »Aber nun du, Tom! Ich spreche
10872
beständig von mir, ich bin ein eigennütziges Weib! Nun erzähle du. O
10873
Gott, wie glücklich du sein mußt!«
10875
»Ja, Tony!« sagte er nachdrücklich. Es entstand eine Pause. Er atmete
10876
den Rauch über den Tisch hinüber und fuhr fort: »Zunächst bin ich sehr
10877
froh, verheiratet zu sein und einen eigenen Hausstand begründet zu
10878
haben. Du kennst mich: ich hätte schlecht zum Garçon getaugt. Alles
10879
Junggesellentum hat einen Beigeschmack von Isoliertheit und Bummelei,
10880
und ich besitze einigen Ehrgeiz, wie du weißt. Ich halte meine Karriere
10881
weder geschäftlich, noch, sagen wir scherzeshalber: politisch für
10882
beendigt ... aber das rechte Vertrauen der Welt gewinnt man erst, wenn
10883
man Hausherr und Familienvater ist. Dennoch hat es an einem Haar
10884
gehangen, Tony ... Ich bin ein bißchen wählerisch. Ich habe es lange
10885
Zeit nicht für möglich gehalten, auf der Welt eine Passende zu finden.
10886
Aber Gerdas Anblick gab den Ausschlag. Ich sah sofort, daß sie die
10887
einzige sei, ausgemacht sie ... obgleich ich weiß, daß viele Leute in
10888
der Stadt mir böse sind ob meines Geschmackes. Sie ist ein wundervolles
10889
Wesen, wie es deren sicher wenige gibt auf Erden. Freilich ist sie
10890
sehr anders als du, Tony. Du bist einfacher von Gemüt, du bist auch
10891
natürlicher ... Meine Frau Schwester ist ganz einfach temperamentvoller«,
10892
fuhr er fort, indem er plötzlich zu einem leichteren Tone überging. »Daß
10893
übrigens auch Gerda Temperament besitzt, das beweist wahrhaftig ihr
10894
Geigenspiel; aber sie kann manchmal ein bißchen kalt sein ... Kurz, es
10895
ist nicht der gewöhnliche Maßstab an sie zu legen. Sie ist eine
10896
Künstlernatur, ein eigenartiges, rätselhaftes, entzückendes Geschöpf.«
10898
»Ja, ja«, sagte Tony. Sie hatte ihrem Bruder ernst und aufmerksam
10899
zugehört. Ohne an die Lampe zu denken, hatten sie den Abend
10900
hereinbrechen lassen.
10902
Da öffnete sich die Korridortür, und von der Dämmerung umgeben stand vor
10903
den beiden, in einem faltig hinabwallenden Hauskleide aus schneeweißem
10904
Pikee, eine aufrechte Gestalt. Das schwere, dunkelrote Haar umrahmte das
10905
weiße Gesicht, und in den Winkeln der nahe beieinander liegenden braunen
10906
Augen lagerten bläuliche Schatten.
10908
Es war Gerda, die Mutter zukünftiger Buddenbrooks.
10918
Thomas Buddenbrook nahm das erste Frühstück in seinem hübschen
10919
Speisezimmer fast immer allein, denn seine Gattin pflegte sehr spät das
10920
Schlafzimmer zu verlassen, da sie während des Vormittags oft einer
10921
Migräne und allgemeiner Mißstimmung unterworfen war. Der Konsul begab
10922
sich dann sofort in die Mengstraße, wo die Kontors der Firma verblieben
10923
waren, nahm das zweite Frühstück im Zwischengeschoß gemeinsam mit seiner
10924
Mutter, Christian und Ida Jungmann und traf mit Gerda erst wieder um
10925
vier Uhr beim Mittagessen zusammen.
10927
Das geschäftliche Treiben bewahrte dem Erdgeschoß Leben und Bewegung;
10928
die Stockwerke aber des großen Mengstraßenhauses lagen nun recht leer
10929
und vereinsamt da. Die kleine Erika war von Mademoiselle Weichbrodt als
10930
interner Zögling aufgenommen worden, die arme Klothilde hatte sich mit
10931
ihren vier oder fünf Möbeln bei der Witwe eines Gymnasiallehrers, einer
10932
Doktorin Krauseminz, in wohlfeile Pension begeben, selbst der Bediente
10933
Anton hatte das Haus verlassen, um zu den jungen Herrschaften
10934
überzugehen, wo er nötiger war, und wenn Christian im Klub weilte, so
10935
saßen um vier Uhr die Konsulin und Mamsell Jungmann an dem runden Tisch,
10936
in den kein einziges Brett mehr eingelassen war, und der sich in dem
10937
weiten Speisetempel mit seinen Götterbildern verlor, nun ganz allein
10940
Mit dem Tode des Konsuls Johann Buddenbrook war das gesellschaftliche
10941
Leben in der Mengstraße erloschen, und die Konsulin sah, abgesehen von
10942
dem Besuche dieses oder jenes Geistlichen, keine anderen Gäste mehr um
10943
sich als am Donnerstag die Glieder ihrer Familie. Ihr Sohn aber und
10944
seine Gattin hatten bereits ihr erstes Diner hinter sich, ein Diner, bei
10945
dem im Speise- und Wohnzimmer gedeckt worden war, ein Diner mit
10946
Kochfrau, Lohndienern und Kistenmakerschen Weinen, eine
10947
Mittagsgesellschaft, die um fünf Uhr begonnen, und deren Gerüche und
10948
Geräusche um elf Uhr noch fortgeherrscht hatten, bei der alle Langhals',
10949
Hagenströms, Huneus', Kistenmakers, Överdiecks und Möllendorpfs zugegen
10950
gewesen waren, Kaufleute und Gelehrte, Ehepaare und Suitiers, die mit
10951
Whist und ein paar Ohren voll Musik geschlossen hatte, und von der man
10952
an der Börse noch acht Tage lang in den lobendsten Ausdrücken sprach.
10953
Wahrhaftig, es hatte sich gezeigt, daß die junge Frau Konsulin zu
10954
repräsentieren verstand ... Der Konsul hatte an jenem Abend, allein
10955
geblieben mit ihr in den von hinabgebrannten Kerzen erleuchteten Räumen,
10956
zwischen den durcheinandergerückten Möbeln, in dem dichten, süßen und
10957
schweren Dunst von feinen Speisen, Parfüms, Weinen, Kaffee, Zigarren und
10958
den Blumen der Toiletten und Tafelaufsätze, ihre Hände gedrückt und
10959
gesagt: »Sehr brav, Gerda! Wir haben uns nicht zu schämen brauchen.
10960
Dergleichen ist sehr wichtig ... Ich habe gar keine Lust, mich viel mit
10961
Bällen abzugeben und die jungen Leute hier umherspringen zu lassen; dazu
10962
reicht auch der Raum nicht. Aber den gesetzten Leuten muß es schmecken
10963
bei uns. So ein Diner kostet ein wenig mehr ... aber das ist nicht übel
10966
»Du hast recht«, hatte sie geantwortet und die Spitzen geordnet, durch
10967
die ihre Brust wie Marmor hindurchschimmerte. »Auch ich ziehe durchaus
10968
die Diners den Bällen vor. Ein Diner wirkt so außerordentlich beruhigend
10969
... Ich hatte heute nachmittag musiziert und fühlte mich ein wenig
10970
merkwürdig ... Jetzt ist mein Gehirn so tot, daß hier der Blitz
10971
einschlagen könnte, ohne daß ich bleich oder rot würde.«
10975
Als um halb zwölf Uhr heute der Konsul sich neben seiner Mutter am
10976
Frühstückstische niederließ, las sie ihm folgenden Brief vor:
10978
München, den 2. April 1857.
10979
Am Marienplatz Nr. 5.
10983
ich bitte um Verzeihung, denn es ist eine Schande, daß ich noch nicht
10984
geschrieben habe, während ich doch schon acht Tage hier bin; ich bin zu
10985
sehr in Anspruch genommen worden von allem, was es hier zu sehen gibt --
10986
aber davon später. Nun frage ich erst einmal, ob es Euch Lieben, Dir und
10987
Tom und Gerda und Erika und Christian und Thilda und Ida und allen gut
10988
geht; das ist das Wichtigste.
10990
Ach, was habe ich in diesen Tagen nicht zu sehen bekommen! Da ist die
10991
Pinakothek und die Glyptothek und das Hofbräuhaus und das Hoftheater und
10992
die Kirchen und viele andere Dinge. Ich muß davon mündlich erzählen,
10993
sonst schreibe ich mich tot. Auch eine Wagenfahrt im Isartal haben wir
10994
schon gemacht, und für morgen ist ein Ausflug an den Würmsee in Aussicht
10995
genommen. Das geht immer so weiter; Eva ist sehr lieb zu mir, und Herr
10996
Niederpaur, der Brauereidirektor, ist ein gemütlicher Mann. Wir wohnen
10997
an einem sehr hübschen Platz inmitten der Stadt, mit einem Brunnen in
10998
der Mitte, wie bei uns auf dem Markt, und unser Haus steht ganz in der
10999
Nähe des Rathauses. Ich habe niemals ein solches Haus gesehen! Es ist
11000
von oben bis unten ganz kunterbunt bemalt, mit heiligen Georgs, die den
11001
Drachen töten, und alten bayerischen Fürsten in vollem Ornat und Wappen.
11004
Ja, München gefällt mir ganz ausnehmend. Die Luft soll sehr
11005
nervenstärkend sein, und mit meinem Magen ist es im Augenblick ganz in
11006
Ordnung. Ich trinke mit großem Vergnügen sehr viel Bier, um so mehr, als
11007
das Wasser nicht ganz gesund ist; aber an das Essen kann ich mich noch
11008
nicht recht gewöhnen. Es gibt zuwenig Gemüse und zuviel Mehl, zum
11009
Beispiel in den Soßen, deren sich Gott erbarmen möge. Was ein
11010
ordentlicher Kalbsrücken ist, das ahnt man hier gar nicht, denn die
11011
Schlachter zerschneiden alles aufs jämmerlichste. Und mir fehlen sehr
11012
die Fische. Und dann ist es doch ein Wahnsinn, beständig Gurken- und
11013
Kartoffelsalat mit Bier durcheinander zu schlucken! Mein Magen gibt Töne
11016
Überhaupt muß man ja an mancherlei sich erst gewöhnen, könnt Ihr Euch
11017
denken, man befindet sich eben in einem fremden Lande. Da ist die
11018
ungewohnte Münze, da ist die Schwierigkeit, sich mit den einfachen
11019
Leuten, dem Dienstpersonal zu verständigen, denn ich spreche ihnen zu
11020
rasch und sie mir zu kauderwelsch -- und dann ist da der Katholizismus;
11021
ich hasse ihn, wie Ihr wißt, ich halte gar nichts davon ...
11023
Hier fing der Konsul an zu lachen, indem er, ein Stück Butterbrot mit
11024
geriebenem Kräuterkäse in der Hand, sich in das Sofa zurücklehnte.
11026
»Ja, Tom, du lachst ...«, sagte seine Mutter, und ließ ein paarmal den
11027
Mittelfinger ihrer Hand auf das Tischtuch fallen. »Aber mir gefällt es
11028
völlig an ihr, daß sie an dem Glauben ihrer Väter festhält und die
11029
unevangelischen Schnurrpfeifereien verabscheut. Ich weiß, daß du in
11030
Frankreich und Italien eine gewisse Sympathie für die päpstliche Kirche
11031
gefaßt hast, aber das ist nicht Religiosität bei dir, Tom, sondern etwas
11032
anderes, und ich verstehe auch, was; aber obgleich wir duldsam sein
11033
sollen, ist Spielerei und Liebhaberei in diesen Dingen in hohem Grade
11034
strafbar, und ich muß Gott bitten, daß er dir und deiner Gerda -- denn
11035
ich weiß, sie gehört ebenfalls nicht gerade zu den Gefesteten, mit den
11036
Jahren den nötigen Ernst darin gibt. Diese Bemerkung wirst du deiner
11039
»Oben auf dem Brunnen«, las sie weiter, »den ich von meinem Fenster aus
11040
sehen kann, steht eine Maria, und manchmal wird er bekränzt, und dann
11041
knien dort Leute aus dem Volke mit Rosenkränzen und beten, was ja recht
11042
hübsch aussieht, aber es steht geschrieben: Gehe in dein Kämmerlein. Oft
11043
sieht man hier Mönche auf der Straße, und sie sehen recht ehrwürdig aus.
11044
Aber stelle Dir vor, Mama, gestern fuhr in der Theatinerstraße irgendein
11045
höherer Kirchenmann in seiner Kutsche an mir vorüber, vielleicht war es
11046
der Erzbischof, ein älterer Herr -- genug, und dieser Herr wirft mir aus
11047
dem Fenster ein paar Augen zu wie ein Gardeleutnant! Du weißt, Mutter,
11048
ich halte nicht so sehr große Stücke auf Deine Freunde, die Missionare
11049
und Pastoren, aber Tränen-Trieschke ist sicherlich nichts gegen diesen
11050
Suitier von einem Kirchenfürsten ...«
11052
»Pfui!« schaltete die Konsulin bekümmert ein.
11054
»Echt Tony!« sagte der Konsul.
11058
»Na, sollte sie ihn nicht ein bißchen provoziert haben ... zur Prüfung?
11059
Ich kenne doch Tony! Und jedenfalls hat dieses `Paar Augen´ sie köstlich
11060
amüsiert ... was wohl die Absicht des alten Herrn gewesen ist.«
11062
Hierauf ging die Konsulin nicht ein, sondern fuhr zu lesen fort:
11063
»Vorgestern hatten Niederpaurs Abendgesellschaft, was wunderhübsch war,
11064
obgleich ich der Unterhaltung nicht immer folgen konnte und den Ton
11065
manchmal ziemlich _équivoque_ fand. Sogar ein Hofopernsänger war da,
11066
welcher Lieder sang, und ein junger Kunstmaler, der mich bat, mich von
11067
ihm porträtieren zu lassen, was ich aber ablehnte, weil ich es nicht für
11068
passend halte. Am besten habe ich mich mit einem Herrn =Permaneder=
11069
unterhalten -- hättest Du jemals gedacht, daß jemand so heißen
11070
könnte? --, Hopfenhändler, ein netter, spaßhafter Mann in gesetzten
11071
Jahren und Junggeselle. Ich hatte ihn zu Tische und hielt mich an ihn,
11072
weil er der einzige Protestant in der Gesellschaft war, denn obgleich er
11073
ein guter Münchener Bürger ist, stammt seine Familie aus Nürnberg. Er
11074
versicherte, daß er unsere Firma dem Namen nach sehr wohl kenne, und Du
11075
kannst Dir denken, Tom, welche Freude mir der respektvolle Ton machte,
11076
in welchem er das sagte. Auch erkundigte er sich genau nach uns, wie
11077
viele Geschwister wir seien und dergleichen mehr. Auch nach Erika und
11078
sogar nach Grünlich fragte er. Er kommt manchmal zu Niederpaurs und wird
11079
wohl morgen mit uns zum Würmsee fahren.
11081
Nun adieu, liebe Mama, ich kann nicht mehr schreiben. Bei Leben und
11082
Gesundheit, wie Du immer sagst, bleibe ich noch drei oder vier Wochen
11083
hier, und dann kann ich Euch mündlich von München erzählen, denn
11084
brieflich weiß ich nicht, womit ich anfangen soll. Aber es gefällt mir
11085
sehr gut, das kann ich sagen, nur müßte man sich eine Köchin auf
11086
anständige Saucen dressieren. Siehst Du, ich bin eine alte Frau, die das
11087
Leben hinter sich hat, und habe nichts mehr zu erwarten auf Erden, aber
11088
wenn zum Beispiel Erika später bei Leben und Gesundheit sich hierher
11089
verheiratete, so würde ich nichts dagegen haben, das muß ich sagen ...«
11091
Hier mußte der Konsul wieder aufhören, zu essen, und sich lachend in das
11094
»Sie ist unbezahlbar, Mutter! Wenn sie heucheln will, ist sie
11095
unvergleichlich! Ich schwärme für sie, weil sie einfach nicht imstande
11096
ist, sich zu verstellen, nicht über tausend Meilen weg ...«
11098
»Ja, Tom«, sagte die Konsulin; »sie ist ein gutes Kind, das alles Glück
11101
Dann las sie den Brief zu Ende ...
11106
Am Ende des April zog Frau Grünlich wieder im Elternhause ein, und
11107
obgleich nun abermals ein Stück Leben hinter ihr lag, obgleich das alte
11108
Dasein wieder begann, sie wieder den Andachten beiwohnen und am
11109
Jerusalemsabend Lea Gerhardt vorlesen hören mußte, befand sie sich ganz
11110
augenscheinlich in froher und hoffnungsvoller Stimmung.
11112
Gleich als ihr Bruder, der Konsul, sie vom Bahnhofe abgeholt hatte --
11113
sie war von Büchen gekommen -- und mit ihr durch das Holstentor in die
11114
Stadt gefahren war, hatte er nicht umhin gekonnt, ihr das Kompliment zu
11115
machen, daß -- nächst Klothilden -- sie doch noch immer die Schönste in
11116
der Familie sei, worauf sie geantwortet hatte: »O Gott, Tom, ich hasse
11117
dich! Eine alte Frau in dieser Weise zu verhöhnen ...«
11119
Aber es hatte trotzdem seine Richtigkeit: Madame Grünlich konservierte
11120
sich aufs vorteilhafteste, und angesichts ihres starken, aschblonden
11121
Haares, das zu beiden Seiten des Scheitels gepolstert, über den kleinen
11122
Ohren zurückgestrichen und auf der Höhe des Kopfes mit einem breiten
11123
Schildkrotkamm zusammengefaßt war -- angesichts des weichen Ausdrucks,
11124
der ihren graublauen Augen blieb, ihrer hübschen Oberlippe, des feinen
11125
Ovals und der zarten Farben ihres Gesichtes hätte man nicht auf dreißig,
11126
sondern auf dreiundzwanzig Jahre geraten. Sie trug höchst elegante
11127
herabhängende Ohrringe von Gold, die in etwas anderer Form schon ihre
11128
Großmutter getragen hatte. Eine lose sitzende Taille aus leichtem,
11129
dunklem Seidenstoff mit Atlasrevers und flachen Epaulettes von Spitzen
11130
gab ihrer Büste einen entzückenden Ausdruck von Weichheit ...
11132
Sie befand sich in bester Laune, wie gesagt, und erzählte Donnerstags,
11133
wenn Konsul Buddenbrooks und die Damen Buddenbrook aus der
11134
Breitenstraße, Konsul Krögers, Klothilde und Sesemi Weichbrodt mit Erika
11135
zu Tische kamen, aufs anschaulichste von München, von dem Biere, den
11136
Dampfnudeln, dem Kunstmaler, der sie hatte porträtieren wollen, und den
11137
Hofequipagen, die ihr den größten Eindruck gemacht hatten. Sie erwähnte
11138
im Vorübergehen auch des Herrn Permaneder, und gesetzt den Fall, daß
11139
Pfiffi Buddenbrook eine oder die andere Bemerkung darüber fallen ließ,
11140
daß so eine Reise ja recht angenehm sei, daß jedoch irgendein
11141
praktischer Erfolg sich nicht scheine eingestellt zu haben, so überhörte
11142
Frau Grünlich das mit einer unsäglichen Würde, indem sie den Kopf
11143
zurücklegte und trotzdem das Kinn auf die Brust zu drücken suchte ...
11145
Übrigens eignete sie sich die Gewohnheit an, immer, wenn die Glocke der
11146
Windfangtür über die große Diele schallte, auf den Treppenabsatz zu
11147
eilen, um zu sehen, wer käme ... Was mochte dies zu bedeuten haben? Das
11148
wußte wohl nur Ida Jungmann, Tonys Erzieherin und langjährige Vertraute,
11149
die hier und da etwas zu ihr sagte, wie: »Tonychen, mein Kindchen,
11150
sollst sehen, er wird kommen! Er wird doch kein Dujak sein wollen ...«
11152
Die einzelnen Familienglieder wußten der heimgekehrten Antonie Dank für
11153
ihre Heiterkeit; die Stimmung im Hause bedurfte dringend der
11154
Aufmunterung, und zwar aus dem Grunde, weil das Verhältnis zwischen dem
11155
Firmenchef und seinem jüngeren Bruder sich im Verlaufe der Zeit nicht
11156
gebessert, sondern in trauriger Weise verschlimmert hatte. Ihre Mutter,
11157
die Konsulin, die diesen Gang der Dinge mit Kummer verfolgte, hatte
11158
genug zu tun, zwischen den beiden notdürftig zu vermitteln ... Ihren
11159
Ermahnungen, das Kontor mit größerer Regelmäßigkeit zu besuchen, war
11160
Christian mit zerstreutem Schweigen begegnet, und diejenigen seines
11161
Bruders selbst hatte er mit einer ernsten, unruhigen und nachdenklichen
11162
Beschämung ohne Widerspruch über sich ergehen lassen, um dann während
11163
weniger Tage der englischen Korrespondenz mit etwas mehr Eifer
11164
obzuliegen. Mehr und mehr aber entwickelte sich in dem Älteren eine
11165
gereizte Verachtung gegen den Jüngeren, die dadurch nicht beeinträchtigt
11166
wurde, daß Christian ihre gelegentlichen Äußerungen ohne Gegenwehr und
11167
mit nachdenklich umherwandernden Augen entgegennahm.
11169
Thomas' angestrengte Tätigkeit, der Zustand seiner Nerven gestattete ihm
11170
nicht, mit Teilnahme oder Gelassenheit Christians eingehende
11171
Mitteilungen über seine wechselnden Krankheitserscheinungen anzuhören,
11172
und seiner Mutter oder Schwester gegenüber nannte er sie mit Unwillen
11173
»die albernen Ergebnisse einer widerwärtigen Selbstbeobachtung«.
11175
Die Qual, die unbestimmte Qual in Christians linkem Beine, war seit
11176
einiger Zeit mehreren äußerlichen Mitteln gewichen; die
11177
Schluckbeschwerden aber kehrten noch oft bei Tische wieder, und
11178
neuerdings war eine zeitweilige Atemnot, ein asthmatisches Übel
11179
hinzugetreten, das Christian während längerer Wochen für
11180
Lungenschwindsucht hielt und dessen Wesen und Wirkungen er seiner
11181
Familie mit gekrauster Nase in ausführlichen Beschreibungen mitzuteilen
11182
bemüht war. Doktor Grabow wurde zu Rate gezogen. Er stellte fest, daß
11183
Herz und Lunge recht kräftig arbeiteten, daß aber der gelegentliche
11184
Atemmangel auf eine gewisse Trägheit gewisser Muskeln zurückzuführen
11185
sei, und verordnete zur Erleichterung der Respiration erstens den
11186
Gebrauch eines Fächers, zweitens ein grünliches Pulver, das man
11187
entzünden und dessen Rauch man einatmen mußte. Des Fächers bediente
11188
Christian sich auch im Kontor, und auf einen Vorhalt des Chefs
11189
antwortete er, daß in Valparaiso jeder Kontorist schon der Hitze wegen
11190
einen Fächer besessen habe: »Johnny Thunderstorm ... du lieber Gott!«
11191
Als er aber eines Tages, nachdem er längere Zeit ernst und unruhig auf
11192
seinem Sessel hin und her gerückt, auch sein Pulver im Kontor aus der
11193
Tasche zog und einen so starken und übelriechenden Qualm entwickelte,
11194
daß mehrere Leute heftig zu husten begannen und Herr Marcus sogar ganz
11195
blaß wurde ... da gab es einen öffentlichen Eklat, einen Skandal, eine
11196
fürchterliche Auseinandersetzung, die zum sofortigen Bruch geführt haben
11197
würde, hätte nicht die Konsulin noch einmal alles vertuscht, mit
11198
Vernunft besprochen und zum Guten gewandt ...
11200
Es war nicht dies allein. Auch das Leben, das Christian außerhalb des
11201
Hauses, und zwar meistens gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Doktor Gieseke,
11202
seinem Schulkameraden, führte, verfolgte der Konsul mit Widerwillen. Er
11203
war kein Mucker und Spielverderber. Er erinnerte sich wohl seiner
11204
eigenen Jugendsünden. Er wußte wohl, daß seine Vaterstadt, diese Hafen-
11205
und Handelsstadt, in der die geschäftlich hochachtbaren Bürger mit so
11206
unvergleichlich ehrenfester Miene das Trottoir mit ihren Spazierstöcken
11207
stießen, keineswegs die Heimstätte makelloser Moralität sei. Man
11208
entschädigte sich hier für seine auf dem Kontorbock seßhaft verbrachten
11209
Tage nicht nur mit schweren Weinen und schweren Gerichten ... Aber ein
11210
dicker Mantel von biederer Solidität bedeckte diese Entschädigungen, und
11211
wenn es Konsul Buddenbrooks erstes Gesetz war, »die Dehors zu wahren«,
11212
so zeigte er sich in dieser Beziehung durchdrungen von der
11213
Weltanschauung seiner Mitbürger. Der Rechtsanwalt Gieseke gehörte zu den
11214
»Gelehrten«, die sich der Daseinsform der »Kaufleute« behaglich
11215
anpaßten, und zu den notorischen »Suitiers«, was ihm übrigens jedermann
11216
ansehen konnte. Aber wie die übrigen behäbigen Lebemänner verstand er
11217
es, die richtige Miene dazu zu machen, Ärgernis zu vermeiden und seinen
11218
politischen und beruflichen Grundsätzen den Ruf unanfechtbarer Solidität
11219
zu wahren. Seine Verlobung mit einem Fräulein Huneus war soeben publik
11220
geworden. Er erheiratete also einen Platz in der ersten Gesellschaft und
11221
eine bedeutende Mitgift. Er war mit stark unterstrichenem Interesse in
11222
städtischen Angelegenheiten tätig, und man sagte sich, daß er sein
11223
Augenmerk auf einen Sitz im Rathause und zuletzt wohl auf den Sessel des
11224
alten Bürgermeisters Doktor Överdieck gerichtet halte.
11226
Christian Buddenbrook aber, sein Freund, derselbe, der einst
11227
entschlossenen Schrittes zu Mademoiselle Meyer-de la Grange gegangen
11228
war, ihr sein Blumenbukett gegeben und zu ihr gesagt hatte: »O Fräulein,
11229
wie schön haben Sie gespielt!« -- Christian hatte sich infolge seines
11230
Charakters und seiner langen Wanderjahre zu einem Suitier von viel zu
11231
naiver und unbekümmerter Art entwickelt und war in Herzenssachen so
11232
wenig wie im übrigen geneigt, seinen Empfindungen Zwang anzutun,
11233
Diskretion zu üben, die Würde zu wahren. Über sein Verhältnis zu einer
11234
Statistin vom Sommertheater zum Beispiel amüsierte sich die ganze Stadt,
11235
und Frau Stuht aus der Glockengießerstraße, dieselbe, die in den ersten
11236
Kreisen verkehrte, erzählte es jeder Dame, die es hören wollte, daß
11237
»Krischan« wieder einmal mit der vom »Tivoli« auf offener, hellichter
11238
Straße gesehen worden sei.
11240
Auch das nahm man nicht übel ... Man war von einer zu biderben Skepsis,
11241
um ernstlich moralische Entrüstung an den Tag zu legen. Christian
11242
Buddenbrook und etwa Konsul Peter Döhlmann, den sein gänzlich
11243
darniederliegendes Geschäft veranlaßte, in ähnlich harmloser Weise zu
11244
Werke zu gehen, waren als Amüseurs beliebt und in Herrengesellschaft
11245
geradezu unentbehrlich. Aber sie waren eben nicht ernst zu nehmen; sie
11246
zählten in ernsthaften Angelegenheiten nicht mit; es war bezeichnend,
11247
daß in der ganzen Stadt, im Klub, an der Börse, am Hafen, nur ihre
11248
Vornamen genannt wurden: »Krischan« und »Peter«, und Übelwollenden, wie
11249
den Hagenströms, stand es frei, nicht über Krischans Geschichten und
11250
Späße, sondern über Krischan selbst zu lachen.
11252
Er dachte daran nicht oder ging, seiner Art gemäß, nach einem Augenblick
11253
seltsam unruhigen Nachdenkens darüber hinweg. Sein Bruder, der Konsul,
11254
aber wußte es; er wußte, daß Christian den Widersachern der Familie
11255
einen Angriffspunkt bot, und ... es waren der Angriffspunkte bereits zu
11256
viele. Die Verwandtschaft mit den Överdiecks war weitläufig und würde
11257
nach dem Tode des Bürgermeisters ganz wertlos sein. Die Krögers spielten
11258
gar keine Rolle mehr, lebten zurückgezogen und hatten arge Geschichten
11259
mit ihrem Sohne ... Des seligen Onkel Gotthold Mißheirat blieb etwas
11260
Unangenehmes ... Des Konsuls Schwester war eine geschiedene Frau, wenn
11261
man auch die Hoffnung auf ihre Wiedervermählung nicht fahren zu lassen
11262
brauchte -- und sein Bruder sollte ein lächerlicher Mensch sein, durch
11263
dessen Clownerien sich tätige Herren mit wohlwollendem oder höhnischem
11264
Lachen die Mußestunden ausfüllen ließen, der zu alledem Schulden machte
11265
und am Ende des Quartals, wenn er kein Geld mehr hatte, sich ganz
11266
offenkundig von Doktor Gieseke freihalten ließ ... eine unmittelbare
11269
Die gehässige Verachtung, die Thomas auf seinem Bruder ruhen ließ und
11270
die dieser mit einer nachdenklichen Indifferenz ertrug, äußerte sich in
11271
all den feinen Kleinlichkeiten, wie sie nur zwischen Familiengliedern,
11272
die aufeinander angewiesen sind, zutage treten. Kam zum Beispiel das
11273
Gespräch auf die Geschichte der Buddenbrooks, so konnte Christian in die
11274
Stimmung geraten, die ihm allerdings nicht sehr gut zu Gesichte stand,
11275
mit Ernst, Liebe und Bewunderung von seiner Vaterstadt und seinen
11276
Vorfahren zu reden. Alsbald beendete der Konsul mit einer kalten
11277
Bemerkung das Gespräch. Er ertrug das nicht. Er verachtete seinen Bruder
11278
so sehr, daß er ihm nicht gestattete, dort zu lieben, wo er selbst
11279
liebte. Er hätte es viel lieber gehört, wenn Christian im Dialekte
11280
Marcellus Stengels davon gesprochen hätte. Er hatte ein Buch gelesen,
11281
irgendein historisches Werk, das starken Eindruck auf ihn gemacht und
11282
das er mit bewegten Worten rühmte. Christian, ein unselbständiger Kopf,
11283
der das Buch allein gar nicht ausfindig gemacht haben würde, aber
11284
eindrucksfähig und jeder Beeinflussung zugänglich, las es, in dieser
11285
Weise vorbereitet und empfänglich gemacht, nun gleichfalls, fand es ganz
11286
herrlich, gab seinen Empfindungen möglichst genauen Ausdruck ... und
11287
fortan war das Buch für Thomas erledigt. Er sprach mit Gleichgültigkeit
11288
und Kälte davon. Er tat, als habe er es kaum gelesen. Er überließ seinem
11289
Bruder, es allein zu bewundern ...
11294
Konsul Buddenbrook kehrte aus der »Harmonie«, dem Lesezirkel für Herren,
11295
in dem er nach dem zweiten Frühstück eine Stunde verbracht hatte, in die
11296
Mengstraße zurück. Er durchschritt das Grundstück von hinten, kam rasch
11297
zur Seite des Gartens über den gepflasterten Gang, der, zwischen
11298
bewachsenen Mauern hinlaufend, den hinteren Hof mit dem vorderen
11299
verband, ging über die Diele und rief in die Küche hinein, ob sein
11300
Bruder zu Hause sei; man solle ihn benachrichtigen, wenn er käme. Dann
11301
schritt er durch das Kontor, wo die Leute an den Pulten bei seinem
11302
Erscheinen sich tiefer über die Rechnungen beugten, in sein
11303
Privatbureau, legte Hut und Stock beiseite, zog den Arbeitsrock an und
11304
begab sich an seinen Fensterplatz, Herrn Marcus gegenüber. Zwei Falten
11305
standen zwischen seinen auffallend hellen Brauen. Das gelbe Mundstück
11306
einer aufgerauchten russischen Zigarette wanderte unruhig von einem
11307
Mundwinkel in den anderen. Die Bewegungen, mit denen er Papier und
11308
Schreibzeug zur Hand nahm, waren so kurz und schroff, daß Herr Marcus
11309
sich mit zwei Fingern bedächtig den Schnurrbart strich und einen ganz
11310
langsamen, prüfenden Blick zu seinem Sozius gleiten ließ, während die
11311
jungen Leute sich mit erhobenen Augenbrauen ansahen. Der Chef war im
11314
Nach Verlauf einer halben Stunde, während der man nichts als das Kratzen
11315
der Federn und das bedächtige Räuspern des Herrn Marcus vernommen hatte,
11316
blickte der Konsul über den grünen Fenstervorsatz hinweg und sah
11317
Christian die Straße daherkommen. Er rauchte. Er kam aus dem Klub, wo er
11318
gefrühstückt und ein kleines Jeu gemacht hatte. Er trug den Hut ein
11319
wenig schief in der Stirn und schwenkte seinen gelben Stock, der »von
11320
drüben« stammte und dessen Knopf die in Ebenholz geschnitzte Büste einer
11321
Nonne darstellte. Ersichtlich war er bei guter Gesundheit und bester
11322
Laune. Irgendeinen _song_ vor sich hinsummend, kam er ins Kontor, sagte
11323
»Morgen, meine Herren!«, wiewohl es ein heller Frühlingsnachmittag war,
11324
und schritt auf seinen Platz zu, um »mal eben ein bißchen zu arbeiten«.
11325
Aber der Konsul erhob sich, und im Vorübergehen sagte er, ohne ihn
11326
anzublicken: »Ach ... auf zwei Worte, mein Lieber.«
11328
Christian folgte ihm. Sie gingen ziemlich rasch über die Diele. Thomas
11329
hatte die Hände auf den Rücken gelegt, und unwillkürlich tat Christian
11330
dasselbe, wobei er dem Bruder seine große Nase zuwandte, die oberhalb
11331
des englisch über den Mund hängenden rotblonden Schnurrbartes scharf,
11332
knochig und gebogen zwischen den hohlen Wangen hervortrat. Während sie
11333
über den Hof gingen, sagte Thomas: »Du mußt mich mal ein paar Schritte
11334
durch den Garten begleiten, mein Freund.«
11336
»Schön«, antwortete Christian. Und dann folgte wieder ein längeres
11337
Schweigen, während sie, links herum, auf dem äußeren Wege, an der
11338
Rokokofassade des »Portals« vorbei, den Garten umschritten, der die
11339
ersten Knospen trieb. Schließlich sagte der Konsul nach einem schnellen
11340
Aufatmen mit lauter Stimme: »Ich habe eben schweren Ärger gehabt, und
11341
zwar infolge deines Betragens.«
11345
»Ja. -- Man hat mir in der `Harmonie´ von einer Bemerkung erzählt, die
11346
du gestern abend im Klub hast fallen lassen, und die so deplaziert, so
11347
über alle Begriffe taktlos war, daß ich keine Worte finde ... Die
11348
Blamage hat nicht auf sich warten lassen. Es ist dir eine klägliche
11349
Abfertigung zuteil geworden. Hast du Lust, dich zu erinnern?«
11351
»Ach ... nun weiß ich, was du meinst. -- Wer hat dir denn das erzählt?«
11353
»Was tut das zur Sache. -- Döhlmann. -- Mit einer Stimme
11354
selbstverständlich, daß die Leute, die die Geschichte etwa noch nicht
11355
kannten, sich nun ebenfalls darüber freuen können ...«
11357
»Ja, Tom, ich muß dir sagen ... Ich habe mich für Hagenström geschämt!«
11359
»Du hast dich für ... Aber das ist denn doch ... Höre mal!« rief der
11360
Konsul, indem er beide Hände, die Innenflächen nach oben, vor sich
11361
ausstreckte und sie, mit seitwärts geneigtem Kopfe, erregt
11362
demonstrierend schüttelte. »Du sagst in einer Gesellschaft, die sowohl
11363
aus Kaufleuten als aus Gelehrten besteht, daß alle es hören können:
11364
Eigentlich und bei Lichte besehen sei doch jeder Geschäftsmann ein
11365
Gauner ... du, selbst ein Kaufmann, Angehöriger einer Firma, die aus
11366
allen Kräften nach absoluter Integrität, nach makelloser Solidität
11369
»Lieber Himmel, Thomas, ich machte Spaß!... Obgleich ... eigentlich ...«
11370
fügte Christian hinzu, indem er die Nase krauste und den Kopf ein wenig
11371
schräge nach vorne schob ... In dieser Haltung machte er mehrere
11374
»Spaß! Spaß!« rief der Konsul. »Ich bilde mir ein, einen Spaß zu
11375
verstehen, aber du hast ja gesehen, wie der Spaß verstanden worden ist!
11376
`Ich meinerseits halte meinen Beruf =sehr= hoch´, hat Hermann Hagenström
11377
dir geantwortet ... Und da saßest du nun, ein verbummelter Mensch, der
11378
von seinem eignen Beruf nichts hält ...«
11380
»Ja, Tom, ich bitte dich, was sagst du dazu! Ich versichere dich, die
11381
ganze Gemütlichkeit war plötzlich zum Teufel. Die Leute lachten, als ob
11382
sie mir recht gaben. Und da sitzt dieser Hagenström und sagt
11383
fürchterlich ernst: `Ich meinerseits ...´ Der dumme Kerl. Ich habe mich
11384
wahrhaftig für ihn geschämt. Noch gestern abend im Bett habe ich lange
11385
darüber nachgedacht und hatte ein ganz sonderbares Gefühl dabei ... Ich
11386
weiß nicht, ob du das kennst ...«
11388
»Schwatze nicht, ich bitte dich, schwatze nicht!« unterbrach ihn der
11389
Konsul. Er zitterte am ganzen Körper vor Unwillen. »Ich gebe ja zu ...
11390
ich gebe dir ja zu, daß die Antwort vielleicht nicht der Stimmung
11391
entsprach, daß sie geschmacklos war. Aber man sucht sich eben die Leute
11392
aus, zu denen man dergleichen sagt ... wenn es schon einmal durchaus
11393
gesagt werden muß ... und setzt sich nicht in seiner Albernheit einer so
11394
schnöden Abfertigung aus! Hagenström hat die Gelegenheit benutzt, uns
11395
... ja, nicht nur dir, sondern =uns= eins zu versetzen, denn weißt du,
11396
was sein `Ich meinerseits´ bedeutete? `Solche Erkenntnisse verschaffen
11397
Sie sich wohl im Kontor Ihres Bruders, Herr Buddenbrook?´ =Das=
11398
bedeutete es, du Esel!«
11400
»Na ... Esel ...«, sagte Christian und machte ein verlegenes und
11401
unruhiges Gesicht ...
11403
»Schließlich gehörst du nicht dir allein an«, fuhr der Konsul fort,
11404
»aber trotzdem soll es mir gleichgültig sein, wenn du dich persönlich
11405
lächerlich machst ... und womit machst du dich =nicht= lächerlich!« rief
11406
er. Er war blaß, und die blauen Äderchen an seinen schmalen Schläfen,
11407
von denen das Haar in zwei Einbuchtungen zurücktrat, waren deutlich zu
11408
sehen. Eine seiner hellen Brauen hielt er emporgezogen, und selbst die
11409
steifen, lang ausgezogenen Spitzen seines Schnurrbartes hatten etwas
11410
Zorniges, während er mit hinwerfenden Handbewegungen seine Worte
11411
seitwärts vor Christians Füße hin auf den Kiesweg niedersprach ... »Du
11412
machst dich lächerlich mit deinen Liebschaften, mit deinen
11413
Harlekiniaden, mit deinen Krankheiten, mit deinen Mitteln dagegen ...«
11415
»Oh, Thomas«, sagte Christian, schüttelte ganz ernsthaft den Kopf und
11416
hob in etwas ungeschickter Weise einen Zeigefinger empor ... »Was das
11417
betrifft, das kannst du nicht so ganz verstehen, siehst du ... Die Sache
11418
ist die ... Man muß sozusagen sein Gewissen in Ordnung halten ... Ich
11419
weiß nicht, ob du das kennst ... Grabow hat mir eine Salbe für die
11420
Halsmuskeln verordnet ... gut! Gebrauche ich sie nicht, unterlasse ich
11421
es, sie zu gebrauchen, so komme ich mir ganz verloren und hilflos vor,
11422
bin unruhig und unsicher und ängstlich und in Unordnung und kann nicht
11423
schlucken. Habe ich sie aber gebraucht, so fühle ich, daß ich meine
11424
Pflicht getan habe und in Ordnung bin; dann habe ich ein gutes Gewissen,
11425
bin still und zufrieden, und das Schlucken geht herrlich. Die Salbe tut
11426
es, glaube ich, nicht, weißt du ... aber die Sache ist, daß so eine
11427
Vorstellung, versteh mich recht, nur durch eine andere Vorstellung, eine
11428
Gegenvorstellung aufgehoben werden kann ... Ich weiß nicht, ob du das
11431
»Ach ja --! Ach ja --!« rief der Konsul und hielt einen Augenblick
11432
seinen Kopf mit beiden Händen fest ... »Tue es doch! Handele doch
11433
danach! Aber rede nicht darüber! Schwatze nicht darüber! Laß andere
11434
Leute mit deinen widerlichen Finessen in Ruhe! Auch mit dieser
11435
unanständigen Geschwätzigkeit machst du dich lächerlich vom Morgen bis
11436
zum Abend! Aber das sage ich dir, das wiederhole ich dir: Es soll mich
11437
kalt lassen, wie sehr du dich persönlich zum Narren machst; aber ich
11438
verbiete dir, hörst du mich wohl? ich =verbiete= es dir, die Firma in
11439
einer Weise zu kompromittieren, wie du es gestern abend getan hast!«
11441
Hierauf antwortete Christian nicht, sondern fuhr langsam mit der Hand
11442
über sein schon spärliches rötlichblondes Haar und ließ, einen unruhigen
11443
Ernst auf dem Gesichte, seine Augen haltlos und abwesend umherschweifen.
11444
Ohne Zweifel beschäftigte er sich noch mit dem, was er zuletzt gesagt
11445
hatte. Es herrschte eine Pause. Thomas schritt in stiller Verzweiflung
11448
»Alle Kaufleute sind Schwindler, sagst du«, begann er von neuem ...
11449
»Gut! bist du deines Berufes überdrüssig? Bereust du es, Kaufmann
11450
geworden zu sein? Du hast damals die Erlaubnis von Vater erwirkt ...«
11452
»Ja, Tom«, sagte Christian nachdenklich; »ich würde wahrhaftig lieber
11453
studieren! Auf der Universität, weißt du, das muß sehr nett sein ... Man
11454
geht hin, wenn man Lust hat, ganz freiwillig, setzt sich und hört zu,
11455
wie im Theater ...«
11457
»Wie im Theater ... Ach, ins _Café chantant_ gehörst du als Possenreißer
11458
... Ich scherze nicht! Es ist meine vollkommen ernsthafte Überzeugung,
11459
daß das dein heimliches Ideal ist!« beteuerte der Konsul, und Christian
11460
widersprach dem durchaus nicht; er blickte gedankenvoll in der Luft
11463
»Und du erfrechst dich, eine solche Bemerkung von dir zu geben, du, der
11464
du keine Ahnung ... nicht einmal eine Ahnung davon hast, was Arbeit ist,
11465
der du dein Leben ausfüllst, indem du dir mit Theater und Bummelei und
11466
Narreteien eine Reihe von Gefühlen und Empfindungen und Zuständen
11467
verschaffst, mit denen du dich beschäftigen, die du beobachten und
11468
pflegen, über die du in schamloser Weise schwatzen kannst ...«
11470
»Ja, Tom«, sagte Christian ein wenig betrübt und strich wieder mit der
11471
Hand über seinen Schädel. »Das ist wahr; das hast du ganz richtig
11472
ausgedrückt. Das ist der Unterschied zwischen uns, siehst du. Du siehst
11473
auch gern ein Theaterstück an und hast früher, unter uns gesagt, auch
11474
deine Techtelmechtel gehabt und lasest eine Zeitlang mal mit Vorliebe
11475
Romane und Gedichte und dergleichen ... Aber du hast es immer so gut
11476
verstanden, das alles mit der ordentlichen Arbeit und dem Ernst des
11477
Lebens zu verbinden ... Das geht mir ab, siehst du. Ich werde von dem
11478
anderen, von dem Kram, ganz und gar aufgebraucht, weißt du, und behalte
11479
für das Ordentliche gar nichts übrig ... Ich weiß nicht, ob du mich
11482
»Also, das siehst du ein!« rief Thomas, indem er stehenblieb und die
11483
Arme auf der Brust kreuzte. »Das gibst du kleinlaut zu, und dennoch läßt
11484
du alles beim alten! Bist du denn ein Hund, Christian?! Man hat doch
11485
seinen Stolz, Herrgott im Himmel! Man führt doch nicht ein Leben fort,
11486
das man selbst nicht einmal zu verteidigen wagt! Aber so bist du! =Das=
11487
ist dein Wesen! Wenn du eine Sache nur einsiehst und verstehst und sie
11488
beschreiben kannst ... Nein, meine Geduld ist zu Ende, Christian!« Und
11489
der Konsul tat einen raschen Schritt rückwärts, wobei er mit dem Arme
11490
waagrecht eine heftige Bewegung machte ... »Sie ist zu Ende, sage ich
11491
dir! Du beziehst deine Prokura, aber du kommst niemals ins Kontor ...
11492
das ist es nicht, was mich aufbringt. Gehe hin und verjökele dein Leben,
11493
wie du es bisher getan! Aber du kompromittierst uns, uns alle, wo du
11494
gehst und stehst! Du bist ein Auswuchs, eine ungesunde Stelle am Körper
11495
unserer Familie! Du bist vom Übel hier in dieser Stadt, und wenn dies
11496
Haus mein eigen wäre, so würde ich dich hinausweisen, da hinaus, zur
11497
Türe hinaus!« schrie er, indem er eine wilde und weite Bewegung über den
11498
Garten, den Hof, die große Diele hin vollführte ... Er hielt nicht mehr
11499
an sich. Eine lange aufgespeicherte Menge von Wut entlud sich ...
11501
»Was fällt dir ein, Thomas!« sagte Christian. Er hatte einen Anfall von
11502
Entrüstung, was sich ziemlich sonderbar ausnahm. Er stand da in der
11503
Haltung, die oft Krummbeinigen eigen ist, ein wenig geknickt, ein wenig
11504
fragezeichenartig, Kopf, Bauch und Knie nach vorn geschoben, und seine
11505
runden, tiefliegenden Augen, die er so groß wie möglich machte, hatten
11506
sich, wie bei seinem Vater, wenn er zornig war, mit roten Rändern
11507
umgeben, die bis zu den Wangenknochen liefen. »Wie sprichst du zu mir!«
11508
sagte er. »Was habe ich dir getan! Ich gehe schon von selbst, du
11509
brauchst mich nicht hinauszuwerfen. -- =Pfui!=« fügte er mit
11510
aufrichtigem Vorwurf hinzu, und dieses Wort begleitete er mit einer
11511
kurzen, schnappenden Handbewegung nach vorn, als finge er eine Fliege.
11513
Merkwürdigerweise entgegnete Thomas hierauf durchaus nicht noch
11514
heftiger, sondern senkte schweigend den Kopf und nahm dann langsam den
11515
Weg um den Garten wieder auf. Es schien ihn zu befriedigen, ihm geradezu
11516
wohlzutun, seinen Bruder endlich in Zorn gebracht ... ihn endlich zu
11517
einer energischen Erwiderung, einem Protest vermocht zu haben.
11519
»Du kannst mir glauben«, sagte er ruhig, indem er die Hände wieder auf
11520
dem Rücken zusammenlegte, »daß diese Unterredung mir aufrichtig leid
11521
tut, Christian, aber sie mußte einmal stattfinden. Solche Szenen
11522
innerhalb der Familie sind etwas Fürchterliches, aber aussprechen mußten
11523
wir uns einmal ... und wir können ganz gelassen über die Dinge reden,
11524
mein Junge. Du gefällst dir nicht in deiner jetzigen Position, wie ich
11525
sehe, nicht wahr ...?«
11527
»Nein, Tom, das hast du richtig erkannt. Siehst du: zu Anfang war ich ja
11528
außerordentlich zufrieden ... und ich habe es hier ja auch besser, als
11529
in einem fremden Geschäft. Aber was mir fehlt, ist die Selbständigkeit,
11530
glaube ich ... Ich habe dich immer beneidet, wenn ich dich sitzen sah
11531
und arbeiten, denn es ist eigentlich gar keine Arbeit für dich; du
11532
arbeitest nicht, weil du mußt, sondern als Herr und Chef, und läßt
11533
andere für dich arbeiten und machst deine Berechnungen und regierst und
11534
bist frei ... Das ist ganz etwas anderes ...«
11536
»Gut, Christian; hättest du das nicht schon früher sagen können? Es
11537
steht dir doch frei, dich selbständig oder selbständiger zu machen. Du
11538
weißt, daß Vater dir so gut wie mir ein vorläufiges Erbteil von 50000
11539
Kurantmark ausgesetzt hat und daß ich selbstverständlicherweise in jeder
11540
Sekunde bereit bin, dir diese Summe zu einer vernünftigen und soliden
11541
Verwertung auszuzahlen. Es gibt, in Hamburg oder wo auch immer, sichere,
11542
aber beschränkte Geschäfte genug, die einen Kapitalzufluß gebrauchen
11543
können und in denen du als Teilhaber eintreten könntest ... Laß uns,
11544
jeder für sich, die Sache mal überlegen und gelegentlich auch mit Mutter
11545
darüber sprechen. Ich habe jetzt zu tun, und du könntest in diesen Tagen
11546
die englische Korrespondenz noch erledigen, bitte ...«
11548
»Wie denkst du zum Beispiel über H. C. F. Burmeester & Comp. in
11549
Hamburg?« fragte er noch auf der Diele ... »Import und Export ... Ich
11550
kenne den Mann. Ich bin überzeugt, daß er zugreifen würde ...«
11554
Das war Ende Mai des Jahres siebenundfünfzig. Zu Beginn des Juni bereits
11555
reiste Christian über Büchen nach Hamburg ab ... ein schwerer Verlust
11556
für den Klub, das Stadttheater, das »Tivoli« und die ganze freiere
11557
Geselligkeit der Stadt. Sämtliche »Suitiers«, darunter Doktor Gieseke
11558
und Peter Döhlmann, verabschiedeten ihn am Bahnhofe und überbrachten ihm
11559
Blumen und sogar Zigarren, wobei sie aus Leibeskräften lachten ... in
11560
der Erinnerung ohne Zweifel an all die Geschichten, die Christian ihnen
11561
erzählt hatte. Zum Schlusse befestigte Rechtsanwalt Doktor Gieseke unter
11562
allgemeinem Hallo einen großen Kotillonorden aus Goldpapier an
11563
Christians Paletot. Dieser Orden stammte aus einem Hause in der Nähe des
11564
Hafens, einem Gasthause, das abends eine rote Laterne über der Haustür
11565
führte, einem Orte zwangloser Zusammenkunft, an dem es stets heiter
11566
herging ... und war dem scheidenden Krischan Buddenbrook für
11567
hervorragende Verdienste verliehen worden.
11572
Es klingelte am Windfang, und ihrer neuen Gewohnheit gemäß erschien Frau
11573
Grünlich auf dem Treppenabsatz, um über das weißlackierte Geländer
11574
hinweg auf die Diele hinabzulugen. Kaum aber war drunten geöffnet
11575
worden, als sie sich mit einem jähen Ruck noch weiter hinabbeugte, dann
11576
zurückprallte, dann mit der einen Hand ihr Taschentuch vor den Mund
11577
drückte, mit der anderen ihre Röcke zusammenfaßte und in etwas gebückter
11578
Haltung nach oben eilte ... Auf der Treppe zur zweiten Etage begegnete
11579
ihr Mamsell Jungmann, der sie mit ersterbender Stimme etwas zuflüsterte,
11580
worauf Ida vor freudigem Schreck etwas Polnisches antwortete, das klang
11581
wie: »Meiboschekochhanne!« --
11583
Zur selben Zeit saß die Konsulin Buddenbrook im Landschaftszimmer und
11584
häkelte mit zwei großen hölzernen Nadeln einen Schal, eine Decke oder
11585
etwas Ähnliches. Es war elf Uhr vormittags.
11587
Plötzlich kam das Folgmädchen durch die Säulenhalle, pochte an die
11588
Glastür und überbrachte der Konsulin watschelnden Schrittes eine
11589
Visitenkarte. Die Konsulin nahm die Karte, rückte ihre Brille zurecht,
11590
denn sie trug bei der Handarbeit eine Brille, und las. Dann blickte sie
11591
wieder zu dem roten Gesichte des Mädchens empor, las abermals und sah
11592
aufs neue das Mädchen an. Schließlich sagte sie freundlich, aber
11593
bestimmt: »Was soll dies, Liebe? Was bedeutet dies, du?«
11595
Auf der Karte stand gedruckt: »X. Noppe & Comp.« X. Noppe aber sowohl
11596
wie das &-Zeichen waren mit einem Blaustift stark durchstrichen, so daß
11597
nur das »Comp.« übrigblieb.
11599
»Je, Fru Kunsel«, sagte das Mädchen, »doar wier'n Herr, öäwer hei red'
11600
nich dütsch un is ook goar tau snaksch ...«
11602
»Bitte den Herrn«, sagte die Konsulin, denn sie begriff nun, daß es die
11603
»Comp.« sei, die Einlaß begehrte. Das Mädchen ging. Gleich darauf
11604
öffnete es die Glastür aufs neue und ließ eine untersetzte Gestalt
11605
eintreten, die im schattigen Hintergrunde des Zimmers einen Augenblick
11606
stehenblieb und etwas Langgezogenes verlauten ließ, das klang wie: »Hab'
11609
»Guten Morgen!« sagte die Konsulin. »Wollen Sie nicht nähertreten?«
11610
Dabei stützte sie sich leicht mit der Hand auf das Sofapolster und erhob
11611
sich ein wenig, denn sie wußte noch nicht, ob es angezeigt sei, sich
11612
ganz zu erheben ...
11614
»I bin so frei ...«, antwortete der Herr wiederum mit einer gemütlich
11615
singenden und gedehnten Betonung, indem er, höflich gebückt, zwei
11616
Schritte vorwärts tat, worauf er abermals stehenblieb und sich suchend
11617
umblickte: sei es nun nach einer Sitzgelegenheit oder nach einem
11618
Aufbewahrungsort für Hut und Stock, denn beides, auch den Stock, dessen
11619
klauenartig gebogene Hornkrücke gut und gern anderthalb Fuß maß, hatte
11620
er mit ins Zimmer gebracht.
11622
Es war ein Mann von vierzig Jahren. Kurzgliedrig und beleibt, trug er
11623
einen weit offenstehenden Rock aus braunem Loden, eine helle und
11624
geblümte Weste, die in weicher Wölbung seinen Bauch bedeckte und auf der
11625
eine goldene Uhrkette mit einem wahren Bukett, einer ganzen Sammlung von
11626
Anhängseln aus Horn, Knochen, Silber und Korallen prangte -- ein
11627
Beinkleid ferner von unbestimmter graugrüner Farbe, welches zu kurz war
11628
und aus ungewöhnlich steifem Stoff gearbeitet schien, denn seine Ränder
11629
umstanden unten kreisförmig und faltenlos die Schäfte der kurzen und
11630
breiten Stiefel. -- Der hellblonde, spärliche, fransenartig den Mund
11631
überhängende Schnurrbart gab dem kugelrunden Kopfe mit seiner
11632
gedrungenen Nase und seinem ziemlich dünnen und unfrisierten Haar etwas
11633
Seehundartiges. Die »Fliege«, die der fremde Herr zwischen Kinn und
11634
Unterlippe trug, stand im Gegensatze zum Schnurrbart ein wenig borstig
11635
empor. Die Wangen waren außerordentlich dick, fett, aufgetrieben und
11636
gleichsam hinaufgeschoben zu den Augen, die sie zu zwei ganz schmalen,
11637
hellblauen Ritzen zusammenpreßten und in deren Winkeln sie Fältchen
11638
bildeten. Dies gab dem solcherart verquollenen Gesicht einen
11639
Mischausdruck von Ergrimmtheit und biederer, unbeholfener, rührender
11640
Gutmütigkeit. Unterhalb des kleinen Kinnes lief eine steile Linie in die
11641
schmale weiße Halsbinde hinein ... die Linie eines kropfartigen Halses,
11642
der keine Vatermörder geduldet haben würde. Untergesicht und Hals,
11643
Hinterkopf und Nacken, Wangen und Nase, alles ging ein wenig formlos und
11644
gepolstert ineinander über ... Die ganze Gesichtshaut war infolge aller
11645
dieser Schwellungen über die Gebühr straff gespannt und zeigte an
11646
einzelnen Stellen, wie am Ansatz der Ohrläppchen und zu beiden Seiten
11647
der Nase, eine spröde Rötung ... In der einen seiner kurzen, weißen und
11648
fetten Hände hielt der Herr seinen Stock, in der anderen ein grünes
11649
Tirolerhütchen, geschmückt mit einem Gemsbart.
11651
Die Konsulin hatte die Brille abgenommen und stützte sich noch immer in
11652
halb stehender Haltung auf das Sofapolster.
11654
»Wie kann ich Ihnen dienen«, sagte sie höflich, aber bestimmt.
11656
Da legte der Herr mit einer entschlossenen Bewegung Hut und Stock auf
11657
den Deckel des Harmoniums, rieb sich dann befriedigt die freigewordenen
11658
Hände, blickte die Konsulin treuherzig aus seinen hellen, verquollenen
11659
Äuglein an und sagte: »I bitt' die gnädige Frau um Verzeihung von wegen
11660
dem Kartl; i hob kei onderes zur Hond k'habt. Mei Name ist Permaneder;
11661
Alois Permaneder aus München. Vielleicht hat die gnädige Frau schon von
11662
der Frau Tochter meinen Namen k'hert --«
11664
Dies alles sagte er laut und mit ziemlich grober Betonung, in seinem
11665
knorrigen Dialekt voller plötzlicher Zusammenziehungen, aber mit einem
11666
vertraulichen Blinzeln seiner Augenritzen, welches andeutete: »Wir
11667
verstehen uns schon ...«
11669
Die Konsulin hatte sich nun völlig erhoben und trat mit seitwärts
11670
geneigtem Kopfe und ausgestreckten Händen auf ihn zu ...
11672
»Herr Permaneder! Sie sind es? Gewiß hat meine Tochter uns von Ihnen
11673
erzählt. Ich weiß, wie sehr Sie dazu beigetragen haben, ihr den
11674
Aufenthalt in München angenehm und unterhaltend zu machen ... Und Sie
11675
sind in unsere Stadt verschlagen worden?«
11677
»Geltn's, da schaun's!« sagte Herr Permaneder, indem er sich bei der
11678
Konsulin in einem Lehnsessel niederließ, auf den sie mit vornehmer
11679
Bewegung gedeutet hatte, und begann, mit beiden Händen behaglich seine
11680
kurzen und runden Oberschenkel zu reiben ...
11682
»Wie beliebt?« fragte die Konsulin ...
11684
»Geltn's, da spitzen's!« antwortete Herr Permaneder, indem er aufhörte,
11685
seine Knie zu reiben.
11687
»Nett!« sagte die Konsulin verständnislos und lehnte sich, die Hände im
11688
Schoß, mit erheuchelter Befriedigung zurück. Aber Herr Permaneder merkte
11689
das; er beugte sich vor, beschrieb, Gott weiß warum, mit der Hand Kreise
11690
in der Luft und sagte mit großer Kraftanstrengung: »Da tun sich die
11691
gnädige Frau halt ... wundern!«
11693
»Ja, ja, mein lieber Herr Permaneder, das ist wahr!« erwiderte die
11694
Konsulin freudig, und nachdem dies erledigt war, trat eine Pause ein. Um
11695
aber diese Pause auszufüllen, sagte Herr Permaneder mit einem ächzenden
11696
Seufzer: »Es is halt a Kreiz!«
11698
»Hm ... wie beliebt?« fragte die Konsulin, indem sie ihre hellen Augen
11699
ein wenig beiseite gleiten ließ ...
11701
»A Kreiz is'!« wiederholte Herr Permaneder außerordentlich laut und
11704
»Nett«, sagte die Konsulin begütigend; und somit war auch dieser Punkt
11707
»Darf man fragen«, fuhr sie fort, »was Sie so weit hergeführt hat,
11708
lieber Herr? Es ist eine tüchtige Reise von München ...«
11710
»A G'schäfterl«, sagte Herr Permaneder, indem er seine kurze Hand in der
11711
Luft hin und her drehte, »a kloans G'schäfterl, gnädige Frau, mit der
11712
Brauerei zur Walkmühle!«
11714
»Oh, richtig, Sie sind Hopfenhändler, mein lieber Herr Permaneder! Noppe
11715
& Comp., nicht wahr? Seien Sie überzeugt, ich habe von meinem Sohne, dem
11716
Konsul, hie und da viel Vorteilhaftes über Ihre Firma gehört«, sagte die
11717
Konsulin höflich. Aber Herr Permaneder wehrte ab: »Is scho recht. Davon
11718
is koa Red'. Ah, naa, die Hauptsach' is halt, daß i allweil den Wunsch
11719
k'habt hob, der gnädigen Frau amol mei Aufwartung z' mochn und die Frau
11720
Grünlich wiederzusehn! Dös is Sach' gnua, um die Reis' net z' scheun!«
11722
»Ich danke Ihnen«, sagte die Konsulin herzlich, indem sie ihm nochmals
11723
die Hand reichte, deren Fläche sie ganz weit herumwandte. »Aber nun soll
11724
man meine Tochter benachrichtigen!« fügte sie hinzu, stand auf und
11725
schritt auf den gestickten Klingelzug zu, der neben der Glastür hing.
11727
»Ja, Himmi Sakrament, werd' i a Freid' ha'm!« rief Herr Permaneder und
11728
drehte sich mitsamt seinem Lehnsessel der Tür zu.
11730
Die Konsulin befahl dem Mädchen: »Bitte Madame Grünlich herunter,
11733
Dann kehrte sie zum Sofa zurück, worauf auch Herr Permaneder seinen
11734
Sessel wieder herumdrehte.
11736
»Werd' i a Freid' ha'm ...« wiederholte er abwesend, indem er die
11737
Tapeten, das große Sevrestintenfaß auf dem Sekretär und die Möbel
11738
betrachtete. Dann sagte er mehrere Male: »Is dös a Kreiz!... Es is halt
11739
a Kreiz!...« wobei er sich die Knie rieb und ohne ersichtlichen Grund
11740
schwer seufzte. Dies füllte ungefähr die Zeit bis zu Frau Grünlichs
11743
Sie hatte entschieden ein wenig Toilette gemacht, eine helle Taille
11744
angelegt, ihre Frisur geordnet. Ihr Gesicht war frischer und hübscher
11745
denn je. Ihre Zungenspitze spielte verschmitzt in einem Mundwinkel ...
11747
Kaum war sie eingetreten, als Herr Permaneder emporsprang und ihr mit
11748
einer ungeheuren Begeisterung entgegenkam. Alles an ihm geriet in
11749
Bewegung. Er ergriff ihre beiden Hände, schüttelte sie und rief: »Ja,
11750
die Frau Grünlich! Ja, grüß Eana Gott! Ja, wie hat's denn derweil
11751
gegangen? was haben's denn allweil g'macht, da heroben? Jessas, hab' i a
11752
narrische Freid'! Denken's denn noch amol an d' Münchnerstadt und an
11753
unsre Berg'? O mei, ham wir a Gaudi k'habt, geltn's ja?! Kruzi Türken
11754
nei! und da san mer wieder! Jetzt wer hätt' denn des glaubt ...«
11756
Auch Tony ihrerseits begrüßte ihn mit großer Lebhaftigkeit, zog einen
11757
Stuhl herbei und begann, mit ihm von ihren Münchener Wochen zu plaudern
11758
... Die Unterhaltung floß nun ohne Hindernis dahin, und die Konsulin
11759
folgte ihr, indem sie Herrn Permaneder nachsichtig und ermunternd
11760
zunickte, diese oder jene seiner Redewendungen ins Schriftdeutsche
11761
übersetzte und sich dann jedesmal, zufrieden, daß sie es verstanden, ins
11764
Herr Permaneder mußte auch Frau Antonien nochmals den Grund seines
11765
Hierseins erklären, aber er legte diesem »G'schäfterl« mit der Brauerei
11766
ersichtlich so wenig Bedeutung bei, daß es den Anschein gewann, als habe
11767
er eigentlich gar nichts in der Stadt zu suchen. Dagegen erkundigte er
11768
sich mit Interesse nach der zweiten Tochter sowie nach den Söhnen der
11769
Konsulin und bedauerte laut die Abwesenheit Klaras und Christians, da er
11770
»allweil den Wunsch k'habt« habe, »die gonze Famili« kennenzulernen ...
11772
Über die Dauer seines Aufenthaltes in der Stadt äußerte er sich überaus
11773
unbestimmt; als aber die Konsulin bemerkte: »Ich erwarte in jedem
11774
Augenblick meinen Sohn zum Frühstück, Herr Permaneder; machen Sie uns
11775
das Vergnügen, ein Butterbrot mit uns zu essen ...?« -- da nahm er diese
11776
Einladung, noch ehe sie ausgesprochen war, mit einer Bereitwilligkeit
11777
an, als habe er darauf gewartet.
11779
Der Konsul kam. Er hatte das Frühstückszimmer leer gefunden und erschien
11780
im Kontorrock, eilig, ein wenig abgespannt und überhäuft, um zu einem
11781
flüchtigen Imbiß zu mahnen ... Aber kaum war er der fremden Erscheinung
11782
des Gastes mit seinen ungeheuren Uhrgehängen und seiner Lodenjacke sowie
11783
des Gemsbartes auf dem Harmonium gewahr geworden, als er aufmerksam den
11784
Kopf erhob, und kaum war der Name genannt worden, den er aus Frau
11785
Antoniens Munde oft genug gehört hatte, als er einen raschen Blick zu
11786
seiner Schwester hinüberwarf und Herrn Permaneder mit seiner
11787
gewinnendsten Liebenswürdigkeit begrüßte ... Er nahm nicht erst Platz.
11788
Man ging sofort ins Zwischengeschoß hinunter, wo Mamsell Jungmann den
11789
Tisch gedeckt hatte und den Samowar summen ließ -- einen echten Samowar,
11790
ein Geschenk des Pastors Tiburtius und seiner Gattin.
11792
»Ös tuats enk leicht!« sagte Herr Permaneder, als er sich niederließ und
11793
die Auswahl an kalter Küche auf dem Tische überblickte ... Hie und da,
11794
in der Mehrzahl wenigstens, bediente er sich mit dem harmlosesten
11795
Gesichtsausdruck der zweiten Person bei der Anrede.
11797
»Es ist nicht gerade Hofbräu, Herr Permaneder, aber immerhin
11798
genießbarer, als unser einheimisches Gebräu.« Und der Konsul schenkte
11799
ihm von dem braun schäumenden Porter ein, den er selbst um diese Zeit zu
11802
»I donk scheen, Herr Nachbohr!« sagte Herr Permaneder kauend und merkte
11803
nichts von dem entsetzten Blick, den Mamsell Jungmann ihm zuwarf. Von
11804
dem Porter aber genoß er mit solcher Zurückhaltung, daß die Konsulin
11805
eine Bouteille Rotwein heraufkommen ließ, worauf er merklich munterer
11806
wurde und wieder mit Frau Grünlich zu plaudern begann. Er saß, des
11807
Bauches wegen, ziemlich weit vom Tische entfernt, hielt seine Beine weit
11808
voneinander entfernt und ließ meistens den einen seiner kurzen Arme mit
11809
der feisten, weißen Hand senkrecht an der Stuhllehne hinunterhängen,
11810
während er, den dicken Kopf mit dem Seehundsschnurrbart ein wenig zur
11811
Seite gelegt, mit dem Ausdruck einer verdrießlichen Behaglichkeit und
11812
einem treuherzigen Blinzeln seiner Augenritzen, Tonys Reden und
11815
Mit zierlichen Bewegungen zerlegte sie ihm Brätlinge, worin er gar keine
11816
Übung besaß, und hielt nicht mit dieser oder jener Betrachtung über das
11819
»O Gott, wie traurig ist es doch, Herr Permaneder, daß alles Gute und
11820
Schöne im Leben so schnell vorübergeht!« sagte sie mit Bezug auf ihren
11821
Münchener Aufenthalt, legte für einen Augenblick Messer und Gabel fort
11822
und sah ernst zur Decke empor. Übrigens machte sie dann und wann ebenso
11823
drollige wie talentlose Versuche, in bayerischer Mundart zu sprechen ...
11825
Während der Mahlzeit pochte es, und der Kontorlehrling überbrachte ein
11826
Telegramm. Der Konsul las es, indem er die lange Spitze seines
11827
Schnurrbartes langsam durch die Finger gleiten ließ, und obgleich man
11828
sah, daß er angestrengt mit dem Inhalt der Depesche beschäftigt war,
11829
fragte er dabei im leichtesten Tone: »Wie gehen die Geschäfte, Herr
11832
»Es ist gut«, sagte er gleich darauf zu dem Lehrling, und der junge
11835
»O mei, Herr Nachbohr!« antwortete Herr Permaneder und wandte sich mit
11836
der Unbeholfenheit eines Mannes, der einen dicken und steifen Hals hat,
11837
nach des Konsuls Seite, um nun den anderen Arm an der Stuhllehne
11838
hinunterhängen zu lassen. »Do is nix'n z'red'n, dös is halt a Plog!
11839
Schaun's, München« -- er sprach den Namen seiner Vaterstadt stets in
11840
einer Weise aus, daß man nur erraten konnte, was gemeint war -- »München
11841
is koane G'schäftsstadt ... Da will an jeder sei' Ruh' und sei' Maß ...
11842
Und a Depeschen tuat ma fei nöt lesen beim Essen, dös fei net. Jetzt da
11843
haben's daheroben an onderen Schneid, Sakrament!... I donk scheen, i
11844
nehm' scho noch a Glaserl ... Es is a Kreiz! Mei' Kompagnon, der Noppe,
11845
hat allweil nach Nürnberg g'wollt, weil's da die Börs' ham und an
11846
Unternehmungsgeist ... aber i verloß mei München nöt ... Dös fei nöt! --
11847
Es is halt a Kreiz!... Schaun's, da hamer dö damische Konkurrenz, dö
11848
damische ... und der Export, dös is scho z'm Lochen ... Sogar in Rußland
11849
werden's nächstens anfangen, selber a Pflanzen z' bauen ...«
11851
Plötzlich aber warf er dem Konsul einen ungewöhnlich hurtigen Blick zu
11852
und sagte: »Übrigens ... i will nixen g'sagt ham, Herr Nachbohr! Dös is
11853
fei a nett's G'schäfterl! Mer machen a Geld mit der Aktien-Brauerei,
11854
wovon der Niederpaur Direktor is, wissen's. Dös is a ganz a kloane
11855
G'sellschaft g'wesen, aber mer ham eahna an Kredit geben und a bares
11856
Göld ... zu 4 Prozent, auf Hypothek ... damit's eahnere Gebäud' ham
11857
vergreßern können ... Und jatzt mochen's an G'schäft, und mer ham an
11858
Umsatz und a Jahreseinnahm' -- dös haut scho!« schloß Herr Permaneder,
11859
lehnte dankend Zigarette und Zigarre ab, zog, mit Verlaub, seine Pfeife
11860
mit langem Hornkopf aus der Tasche und ließ sich, von Qualm umhüllt, mit
11861
dem Konsul in ein geschäftliches Gespräch ein, welches sodann auf das
11862
politische Gebiet hinüberglitt und von Bayerns Verhältnis zu Preußen,
11863
vom Könige Max und dem Kaiser Napoleon handelte ... ein Gespräch, das
11864
Herr Permaneder hie und da mit vollkommen unverständlichen Redewendungen
11865
würzte, und dessen Pausen er ohne erkennbare Beziehung mit Stoßseufzern
11866
ausfüllte, wie: »Is dös a Hetz!« oder: »Des san G'schichten!« ...
11868
Mamsell Jungmann vergaß vor Erstaunen, auch wenn sie einen Bissen im
11869
Munde hatte, beständig zu kauen und blickte den Gast sprachlos aus ihren
11870
blanken, braunen Augen an, wobei sie, ihrer Gewohnheit nach, Messer und
11871
Gabel senkrecht auf dem Tische hielt, und beides leicht hin und her
11872
bewegte. Solche Laute hatten diese Räume noch nicht vernommen, solcher
11873
Pfeifenrauch hatte sie noch nicht erfüllt, solche verdrossen behagliche
11874
Formlosigkeit des Benehmens war ihnen fremd ... Die Konsulin verharrte,
11875
nachdem sie eine besorgte Erkundigung über die Anfechtungen eingezogen,
11876
denen eine so kleine evangelische Gemeinde unter lauter Papisten
11877
ausgesetzt sein mußte, in freundlicher Verständnislosigkeit, und Tony
11878
schien im Verlauf der Mahlzeit ein wenig nachdenklich und unruhig
11879
geworden zu sein. Der Konsul aber amüsierte sich ganz vortrefflich,
11880
bewog sogar seine Mutter, eine zweite Flasche Rotwein heraufkommen zu
11881
lassen und lud Herrn Permaneder lebhaft zu einem Besuche in der
11882
Breitenstraße ein; seine Frau werde außerordentlich erfreut sein ...
11884
Volle drei Stunden nach seiner Ankunft begann der Hopfenhändler
11885
Anstalten zum Aufbruch zu treffen, klopfte seine Pfeife aus, leerte sein
11886
Glas, erklärte irgend etwas für ein »Kreiz« und erhob sich.
11888
»I hob die Ähre, gnädige Frau ... Pfüaht Ihna Gott, Frau Grünlich ...
11889
Pfüaht Gott, Herr Buddenbrook ...« Bei dieser Anrede zuckte Ida Jungmann
11890
sogar zusammen und verfärbte sich ... »Guten Tag, Freilein ...« Er sagte
11891
beim Fortgehen »Guten Tag«!...
11893
Die Konsulin und ihr Sohn wechselten einen Blick ... Herr Permaneder
11894
hatte die Absicht kundgegeben, nun in den bescheidenen Gasthof an der
11895
Trave zurückzukehren, woselbst er abgestiegen war ...
11897
»Die Münchener Freundin meiner Tochter und ihr Gatte«, sagte die alte
11898
Dame, indem sie noch einmal auf Herrn Permaneder zutrat, »sind fern, und
11899
wir werden wohl nicht so bald Gelegenheit haben, uns für ihre
11900
Gastfreundschaft erkenntlich zu erweisen. Aber wenn Sie, lieber Herr,
11901
uns die Freude machen würden, solange Sie in unserer Stadt sind, bei uns
11902
vorlieb zu nehmen ... Sie würden uns herzlich willkommen sein ...«
11904
Sie hielt ihm die Hand hin, und siehe da: Herr Permaneder schlug ohne
11905
Bedenken ein; ebenso rasch und bereitwillig wie diejenige zum Frühstück
11906
nahm er auch diese Einladung an, küßte den beiden Damen die Hand, was
11907
ihm ziemlich merkwürdig zu Gesichte stand, holte Hut und Stock aus dem
11908
Landschaftszimmer, versprach nochmals, sogleich seinen Koffer
11909
herbeischaffen zu lassen und um vier Uhr, nach Erledigung seiner
11910
Geschäfte, wieder zur Stelle zu sein und ließ sich vom Konsul die Treppe
11911
hinunterbegleiten. Am Windfang aber wendete er sich noch einmal um und
11912
sprach mit einem stillbegeisterten Kopfschütteln: »Nix für ungut, Herr
11913
Nachbohr, Ihre Frau Schwester, dös is scho a liaber Kerl! Pfüaht Ihna
11914
Gott!« ... Und immer noch kopfschüttelnd verschwand er.
11916
Der Konsul empfand das dringendste Bedürfnis, sich nochmals hinauf zu
11917
begeben und nach den Damen umzusehen. Ida Jungmann lief bereits mit
11918
Bettwäsche im Hause umher, um eine Stube am Korridor herzurichten.
11920
Die Konsulin saß noch am Frühstückstisch, hielt ihre hellen Augen auf
11921
einen Fleck der Zimmerdecke gerichtet und trommelte mit ihren weißen
11922
Fingern leicht auf das Tischtuch. Tony saß am Fenster, hielt die Arme
11923
verschränkt und blickte weder rechts noch links, sondern mit würdiger
11924
und sogar strenger Miene geradeaus. Es herrschte Schweigen.
11926
»Nun?« fragte Thomas, indem er in der Tür stehenblieb und der Dose mit
11927
der Troika eine Zigarette entnahm ... Seine Schultern bewegten sich auf
11930
»Ein angenehmer Mann«, erwiderte die Konsulin harmlos.
11932
»Ganz meine Ansicht!« Dann machte der Konsul eine schnelle und überaus
11933
galante humoristische Wendung nach Tonys Seite, als befragte er
11934
ehrerbietigst auch sie um ihre Meinung. Sie schwieg. Sie blickte streng
11937
»Aber mich dünkt, Tom, er sollte das Fluchen lassen«, fuhr die Konsulin
11938
ein wenig bekümmert fort. »Verstand ich ihn recht, so sprach er in einer
11939
Weise vom Sakramente und vom Kreuze ...«
11941
»Oh, das macht nichts, Mutter, dabei denkt er nichts Böses ...«
11943
»Und vielleicht ein wenig zu viel Nonchalance im Benehmen, Tom, wie?«
11945
»Ja, lieber Gott, das ist süddeutsch!« sagte der Konsul, atmete langsam
11946
den Rauch in die Stube hinein, lächelte seiner Mutter zu und ließ
11947
verstohlen seine Augen auf Tony ruhen. Die Konsulin bemerkte das
11950
»Du kommst heute mit Gerda zu Tische, nicht wahr, Tom? Tut mir die
11953
»Gern, Mutter; mit dem größten Vergnügen. Ehrlich gesagt, ich verspreche
11954
mir viel Vergnügen von diesem Hausbesuch. Du nicht auch? Das ist doch
11955
einmal etwas anderes, als deine Geistlichen ...«
11957
»Jeder nach seiner Art, Tom.«
11959
»Einverstanden! Ich gehe ... Apropos!« sagte er, den Türgriff in der
11960
Hand. »Du hast entschiedenen Eindruck auf ihn gemacht, Tony! Nein, ganz
11961
ohne Zweifel! Weißt du, wie er dich eben da unten genannt hat? `Ein
11962
lieber Kerl´ -- das sind seine Worte ...«
11964
Hier aber wandte Frau Grünlich sich um und sagte mit lauter Stimme:
11965
»Gut, Tom, du erzählst mir dies ... er wird es dir wohl nicht verboten
11966
haben, aber trotzdem weiß ich nicht, ob es passend ist, daß du es mir
11967
hinterbringst. Das aber weiß ich, und das möchte ich denn doch
11968
aussprechen, daß es in diesem Leben nicht darauf ankommt, wie etwas
11969
ausgesprochen und ausgedrückt wird, sondern wie es im Herzen gemeint und
11970
empfunden ist, und wenn du dich über Herrn Permaneders Ausdrucksweise
11971
mokierst ... wenn du ihn etwa lächerlich findest ...«
11973
»Wen?! Aber Tony, ich denke gar nicht daran! Worüber ereiferst du
11976
»_Assez!_« sagte die Konsulin und warf ihrem Sohne einen ernsten und
11977
bittenden Blick zu, welcher bedeutete: Schone sie!
11979
»Na, nicht böse sein, Tony!« sagte er. »Ich habe dich nicht ärgern
11980
wollen. So, und nun gehe ich und gebe Order, daß jemand von den
11981
Speicherleuten den Koffer hierherbesorgt ... Auf Wiedersehn!«
11986
Herr Permaneder zog in der Mengstraße ein, er speiste am folgenden Tage
11987
bei Thomas Buddenbrook und seiner Gattin und machte am dritten, einem
11988
Donnerstag, die Bekanntschaft Justus Krögers und seiner Frau, der Damen
11989
Buddenbrook aus der Breitenstraße, die ihn forchtbar komisch fanden --
11990
sie sagten »forchtbar« ... Sesemi Weichbrodts, die ihn ziemlich streng
11991
behandelte, sowie diejenige der armen Klothilde und der kleinen Erika,
11992
welcher er eine Tüte mit »Gutzeln«, das heißt: Bonbons, überreichte ...
11994
Er war von unverwüstlich gemütlicher Laune mit seinen verdrießlichen
11995
Stoßseufzern, die nichts bedeuteten und aus einem Überfluß mit
11996
Behaglichkeit hervorzugehen schienen, seiner Pfeife, seiner kuriosen
11997
Sprache, der unverdrossenen Seßhaftigkeit, mit der er lange nach den
11998
Mahlzeiten in bequemster Haltung an seinem Platze verharrte, rauchte,
11999
trank und plauschte, und obgleich er dem stillen Leben in dem alten
12000
Hause einen ganz neuen und fremden Ton hinzufügte, obgleich sein ganzes
12001
Wesen gleichsam etwas Stilwidriges in diese Räume brachte, störte er
12002
doch keine der herrschenden Gewohnheiten. Er wohnte treu den Morgen- und
12003
Abendandachten bei, erbat sich die Erlaubnis, einmal der Sonntagsschule
12004
der Konsulin zuzuhören und erschien sogar am »Jerusalemsabend« auf einen
12005
Augenblick im Saale, um sich den Damen vorstellen zu lassen, worauf er
12006
sich freilich, als Lea Gerhardt vorzulesen begann, verstört zurückzog.
12008
Seine Erscheinung war rasch bekannt in der Stadt, und in den großen
12009
Häusern sprach man mit Neugier von dem Buddenbrookschen Gaste aus
12010
Bayern; aber weder in den Familien noch an der Börse besaß er
12011
Verbindungen, und da die Jahreszeit vorgeschritten war, da man zum
12012
großen Teile sich anschickte, an die See zu gehen, nahm der Konsul
12013
Abstand von einer Einführung Herrn Permaneders in die Gesellschaft. Er
12014
selbst widmete sich dem Gaste lebhaft und angelegentlich. Trotz allen
12015
geschäftlichen und städtischen Pflichten nahm er sich Zeit, ihn in der
12016
Stadt umherzuführen, ihm alle mittelalterlichen Sehenswürdigkeiten, die
12017
Kirchen, die Tore, die Brunnen, den Markt, das Rathaus, die
12018
»Schiffergesellschaft«, zu zeigen, ihn in all und jeder Weise zu
12019
unterhalten, ihn immerhin auch an der Börse mit seinen nächsten Freunden
12020
bekannt zu machen ... und als die Konsulin, seine Mutter, Gelegenheit
12021
nahm, ihm für seine Opferwilligkeit Dank zu sagen, bemerkte er trocken:
12022
»Tja, Mutter, was tut man nicht alles ...«
12024
Dieses Wort ließ die Konsulin so unbeantwortet, daß sie nicht einmal
12025
lächelte, nicht einmal die Lider bewegte, sondern ihre hellen Augen
12026
still beiseitegleiten ließ und irgendeine Frage in anderer Beziehung
12029
Sie war von gleichmäßig herzlicher Freundlichkeit gegen Herrn
12030
Permaneder, was so unbedingt von ihrer Tochter nicht gesagt werden
12031
konnte. Zwei »Kindertagen« hatte der Hopfenhändler schon angewohnt --
12032
denn, obgleich er bereits am dritten oder vierten Tage nach seiner
12033
Ankunft beiläufig zu erkennen gegeben hatte, daß sein Geschäft mit der
12034
hiesigen Brauerei erledigt sei, waren allgemach anderthalb Wochen
12035
seitdem verflossen -- und an jedem dieser Donnerstagabende hatte Frau
12036
Grünlich mehrmals, wenn Herr Permaneder sprach und agierte, hurtige und
12037
scheue Blicke auf den Familienkreis, auf Onkel Justus, die Cousinen
12038
Buddenbrook oder Thomas geworfen, war errötet, hatte sich während
12039
längerer Minuten steif und stumm verhalten oder sogar das Zimmer
12044
Die grünen Stores in Frau Grünlichs Schlafzimmer im zweiten Stockwerk
12045
wurden sacht von dem lauen Atem einer klaren Juninacht bewegt, denn die
12046
beiden Fenster standen offen. Auf dem Nachttischchen zur Seite des
12047
Himmelbettes brannten in einem Glase auf einer Ölschicht, die ihrerseits
12048
auf dem Wasser schwamm, mit dem das Glas zur Hälfte gefüllt war, mehrere
12049
kleine Dochte und gaben dem großen Zimmer mit seinen gradlinigen
12050
Armstühlen, deren Polster zum Schutze mit grauer Leinwand bezogen waren,
12051
ein stilles, ebenmäßiges und schwaches Licht. Frau Grünlich ruhte im
12052
Bette. Ihr hübscher Kopf war weich in die von breiten Spitzenborten
12053
umgebenen Kissen gesunken, und ihre Hände lagen gefaltet auf der
12054
Steppdecke. Aber ihre Augen, zu nachdenklich, um sich zu schließen,
12055
folgten langsam den Bewegungen eines großen Insektes mit langem Leibe,
12056
das standhaft mit Millionen lautloser Flügelschwingungen das helle Glas
12057
umkreiste ... Neben dem Bett an der Wand, zwischen zwei alten
12058
Kupferstichen, Ansichten der Stadt aus dem Mittelalter, war eingerahmt
12059
der Spruch zu lesen: »Befiehl dem Herrn deine Wege ...« aber ist das ein
12060
Trost, wenn man um Mitternacht mit offenen Augen liegt und sich
12061
entschließen, sich entscheiden, ganz allein und ohne Rat mit Ja oder
12062
Nein über sein Leben und nicht nur darüber entscheiden soll?
12064
Es war sehr still. Nur die Wanduhr tickte, und dann und wann erklang im
12065
Nebenzimmer, das von Tonys Schlafzimmer nur durch Portieren getrennt
12066
war, das Räuspern Mamsell Jungmanns. Dort war noch helles Licht. Die
12067
treue Preußin saß noch aufrecht am Ausziehtische unter der Hängelampe
12068
und stopfte Strümpfe für die kleine Erika, deren tiefe und friedliche
12069
Atemzüge man vernehmen konnte, denn Sesemi Weichbrodts Zöglinge hatten
12070
nun Sommerferien, und das Kind wohnte in der Mengstraße.
12072
Frau Grünlich richtete sich mit einem Seufzer ein wenig empor und
12073
stützte den Kopf in die Hand.
12075
»Ida?« fragte sie mit verhaltener Stimme, »sitzest du noch da und
12078
»Ja, ja, Tonychen, mein Kindchen«, ließ sich Idas Stimme hören ...
12079
»Schlaf nur, wirst morgen früh aufstehen müssen, wirst nicht
12080
ausgeschlafen haben.«
12082
»Schon gut, Ida ... Du weckst mich also morgen um sechs?«
12084
»Halb sieben ist früh genug, mein Kindchen. Der Wagen ist auf acht
12085
bestellt. Schlaf nun weiter, daß du wirst hübsch frisch sein ...«
12087
»Ach, ich habe noch gar nicht geschlafen!«
12089
»Ei, ei, Tonychen, das ist nicht recht; wirst doch in Schwartau nicht
12090
marode sein wollen? Trink sieben Schluck Wasser, leg' dich rechts und
12091
zähl' bis tausend ...«
12093
»Ach, Ida, bitte, komm doch noch ein bißchen herüber! Ich kann nicht
12094
schlafen, will ich dir sagen, ich muß so viel denken, daß der Kopf mir
12095
weh tut ... sieh mal, ich glaube, ich habe Fieber, und dann ist es
12096
wieder der Magen; oder es ist Bleichsucht, denn die Adern an meinen
12097
Schläfen sind ganz geschwollen und pulsieren, daß es weh tut, so voll
12098
sind sie, was ja nicht ausschließt, daß trotzdem zu wenig Blut im Kopfe
12101
Ein Stuhl ward gerückt, und Ida Jungmanns knochige, rüstige Gestalt in
12102
ihrem schlichten und unmodernen braunen Kleid erschien zwischen den
12105
»Ei, ei, Tonychen, Fieber? Laß mal fühlen, mein Kindchen ... Woll'n mal
12106
ein Kompreßchen machen ...«
12108
Und mit ihren ein wenig männlich langen und festen Schritten ging sie
12109
zur Kommode und holte ein Taschentuch, tauchte es in die Waschschüssel,
12110
trat wieder ans Bett und legte es behutsam auf Tonys Stirn, worauf sie
12111
es noch ein paarmal mit beiden Händen glatt strich.
12113
»Danke, Ida, das tut gut ... Ach, setz' dich noch ein bißchen zu mir,
12114
gute alte Ida, hier, auf den Bettrand. Sieh mal, ich muß beständig an
12115
morgen denken ... Was soll ich bloß tun? Bei mir dreht sich alles im
12118
Ida hatte sich zu ihr gesetzt, hatte ihre Nadel und den über die
12119
Stopfkugel gezogenen Strumpf wieder zur Hand genommen, und während sie
12120
den glatten grauen Scheitel neigte und mit ihren unermüdlich blanken
12121
braunen Augen die Stiche verfolgte, sagte sie: »Meinst du, daß er wird
12124
»Sicher, Ida! Da ist gar kein Zweifel. Die Gelegenheit wird er nicht
12125
verpassen. Wie war's mit Klara? Auch auf solcher Partie ... Ich könnte
12126
es ja vermeiden, siehst du. Ich könnte mich ja zu den anderen halten und
12127
ihn nicht herankommen lassen ... Aber damit ist es dann auch vorbei! Er
12128
reist übermorgen, das hat er gesagt, und er kann auch unmöglich länger
12129
bleiben, wenn morgen nichts daraus wird ... Es =muß= sich morgen
12130
entscheiden ... Aber was soll ich nur sagen, Ida, wenn er fragt?! Du
12131
bist noch nie verheiratet gewesen und kennst daher das Leben eigentlich
12132
nicht, aber du bist ein ehrliches Weib und hast deinen Verstand und bist
12133
zweiundvierzig Jahre alt. Kannst du mir nicht raten? Ich hab' es so
12136
Ida Jungmann ließ den Strumpf in den Schoß sinken.
12138
»Ja, ja, Tonychen, hab' auch schon viel drüber nachjedacht. Aber was ich
12139
finde, das ist, daß da gar nichts mehr zu raten ist, mein Kindchen. Er
12140
kann gar nicht mehr weg« -- Ida sagte, »weck« -- »ohne mit dir und
12141
deiner Mama zu sprechen, und wenn du nicht wirst wollen, ja, da hätt'st
12142
ihn müssen früher weckschicken ...«
12144
»Da hast du recht, Ida; aber das konnte ich doch nicht, denn es soll ja
12145
schließlich doch sein! Ich muß nur immer denken: Noch kann ich zurück,
12146
noch ist es nicht zu spät! Und da liege ich nun und quäle mich ...«
12148
»Magst ihn leiden, Tonychen? Sag' mal ehrlich!«
12150
»Ja, Ida. Da müßte ich lügen, wenn ich das leugnen wollte. Er ist nicht
12151
schön, aber darauf kommt es nicht an in diesem Leben, und er ist ein
12152
grundguter Mann und keiner Bosheit fähig, das glaube mir. Wenn ich an
12153
Grünlich denke ... o Gott! er sagte beständig, daß er rege und findig
12154
sei, und bemäntelte in tückischer Weise seine Filouhaftigkeit ... So ist
12155
Permaneder nicht, siehst du. Er ist, möchte ich sagen, zu bequem dazu,
12156
und nimmt das Leben zu gemütlich dazu, was übrigens andererseits auch
12157
wieder ein Vorwurf ist, denn Millionär wird er sicher nicht werden und
12158
neigt, glaube ich, ein bißchen dazu, sich gehen zu lassen und so
12159
weiterzuwursteln, wie sie da unten sagen ... Denn sie sind alle so dort
12160
unten, und das ist es, was ich sagen wollte, Ida, das ist die Sache.
12161
Nämlich in München, wo er unter seinesgleichen war, unter Leuten, die so
12162
sprachen und so waren wie er, da liebte ich ihn geradezu, so nett fand
12163
ich ihn, so treuherzig und behaglich. Und ich merkte auch gleich, daß es
12164
gegenseitig war, -- wozu vielleicht beitrug, daß er mich für eine reiche
12165
Frau hält, für reicher, fürchte ich, als ich bin, denn Mutter kann mir
12166
nicht mehr viel mitgeben, wie du weißt ... Aber das wird ihm nichts
12167
ausmachen, bin ich überzeugt. So sehr viel Geld, das ist gar nicht nach
12168
seinem Sinn ... Genug ... was wollte ich sagen, Ida?«
12170
»In München, Tonychen; aber hier?«
12172
»Aber hier, Ida! Du merkst schon, was ich sagen will. Hier, wo er so
12173
ganz aus seiner eigentlichen Umgebung herausgerissen ist, wo alle anders
12174
sind, strenger und ehrgeiziger und würdiger, sozusagen ... hier muß ich
12175
mich oft für ihn genieren, ja, ich gestehe es dir offen, Ida, ich bin
12176
ein ehrliches Weib, ich geniere mich für ihn, obgleich es vielleicht
12177
eine Schlechtigkeit von mir ist! Siehst du ... mehrere Male ist es ganz
12178
einfach vorgekommen, daß er im Gespräche »mir« statt »mich« gesagt hat.
12179
Das tut man da unten, Ida, das kommt vor, das passiert den gebildetsten
12180
Menschen, wenn sie guter Laune sind, und tut keinem weh und kostet
12181
nichts und läuft so mit unter, und niemand wundert sich. Aber hier sieht
12182
Mutter ihn von der Seite an, und Tom zieht die Augenbraue hoch, und
12183
Onkel Justus gibt sich einen Ruck und pruscht beinahe, wie die Krögers
12184
immer tun, und Pfiffi Buddenbrook wirft ihrer Mutter oder Friederike
12185
oder Henriette einen Blick zu, und dann schäme ich mich so sehr, daß ich
12186
am liebsten aus der Stube laufen möchte, und kann mir nicht denken, daß
12187
ich ihn heiraten könnte ...«
12189
»Ach wo, Tonychen! Sollst ja auch in München mit ihm leben.«
12191
»Da hast du recht, Ida. Aber nun kommt die Verlobung, und die wird
12192
gefeiert, und nun bitte ich dich, wenn ich mich vor der Familie und vor
12193
Kistenmakers und Möllendorpfs und den anderen beständig schämen muß,
12194
weil er so wenig vornehm ist ... ach, Grünlich war vornehmer, wofür er
12195
allerdings innerlich schwarz war, wie Herr Stengel seinerzeit immer
12196
gesagt haben soll ... Ida, der Kopf dreht sich mir, bitte, tauch' die
12199
»Schließlich soll es ja doch sein«, sagte sie wieder, indem sie
12200
aufatmend den kalten Umschlag entgegennahm, »denn die Hauptsache ist und
12201
bleibt, daß ich wieder unter die Haube komme und hier nicht länger als
12202
geschiedene Frau herumliege ... Ach, Ida, ich muß soviel zurückdenken in
12203
diesen Tagen, an damals, als Grünlich zuerst erschien, und an die
12204
Auftritte, die er mir machte -- skandalös, Ida! -- und dann Travemünde,
12205
Schwarzkopfs ...«, sagte sie langsam, und ihre Augen ruhten eine Weile
12206
träumerisch auf der gestopften Stelle von Erikas Strumpf ... »und dann
12207
die Verlobung und Eimsbüttel, und unser Haus -- es war vornehm, Ida;
12208
wenn ich an meine Schlafröcke denke ... So werde ich es nicht wieder
12209
haben, mit Permaneder; das Leben macht einen immer bescheidener, weißt
12210
du -- und Doktor Klaaßen, und das Kind, und Bankier Kesselmeyer ... und
12211
dann das Ende -- es war entsetzlich, du machst dir keinen Begriff, und
12212
wenn man so grauenhafte Erfahrungen gemacht hat im Leben ... Aber
12213
Permaneder wird sich nicht auf schmutzige Sachen einlassen; -- das ist
12214
das letzte, was ich ihm zutraue, und geschäftlich können wir uns gut auf
12215
ihn verlassen, denn ich glaube wirklich, daß er mit Noppe bei der
12216
Niederpaurschen Brauerei ziemlich viel verdient. Und wenn ich seine Frau
12217
bin, Ida, das sollst du sehen, dann will ich schon dafür sorgen, daß er
12218
ehrgeiziger wird und uns weiterbringt und sich anstrengt und mir und
12219
uns allen Ehre macht, denn =die= Verpflichtung übernimmt er schließlich,
12220
wenn er eine Buddenbrook heiratet!«
12222
Sie faltete die Hände unterm Kopf und sah zur Decke hinauf.
12224
»Ja, das ist nun gut und gern seine zehn Jahre her, seit ich Grünlich
12225
nahm ... Zehn Jahre! Und nun bin ich wieder so weit und soll wieder
12226
jemandem mein Jawort erteilen. Weißt du, Ida, das Leben ist furchtbar
12227
ernst!... Aber der Unterschied ist, daß damals ein großes Wesen gemacht
12228
wurde und alle mich drängten und quälten, und daß sich jetzt alle ganz
12229
still verhalten und es als selbstverständlich nehmen, daß ich Ja sage;
12230
denn du mußt wissen, Ida, diese Verlobung mit Alois -- ich sage schon
12231
Alois, denn es soll ja schließlich doch sein -- ist gar nichts
12232
Festliches und Freudiges, und um mein Glück handelt es sich eigentlich
12233
gar nicht dabei, sondern, indem ich diese zweite Ehe eingehe, mache ich
12234
nur in aller Ruhe und Selbstverständlichkeit meine erste Ehe wieder gut,
12235
denn das ist meine Pflicht unserem Namen gegenüber. So denkt Mutter, und
12238
»Ach wo, Tonychen! wenn ihn nicht wirst wollen, und wenn er dich nicht
12239
wird glücklich machen ...«
12241
»Ida, ich kenne das Leben und bin keine Gans mehr und habe meine Augen
12242
im Kopf. Mutter ... das mag sein, die würde nicht geradezu darauf
12243
dringen, denn über fragwürdige Dinge geht sie hinweg und sagt _Assez_.
12244
Aber Tom, der will es. Lehre du mich Tom kennen! Weißt du, wie Tom
12245
denkt? Er denkt: `Jeder! Jeder, der nicht absolut unwürdig ist. Denn es
12246
handelt sich diesmal nicht um eine glänzende Partie, sondern nur darum,
12247
daß die Scharte von damals durch eine zweite Ehe so ungefähr wieder
12248
ausgewetzt wird.´ So denkt er. Und sobald Permaneder angekommen war, hat
12249
Tom in aller Stille geschäftliche Erkundigungen über ihn eingezogen, da
12250
sei überzeugt, und als die ziemlich günstig und sicher lauteten, da war
12251
es beschlossene Sache bei ihm ... Tom ist ein Politiker und weiß, was er
12252
will. Wer hat Christian an die Luft gesetzt?... Obgleich das ein hartes
12253
Wort ist, Ida, aber es verhält sich so. Und warum? Weil er die Firma und
12254
die Familie kompromittierte, und das tue ich in seinen Augen auch, Ida,
12255
nicht mit Taten und Worten, sondern mit meiner bloßen Existenz als
12256
geschiedene Frau. Das, will er, soll aufhören, und damit hat er recht,
12257
und ich liebe ihn darum bei Gott nicht weniger und hoffe auch, daß das
12258
auf Gegenseitigkeit beruht. Schließlich habe ich mich in all diesen
12259
Jahren immer danach gesehnt, wieder ins Leben hinauszutreten, denn ich
12260
langweile mich bei Mutter, Gott strafe mich, wenn das eine Sünde ist,
12261
aber ich bin kaum dreißig und fühle mich jung. Das ist verschieden
12262
verteilt im Leben, Ida; du hattest mit dreißig schon graues Haar, das
12263
liegt in eurer Familie, und dein Onkel Prahl, der am Schluckauf
12266
Sie stellte noch mehrere Betrachtungen an in dieser Nacht, sagte hie und
12267
da noch einmal: »Schließlich soll es ja doch so sein«, und schlummerte
12268
dann fünf Stunden lang sanft und tief.
12273
Dunst lag über der Stadt, aber Herr Longuet, Mietkutschenbesitzer in der
12274
Johannisstraße, der um acht Uhr in eigener Person einen gedeckten, aber
12275
an allen Seiten offenen Gesellschaftswagen in der Mengstraße vorfuhr,
12276
sagte: »In 'ner lütten Stund' is de Sünn durch«, und somit konnte man
12279
Die Konsulin, Antonie, Herr Permaneder, Erika und Ida Jungmann hatten
12280
miteinander gefrühstückt und fanden sich nun einer nach dem anderen
12281
reisefertig auf der großen Diele ein, um Gerda und Tom zu erwarten. Frau
12282
Grünlich, in cremefarbenem Kleide mit einer Atlaskrawatte unterm Kinn,
12283
sah trotz der verkürzten Nachtruhe ganz vortrefflich aus; Zagen und
12284
Fragen schienen in ihr ein Ende gefunden zu haben, denn ihre Miene,
12285
während sie im Gespräch mit dem Gaste langsam die Knöpfe ihrer leichten
12286
Handschuhe schloß, war ruhig, sicher, fast feierlich ... Sie hatte die
12287
Stimmung wiedergefunden, die ihr aus früheren Zeiten her wohlbekannt
12288
war. Das Gefühl ihrer Wichtigkeit, der Bedeutsamkeit der Entscheidung,
12289
die ihr anheimgestellt war, das Bewußtsein, daß abermals ein Tag
12290
gekommen sei, der es ihr zur Pflicht mache, mit ernstem Entschluß in die
12291
Geschichte ihrer Familie einzugreifen, erfüllte sie und machte ihr Herz
12292
höher schlagen. Diese Nacht hatte sie im Traume die Stelle in den
12293
Familienpapieren vor Augen gesehen, an der sie die Tatsache ihrer
12294
zweiten Verlobung zu vermerken gedachte ... diese Tatsache, die jenen
12295
schwarzen Flecken, den die Blätter enthielten, tilgte und bedeutungslos
12296
machte, und nun freute sie sich mit Spannung auf den Augenblick, wo Tom
12297
erscheinen und sie ihn mit ernsthaftem Nicken begrüßen würde ...
12299
Etwas verspätet, denn die junge Konsulin Buddenbrook war nicht gewohnt,
12300
so früh ihre Toilette zu beenden, traf der Konsul mit seiner Gattin ein.
12301
Er sah gut und munter aus in seinem hellbraunen, kleinkarierten Anzug,
12302
dessen breite Reverse den Rand der Sommerweste sehen ließen, und seine
12303
Augen lächelten, als er Tonys unvergleichlich würdevolle Miene gewahrte.
12304
Aber Gerda, deren ein wenig morbide und rätselhafte Schönheit einen
12305
seltsamen Gegensatz zu der hübschen Gesundheit ihrer Schwägerin bildete,
12306
zeigte durchaus keine Sonntags- und Ausflugsstimmung. Wahrscheinlich
12307
hatte sie nicht ausgeschlafen. Das satte Lila, das die Grundfarbe ihrer
12308
Robe ausmachte und in höchst eigenartiger Weise mit dem Dunkelrot ihres
12309
schweren Haares zusammenklang, ließ ihren Teint noch weißer, noch matter
12310
erscheinen; tiefer und dunkler als sonst lagerten in den Winkeln ihrer
12311
nahe beieinander liegenden braunen Augen bläuliche Schatten ... Kalt bot
12312
sie ihrer Schwiegermutter die Stirn zum Kusse, reichte Herrn Permaneder
12313
mit ziemlich ironischem Ausdruck die Hand, und als Frau Grünlich bei
12314
ihrem Anblick die Hände zusammenschlug und mit lauter Stimme ausrief:
12315
»Gerda, o Gott, wie =schön= bist du wieder --!« antwortete sie lediglich
12316
mit einem ablehnenden Lächeln.
12318
Sie hegte eine tiefe Abneigung gegen Unternehmungen wie die heutige:
12319
zumal im Sommer, und nun gar am Sonntag. Sie, deren Wohnräume meistens
12320
verhängt, im Dämmerlicht lagen, und die selten ausging, fürchtete die
12321
Sonne, den Staub, die festtäglich gekleideten Kleinbürger, den Geruch
12322
von Kaffee, Bier, Tabak ... und über alles in der Welt verabscheute sie
12323
die Erhitzung, das Derangement. »Mein lieber Freund«, hatte sie
12324
beiläufig zu Thomas gesagt, als die Ausfahrt nach Schwartau und dem
12325
»Riesebusch« verabredet worden war, damit der Münchener Gast auch ein
12326
wenig von der Umgebung der alten Stadt kennenlerne -- »du weißt: wie
12327
Gott mich gemacht hat, bin ich auf Ruhe und Alltag angewiesen ... In
12328
diesem Falle ist man für Anregung und Abwechselung nicht geschaffen.
12329
Nicht wahr, ihr dispensiert mich ...«
12331
Sie würde ihn nicht geheiratet haben, wenn sie nicht bei solchen Dingen
12332
im wesentlichen seiner Zustimmung sicher gewesen wäre.
12334
»Ja, lieber Gott, du hast natürlich recht, Gerda. Daß man sich bei
12335
derartigen Sachen amüsiert, ist meistens bloß Einbildung ... Aber man
12336
macht sie eben mit, weil man vor den anderen und sich selbst nicht gern
12337
als Sonderling erscheinen möchte. Diese Eitelkeit hegt jeder, du
12338
nicht?... Man gerät sonst leicht in einen Schein von Vereinsamung und
12339
Unglück und büßt an Achtung ein. Und dann noch eins, liebe Gerda ... Wir
12340
alle haben Ursache, dem Herrn Permaneder ein bißchen den Hof zu machen.
12341
Ich zweifle nicht, daß du die Situation übersiehst. Es entwickelt sich
12342
da etwas, und es wäre schade, ganz einfach schade, käme es nicht
12345
»Ich sehe nicht ein, lieber Freund, inwiefern meine Gegenwart ... aber
12346
gleichviel. Da du es wünschest, so sei es. Lassen wir dies Vergnügen
12349
»Ich werde dir aufrichtig verbunden sein.« --
12351
Man trat auf die Straße hinaus ... Wahrhaftig, schon jetzt begann die
12352
Sonne durch den Morgendunst zu dringen; sonntäglich läuteten die Glocken
12353
von Sankt Marien, und Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Der Kutscher
12354
zog den Hut, und mit dem patriarchalischen Wohlwollen, das Thomas
12355
manchmal ein bißchen in Verlegenheit brachte, nickte die Konsulin ein
12356
überaus herzliches »Guten Morgen, lieber Mann!« zu ihm hinauf. »Also
12357
eingestiegen denn nun, ihr Lieben! Es wäre Zeit zur Frühpredigt, aber
12358
heut' wollen wir Gott in seiner freien Natur mit unseren Herzen loben,
12359
nicht wahr, Herr Permaneder?«
12361
»Is scho recht, Frau Konsul.«
12363
Und man kletterte nacheinander über die beiden Blechstufen durch das
12364
schmale Hintertürchen in den Wagen hinein, der zehn Personen gefaßt
12365
haben würde, und machte es sich auf den Polstern bequem, die -- ohne
12366
Zweifel zu Ehren Herrn Permaneders -- blau und weiß gestreift waren.
12367
Dann klinkte das Türchen ins Schloß, Herr Longuet schnalzte mit der
12368
Zunge und stieß unterschiedliche Ho- und Hürufe aus, seine muskulösen
12369
Braunen zogen an, und das Gefährt rollte die Mengstraße hinunter,
12370
entlang der Trave, am Holstentore vorbei, und später nach rechts auf der
12371
Schwartauer Landstraße dahin ...
12373
Felder, Wiesen, Baumgruppen, Gehöfte ... und man suchte in dem immer
12374
höheren, dünneren, blaueren Dunst nach den Lerchen, deren Stimmen man
12375
vernahm. Thomas, der Zigaretten rauchte, sah aufmerksam um sich, wenn
12376
man an Getreide vorüberkam, und zeigte Herrn Permaneder, wie es stand.
12377
Der Hopfenhändler war in einer wahrhaft jugendlichen Laune, hatte seinen
12378
grünen Hut mit dem Gemsbart ein wenig schief gesetzt, balancierte seinen
12379
Stock mit dem ungeheuren Horngriff auf seiner weißen und breiten
12380
Handfläche und sogar auf der Unterlippe, ein Kunststück, welchem,
12381
obgleich es beständig mißlang, besonders von seiten der kleinen Erika
12382
lauter Beifall zuteil ward, und wiederholte mehrere Male: »Die Zugspitz'
12383
wird's halt net sein, aber a weng kraxeln wermer doch, und a Hetz wermer
12384
ham, a Gaudi a sakrisches, gelten's, Frau Grünlich?!«
12386
Dann begann er mit vielem Temperament von Bergpartien mit Rucksack und
12387
Eispickel zu erzählen, wofür ihn die Konsulin mit mehreren bewundernden
12388
»Dausend!« belohnte, und bedauerte dann aus irgendeinem Gedankengange
12389
heraus mit bewegten Worten die Abwesenheit Christians, von dem er gehört
12390
habe, daß er gar so ein lustiger Herr sei.
12392
»Unterschiedlich«, sagte der Konsul. »Aber bei solchen Gelegenheiten ist
12393
er unvergleichlich, das ist wahr. -- Wir werden Krebse essen, Herr
12394
Permaneder!« rief er aufgeräumt. »Krebse und Ostseekrabben! Sie haben
12395
schon bei meiner Mutter ein paarmal davon gekostet, aber mein Freund
12396
Dieckmann, der Besitzer der Restauration `Zum Riesebusch´, führt sie
12397
stets in hervorragender Qualität. Und Pfeffernüsse, die berühmten
12398
Pfeffernüsse dieser Gegend! Oder ist ihr Ruf bis an die Isar noch nicht
12399
gedrungen? Nun, Sie werden sehen.«
12401
Frau Grünlich ließ zwei- oder dreimal den Wagen halten, um am
12402
Chausseerande Mohn- und Kornblumen zu pflücken, und jedesmal beteuerte
12403
Herr Permaneder mit wahrer Wildheit, ihr dabei behilflich sein zu
12404
wollen; da er sich aber vor dem Ein- und Aussteigen ein wenig fürchtete,
12405
so unterließ er es dennoch.
12407
Erika jubelte über jede Krähe, die aufflog, und Ida Jungmann, die wie
12408
immer beim sichersten Wetter einen langen, offenen Regenmantel nebst
12409
Regenschirm trug, stimmte als eine richtige Kinderpflegerin, die auf die
12410
kindlichen Stimmungen nicht nur äußerlich eingeht, sondern sie ebenso
12411
kindlich mitempfindet, mit ihrem ungenierten und etwas wiehernden Lachen
12412
ein, so daß Gerda, die sie nicht hatte in der Familie grau werden sehen,
12413
sie wiederholt einigermaßen kalt und erstaunt betrachtete ...
12415
Man war im Oldenburgischen. Buchenwaldungen kamen in Sicht, der Wagen
12416
fuhr durch den Ort, über das Marktplätzchen mit seinem Ziehbrunnen,
12417
gelangte wieder ins Freie, rollte über die Brücke, die über das Flüßchen
12418
Au führt und hielt endlich vor dem einstöckigen Wirtshaus »Zum
12419
Riesebusch«. Dies war an der einen Seite eines flachen Platzes mit
12420
Grasflächen, sandigen Wegen und ländlichen Beeten gelegen, und jenseits
12421
dieses Platzes erhob sich amphitheatralisch aufsteigend der Wald. Die
12422
einzelnen Stufen waren durch rauh angelegte Treppen verbunden, zu denen
12423
man hochliegende Baumwurzeln und vorspringendes Gestein benutzt hatte,
12424
und auf den Etagen, zwischen den Bäumen, waren weiß gestrichene Tische,
12425
Bänke und Stühle aufgeschlagen.
12427
Buddenbrooks waren keineswegs die ersten Gäste. Ein paar wohlgenährte
12428
Mägde und sogar ein Kellner in fettigem Frack marschierten eilfertig
12429
über den Platz und trugen kalte Küche, Limonaden, Milch und Bier zu den
12430
Tischen hinauf, an denen, wenn auch in weiteren Abständen, schon mehrere
12431
Familien mit Kindern Platz genommen hatten.
12433
Herr Dieckmann, der Wirt, in gelbgesticktem Käppchen und Hemdärmeln,
12434
trat persönlich an den Schlag, um den Herrschaften beim Aussteigen
12435
behilflich zu sein, und während Longuet beiseite fuhr, um auszuspannen,
12436
sagte die Konsulin: »Wir machen nun also zunächst einen Spaziergang,
12437
guter Mann, und möchten dann, nach einer Stunde oder anderthalb, ein
12438
Frühstück haben. Bitte, lassen Sie uns drüben servieren ... aber nicht
12439
zu hoch; auf dem zweiten Absatz dünkt mich ...«
12441
»Strengen Sie sich an, Dieckmann«, fügte der Konsul hinzu. »Wir haben
12442
einen verwöhnten Gast ...«
12444
Herr Permaneder protestierte. »I ka Spur! A Bier und a Kaas ...«
12446
Allein das verstand Herr Dieckmann nicht, sondern er begann mit großer
12447
Geläufigkeit: »Allens, was da is, Herr Kunsel ... Krebse, Krabben,
12448
diverse Wurst, diverse Käse, geräucherten Aal, geräucherten Lachs,
12449
geräucherten Stör ...«
12451
»Schön, Dieckmann, Sie werden das schon machen. Und dann geben Sie uns
12452
-- sechs Gläser Milch und ein Seidel Bier, wenn ich nicht irre, Herr
12453
Permaneder, wie?...«
12455
»Einmal Bier, sechsmal Milch ... Süße Milch, Buttermilch, dicke Milch,
12456
Sattenmilch, Herr Kunsel ...«
12458
»Halb und halb, Dieckmann; süße Milch und Buttermilch. In einer Stunde
12461
Und sie gingen über den Platz.
12463
»Zunächst liegt es uns nun ob, die Quelle zu besuchen, Herr Permaneder«,
12464
sagte Thomas. »Die Quelle: das heißt die Quelle der Au, und die Au ist
12465
das kleine Flüßchen, daran Schwartau liegt und daran im grauen
12466
Mittelalter ursprünglich unsere Stadt gelegen war, bis sie niederbrannte
12467
-- sie wird wohl nicht sehr durabel gewesen sein, wissen Sie -- und an
12468
der Trave wieder aufgebaut wurde. Übrigens knüpfen sich schmerzliche
12469
Erinnerungen an den Namen des Flüßchens. Als Jungen fanden wir es
12470
witzig, uns einander in den Arm zu kneifen und zu fragen: Wie heißt der
12471
Fluß bei Schwartau? Worauf man natürlich, weil's wehtat, wider Willen
12472
den Namen rief ... Da!« unterbrach er sich plötzlich, zehn Schritte von
12473
dem Anstieg entfernt; »wir sind überholt worden. Möllendorpfs und
12476
In der Tat, dort oben auf der dritten Etage der waldigen Terrasse saßen
12477
die hauptsächlichsten Mitglieder dieser beiden vorteilhaft liierten
12478
Familien an zwei zusammengerückten Tischen und speisten unter angeregten
12479
Gesprächen. Der alte Senator Möllendorpf präsidierte, ein blasser Herr
12480
mit weißen, dünnen, spitzen Kotelettes; er war zuckerkrank. Seine
12481
Gattin, geborene Langhals, hantierte mit ihrer langgestielten Lorgnette,
12482
und nach wie vor umstand das graue Haar unordentlich ihren Kopf. Ihr
12483
Sohn war da, August, ein blonder junger Mann von wohlsituiertem Äußeren
12484
und Gatte Julchens, der geborenen Hagenström, welche, klein, lebhaft,
12485
mit großen, blanken, schwarzen Augen und beinahe ebenso großen
12486
Brillanten an den Ohrläppchen, zwischen ihren Brüdern Hermann und Moritz
12487
saß. Konsul Hermann Hagenström begann sehr stark zu werden, denn er
12488
lebte vortrefflich und man sagte sich, daß er gleich morgens mit
12489
Gänseleberpastete beginne. Er trug einen rötlich blonden kurzgehaltenen
12490
Vollbart, und seine Nase -- die Nase seiner Mutter -- lag auffallend
12491
platt auf der Oberlippe. Doktor Moritz, mit flacher Brust und gelblichem
12492
Teint, zeigte in lebhaftem Gespräch seine spitzigen, lückenhaften Zähne.
12493
Beide Brüder hatten ihre Damen bei sich, denn auch der Rechtsgelehrte
12494
war seit mehreren Jahren verheiratet, und zwar mit einem Fräulein
12495
Puttfarken aus Hamburg, einer Dame mit butterfarbenem Haar und übermäßig
12496
leidenschaftslosen, augenscheinlich anglisierenden, aber außerordentlich
12497
schönen und regelmäßigen Gesichtszügen, denn Doktor Hagenström hätte es
12498
mit seinem Rufe als Schöngeist nicht vereinbaren können, ein häßliches
12499
Mädchen zu ehelichen. Schließlich waren noch die kleine Tochter von
12500
Hermann Hagenström und der kleine Sohn von Moritz Hagenström zugegen,
12501
zwei weißgekleidete Kinder, die schon jetzt sogut wie miteinander
12502
verlobt waren, denn das Huneus-Hagenströmsche Vermögen sollte nicht
12503
verzettelt werden. -- Alle aßen Rührei mit Schinken.
12505
Man grüßte sich erst, als Buddenbrooks in geringer Entfernung an der
12506
Gesellschaft vorüberstiegen. Die Konsulin neigte ein wenig zerstreut und
12507
gleichsam verwundert den Kopf, Thomas lüftete den Hut, indem er die
12508
Lippen bewegte, als sagte er irgend etwas Verbindliches und Kühles, und
12509
Gerda verbeugte sich fremd und formell. Herr Permaneder aber, angeregt
12510
durch das Steigen, schwenkte unbefangen seinen grünen Hut und rief mit
12511
lauter und fröhlicher Stimme: »Wünsch' recht an guat'n Morg'n!« --
12512
Worauf die Senatorin Möllendorpf ihr Lorgnon zur Hand nahm ... Tony
12513
ihrerseits zog ein wenig die Schultern empor, legte den Kopf zurück,
12514
suchte trotzdem das Kinn auf die Brust zu drücken und grüßte gleichsam
12515
von einer unabsehbaren Höhe herab, wobei sie genau über Julchen
12516
Möllendorpfs breitrandigen und eleganten Hut hinwegblickte ... In dieser
12517
Minute setzte sich ihr Entschluß endgültig und unerschütterlich in ihr
12520
»Gott sei Lob und tausend Dank, Tom, daß wir erst in einer Stunde
12521
frühstücken! Ich möchte mir von diesem Julchen nicht gern auf den Bissen
12522
sehen lassen, weißt du ... Hast du beachtet, wie sie grüßte? Beinahe gar
12523
nicht. Dabei war meiner unmaßgeblichen Ansicht nach ihr Hut ganz unmäßig
12526
»Na, was den Hut betrifft ... Und mit dem Grüßen warst du wohl auch
12527
nicht viel entgegenkommender, meine Liebe. Übrigens ärgere dich nicht;
12530
Ȁrgern, Tom? Ach nein! Wenn diese Leute meinen, sie seien die ersten an
12531
der Spritze, so ist das zum Lachen und weiter nichts. Was ist für ein
12532
Unterschied zwischen diesem Julchen und mir, wenn ich fragen darf? Daß
12533
sie keinen Filou, sondern bloß einen `Duschack´ zum Manne bekommen hat,
12534
wie Ida sagen würde, und wenn sie einmal in meiner Lage wäre im Leben,
12535
so würde es sich ja erweisen, ob sie einen zweiten finden würde ...«
12537
»Was besagt, daß du deinerseits einen finden wirst?«
12539
»Einen Duschack, Thomas?«
12541
»Sehr viel besser als ein Filou.«
12543
»Es braucht weder das eine noch das andere zu sein. Aber darüber spricht
12546
»Richtig. Wir bleiben auch zurück. Herr Permaneder steigt mit Elan ...«
12548
Der schattige Waldweg wurde eben, und es dauerte gar nicht lange, bis
12549
sie die »Quelle« erreicht hatten, einen hübschen, romantischen Punkt mit
12550
einer hölzernen Brücke über einem kleinen Abgrund, zerklüfteten Abhängen
12551
und überhängenden Bäumen, deren Wurzeln bloßlagen. Sie schöpften mit
12552
einem silbernen, zusammenschiebbaren Becher, den die Konsulin
12553
mitgebracht hatte, aus dem kleinen, steinernen Bassin gleich unterhalb
12554
der Austrittsstelle und erquickten sich mit dem frischen, eisenhaltigen
12555
Wasser, wobei Herr Permaneder einen kleinen Anfall von Galanterie hatte,
12556
indem er darauf bestand, daß Frau Grünlich ihm den Trunk kredenzte. Er
12557
war voll Dankbarkeit, wiederholte mehrmals: »A, des is fei nett!« und
12558
plauderte umsichtig und aufmerksam sowohl mit der Konsulin und Thomas
12559
als mit Gerda und Tony und sogar mit der kleinen Erika ... Selbst Gerda,
12560
die bislang unter fliegender Hitze gelitten und in einer Art von
12561
stummer und starrer Nervosität einhergegangen war, begann nun
12562
aufzuleben, und als man nach einem beschleunigten Rückwege wieder vor
12563
dem Wirtshause anlangte und sich auf der zweiten Stufe der Waldterrasse
12564
an einem überreichlich besetzten Tische niederließ, war sie es, die es
12565
in liebenswürdigen Wendungen bedauerte, daß Herrn Permaneders Abreise so
12566
nahe bevorstehe: jetzt, wo man einander ein wenig kennengelernt, wo es
12567
zum Beispiel ganz leicht zu beobachten sei, daß auf beiden Seiten immer
12568
seltener Miß- und Nichtverständnisse des Dialektes wegen unterliefen ...
12569
Sie könne die Behauptung vertreten, daß ihre Freundin und Schwägerin
12570
Tony zwei- oder dreimal mit Virtuosität »Pfüaht Gott!« gesagt habe ...
12572
Herr Permaneder unterließ es, auf das Wort »Abreise« irgendeine
12573
bestätigende Antwort zu geben, sondern widmete sich vorderhand den
12574
Leckerbissen, von denen die Tafel strotzte, und die er jenseits der
12575
Donau nicht alle Tage bekam.
12577
Sie verzehrten die guten Sachen mit Muße, wobei die kleine Erika sich
12578
beinahe am meisten über die Servietten aus Seidenpapier freute, die ihr
12579
unvergleichlich schöner schienen als die großen leinenen zu Hause, und
12580
von denen sie mit Erlaubnis des Kellners sogar einige zum Andenken in
12581
die Tasche steckte; und dann saß, während Herr Permaneder mehrere
12582
tiefschwarze Zigarren zum Biere und der Konsul seine Zigaretten rauchte,
12583
die Familie mit ihrem Gaste noch längere Zeit beisammen und plauderte;
12584
-- bemerkenswert aber war, daß niemand mehr der Abreise des Herrn
12585
Permaneder gedachte und daß überhaupt die Zukunft völlig unberührt
12586
gelassen ward. Vielmehr tauschte man Erinnerungen aus, besprach die
12587
politischen Ereignisse der letzten Jahre, und Herr Permaneder
12588
berichtete, nachdem er über einige achtundvierziger Anekdoten, die die
12589
Konsulin ihrem verstorbenen Gatten nacherzählte, sich vor Lachen
12590
geschüttelt hatte, von der Revolution in München und von Lola Montez,
12591
für welche Frau Grünlich sich unbändig interessierte. Dann aber, als
12592
allgemach die erste Stunde nach Mittag vorüber war, als Erika, ganz
12593
erhitzt und bepackt mit Gänseblumen, Wiesenschaumkraut und Gräsern, von
12594
einem Streifzug mit Ida zurückkehrte und die Pfeffernüsse in Erinnerung
12595
brachte, die noch einzukaufen seien, brach man zu einem Gang in den Ort
12596
hinunter auf ... nicht bevor die Konsulin, deren Gäste heut alle waren,
12597
mit einem gar nicht kleinen Goldstück die Rechnung beglichen hatte.
12599
Vorm Gasthaus ward Order gegeben, daß in einer Stunde der Wagen
12600
bereitstehen solle, denn man wollte in der Stadt vor Tisch noch ein
12601
wenig ruhen können; und dann wanderten sie langsam, denn die Sonne
12602
brannte auf den Staub, den niedrigen Häusern des Fleckens zu.
12604
Gleich nach der Au-Brücke ordnete sich ungezwungen und von selbst die
12605
Reihenfolge, die dann während des Weges innegehalten ward: Voran nämlich
12606
war Mamsell Jungmann, vermöge ihrer langen Schritte, neben der
12607
unermüdlich springenden und nach Kohlweißlingen jagenden Erika, dann
12608
folgten miteinander die Konsulin, Thomas und Gerda und zuletzt, in
12609
einigem Abstande sogar, Frau Grünlich mit Herrn Permaneder. Vorn war es
12610
laut, denn das kleine Mädchen jubelte, und Ida stimmte mit ihrem
12611
eigentümlich tiefen, gutmütigen Wiehern ein. In der Mitte schwiegen alle
12612
drei, denn Gerda war wegen des Staubes aufs neue in eine nervöse
12613
Verzagtheit verfallen, und die alte Konsulin sowohl wie ihr Sohn waren
12614
in Gedanken. Auch hinten war es still ... aber nur scheinbar, denn Tony
12615
und der Gast aus Bayern unterhielten sich gedämpft und intim. -- Wovon
12616
sprachen sie? Von Herrn Grünlich ...
12618
Herr Permaneder hatte die treffende Bemerkung gemacht, daß Erika »fei«
12619
ein gar zu liebes und hübsches Kind sei, daß sie aber trotzdem der Frau
12620
Mama fast gar nicht ähnlich sehe; worauf Tony geantwortet hatte: »Sie
12621
ist ganz der Vater, und man kann sagen: nicht zu ihrem Schaden, denn
12622
äußerlich war Grünlich ein Gentleman -- alles, was wahr ist! So hatte er
12623
goldfarbene Favoris; völlig originell; ich habe nie wieder dergleichen
12626
Und dann erkundigte er sich, obgleich Tony ihm schon bei Niederpaurs in
12627
München die Geschichte ihrer Ehe ziemlich genau erzählt hatte, noch
12628
einmal genau nach allem und erfragte eingehend und mit einem ängstlich
12629
teilnehmenden Blinzeln alle Einzelheiten bei dem Bankerott ...
12631
»Er war ein böser Mensch, Herr Permaneder, sonst hätte Vater mich ihm
12632
nicht wieder weggenommen, das können Sie mir glauben. Nicht alle
12633
Menschen haben auf Erden immer ein gutes Herz, das hat das Leben mich
12634
gelehrt, wissen Sie, so jung wie ich für eine Person, die seit zehn
12635
Jahren Witwe oder etwas Ähnliches ist, noch bin. Er war böse, und
12636
Kesselmeyer, sein Bankier, der obendrein so albern war wie ein junger
12637
Hund, war noch böser. Aber das soll nicht heißen, daß ich mich selbst
12638
für einen Engel halte und aller Schuld bar erachte ... mißverstehen Sie
12639
mich nicht! Grünlich vernachlässigte mich, und wenn er einmal bei mir
12640
saß, so las er die Zeitung, und er hinterging mich und ließ mich
12641
beständig in Eimsbüttel sitzen, weil ich in der Stadt von dem Morast
12642
hätte erfahren können, darin er steckte ... Aber ich bin auch nur eine
12643
schwache Frau und habe meine Fehler und bin ganz sicher nicht immer
12644
richtig zu Werke gegangen. Zum Beispiel gab ich meinem Mann durch
12645
Leichtsinn und Verschwendungssucht und neue Schlafröcke Grund zu Sorge
12646
und Klage ... Aber eins darf ich hinzufügen: ich habe eine
12647
Entschuldigung, und die besteht darin, daß ich ein Kind war, als ich
12648
heiratete, eine Gans war ich, ein dummes Ding. Glauben Sie zum Beispiel,
12649
daß ich ganz kurze Zeit vor meiner Verlobung auch nur gewußt hätte, daß
12650
vier Jahre früher die Bundesgesetze über die Universitäten und die
12651
Presse erneuert worden seien? Schöne Gesetze übrigens!... Ach, ja, es
12652
ist wahrhaftig so sehr traurig, daß man nur einmal lebt, Herr
12653
Permaneder, daß man das Leben nicht noch einmal anfangen kann; man würde
12654
so manches geschickter anfassen ...«
12656
Sie schwieg und blickte gespannt auf den Weg nieder; sie hatte ihm,
12657
nicht ohne Geschick, einen Anhaltspunkt gegeben, denn die Erwägung lag
12658
gar nicht fern, daß ein ganz neues Leben zu beginnen zwar unmöglich, der
12659
Wiederbeginn einer neuen, besseren Ehe aber doch nicht ausgeschlossen
12660
sei. Allein Herr Permaneder ließ die Gelegenheit vorübergehen und
12661
beschränkte sich darauf, mit heftigen Worten auf Herrn Grünlich zu
12662
schelten, wobei die Fliege über seinem kleinen, runden Kinn sich
12665
»Der fade Kerl, der z'widre! Den wann i dahier hätt', den Hund, den
12666
ausg'schamten, der wann net a Watschen dawischen tät' ...«
12668
»Pfui, Herr Permaneder! Nein, damit müssen Sie aufhören. Wir sollen
12669
vergeben und vergessen, und die Rache ist mein, spricht der Herr ...
12670
fragen Sie nur Mutter. Bewahre ... ich weiß nicht, wo Grünlich sich
12671
aufhält, und wie es ihm ergangen ist im Leben; aber ich wünsche ihm
12672
alles Gute, wenn er es auch vielleicht nicht verdient hat ...«
12674
Sie waren im Ort und standen vor dem kleinen Häuschen, in dem der
12675
Bäckerladen sich befand. Beinahe, ohne es zu wissen, waren sie
12676
stehengeblieben, und ohne sich Rechenschaft davon zu geben, hatten sie
12677
mit ernsten und abwesenden Augen Erika, Ida, die Konsulin, Thomas und
12678
Gerda gebückt durch die lächerlich niedrige Ladentür verschwinden sehen:
12679
so vertieft waren sie in ihr Gespräch, obgleich sie bis jetzt nichts als
12680
überflüssige und alberne Dinge geredet hatten.
12682
Neben ihnen war ein Zaun, und daran lief ein langes, schmales Beet
12683
entlang, auf dem ein paar Reseden wuchsen und dessen lockere, schwarze
12684
Erde Frau Grünlich, geneigten und etwas erhitzten Hauptes, ungeheuer
12685
eifrig mit der Spitze ihres Sonnenschirms pflügte. Herr Permaneder,
12686
dessen grünes Hütchen mit dem Gemsbart in die Stirn geglitten war, stand
12687
dicht bei ihr und beteiligte sich hie und da vermittels seines
12688
Spazierstockes an dem Umgraben des Beetes. Auch er ließ den Kopf hängen;
12689
aber seine kleinen, hellblauen, verquollenen Augen, die ganz blank
12690
geworden und sogar ein wenig gerötet waren, blickten von unten herauf
12691
mit einem Gemisch von Ergebenheit, Betrübtheit und Spannung zu ihr
12692
empor, und mit ebendemselben Ausdruck überhing der ausgefranste
12693
Schnauzbart seinen Mund ...
12695
»Und da haben's jetzt wohl«, sagte er, »a damische Furcht vor der Eh'
12696
und wollen's nimmer noch amal versuchen, gelten's nei, Frau
12699
Wie ungeschickt! dachte sie. Das muß ich ja bestätigen?... Sie
12700
antwortete: »Ja, lieber Herr Permaneder, ich bekenne Ihnen offen, daß es
12701
mir schwer fallen würde, noch einmal jemandem mein Jawort fürs Leben zu
12702
erteilen, denn ich bin belehrt worden, wissen Sie, was für ein furchtbar
12703
ernster Entschluß das ist ... und dazu bedürfte es der festen
12704
Überzeugung, daß es sich um einen wirklich braven, einen edlen, einen
12705
herzensguten Mann handelt ...«
12707
Hierauf erlaubte er sich die Frage, ob sie ihn für einen solchen Mann
12708
halte, worauf sie antwortete: »Ja, Herr Permaneder, dafür halte ich
12711
Und dann folgten noch ganz wenige leise und kurze Worte, in denen das
12712
Verlöbnis enthalten war, und für Herrn Permaneder die Erlaubnis, sich zu
12713
Hause an die Konsulin und Thomas zu wenden ...
12715
Als die übrigen Mitglieder der Gesellschaft, bepackt mit mehreren großen
12716
Düten voll Pfeffernüssen, wieder im Freien erschienen, ließ der Konsul
12717
seine Augen diskret über die Köpfe der beiden hinwegschweifen, denn sie
12718
waren in starker Verlegenheit: Herr Permaneder ohne Versuch, das zu
12719
verbergen, Tony unter der Maske einer fast majestätischen Würde.
12721
Man beeilte sich, den Wagen zu gewinnen, denn der Himmel hatte sich
12722
bedeckt und Tropfen fielen.
12726
Wie Tony angenommen, hatte ihr Bruder bald nach Herrn Permaneders
12727
Erscheinen genaue Erkundigungen über seine Lebensstellung eingezogen,
12728
die als Resultat ergeben hatten, daß X. Noppe & Comp. eine etwas
12729
beschränkte aber durchaus solide Firma sei, die im gemeinsamen Wirken
12730
mit der Aktienbrauerei, der Herr Niederpaur als Direktor vorstand, einen
12731
hübschen Gewinn erzielte, und daß, im Verein mit Tonys 17000
12732
Kuranttalern, Herrn Permaneders Anteil für ein gutbürgerliches
12733
Zusammenleben ohne Luxus ausreichen würde. Die Konsulin war unterrichtet
12734
darüber, und in einem ausführlichen Gespräche zwischen ihr, Herrn
12735
Permaneder, Antonie und Thomas, welches gleich am Abend des
12736
Verlobungstages im Landschaftszimmer stattfand, wurden ohne Hindernis
12737
alle Fragen geregelt: auch in betreff der kleinen Erika, welche auf
12738
Tonys Wunsch und mit dem gerührten Einverständnis ihres Verlobten
12739
ebenfalls nach München übersiedeln sollte.
12741
Zwei Tage später reiste der Hopfenhändler ab -- »weil der Noppe sonst
12742
schimpfen tät'« --, aber schon im Monat Juli traf Frau Grünlich
12743
wiederum in seiner Vaterstadt mit ihm zusammen: gemeinsam mit Tom und
12744
Gerda, die sie für vier oder fünf Wochen nach Bad Kreuth begleitete,
12745
während die Konsulin mit Erika und der Jungmann an der Ostsee verblieb.
12746
Übrigens hatten die beiden Paare in München bereits Gelegenheit, das
12747
Haus zu besichtigen, das Herr Permaneder in der Kaufinger Straße -- ganz
12748
in der Nähe also der Niederpaurs -- anzukaufen im Begriffe war, und
12749
dessen größten Teil er zu vermieten gedachte; ein ganz merkwürdiges,
12750
altes Haus, mit einer schmalen Treppe, die gleich hinter der Haustür
12751
schnurgerade und ohne Absatz und Biegung wie eine Himmelsleiter in den
12752
ersten Stock hinanführte, woselbst man erst nach beiden Seiten über den
12753
Korridor zurückschreitend zu den nach vorn gelegenen Zimmern
12756
Mitte August kehrte Tony nach Hause zurück, um sich während der nächsten
12757
Wochen der Sorge für ihre Aussteuer zu widmen. Vieles zwar war noch aus
12758
der Zeit ihrer ersten Ehe vorhanden, aber es mußte durch Neuankäufe
12759
ergänzt werden, und eines Tages langte aus Hamburg, woher manches
12760
bezogen ward, sogar ein Schlafrock an ... nicht mit Sammet freilich,
12761
sondern diesmal nur mit Tuchschleifen garniert.
12763
Zu vorgeschrittener Herbstzeit traf Herr Permaneder wieder in der
12764
Mengstraße ein; man wollte die Sache nicht länger verzögern ...
12766
Was die Hochzeitsfeierlichkeiten anging, so verliefen sie genau, wie
12767
Tony es erwartet und nicht anders gewünscht hatte: Es wurde nicht viel
12768
Aufhebens davon gemacht. »Lassen wir den Pomp«, sagte der Konsul; »du
12769
bist wieder verheiratet, und es ist ganz einfach, als hättest du niemals
12770
aufgehört, es zu sein.« Nur wenige Verlobungskarten waren versandt
12771
worden -- daß aber Julchen Möllendorpf, geborene Hagenström, eine
12772
erhalten hatte, dafür hatte Madame Grünlich gesorgt --, von einer
12773
Hochzeitsreise ward abgesehen, weil Herr Permaneder »so a Hetz'«
12774
verabscheute und Tony, vor kurzem vom Sommeraufenthalt zurückgekehrt,
12775
schon die Reise nach München zu weit fand, und die Trauung, die diesmal
12776
nicht die Säulenhalle, sondern die Marienkirche zum Schauplatze hatte,
12777
fand in engem Familienkreise statt. Tony trug mit Würde die
12778
Orangeblüten statt der Myrten, und Hauptpastor Kölling predigte mit
12779
etwas schwächerer Stimme als ehemals, aber noch immer in starken
12780
Ausdrücken über =Mäßigkeit=.
12782
Christian kam von Hamburg, sehr elegant gekleidet und ein wenig
12783
angegriffen, aber lustig aussehend, erzählte, daß sein Geschäft mit
12784
Burmeester »tip-top« sei, erklärte, daß Klothilde und er sich wohl erst
12785
»da oben« verheiraten würden -- »das heißt: Jeder für sich!...« und kam
12786
viel zu spät zur Kirche, weil er dem Klub einen Besuch abgestattet
12787
hatte. Onkel Justus war sehr gerührt und zeigte sich so kulant wie
12788
stets, indem er den Neuvermählten einen außerordentlich schönen,
12789
schwersilbernen Tafelaufsatz verehrte ... Er und seine Frau hungerten zu
12790
Hause beinahe, denn die schwache Mutter bezahlte dem längst enterbten
12791
und verstoßenen Jakob, der sich, wie verlautete, augenblicklich in Paris
12792
aufhielt, nach wie vor von ihrem Wirtschaftsgelde die Schulden. -- Die
12793
Damen Buddenbrook aus der Breitenstraße bemerkten: »Nun, hoffentlich
12794
hält es diesmal.« Wobei das Unangenehme der allgemeine Zweifel war, ob
12795
sie dies wirklich hofften ... Sesemi Weichbrodt jedoch erhob sich auf
12796
die Zehenspitzen, küßte ihren Zögling, die nunmehrige Frau Permaneder,
12797
mit leicht knallendem Geräusch auf die Stirn und sagte mit ihren
12798
herzlichsten Vokalen: »Sei glöcklich, du =gutes= Kend!«
12803
Gleich morgens um acht Uhr, sobald er das Bett verlassen hatte, über die
12804
Wendeltreppe hinter der kleinen Pforte ins Souterrain hinabgestiegen
12805
war, ein Bad genommen und seinen Schlafrock wieder angelegt hatte,
12806
begann Konsul Buddenbrook sich mit öffentlichen Dingen zu beschäftigen.
12807
Dann nämlich erschien, mit seinen roten Händen und seinem intelligenten
12808
Gesicht, mit einem Topfe warmen Wassers, den er sich aus der Küche
12809
geholt, und den übrigen Utensilien, Herr Wenzel, Barbier und Mitglied
12810
der Bürgerschaft, in der Badestube, und während der Konsul sich,
12811
zurückgebeugten Hauptes, in einem großen Lehnstuhle niederließ und Herr
12812
Wenzel Schaum zu schlagen begann, entspann sich fast immer ein
12813
Gespräch, das, mit Nachtruhe und Witterung beginnend, alsbald zu
12814
Ereignissen in der großen Welt überging, sich hierauf mit intim
12815
städtischen Angelegenheiten beschäftigte und mit ganz eng geschäftlichen
12816
und familiären Gegenständen zu schließen pflegte ... Dies alles zog die
12817
Prozedur sehr in die Länge, denn immer, wenn der Konsul sprach, mußte
12818
Herr Wenzel das Messer von seinem Gesicht entfernen.
12820
»Wohl geruht, Herr Konsul?«
12822
»Danke, Wenzel. Gutes Wetter heute?«
12824
»Frost und ein bißchen Schneenebel, Herr Konsul. Vor der Jacobikirche
12825
haben die Jungens schon wieder 'ne Schleisterbahn, zehn Meter lang, daß
12826
ich beinah' hingeschlagen wär', als ich vom Bürgermeister kam. Hol' sie
12829
»Schon Zeitungen gesehen?«
12831
»Die Anzeigen und die Hamburger Nachrichten, ja. Nichts als Orsinibomben
12832
... Schauderhaft. Auf dem Weg in die Oper ... Eine nette Gesellschaft da
12835
»Na, es hat nichts zu bedeuten, denke ich. Mit dem Volke hat das nichts
12836
zu tun, und der Effekt ist nun bloß, daß die Polizei und der Druck auf
12837
die Presse und all das verdoppelt wird. Er ist auf seiner Hut ... Ja, es
12838
ist eine ewige Unruhe, das muß wahr sein, denn er ist immer auf
12839
Unternehmungen angewiesen, um sich zu halten. Aber meinen Respekt hat er
12840
-- ganz einerlei. Mit =den= Traditionen kann man wenigstens kein Dujack
12841
sein, wie Mamsell Jungmann sagt, und das mit der Bäckereikasse und den
12842
billigen Brotpreisen zum Beispiel hat mir wahrhaftig imponiert. Er tut
12843
ohne Zweifel eine Menge fürs Volk ...«
12845
»Ja, das sagte Herr Kistenmaker vorhin auch schon.«
12847
»Stephan? Wir sprachen gestern darüber.«
12849
»Und mit Friedrich Wilhelm von Preußen, das steht schlimm, Herr Konsul,
12850
das wird nichts mehr. Man sagt schon, daß der Prinz endgültig Regent
12853
»Oh, darauf muß man gespannt sein. Er hat sich schon jetzt als ein
12854
liberaler Kopf gezeigt, dieser Wilhelm, und steht sicher der
12855
Konstitution nicht mit dem geheimen Ekel seines Bruders gegenüber ... Es
12856
ist doch am Ende nur der Gram, der ihn aufreibt, den armen Mann ... Was
12857
Neues aus Kopenhagen?«
12859
»Gar nichts, Herr Konsul. Sie wollen nicht. Da hat der Bund gut
12860
erklären, daß die Gesamtverfassung für Holstein und Lauenburg
12861
rechtswidrig ist ... Sie sind da oben ganz einfach nicht dafür zu haben,
12862
sie aufzuheben ...«
12864
»Ja, es ist ganz unerhört, Wenzel. Sie fordern den Bundestag ja zur
12865
Exekution heraus, und wenn er ein bißchen alerter wäre ... Ach ja, diese
12866
Dänen! Ich erinnere mich lebhaft, wie ich mich schon als ganz kleiner
12867
Junge beständig über einen Gesangvers ärgerte, der anfing: `Gib mir, gib
12868
allen denen, die sich von Herzen sehnen ...´ wobei ich `denen´ im Geiste
12869
immer mit `ä´ schrieb und nicht begriff, daß der Herrgott auch den Dänen
12870
irgend etwas geben sollte ...«
12872
»Sehen Sie sich mit der spröden Stelle vor, Wenzel, Sie lachen ... Nun,
12873
und jetzt wieder mit unserer direkten Hamburger Eisenbahn! Das hat schon
12874
diplomatische Kämpfe gekostet und wird noch welche kosten, bis sie in
12875
Kopenhagen die Konzession geben ...«
12877
»Ja, Herr Konsul, und das Dumme ist, daß die Altona-Kieler
12878
Eisenbahngesellschaft und genau besehen ganz Holstein dagegen ist; das
12879
sagte Bürgermeister Doktor Överdieck vorhin auch schon. Sie haben eine
12880
verfluchte Angst für den Aufschwung von Kiel ...«
12882
»Versteht sich, Wenzel. Solche neue Verbindung zwischen Ost- und Nordsee
12883
... Und Sie sollen sehn, die Altona-Kieler wird nicht aufhören, zu
12884
intriguieren. Sie sind imstande, eine Konkurrenzbahn zu bauen:
12885
Ostholsteinisch, Neumünster-Neustadt, ja, das ist nicht ausgeschlossen.
12886
Aber wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, und direkte Fahrt nach
12887
Hamburg müssen wir haben.«
12889
»Herr Konsul nehmen sich der Sache warm an.«
12891
»Tja ... soweit das in meinen Kräften steht, und soweit mein bißchen
12892
Einfluß reicht ... Ich interessiere mich für unsere Eisenbahnpolitik,
12893
und das ist Tradition bei uns, denn mein Vater hat schon seit 51 dem
12894
Vorstand der Büchener Bahn angehört, und daran liegt es denn auch wohl,
12895
daß ich mit meinen zweiunddreißig Jahren hineingewählt bin; meine
12896
Verdienste sind ja noch nicht beträchtlich ...«
12898
»Oh, Herr Konsul; nach Herrn Konsuls Rede damals in der
12901
»Ja, damit habe ich wohl etwas Eindruck gemacht, und der gute Wille ist
12902
jedenfalls vorhanden. Ich kann nur dankbar sein, wissen Sie, daß mein
12903
Vater, Großvater und Urgroßvater mir die Wege geebnet haben, und daß
12904
viel von dem Vertrauen und dem Ansehen, das sie sich in der Stadt
12905
erworben haben, ohne weiteres auf mich übertragen wird, denn sonst
12906
könnte ich mich gar nicht so regen ... Was hat zum Beispiel nach 48 und
12907
zu Anfang dieses Jahrzehnts mein Vater nicht alles für die Reformation
12908
unseres Postwesens getan! Denken Sie mal, Wenzel, wie er in der
12909
Bürgerschaft gemahnt hat, die Hamburger Diligencen mit der Post zu
12910
vereinigen, und wie er _anno_ 50 beim Senate, der damals ganz
12911
unverantwortlich langsam war, mit immer neuen Anträgen zum Anschluß an
12912
den deutsch-österreichischen Postverein getrieben hat ... Wenn wir jetzt
12913
einen niedrigen Portosatz für Briefe haben und die Kreuzbandsendungen
12914
und die Freimarken und Briefkasten und die telegraphischen Verbindungen
12915
mit Berlin und Travemünde, er ist nicht der Letzte, dem wir dafür zu
12916
danken haben, und wenn er und ein paar andere Leute den Senat nicht
12917
immer wieder gedrängt hätten, so wären wir wohl ewig hinter der
12918
dänischen und der Thurn- und Taxischen Post zurückgeblieben. Nun, und
12919
wenn ich jetzt in solchen Sachen meine Meinung sage, so hört man
12922
»Das weiß Gott, Herr Konsul, da sagen Herr Konsul ein wahres Wort. Und
12923
was die Hamburger Bahn betrifft: Das ist keine drei Tage her, daß
12924
Bürgermeister Doktor Överdieck zu mir gesagt hat: `Wenn wir erst so weit
12925
sind, daß wir in Hamburg ein geeignetes Terrain für den Bahnhof ankaufen
12926
können, dann schicken wir Konsul Buddenbrook mit; Konsul Buddenbrook ist
12927
bei solchen Verhandlungen besser zu gebrauchen als mancher Jurist´ ...
12928
Das waren seine Worte ...«
12930
»Na, das ist mir sehr schmeichelhaft, Wenzel. Aber geben Sie da überm
12931
Kinn noch ein bißchen Schaum; das muß da noch sauberer werden.«
12933
»Ja, kurz und gut, wir müssen uns regen! Nichts gegen Överdieck, aber er
12934
ist eben bei Jahren, und wenn ich Bürgermeister wäre, so ginge alles ein
12935
wenig schneller, meine ich. Ich kann nicht sagen, welche Genugtuung ich
12936
empfinde, daß nun die Arbeiten für die Gasbeleuchtung begonnen haben
12937
und endlich die fatalen Öllampen mit ihren Ketten verschwinden; ich darf
12938
mir gestehen, daß ich auch nicht ganz unbeteiligt an diesem Erfolge bin
12939
... Ach, was gibt es nicht noch alles zu tun! Denn, Wenzel, die Zeiten
12940
ändern sich, und wir haben eine Menge von Verpflichtungen gegen die neue
12941
Zeit. Wenn ich an meine erste Jugend denke ... Sie wissen besser, als
12942
ich, wie es damals bei uns aussah. Die Straßen ohne Trottoirs und
12943
zwischen den Pflastersteinen fußhoher Graswuchs und die Häuser mit
12944
Vorbauten und Beischlägen und Bänken ... Und unsere Bauten aus dem
12945
Mittelalter waren durch Anbauten verhäßlicht und bröckelten nur so
12946
herunter, denn die einzelnen Leute hatten wohl Geld, und niemand
12947
hungerte; aber der Staat hatte gar nichts, und alles wurstelte so
12948
weiter, wie mein Schwager Permaneder sagt, und an Reparaturen war nicht
12949
zu denken. Das waren ganz behäbige und glückliche Generationen damals,
12950
und der Intimus meines Großvaters, wissen Sie, der gute Jean Jacques
12951
Hoffstede, spazierte umher und übersetzte kleine unanständige Gedichte
12952
aus dem Französischen ... aber beständig so weiter konnte es nicht
12953
gehen; es hat sich vieles geändert und wird sich noch immer mehr ändern
12954
müssen ... Wir haben nicht mehr 37000 Einwohner, sondern schon über 50,
12955
wie Sie wissen, und der Charakter der Stadt ändert sich. Da haben wir
12956
Neubauten, und die Vorstädte, die sich ausdehnen, und gute Straßen und
12957
können die Denkmäler aus unserer großen Zeit restaurieren. Aber das ist
12958
am Ende bloß äußerlich. Das meiste vom Wichtigsten steht noch aus, mein
12959
lieber Wenzel; und nun bin ich wieder bei dem _ceterum censeo_ meines
12960
seligen Vaters angelangt: der Zollverein, Wenzel, wir müssen in den
12961
Zollverein, das sollte gar keine Frage mehr sein, und Sie müssen mir
12962
alle helfen, wenn ich dafür kämpfe ... Als Kaufmann, glauben Sie mir,
12963
weiß ich da besser Bescheid als unsere Diplomaten, und die Angst, an
12964
Selbständigkeit und Freiheit einzubüßen, ist lächerlich in diesem Falle.
12965
Das Inland, die Mecklenburg und Schleswig-Holstein, würde sich uns
12966
erschließen, und das ist um so wünschenswerter, als wir den Verkehr mit
12967
dem Norden nicht mehr so vollständig beherrschen wie früher ... genug
12968
... bitte, das Handtuch, Wenzel«, schloß der Konsul, und wenn dann noch
12969
über den augenblicklichen Kurs des Roggens ein Wort gesagt worden war,
12970
der auf 55 Taler stehe und noch immer verflucht zum Fallen inkliniere,
12971
wenn vielleicht noch eine Bemerkung über irgendein Familienereignis in
12972
der Stadt gefallen war, so verschwand Herr Wenzel durch das Souterrain,
12973
um auf der Straße sein blankes Schaumgefäß aufs Pflaster zu entleeren,
12974
und der Konsul stieg über die Wendeltreppe ins Schlafzimmer hinauf, wo
12975
er Gerda, die unterdessen erwacht war, auf die Stirn küßte und sich
12978
Diese kleinen Morgengespräche mit dem aufgeweckten Barbier bildeten die
12979
Einleitung zu den lebhaftesten und tätigsten Tagen, über und über
12980
ausgefüllt mit Denken, Reden, Handeln, Schreiben, Berechnen, Hin- und
12981
Widergehen ... Dank seinen Reisen, seinen Kenntnissen, seinen Interessen
12982
war Thomas Buddenbrook in seiner Umgebung der am wenigsten bürgerlich
12983
beschränkte Kopf, und sicherlich war er der erste, die Enge und
12984
Kleinheit der Verhältnisse zu empfinden, in denen er sich bewegte. Aber
12985
draußen in seinem weiteren Vaterlande war auf den Aufschwung des
12986
öffentlichen Lebens, den die Revolutionsjahre gebracht hatten, eine
12987
Periode der Erschlaffung, des Stillstandes und der Umkehr gefolgt, zu
12988
öde, um einen lebendigen Sinn zu beschäftigen, und so besaß er denn
12989
Geist genug, um den Spruch von der bloß symbolischen Bedeutung alles
12990
menschlichen Tuns zu seiner Lieblingswahrheit zu machen und alles, was
12991
an Wollen, Können, Enthusiasmus und aktivem Schwung sein eigen war, in
12992
den Dienst des kleinen Gemeinwesens zu stellen, in dessen Bezirk sein
12993
Name zu den ersten gehörte -- sowie in den Dienst dieses Namens und des
12994
Firmenschildes, das er ererbt ... Geist genug, seinen Ehrgeiz, es im
12995
kleinen zu Größe und Macht zu bringen, gleichzeitig zu belächeln und
12998
Kaum hatte er, von Anton bedient, im Speisezimmer das Frühstück
12999
genommen, so machte er Straßentoilette und begab sich in sein Kontor an
13000
der Mengstraße. Er verweilte dort nicht viel länger als eine Stunde. Er
13001
schrieb zwei oder drei dringende Briefe und Telegramme, erteilte diese
13002
oder jene Weisung, gab gleichsam dem großen Triebrade des Geschäftes
13003
einen kleinen Stoß und überließ dann die Überwachung des Fortganges dem
13004
bedächtigen Seitenblick des Herrn Marcus.
13006
Er zeigte sich und sprach in Sitzungen und Versammlungen, verweilte an
13007
der Börse unter den gotischen Arkaden am Marktplatz, tat
13008
Inspektionsgänge an den Hafen, in die Speicher, verhandelte als Reeder
13009
mit Kapitänen ... und es folgten, unterbrochen nur durch ein flüchtiges
13010
Frühstück mit der alten Konsulin und das Mittagessen mit Gerda, nach
13011
welchem er eine halbe Stunde auf dem Diwan mit einer Zigarre und der
13012
Zeitung verbrachte, bis in den Abend hinein eine Menge von Arbeiten:
13013
handelte es sich nun um sein eigenes Geschäft oder um Zoll, Steuer, Bau,
13014
Eisenbahn, Post, Armenpflege; auch in Gebiete, die ihm eigentlich
13015
fernlagen und in der Regel den »Gelehrten« zustanden, verschaffte er
13016
sich Einsicht, und besonders in Finanzangelegenheiten bewies er rasch
13017
eine glänzende Begabung ...
13019
Er hütete sich, das gesellige Leben zu vernachlässigen. Zwar ließ in
13020
dieser Beziehung seine Pünktlichkeit zu wünschen übrig, und beständig
13021
erst in der letzten Sekunde, wenn seine Gattin, in großer Toilette, und
13022
der Wagen unten schon eine halbe Stunde gewartet hatten, erschien er mit
13023
einem »Pardon, Gerda; Geschäfte ...« um sich hastig in den Frack zu
13024
werfen. Aber an Ort und Stelle, bei Diners, Bällen und Abendgesellschaften
13025
verstand er es doch, ein lebhaftes Interesse an den Tag zu legen, sich
13026
als liebenswürdigen Causeur zu zeigen ... und er und seine Gattin
13027
standen den anderen reichen Häusern an Repräsentation nicht nach; seine
13028
Küche, sein Keller galten für »tip-top«, er war als verbindlicher,
13029
aufmerksamer und umsichtiger Gastgeber geschätzt, und der Witz seiner
13030
Toaste erhob sich über das Durchschnittsniveau. Stille Abende aber
13031
verbrachte er in Gerdas Gesellschaft, indem er rauchend ihrem
13032
Geigenspiel lauschte oder ein Buch mit ihr las, deutsche, französische
13033
und russische Erzählungen, die sie auswählte ...
13035
So arbeitete er und zwang den Erfolg, denn sein Ansehen wuchs in der
13036
Stadt, und trotz der Kapitalsentziehungen durch Christians Etablierung
13037
und Tonys zweite Heirat hatte die Firma vortreffliche Jahre. Bei alledem
13038
aber gab es manches, was für Stunden seinen Mut lähmte, die Elastizität
13039
seines Geistes beeinträchtigte, seine Stimmung trübte.
13041
Da war Christian in Hamburg, dessen Sozius, Herr Burmeester, im Frühling
13042
dieses Jahres 58 ganz plötzlich einem Schlaganfalle erlag. Seine Erben
13043
entzogen der Firma das Kapital des Verstorbenen, und der Konsul
13044
widerriet es seinem Bruder dringend, sie mit seinen eigenen Mitteln
13045
fortzuführen, denn er wisse wohl, wie schwer es sei, ein größer
13046
zugeschnittenes Geschäft mit plötzlich stark vermindertem Kapital zu
13047
halten. Aber Christian drang auf die Fortdauer seiner Selbständigkeit,
13048
er übernahm Aktiva und Passiva von H. C. F. Burmeester & Comp. ... und
13049
Unannehmlichkeiten standen zu befürchten.
13051
Da war ferner des Konsuls Schwester Klara in Riga ... Daß ihre Ehe mit
13052
dem Pastor Tiburtius ohne Kindersegen geblieben war, mochte hingehen,
13053
denn Klara Buddenbrook hatte sich niemals Kinder gewünscht und besaß
13054
ohne Zweifel höchst wenig mütterliches Talent. Aber ihre Gesundheit
13055
ließ, ihren und ihres Mannes Briefen zufolge, allzuviel zu wünschen
13056
übrig, und die Gehirnschmerzen, an denen sie schon als junges Mädchen
13057
gelitten, traten, so hieß es, neuerdings periodisch in fast
13058
unerträglichem Grade auf.
13060
Das war beunruhigend. Eine dritte Sorge aber bestand darin, daß auch
13061
hier, an Ort und Stelle selbst, für das Fortleben des Familiennamens
13062
noch immer keine Sicherheit gegeben war. Gerda behandelte diese Frage
13063
mit einem souveränen Gleichmut, der einer degoutierten Ablehnung äußerst
13064
nahe kam. Thomas verschwieg seinen Kummer. Die alte Konsulin aber nahm
13065
die Sache in die Hand und zog Grabow beiseite. »Doktor, unter uns, da
13066
muß endlich etwas geschehen, nicht wahr? Ein bißchen Bergluft in Kreuth
13067
und ein bißchen Seeluft in Glücksburg oder Travemünde scheint da nicht
13068
anzuschlagen. Was meinen Sie ...« Und Grabow, weil sein angenehmes
13069
Rezept: »Strenge Diät; ein wenig Taube, ein wenig Franzbrot« in diesem
13070
Falle doch wohl wieder einmal nicht energisch genug eingegriffen haben
13071
würde, verordnete Pyrmont und Schlangenbad ...
13073
Das waren drei Bedenken. Und Tony? -- Arme Tony!
13078
Sie schrieb: »Und wenn ich `Frikadellen´ sage, so begreift sie es nicht,
13079
denn es heißt hier `Pflanzerln´; und wenn sie `Karfiol´ sagt, so findet
13080
sich wohl nicht so leicht ein Christenmensch, der darauf verfällt, daß
13081
sie Blumenkohl meint; und wenn ich sage: `Bratkartoffeln´, so schreit
13082
sie so lange `Wahs!´, bis ich `Geröhste Kartoffeln´ sage, denn so heißt
13083
es hier, und mit `Wahs´ meint sie `Wie beliebt´. Und das ist nun schon
13084
die zweite, denn die erste Person, welche Kathi hieß, habe ich mir
13085
erlaubt, aus dem Hause zu schicken, weil sie immer gleich grob wurde;
13086
oder wenigstens schien es mir so, denn ich kann mich auch geirrt haben,
13087
wie ich nachträglich einsehe, denn man weiß hier nicht recht, ob die
13088
Leute eigentlich grob oder freundlich reden. Diese jetzige, welche
13089
Babette heißt, was Babett auszusprechen ist, hat übrigens ein recht
13090
angenehmes Exterieur und schon etwas ganz Südliches, wie es hier manche
13091
gibt, mit schwarzem Haar und schwarzen Augen und Zähnen, um die man sie
13092
beneiden könnte. Auch sie ist willig und bereitet unter meiner Anleitung
13093
manches von unseren heimatlichen Gerichten, so gestern zum Beispiel
13094
Sauerampfer mit Korinthen, aber davon habe ich großen Kummer gehabt,
13095
denn Permaneder nahm mir dies Gemüse so übel (obgleich er die Korinthen
13096
mit der Gabel herauspickte), daß er den ganzen Nachmittag nicht mit mir
13097
sprach, sondern nur murrte, und kann ich sagen, Mutter, daß das Leben
13098
nicht immer leicht ist.«
13100
Allein, es waren nicht nur die »Pflanzerln« und der Sauerampfer, die ihr
13101
das Leben verbitterten ... Gleich in den Flitterwochen hatte ein Schlag
13102
sie getroffen, ein Unvorhergesehenes, Ungeahntes, Unfaßliches war über
13103
sie hereingebrochen, ein Ereignis, das ihr alle Freudigkeit genommen
13104
hatte und das sie nicht zu verwinden vermochte. Dieses Ereignis war
13107
Erst als das Ehepaar Permaneder bereits einige Wochen in München lebte,
13108
hatte Konsul Buddenbrook die testamentarisch fixierte Mitgift seiner
13109
Schwester, das heißt 51000 Mark Kurant, flüssig machen können, und diese
13110
Summe war hierauf, in Gulden umgesetzt vollkommen richtig in Herrn
13111
Permaneders Hände gelangt. Herr Permaneder hatte sie sicher und nicht
13112
ungünstig deponiert. Was er aber dann, ohne Zögern und Erröten, seiner
13113
Gattin gesagt hatte, war dies: »Tonerl« -- er nannte sie Tonerl --
13114
»Tonerl, mir war's gnua. Mehr brauchen mer nimmer. I hab' mi allweil
13115
g'schunden, und jetzt will i mei Ruh, Himmi Sakrament. Mer vermieten's
13116
Parterre und die zwoate Etasch, und dahier hamer a guate Wohnung und
13117
können a Schweinshaxen essen und brauchen uns net allweil gar so nobi
13118
z'sammrichten und aufdrahn ... und am Abend hab' i 's Hofbräuhaus. I bin
13119
ka Prozen net und mag net allweil a Göld z'ammscharrn; i mag mei
13120
G'müatlichkeit! Von morgen ab mach' i Schluß und werd' Privatier!«
13122
»Permaneder!« hatte sie ausgerufen, und zwar zum ersten Male mit dem
13123
ganz besonderen Kehllaut, mit dem sie Herrn Grünlichs Namen zu nennen
13124
pflegte. Er aber hatte nur geantwortet: »A geh, sei stad!« und dann
13125
hatte ein Streit sich entsponnen, wie er, so früh, so ernst und heftig,
13126
das Glück einer Ehe für alle Zeit erschüttern muß ... Er war Sieger
13127
geblieben. Ihr leidenschaftlicher Widerstand war an seinem Drang nach
13128
»G'müatlichkeit« gescheitert, das Ende war gewesen, daß Herr Permaneder
13129
sein in dem Hopfengeschäft steckendes Kapital liquidiert hatte, so daß
13130
nun Herr Noppe seinerseits das »Komp.« auf seiner Karte blau
13131
durchstreichen konnte ... und wie die Mehrzahl seiner Freunde, mit denen
13132
er abends am Stammtische im Hofbräuhause Karten spielte und seine
13133
regelmäßigen drei Liter trank, beschränkte Tonys Gatte nun seine
13134
Tätigkeit auf Mietesteigern als Hausbesitzer und ein bescheidenes und
13135
friedliches Kuponschneiden.
13137
Der Konsulin war dies ganz einfach mitgeteilt worden. In den Briefen
13138
aber, die Frau Permaneder darüber an ihren Bruder geschrieben hatte, war
13139
der Schmerz zu erkennen gewesen, den sie empfand ... arme Tony! ihre
13140
schlimmsten Befürchtungen waren weitaus übertroffen worden. Sie hatte
13141
zuvor gewußt, daß Herr Permaneder nichts von der »Regsamkeit« besaß, von
13142
der ihr erster Gatte zu viel an den Tag gelegt hatte; daß er aber so
13143
gänzlich die Erwartungen zuschanden machen werde, die sie noch am
13144
Vorabend ihrer Verlobung gegen Mamsell Jungmann ausgesprochen hatte, daß
13145
er so völlig die Verpflichtungen verkennen werde, die er übernahm,
13146
indem er eine Buddenbrook ehelichte, das hatte sie nicht geahnt ...
13148
Es mußte verwunden werden, und ihre Familie zu Hause ersah aus ihren
13149
Briefen, wie sie resignierte. Ziemlich einförmig lebte sie mit ihrem
13150
Manne und Erika, welche die Schule besuchte, dahin, besorgte ihren
13151
Hausstand, verkehrte freundschaftlich mit den Leuten, die für das
13152
Parterre und den ersten Stock sich als Mieter gefunden hatten, sowie mit
13153
der Familie Niederpaur am Marienplatz und berichtete dann und wann von
13154
Hoftheaterbesuchen, die sie mit ihrer Freundin Eva vornahm, denn Herr
13155
Permaneder liebte dergleichen nicht, und es erwies sich, daß er, der in
13156
seinem »liaben« München mehr als vierzig Jahre alt geworden war, noch
13157
niemals das Innere der Pinakothek erblickt hatte.
13159
Die Tage gingen ... Die rechte Freude aber an ihrem neuen Leben war für
13160
Tony dahin, seit Herr Permaneder sich sofort nach dem Empfang ihrer
13161
Mitgift zur Ruhe gesetzt hatte. Die Hoffnung fehlte. Niemals würde sie
13162
einen Erfolg, einen Aufschwung nach Hause berichten können. So wie es
13163
jetzt war, sorglos aber beschränkt und so herzlich wenig »vornehm«, so
13164
sollte es unabänderlich bleiben bis an ihr Lebensende. Das lastete auf
13165
ihr. Und aus ihren Briefen ging ganz deutlich hervor, daß gerade diese
13166
nicht sehr gehobene Stimmung ihr die Eingewöhnung in die süddeutschen
13167
Verhältnisse erschwerte. Es ging ja im einzelnen. Sie lernte es, sich
13168
mit den Dienstmädchen und Lieferanten zu verständigen, »Pflanzerln«
13169
statt »Frikadellen« zu sagen und ihrem Manne keine Fruchtsuppe mehr
13170
vorzusetzen, nachdem er dergleichen als »a G'schlamp, a z'widres«
13171
bezeichnet hatte. Aber im großen ganzen blieb sie stets eine Fremde in
13172
ihrer neuen Heimat, denn die Empfindung, daß eine geborene Buddenbrook
13173
zu sein hier unten durchaus nichts Bemerkenswertes war, bedeutete eine
13174
beständige, eine unaufhörliche Demütigung für sie, und wenn sie
13175
brieflich erzählte, irgendein Maurersmann habe sie, in der einen Hand
13176
einen Maßkrug und in der anderen einen Radi am Schwanze, auf der Straße
13177
angeredet und gesagt: »I bitt', wiea spät is', Frau Nachborin?«, so war
13178
trotz aller Scherzhaftigkeit ein sehr starker Unterton von Entrüstung
13179
fühlbar, und man konnte überzeugt sein, daß sie den Kopf zurückgelegt
13180
und den Mann weder einer Antwort noch eines Blickes gewürdigt hatte ...
13181
Übrigens war es nicht diese Formlosigkeit und dieser geringe Sinn für
13182
Distanz allein, was ihr fremd und unsympathisch blieb: Sie drang nicht
13183
tief in das Münchener Leben und Treiben ein, aber es umgab sie doch die
13184
Münchener Luft, die Luft einer großen Stadt, voller Künstler und Bürger,
13185
die nichts taten, eine ein wenig demoralisierte Luft, die mit Humor
13186
einzuatmen ihre Stimmung ihr oft verwehrte.
13188
Die Tage gingen ... Dann aber schien doch ein Glück kommen zu wollen,
13189
und zwar dasjenige, welches man in der »Breiten Straße« und der
13190
»Mengstraße« vergeblich ersehnte, denn nicht lange nach dem Neujahrstage
13191
1859 ward die Hoffnung zur Gewißheit, daß Tony zum zweiten Male Mutter
13194
Die Freude zitterte nun gleichsam in ihren Briefen, die so voll von
13195
übermütigen, kindlichen und gewichtigen Redewendungen waren, wie lange
13196
nicht mehr. Die Konsulin, welche, abgesehen von ihren Sommerfahrten, die
13197
sich übrigens mehr und mehr auf den Ostseestrand beschränkten, das
13198
Reisen nicht mehr liebte, bedauerte, ihrer Tochter in dieser Zeit
13199
fernbleiben zu müssen und versicherte sie nur schriftlich des göttlichen
13200
Beistandes; Tom aber sowohl wie Gerda meldeten sich zur Taufe an, und
13201
Tonys Kopf war erfüllt von Plänen in betreff eines =vornehmen= Empfanges
13202
... Arme Tony! Dieser Empfang sollte sich unendlich traurig gestalten,
13203
und diese Taufe, die ihr als ein entzückendes kleines Fest mit Blumen,
13204
Konfekt und Schokolade vor Augen geschwebt hatte, sollte überhaupt nicht
13205
stattfinden, -- denn das Kind, ein kleines Mädchen, sollte nur ins Leben
13206
treten, um nach einer armen Viertelstunde, während welcher der Arzt sich
13207
vergeblich bemühte, den unfähigen kleinen Organismus in Gang zu halten,
13208
dem Dasein schon nicht mehr anzugehören ...
13210
Konsul Buddenbrook und seine Gattin fanden, als sie in München
13211
eintrafen, Tony selbst nicht außer Gefahr. Weit schwerer als das
13212
erstemal lag sie danieder, und während mehrerer Tage verweigerte ihr
13213
Magen, an dessen nervöser Schwäche sie schon vorher hie und da gelitten
13214
hatte, die Annahme fast jeder Nahrung. Indessen, sie genas, und die
13215
Buddenbrooks konnten in dieser Beziehung beruhigt abreisen, -- wenn auch
13216
andererseits nicht ohne Nachdenklichkeit, denn es hatte sich ihnen
13217
allzu deutlich gezeigt und besonders der Beobachtung des Konsuls war es
13218
nicht entgangen, daß nicht einmal das gemeinsame Leid imstande gewesen
13219
war, die beiden Gatten einander erheblich zu nähern.
13221
Nichts gegen Herrn Permaneders gutes Herz ... Er war aufrichtig
13222
erschüttert gewesen, dicke Tränen waren angesichts seines leblosen
13223
Kindes aus den verquollenen Äuglein über die zu aufgetriebenen Wangen in
13224
den ausgefransten Schnauzbart geflossen, und er hatte mehrere Male mit
13225
schwerem Seufzen hervorgebracht: »Es is halt a Kreiz! A Kreiz is'! O
13226
mei!« Aber seine »G'müatlichkeit« hatte nach Tonys Begriffen nicht lange
13227
genug darunter gelitten, seine Abendstunden im Hofbräuhaus hatten ihn
13228
bald darüber hinweggebracht, und mit dem bequemen, gutmütigen, ein
13229
bißchen mürrischen und ein bißchen stumpfsinnigen Fatalismus, der in
13230
seinem »Es is halt a Kreiz!« enthalten war, »wurstelte« er fort.
13232
Tonys Briefe aber verloren von nun an nicht mehr den Ton von
13233
Hoffnungslosigkeit und selbst von Anklage ... »Ach, Mutter«, schrieb
13234
sie, »was kommt auch alles auf mich herab! Erst Grünlich und der
13235
Bankerott und dann Permaneder als Privatier und dann das tote Kind.
13236
Womit habe ich soviel Unglück verdient!«
13238
Der Konsul, zu Hause, wenn er solche Äußerungen las, konnte sich eines
13239
Lächelns nicht erwehren, denn trotz alles Schmerzes, der in den Zeilen
13240
steckte, verspürte er einen Unterton von beinahe drolligem Stolz, und er
13241
wußte, daß Tony Buddenbrook als Madame Grünlich sowohl wie als Madame
13242
Permaneder immer ein Kind blieb, daß sie alle ihre sehr erwachsenen
13243
Erlebnisse fast ungläubig, dann aber mit kindlichem Ernst, kindlicher
13244
Wichtigkeit und -- vor allem -- kindlicher Widerstandsfähigkeit erlebte.
13246
Sie begriff nicht, womit sie Leid verdient habe; denn, obgleich sie sich
13247
über die große Frömmigkeit ihrer Mutter mokierte, war sie selbst so voll
13248
davon, daß sie an Verdienst und Gerechtigkeit auf Erden inbrünstig
13249
glaubte ... arme Tony! Der Tod ihres zweiten Kindes war weder der letzte
13250
noch der härteste Schlag, der sie treffen sollte ...
13252
Als das Jahr 1859 sich zu Ende neigte, geschah etwas Fürchterliches ...
13257
Es war ein Tag gegen Ende des Novembers, ein kalter Herbsttag mit
13258
dunstigem Himmel, der beinahe schon Schnee versprach, und wallendem
13259
Nebel, den hie und da die Sonne durchdrang, einer von den Tagen, an
13260
denen in der Hafenstadt der scharfe Nordost mit einem tückischen Pfeifen
13261
um die massigen Ecken der Kirchen sauste und eine Lungenentzündung
13262
wohlfeil zu haben war.
13264
Als gegen Mittag Konsul Thomas Buddenbrook ins »Frühstückszimmer« trat,
13265
fand er seine Mutter, die Brille auf der Nase, am Tische über ein Papier
13268
»Tom«, sagte sie, indem sie ihn anblickte und das Papier mit beiden
13269
Händen beiseitehielt, als zögere sie, es ihm zu zeigen ... »Erschrick
13270
nicht ... Etwas Unangenehmes ... Ich begreife nicht ... Es ist aus
13271
Berlin ... Es muß etwas geschehen sein ...«
13273
»Bitte!« sagte er kurz. Er verfärbte sich, und einen Augenblick traten
13274
die Muskeln an seinen Schläfen hervor, denn er biß die Zähne zusammen.
13275
Er streckte mit einer äußerst entschiedenen Bewegung die Hand aus, als
13276
wollte er sagen: »Nur schnell, bitte, das Unangenehme, nur keine
13279
Stehend las er die Zeilen auf dem Papier, indem er eine seiner hellen
13280
Brauen emporzog und langsam die lange Spitze seines Schnurrbartes durch
13281
die Finger zog. Es war ein Telegramm und lautete: »Erschreckt nicht.
13282
Komme umgehend mit Erika. Alles ist zu Ende. Eure unglückliche Antonie.«
13284
»Umgehend ... umgehend«, sagte er gereizt und sah die Konsulin mit
13285
schnellem Kopfschütteln an. »Was heißt umgehend ...«
13287
»Das ist nur so eine Redensart, Tom, das hat nichts zu bedeuten. Sie
13288
meint: `Sogleich´ oder etwas Ähnliches ...«
13290
»Und aus Berlin? Was tut sie in Berlin? Wie kommt sie nach Berlin?«
13292
»Ich weiß es nicht, Tom, ich begreife es noch nicht; die Depesche ist
13293
vor zehn Minuten gekommen. Aber es muß etwas geschehen sein, und wir
13294
müssen abwarten, was es ist. Gott wird geben, daß alles sich zum Guten
13295
wendet. Setze dich, mein Sohn, und iß.«
13297
Er nahm Platz und schenkte sich mechanisch Porter in das dicke, hohe
13300
»Alles ist zu Ende«, wiederholte er. »Und dann `Antonie´. --
13303
Dann aß und trank er schweigend.
13305
Nach einer Weile wagte die Konsulin zu bemerken: »Sollte es etwas mit
13306
Permaneder sein, Tom?«
13308
Er zuckte nur die Achseln, ohne aufzusehen.
13310
Beim Weggehen, den Türgriff in der Hand, sagte er: »Ja, Mutter, wir
13311
müssen sie erwarten. Da sie dir vermutlich nicht spät in der Nacht ins
13312
Haus fallen will, wird es wohl morgen im Laufe des Tages sein. Daß man
13313
mich benachrichtigt, bitte ...«
13317
Die Konsulin wartete von Stunde zu Stunde. Sie ruhte höchst ungenügend
13318
in der Nacht, klingelte nach Ida Jungmann, die jetzt neben ihr im
13319
hintersten Zimmer des Zwischengeschosses schlief, ließ sich Zuckerwasser
13320
bereiten und saß sogar während längerer Zeit mit einer Handarbeit
13321
aufrecht im Bett. Auch der nächste Vormittag verstrich in ängstlicher
13322
Spannung. Beim zweiten Frühstück erklärte der Konsul, daß Tony, wenn sie
13323
käme, nur drei Uhr dreiunddreißig Minuten nachmittags von Büchen
13324
eintreffen könne. Um diese Zeit saß die Konsulin im »Landschaftszimmer«
13325
am Fenster und versuchte, in einem Buche zu lesen, auf dessen schwarzem
13326
Lederdeckel ein in Gold gepreßter Palmzweig zu sehen war.
13328
Es war ein Tag wie gestern: Kälte, Dunst und Wind; hinter dem blanken
13329
Schmiedeeisengitter knisterte der Ofen. Die alte Dame erbebte und
13330
blickte hinaus, sobald Wagenräder vernehmbar wurden. Und dann, um vier
13331
Uhr, als sie eben nicht achtgegeben und beinahe ihrer Tochter vergessen
13332
hatte, entstand eine Bewegung unten im Hause ... Sie wandte hastig den
13333
Oberkörper zum Fenster, sie wischte mit dem Spitzentuch den tropfenden
13334
Beschlag von der Scheibe: in der Tat, eine Droschke hielt drunten, und
13335
schon kam man die Treppe herauf!
13337
Sie erfaßte mit den Händen die Armlehnen des Stuhles, um aufzustehen;
13338
aber sie besann sich eines Besseren, ließ sich wieder zurücksinken und
13339
drehte nur mit beinahe abwehrendem Ausdruck den Kopf ihrer Tochter
13340
entgegen, die, während Erika Grünlich an Ida Jungmanns Hand bei der
13341
Glastür stehenblieb, mit schnellen und fast stürzenden Schritten durch
13344
Frau Permaneder trug einen pelzbesetzten Überwurf und einen länglichen
13345
Filzhut mit Schleier. Sie sah sehr bleich und angegriffen aus, ihre
13346
Augen waren gerötet, und ihre Oberlippe bebte wie früher, wenn Tony als
13347
Kind geweint hatte. Sie erhob die Arme, ließ sie wieder sinken und glitt
13348
alsdann bei ihrer Mutter auf die Knie nieder, indem sie das Gesicht in
13349
den Kleiderfalten der alten Dame verbarg und bitterlich aufschluchzte.
13350
Dies alles machte den Eindruck, als sei sie in dieser Weise geraden
13351
Weges von München in einem Atem dahergestürmt -- und da lag sie nun, am
13352
Ziele ihrer Flucht, erschöpft und gerettet. Die Konsulin schwieg einen
13355
»Tony!« sagte sie dann mit zärtlichem Vorwurf, zog vorsichtig die große
13356
Nadel hervor, die Frau Permaneders Hut an ihrer Frisur befestigte, legte
13357
den Hut auf die Fensterbank und streichelte liebevoll und beruhigend mit
13358
beiden Händen das starke, aschblonde Haar ihrer Tochter ...
13360
»Was ist, mein Kind ... Was ist geschehen?«
13362
Aber man mußte sich mit Geduld waffnen, denn es dauerte noch ziemlich
13363
lange, bis dieser Frage eine Antwort zuteil wurde.
13365
»Mutter«, brachte Frau Permaneder hervor ... »Mama!« Allein dabei blieb
13368
Die Konsulin erhob den Kopf nach der Glastür, und während sie mit einem
13369
Arm ihre Tochter umfing, streckte sie die freie Hand ihrer Enkelin
13370
entgegen, die dort, einen Zeigefinger am Munde, verlegen stand.
13372
»Komm, Kind; komm her und sage guten Tag. Du bist groß geworden und
13373
siehst frisch und wohl aus, wofür wir Gott danken wollen. Wie alt bist
13376
»Dreizehn, Großmama ...«
13378
»Tausend! Eine Dame ...«
13380
Und über Tonys Kopf hinweg küßte sie das kleine Mädchen, worauf sie
13381
fortfuhr: »Geh' nun mit Ida hinauf, mein Kind, wir werden bald essen.
13382
Aber jetzt hat Mama mit mir zu reden, weißt du.«
13384
Sie blieben allein.
13386
»Nun, meine liebe Tony? Willst du nicht aufhören zu weinen? Wenn Gott
13387
uns eine Prüfung schickt, so sollen wir sie mit Fassung ertragen. Nimm
13388
dein Kreuz auf dich, heißt es ... Aber hast du vielleicht den Wunsch,
13389
ebenfalls erst hinaufzugehen, ein wenig zu ruhen und dich zu erfrischen
13390
und dann zu mir herunterzukommen? Unsere gute Jungmann hat dein Zimmer
13391
vorbereitet ... Ich danke dir für dein Telegramm. Es hat uns recht sehr
13392
erschreckt ...« Sie unterbrach sich, denn Laute drangen bebend und
13393
gedämpft aus ihren Kleiderfalten hervor: »Er ist ein verworfener Mensch
13394
... ein verworfener Mensch ist er ... ein verworfener ...«
13396
Über dieses starke Wort kam Frau Permaneder nicht hinweg. Es schien sie
13397
völlig zu beherrschen. Sie preßte ihr Gesicht dabei fester in den Schoß
13398
der Konsulin und machte neben dem Stuhle sogar eine Faust.
13400
»Solltest du etwa deinen Mann damit meinen, mein Kind?« fragte die alte
13401
Dame nach einer Pause. »Ich sollte nicht auf diesen Gedanken kommen, ich
13402
weiß es; aber es bleibt mir nichts anderes zu denken übrig, Tony. Hat
13403
Permaneder dir Leid zugefügt? Hast du dich über ihn zu beklagen?«
13405
»Babett ...!« stieß Frau Permaneder hervor ... »Babett ...!«
13407
»Babette?« wiederholte die Konsulin fragend ... Dann lehnte sie sich
13408
zurück und ließ ihre hellen Augen durchs Fenster schweifen. Sie wußte
13409
nun, um was es sich handelte. Eine Pause trat ein, die dann und wann von
13410
Tonys allmählich seltener werdendem Schluchzen unterbrochen ward.
13412
»Tony«, sagte die Konsulin nach einer Weile, »ich sehe nun, daß dir in
13413
der Tat ein Kummer zugefügt worden ist ... daß dir Grund zur Klage
13414
gegeben wurde ... Aber war es nötig, diese Klage so stürmisch zu äußern?
13415
War diese Reise von München hierher notwendig, zusammen mit Erika, so
13416
daß es für weniger verständige Leute als ich und du beinahe den Anschein
13417
haben könnte, als wolltest du niemals zu deinem Manne zurückkehren ...?«
13419
»Das will ich auch nicht!... Nie ...!« rief Frau Permaneder, indem sie
13420
mit einem Ruck den Kopf erhob, ihrer Mutter aus weinenden Augen ganz
13421
wild ins Gesicht blickte und dann ebenso plötzlich ihr Antlitz wieder
13422
in den Kleiderfalten verbarg. Die Konsulin überhörte diesen Ausruf.
13424
»-- Nun aber«, setzte sie mit erhöhter Stimme ein und wandte langsam
13425
ihren Kopf von einer Seite zur anderen ... »nun aber, da du hier bist,
13426
ist es gut so. Denn nun wirst du dein Herz erleichtern können und wirst
13427
mir alles erzählen, und dann wollen wir sehen, wie mit Liebe, Nachsicht
13428
und Bedacht der Schaden zu korrigieren ist.«
13430
»Nie!« sagte Tony noch einmal. »Nie!« Aber dann erzählte sie, und
13431
obgleich man nicht jedes Wort verstand, denn sie sprach in den faltigen
13432
Tuchrock der Konsulin hinein, und ihr Bericht war explosiv und von
13433
Ausrufen der äußersten Entrüstung zerrissen, so ward doch klar, daß ganz
13434
einfach folgender Sachverhalt bestand.
13436
Um die Mitternacht zwischen dem 24. und 25. des laufenden Monats war
13437
Madame Permaneder, die während des Tages an Störungen der Magennerven
13438
gelitten und sehr spät Ruhe gefunden hatte, aus einem leichten Schlummer
13439
geweckt worden. Ein anhaltendes Geräusch dort vorn an der Treppe war
13440
schuld daran gewesen, ein schlecht unterdrückter, geheimnisvoller Lärm,
13441
in dem man das Knarren der Stufen, ein hustendes Gekicher, gepreßte
13442
Worte der Abwehr und ganz sonderbare knurrende und ächzende Laute
13443
unterschied ... Nicht einen Augenblick konnte man über das Wesen dieses
13444
Geräusches im Zweifel sein. Frau Permaneder hatte nicht sobald, mit noch
13445
schlaftrunkenen Sinnen, etwas davon aufgefangen, als sie es auch schon
13446
begriffen, als sie auch schon das Blut hatte aus ihren Wangen weichen
13447
fühlen und zum Herzen strömen, das sich zusammengezogen und mit
13448
schweren, beklemmenden Schlägen fortgearbeitet hatte. Während einer
13449
langen, grausamen Minute hatte sie wie betäubt, wie gelähmt in den
13450
Kissen gelegen; dann aber, als dieses schamlose Geräusch nicht
13451
verstummte, hatte sie mit bebenden Händen Licht gemacht, hatte voll
13452
Verzweiflung, Grimm und Abscheu das Bett verlassen, hatte die Tür
13453
aufgerissen und war in Pantoffeln, das Licht in der Hand, nach vorn bis
13454
in die Nähe der Treppe geeilt: jener schnurgeraden »Himmelsleiter«, die
13455
von der Haustür direkt in das erste Stockwerk heraufführte. Und dort,
13456
auf den oberen Stufen eben dieser Himmelsleiter, hatte sich ihr das
13457
Bild in voller Körperlichkeit dargeboten, das sie drinnen im
13458
Schlafzimmer, beim Lauschen auf das unzweideutige Geräusch, mit Augen,
13459
die das Entsetzen erweiterte, schon im Geiste hatte erblicken müssen ...
13460
Es war eine Balgerei gewesen, ein unerlaubter und unsittlicher Ringkampf
13461
zwischen der Köchin Babette und Herrn Permaneder. Das Mädchen, ein
13462
Schlüsselbund und ebenfalls eine Kerze in der Hand, denn sie mußte so
13463
spät noch irgendwo im Hause beschäftigt gewesen sein, hatte sich hin und
13464
her gewunden und den Hausherrn abzuwehren gestrebt, der seinerseits, den
13465
Hut auf dem Hinterkopfe, sie umschlungen gehalten und beständig versucht
13466
hatte, seinen Seehundsschnauzbart in ihr Gesicht zu drücken, was ihm hie
13467
und da auch gelungen war ... Bei Antoniens Erscheinen hatte Babette
13468
etwas wie »Jessas, Maria und Joseph!« hervorgestoßen, »Jessas, Maria und
13469
Joseph!« hatte Herr Permaneder wiederholt, hatte sie fahren lassen --
13470
und während das Mädchen im selben Augenblick auf geschickte Weise
13471
spurlos verschwunden gewesen war, hatte er mit hängenden Armen,
13472
hängendem Kopfe und hängendem Schnauzbart vor seiner Gattin gestanden
13473
und irgend etwas ausgemacht Unsinniges wie: »Is dös a Hetz!... Es is
13474
halt a Kreiz!« gestammelt ... Sie war nicht mehr dagewesen, als er die
13475
Augen aufzuschlagen gewagt hatte; drinnen im Schlafzimmer hatte er sie
13476
gefunden: in halb sitzender, halb liegender Haltung, auf dem Bette, wie
13477
sie unter verzweifeltem Schluchzen immer wieder das Wort »Schande«
13478
wiederholt hatte. Er war, in schlaffer Haltung an die Tür gelehnt,
13479
stehengeblieben, hatte eine ruckartige Schulterbewegung nach vorn
13480
gemacht, als erteilte er ihr einen aufmunternden Rippenstoß, und hatte
13481
gesagt: »Sei stad! A, geh, sei stad, Tonerl! Schau, der Ramsauer Franzl
13482
hat halt sei Namenstag g'feiert heit abend ... Wir san alle a weng
13483
schwar ...« Aber der stark alkoholische Geruch, den er im Zimmer
13484
verbreitet, hatte ihre Exaltation zum Gipfel gebracht. Sie hatte nicht
13485
mehr geschluchzt, sie war nicht länger hinfällig und schwach gewesen,
13486
ihr Temperament hatte sie emporgerissen, und mit der Maßlosigkeit der
13487
Verzweiflung hatte sie ihm laut ihren ganzen Ekel, ihren ganzen Abscheu,
13488
ihre fundamentale Verachtung seines ganzen Seins und Wesens ins Gesicht
13489
geschleudert ... Herr Permaneder war nicht stillgeblieben. Sein Kopf
13490
war heiß gewesen, denn er hatte seinem Freunde Ramsauer zu Ehren nicht
13491
nur viele »Maß«, sondern auch »Schampaninger« getrunken; er hatte
13492
geantwortet, wild geantwortet, ein Streit hatte sich entsponnen, weit
13493
schrecklicher als derjenige bei Herrn Permaneders Rückzug in den
13494
Ruhestand, Frau Antonie hatte ihre Kleider zusammengerafft, um sich ins
13495
Wohnzimmer zurückzuziehen ... Da aber war, zum Schlusse, ein Wort ihr
13496
nachgeklungen, ein Wort seinerseits, ein Wort, das sie nicht wiederholen
13497
würde, das über ihre Lippen niemals kommen würde, ein Wort ... ein
13500
Dies alles war der hauptsächlichste Inhalt der Geständnisse, die Madame
13501
Permaneder in die Kleiderfalten ihrer Mutter hinein verlauten ließ. Über
13502
das »Wort« aber, dieses »Wort«, das sie in jener fürchterlichen Nacht
13503
bis in ihr Innerstes hinein hatte erstarren lassen, kam sie nicht
13504
hinweg, sie wiederholte es nicht, oh, bei Gott, sie wiederholte es
13505
nicht, beteuerte sie, obgleich die Konsulin durchaus nicht in sie drang,
13506
sondern nur, kaum merklich, langsam und nachdenklich mit dem Kopfe
13507
nickte, während sie auf Tonys schönes, aschblondes Haar herniedersah.
13509
»Ja, ja«, sagte sie, »da habe ich traurige Dinge hören müssen, Tony. Und
13510
ich verstehe alles ganz gut, meine arme kleine Dirn, denn ich bin nicht
13511
bloß deine Mama, sondern auch eine Frau wie du ... Ich sehe nun, wie
13512
sehr berechtigt dein Schmerz ist, wie völlig dein Mann während eines
13513
Augenblickes der Schwäche vergessen hat, was er dir schuldet ...«
13515
»Während eines Augenblickes?!« rief Tony. Sie sprang auf. Sie trat zwei
13516
Schritte zurück und trocknete fieberhaft ihre Augen. »Während eines
13517
Augenblickes, Mama?!... Was er mir und unserem Namen schuldig ist, das
13518
hat er vergessen ... das hat er nicht gewußt von Anfang an! Ein Mann,
13519
der sich mit der Mitgift seiner Frau ganz einfach zur Ruhe setzt! Ein
13520
Mann ohne Ehrgeiz, ohne Streben, ohne Ziele! Ein Mann, der statt des
13521
Blutes einen dickflüssigen Malz- und Hopfenbrei in den Adern hat ... ja,
13522
davon bin ich überzeugt!... der sich dann noch zu solchen Niedrigkeiten
13523
herbeiläßt, wie dies mit der Babett, und, wenn man ihm seine
13524
Nichtswürdigkeit vorhält, mit einem Worte antwortet ... einem
13527
Sie war wieder bei dem Worte angelangt, diesem Worte, das sie nicht
13528
wiederholte. Plötzlich aber tat sie einen Schritt vorwärts und sagte mit
13529
unvermittelt ruhiger und sanft interessierter Stimme: »Wie allerliebst.
13530
Woher ist das, Mama?«
13532
Sie wies mit dem Kinn auf einen kleinen Behälter, einen rohrgeflochtenen
13533
Korb, einen zierlichen kleinen Ständer, mit Atlasschleifen geschmückt,
13534
in dem die Konsulin seit einiger Zeit ihre Handarbeit zu bewahren
13537
»Ich habe ihn mir zugelegt«, antwortete die alte Dame; »ich hatte ihn
13540
»Vornehm!« ... sagte Tony, indem sie das Gestell mit seitwärts geneigtem
13541
Kopfe betrachtete. Auch die Konsulin ließ ihre Augen auf dem Gegenstande
13542
ruhen, aber ohne ihn zu sehen, in tiefen Gedanken.
13544
»Nun, meine liebe Tony«, sagte sie endlich, indem sie ihrer Tochter noch
13545
einmal die Hände entgegenstreckte, »wie die Dinge auch liegen mögen: du
13546
bist da, und so sei mir denn aufs herzlichste willkommen, mein Kind. Mit
13547
ruhigerem Gemüte wird sich alles besprechen lassen ... Lege ab, in
13548
deinem Zimmer, mach' es dir bequem ... Ida!?« rief sie mit erhobener
13549
Stimme in den Eßsaal hinein. »Daß Kuverts aufgelegt werden für Madame
13550
Permaneder und Erika, Liebe!«
13555
Tony hatte sich gleich nach Tische in ihr Schlafzimmer zurückgezogen,
13556
denn während des Essens war ihr durch die Konsulin die Vermutung
13557
bestätigt worden, daß Thomas um ihre Ankunft wisse ... und sie schien
13558
auf das Zusammentreffen mit ihm nicht sonderlich begierig zu sein.
13560
Um sechs Uhr nachmittags kam der Konsul herauf. Er begab sich ins
13561
Landschaftszimmer, woselbst er eine lange Unterredung mit seiner Mutter
13564
»Und wie ist sie?« fragte er. »Wie benimmt sie sich?«
13566
»Ach, Tom, ich fürchte, sie ist unversöhnlich ... Mein Gott, sie ist so
13567
sehr gereizt ... Und dann dieses Wort ... wenn ich nur das Wort wüßte,
13568
das er gesagt hat ...«
13572
»Tu' das, Tom. Aber klopfe leise, daß sie nicht erschrickt, und bleibe
13573
ruhig, hörst du? Ihre Nerven sind in Unordnung ... Sie hat fast nichts
13574
gegessen ... Es ist ihr Magen, weißt du ... Sprich mit Ruhe zu ihr.«
13576
Rasch, mit gewohnheitsmäßiger Eile immer eine Stufe überspringend, stieg
13577
er die Treppe zur zweiten Etage empor, indem er sinnend an seinem
13578
Schnurrbart drehte. Aber schon während er pochte, hellte sein Gesicht
13579
sich auf, denn er war entschlossen, die Angelegenheit so lange wie nur
13580
möglich mit Humor zu behandeln.
13582
Er öffnete auf ein leidend klingendes Herein und fand Frau Permaneder
13583
vollständig angekleidet auf dem Bette liegend, dessen Vorhänge
13584
zurückgeschlagen waren, das Plumeau hinter dem Rücken, ein Fläschchen
13585
mit Magentropfen neben sich auf dem Nachttischchen. Sie wandte sich ein
13586
wenig, stützte den Kopf auf die Hand und sah ihm mit einem schmollenden
13587
Lächeln entgegen. Er verbeugte sich sehr tief, indem er mit
13588
ausgebreiteten Händen eine feierliche Geste beschrieb.
13590
»Gnädige Frau ...! Was verschafft uns die Ehre, diese Haupt- und
13591
Residenzstädterin ...«
13593
»Gib mir einen Kuß, Tom«, sagte sie und richtete sich auf, um ihm ihre
13594
Wange darzubieten und sich dann wieder zurücksinken zu lassen. »Guten
13595
Tag, mein guter Junge! Du bist ganz unverändert, wie ich sehe, seit
13596
euren Münchener Tagen!«
13598
»Na, darüber kannst du hier bei geschlossenen Rouleaus wohl kein Urteil
13599
haben, meine Teure. Und jedenfalls hättest du mir das Kompliment nicht
13600
vor der Nase wegnehmen dürfen, denn es gebührt natürlich dir ...«
13602
Er hatte, während er ihre Hand in der seinen hielt, einen Stuhl
13603
herbeigezogen und sich zu ihr gesetzt.
13605
»Wie schon so oft ausgesprochen: du und Klothilde ...«
13607
»Pfui, Tom!... Wie geht es Thilda?«
13609
»Gut, versteht sich! Madame Krauseminz sorgt für sie und daß sie nicht
13610
hungert. Was aber nicht hindert, daß Thilda hier Donnerstags ganz
13611
ausnehmend schlingt, als wäre es für die nächste Woche im voraus ...«
13613
Sie lachte so herzlich wie seit langer Zeit nicht mehr, brach dann aber
13614
mit einem Seufzer ab und fragte: »Und was machen die Geschäfte?«
13616
»Tja ... man schlägt sich durch. Man muß zufrieden sein ...«
13618
»Oh, Gott sei Dank, daß =hier= wenigstens alles steht, wie es stehen
13619
soll! Ach, ich bin gar nicht aufgelegt, vergnügt zu schwatzen ...«
13621
»Schade. Den Humor soll man sich, _quand même_, bewahren.«
13623
»Nein, damit ist es aus, Tom. -- Du weißt alles?«
13625
»Du weißt alles ...!« wiederholte er, ließ ihre Hand fahren und setzte
13626
mit einem Ruck seinen Stuhl ein Stück rückwärts. »Heiliger Gott, wie das
13627
klingt! `Alles!´ Was liegt alles in diesem `alles´ begraben! `Ich senkt'
13628
auch meine Liebe und meinen Schmerz hinein´, wie? Nein, höre mal ...«
13630
Sie schwieg. Sie streifte ihn mit einem tief erstaunten und tief
13633
»Ja, dies Gesicht habe ich erwartet«, sagte er, »denn ohne dieses
13634
Gesicht wärest du ja nicht hier. Aber erlaube mir, meine gute Tony, daß
13635
ich die Sache um ebensoviel zu leicht nehme, als du sie zu schwer
13636
nimmst, und du wirst sehen, daß wir uns vorteilhaft ergänzen ...«
13638
»Zu schwer, Thomas, zu schwer ...?«
13640
»Ja; Herrgott, spielen wir doch nicht Tragödie! Reden wir ein bißchen
13641
bescheiden und nicht mit `Alles ist zu Ende´ und `Eure unglückliche
13642
Antonie´! Versteh' mich recht, Tony; du weißt gut, daß ich der erste
13643
bin, der sich so herzlich über dein Kommen freut. Ich habe schon lange
13644
gewünscht, du möchtest einmal zu Besuch kommen, ohne deinen Mann, daß
13645
wir wieder einmal so ganz _en famille_ beieinander sitzen könnten. Aber,
13646
daß du =jetzt= kommst und =so= kommst, pardon, das ist eine Dummheit,
13647
mein Kind!... Ja ... laß mich zu Ende sprechen! -- Permaneder hat sich
13648
reichlich mangelhaft betragen, das muß wahr sein, und das werde auch ich
13649
ihm zu verstehen geben, sei überzeugt ...«
13651
»=Wie= er sich betragen hat, Thomas«, unterbrach sie ihn, indem sie sich
13652
aufrichtete und eine Hand auf ihre Brust legte, »das habe ich ihm schon
13653
zu verstehen gegeben und nicht nur `zu verstehen gegeben´, will ich dir
13654
sagen. Weitere Auseinandersetzungen mit dem Manne halte ich, meinem
13655
Taktgefühle nach, für vollkommen unangebracht!« Damit ließ sie sich
13656
wieder zurückfallen und blickte streng und unbewegt zur Decke empor.
13658
Er neigte sich, wie unter dem Gewichte ihrer Worte, und dabei blickte er
13659
lächelnd auf seine Knie nieder.
13661
»Na, so werde ich ihm denn also =keinen= groben Brief schreiben: ganz
13662
wie du befiehlst. Zuletzt ist es ja deine Angelegenheit, und es genügt
13663
durchaus, daß du selbst ihm den Kopf zurechtsetzest; als seine Frau bist
13664
du berufen dazu. Bei Lichte besehen, sind ihm ja übrigens die mildernden
13665
Umstände nicht abzusprechen. Ein Freund hat Namenstag gefeiert, er kommt
13666
in festlicher Stimmung, in etwas zu guter Laune nach Hause und läßt sich
13667
einen kleinen Übergriff, einen kleinen unziemlichen Seitensprung
13668
zuschulden kommen ...«
13670
»Thomas«, sagte sie, »ich verstehe dich nicht. Ich verstehe nicht den
13671
Ton, in dem du redest! Du ... Ein Mann von deinen Grundsätzen ... Aber
13672
du hast ihn nicht gesehen! Wie er sie anfaßte in seiner Betrunkenheit,
13675
»Komisch genug, wie ich mir denken kann. Aber das ist es ja, Tony: du
13676
nimmst die Sache nicht komisch genug, und daran ist natürlich dein Magen
13677
schuld. Du hast deinen Mann auf einer Schwäche ertappt, du hast ihn ein
13678
wenig lächerlich gesehen ... aber das sollte dich nicht so fürchterlich
13679
empören, sondern dich eher ein bißchen amüsieren und ihn dir menschlich
13680
noch näher bringen ... Ich will dir eines sagen: du konntest sein
13681
Betragen natürlich nicht ohne weiteres mit Lächeln und Stillschweigen
13682
billigen, bewahre. Du bist abgereist: das war eine Demonstration, etwas
13683
lebhaft vielleicht, vielleicht eine zu strenge Strafe -- denn wie
13684
betrübt er in diesem Augenblick dasitzt, das möchte ich nicht sehen --
13685
aber immerhin gerecht. Meine Bitte geht nur dahin, du möchtest die Dinge
13686
etwas weniger entrüstet und wenig mehr vom politischen Standpunkte aus
13687
betrachten ... wir reden ja unter uns. Ich muß dir einmal andeuten, daß
13688
es doch in einer Ehe keineswegs gleichgültig ist, auf welcher Seite sich
13689
das ... moralische Übergewicht befindet ... versteh' mich, Tony! Dein
13690
Mann hat sich eine Blöße gegeben, darüber besteht kein Zweifel. Er hat
13691
sich kompromittiert, sich ein bißchen lächerlich gemacht ... lächerlich
13692
gerade darum, weil sein Vergehen so harmlos, so wenig ernsthaft zu
13693
nehmen ist ... Kurz, seine Würde ist nicht mehr unantastbar, eine
13694
gewisse Überlegenheit ist jetzt entschieden auf deiner Seite, und
13695
gesetzt, daß du sie geschickt zu nutzen verstehst, so ist dein Glück
13696
gewiß. Wenn du nun in ... sagen wir vierzehn Tagen -- ja, bitte, so
13697
lange muß ich dich =mindestens= für uns in Anspruch nehmen! -- in
13698
vierzehn Tagen nach München zurückkehrst, so wirst du sehen ...«
13700
»Ich werde nicht nach München zurückkehren, Thomas.«
13702
»Wie beliebt?« fragte er, indem er sein Gesicht verzog, eine Hand ans
13703
Ohr legte und sich vorwärts beugte ...
13705
Sie lag auf dem Rücken, den Hinterkopf fest in die Kissen gedrückt, so
13706
daß das Kinn mit einer gewissen Strenge vorgeschoben schien.
13707
»=Niemals=«, sagte sie; worauf sie lang und geräuschvoll ausatmete und
13708
sich räusperte: langsam und ausdrücklich -- ein trockenes Räuspern, das
13709
anfing, bei ihr zur nervösen Gewohnheit zu werden und wahrscheinlich mit
13710
ihrem Magenleiden zusammenhing. -- Eine Pause trat ein.
13712
»Tony«, sagte er plötzlich, indem er aufstand und seine Hand fest auf
13713
die Lehne des Empirestuhles niedersinken ließ, »du machst mir keinen
13716
Ein Seitenblick belehrte sie, daß er bleich war, und daß die Muskeln an
13717
seinen Schläfen arbeiteten. Ihre Lage war nicht länger haltbar. Auch sie
13718
geriet in Bewegung, und, um die Furcht zu verbergen, die sie vor ihm
13719
empfand, ward sie laut und zornig. Sie schnellte empor, sie ließ die
13720
Füße vom Bette hinuntergleiten, und mit hitzigen Wangen,
13721
zusammengezogenen Brauen und raschen Kopf- und Handbewegungen fing sie
13722
an: »Skandal, Thomas ...?! Du magst mir befehlen, keinen Skandal zu
13723
machen, wenn man mich mit Schande bedeckt, mir ganz einfach ins Gesicht
13724
speit?! Ist das eines Bruders würdig?... Ja, diese Frage mußt du mir
13725
gefälligst erlauben! Rücksicht und Takt sind gute Sachen, bewahre! Aber
13726
es gibt eine Grenze im Leben, Tom -- und ich kenne das Leben, so gut wie
13727
du -- wo die Angst vor dem Skandale anfängt, Feigheit zu heißen, ja! Und
13728
ich wundere mich, daß ich dir das sagen muß, die ich bloß eine Gans und
13729
ein dummes Ding bin ... Ja, das bin ich und verstehe es gut, wenn
13730
Permaneder mich nie geliebt hat, denn ich bin alt und ein häßliches
13731
Weib, das mag sein, und Babett ist sicherlich hübscher. Aber das enthob
13732
ihn nicht der Rücksicht, die er meiner Herkunft und meiner Erziehung und
13733
meinem Empfinden schuldete! Du hast nicht gesehen, Tom, in welcher Weise
13734
er diese Rücksicht vergaß, und wer es nicht gesehen hat, der weiß gar
13735
nichts, denn erzählen läßt es sich nicht, wie widerlich er war in seinem
13736
Zustande ... Und du hast das Wort nicht gehört, das er mir, mir, deiner
13737
Schwester, nachgerufen hat, als ich meine Sachen nahm und das Zimmer
13738
verließ, um im Wohnzimmer auf dem Sofa zu schlafen ... Ja! da habe ich
13739
hinter mir aus seinem Munde ein Wort anhören müssen ... ein Wort ... ein
13740
Wort ...! ... Kurz, Thomas, dies Wort war es ganz eigentlich, daß du es
13741
weißt, was mich veranlaßt, =gezwungen= hat, während der ganzen Nacht zu
13742
packen und in aller Frühe Erika zu wecken und davonzugehen, denn bei
13743
einem Manne, in dessen Nähe ich solcher Worte gewärtig sein muß, konnte
13744
ich nicht bleiben, und zu einem solchen Manne werde ich, wie gesagt,
13745
niemals zurückkehren ... oder ich müßte verkommen und könnte mich nicht
13746
mehr achten und hätte keinen Halt mehr im Leben!«
13748
»Willst du nun die Güte haben, mir dieses gottverdammte Wort
13749
mitzuteilen, ja oder nein?«
13751
»Niemals, Thomas! Niemals werde ich es mit meinen Lippen wiederholen!
13752
Ich weiß, was ich mir und dir in diesen Räumen schuldig bin ...«
13754
»Dann ist nicht mit dir zu reden!«
13756
»Das mag sein; und ich wollte, wir redeten auch gar nicht mehr
13759
»Was willst du tun? Willst du dich scheiden lassen?«
13761
»Das will ich, Tom. Das ist mein fester Entschluß. Das ist die
13762
Handlungsweise, die ich mir selbst und meinem Kinde und euch allen
13765
»Na, das ist also Unsinn«, sagte er gelassen, drehte sich auf dem
13766
Absatze um und ging von ihr fort, als ob damit überhaupt das Ganze
13767
erledigt sei. »Zum Scheidenlassen gehören zwei, mein Kind; und daß
13768
Permaneder sich so ohne weiteres mit Vergnügen dazu bereit finden wird,
13769
der Gedanke ist doch wohl bloß belustigend ...«
13771
»Oh, das laß meine Sorge sein«, sagte sie, ohne sich einschüchtern zu
13772
lassen. »Du meinst, daß er sich widersetzen wird, und zwar wegen meiner
13773
17000 Taler Kurant; aber Grünlich hat auch nicht gewollt, und man hat
13774
ihn gezwungen, da gibt es Mittel, und ich gehe zu Doktor Gieseke; das
13775
ist Christians Freund, und der wird mir beistehen ... Gewiß, es war
13776
etwas anderes damals, ich weiß, was du sagen willst. Damals war es
13777
`Unfähigkeit des Mannes, seine Familie zu ernähren´ ja! Du siehst
13778
übrigens, daß ich sehr wohl Bescheid weiß in diesen Dingen, während du
13779
wahrhaftig tust, als wäre es das erstemal im Leben, daß ich mich
13780
scheiden lasse!... Aber das ist ganz gleich, Tom. Vielleicht geht es
13781
nicht an und ist unmöglich -- das mag sein; du kannst gern recht haben.
13782
Aber das ändert nichts. Das ändert nichts an meinen Entschlüssen. Dann
13783
mag er die Groschen behalten -- es gibt höhere Dinge im Leben! Aber mich
13784
sieht er niemals wieder.«
13786
Und darauf räusperte sie sich. Sie hatte das Bett verlassen, hatte sich
13787
in dem Armsessel niedergelassen, einen Ellenbogen auf die Seitenlehne
13788
gestemmt und das Kinn so fest in die Hand vergraben, daß vier gekrümmte
13789
Finger die Unterlippe gepackt hielten. So, den Oberkörper seitwärts
13790
gewandt, blickte sie mit erregten und geröteten Augen starr durchs
13793
Der Konsul schritt im Zimmer auf und ab, seufzte, schüttelte den Kopf
13794
und zuckte die Achseln. Schließlich blieb er mit gerungenen Händen vor
13797
»Du bist ja ein Kindskopf, Tony!« sagte er verzagt und flehend. »Jedes
13798
Wort, das du sprichst, ist ja eine Kinderei! Willst du dich nun nicht,
13799
wenn ich dich bitte, dazu bequemen, die Dinge während eines einzigen
13800
Augenblicks wie ein Erwachsener anzusehen?! Merkst du denn nicht, daß du
13801
dich benimmst, als hättest du etwas Ernstes und Schweres erlebt, als
13802
hätte dein Mann dich grausam betrogen, dich vor aller Welt mit Schmach
13803
überhäuft!? Aber so bedenke doch nur, daß ja nichts geschehen ist! Daß
13804
von diesem albernen Vorkommnis auf eurer Himmelsleiter in der
13805
Kaufingerstraße ja keines Menschen Seele etwas weiß! Daß du deiner und
13806
unserer Würde durchaus keinen Abbruch tust, wenn du in aller Ruhe und
13807
höchstens mit einer etwas mokanten Miene zu Permaneder zurückkehrst ...
13808
im Gegenteil! daß du unserer Würde erst schadest, indem du das =nicht=
13809
tust, denn erst dadurch machst du etwas aus dieser Bagatelle, erst
13810
dadurch erregst du Skandal ...«
13812
Sie ließ rasch ihr Kinn los und sah ihm ins Gesicht.
13814
»Jetzt sei still, Thomas! Jetzt bin ich an der Reihe! Jetzt höre zu!
13815
Wie? ist nur das Schande und Skandal im Leben, was laut wird und unter
13816
die Leute kommt? Ach nein! Der heimliche Skandal, der im stillen an
13817
einem zehrt und die Selbstachtung wegfrißt, der ist viel schlimmer! Sind
13818
wir Buddenbrooks Leute, die nach außen hin `tip-top´ sein wollen, wie
13819
ihr hier immer sagt, und zwischen unseren vier Wänden dafür Demütigungen
13820
hinunterwürgen? Tom, ich muß mich wundern über dich! Stelle dir Vater
13821
vor, wie er sich heute verhalten würde, und dann urteile in seinem
13822
Sinne! Nein, Sauberkeit und Offenheit muß herrschen ... Du kannst
13823
täglich aller Welt deine Bücher zeigen und sagen: Da ... Anders darf es
13824
mit keinem von uns sein. Ich weiß, wie Gott mich gemacht hat. Ich
13825
fürchte mich gar nicht! Laß Julchen Möllendorpf nur an mir vorübergehen
13826
und mich nicht grüßen! Und laß Pfiffi Buddenbrook nur Donnerstags hier
13827
sitzen und sich vor Schadenfreude schütteln und sagen: `Nun, das ist ja
13828
leider schon das zweitemal, aber es hat =natürlich= beide Male an den
13829
Männern gelegen!´ Ich bin so unsäglich erhaben darüber, Thomas! Ich
13830
weiß, daß ich getan habe, was ich für gut hielt. Aber aus Angst vor
13831
Julchen Möllendorpf und Pfiffi Buddenbrook Beleidigungen
13832
hinunterzuschlucken und mich in einem ungebildeten Bierdialekt
13833
beschimpfen zu lassen ... aus Angst vor ihnen bei einem Manne, in einer
13834
Stadt auszuhalten, wo ich mich an solche Worte, an solche Szenen, wie
13835
die auf der Himmelsleiter, gewöhnen müßte, wo ich mich und meine
13836
Herkunft und meine Erziehung und alles in mir ganz und gar verleugnen
13837
lernen müßte, nur um glücklich und zufrieden zu erscheinen, -- das nenne
13838
=ich= unwürdig, das nenne =ich= skandalös, will ich dir sagen ...!«
13840
Sie brach ab, warf das Kinn wieder in die Hand und starrte erregt auf
13841
die Fensterscheiben. Er stand vor ihr, auf ein Bein gestützt, die Hände
13842
in den Hosentaschen, und ließ seine Augen auf ihr ruhen, ohne sie zu
13843
sehen, in Gedanken, und indem er langsam den Kopf hin und her bewegte.
13845
»Tony«, sagte er, »du machst mir nichts weis. Ich habe es schon vorher
13846
gewußt, aber in deinen letzten Worten hast du dich verraten. Es ist gar
13847
nicht der Mann. Es ist die Stadt. Es ist gar nicht diese Albernheit auf
13848
der Himmelsleiter. Es ist das Ganze überhaupt. Du hast dich nicht
13849
akklimatisieren können. Sei aufrichtig.«
13851
»Da hast du recht, Thomas!« rief sie. Sie sprang sogar empor dabei und
13852
wies ihm mit ausgestreckter Hand gerade ins Gesicht hinein. Ihr Gesicht
13853
war rot. Sie blieb in einer kriegerischen Haltung stehen, mit der einen
13854
Hand den Stuhl erfaßt, gestikulierte mit der anderen und hielt eine
13855
Rede, eine leidenschaftlich bewegte Rede, die unaufhaltsam
13856
hervorsprudelte. Der Konsul betrachtete sie tief erstaunt. Kaum, daß sie
13857
sich Zeit ließ, Atem zu schöpfen, so brausten und brodelten schon wieder
13858
neue Worte hervor. Ja, sie fand Worte, sie drückte alles aus, was sich
13859
während dieser Jahre an Widerwillen in ihr gesammelt hatte: ein bißchen
13860
ungeordnet und verworren, aber sie drückte es aus. Es war eine
13861
Explosion, ein Ausbruch voll verzweifelter Ehrlichkeit ... Hier entlud
13862
sich etwas, gegen das es keine Widerrede gab, etwas Elementares, worüber
13863
nicht mehr zu streiten war ...
13865
»Da hast du recht, Thomas! Das sage du nur noch einmal! Ha, ich bemerke
13866
dir ausdrücklich, daß ich kein dummes Ding mehr bin und weiß, was ich
13867
vom Leben zu halten habe. Ich erstarre nicht mehr, wenn ich erfahre, daß
13868
es nicht immer ganz säuberlich zugeht darin. Ich habe Leute wie
13869
Tränen-Trieschke gekannt und bin mit Grünlich verheiratet gewesen und
13870
kenne unsere Suitiers hier in der Stadt. Ich bin keine Unschuld vom
13871
Lande, will ich dir sagen, und die Sache mit Babett an und für sich und
13872
aus dem Zusammenhang genommen, hätte mich nicht auf und davon gejagt,
13873
das glaube mir! Sondern die Sache ist die, Thomas, daß es das Maß voll
13874
gemacht hat ... und dazu gehörte nicht viel, denn es war eigentlich
13875
schon voll ... schon lange voll ... schon lange voll! Ein Nichts hätte
13876
es überfließen lassen und nun gar dies! Nun gar die Erkenntnis, daß ich
13877
mich nicht einmal in diesem Punkte auf Permaneder verlassen konnte! Das
13878
hat allem die Krone aufgesetzt! Das hat dem Faß den Boden ausgeschlagen!
13879
Das hat meinen Entschluß, von München auf und davon zu gehen, mit einem
13880
Schlage zur Reife gebracht, und der war lange, lange im Reifen begriffen
13881
gewesen, Tom, denn ich kann dort unten nicht leben, bei Gott und seinen
13882
heiligen Heerscharen, ich kann es nicht! =Wie= unglücklich ich gewesen
13883
bin, du weißt es nicht, Thomas, denn auch, als du zu Besuch kamst, habe
13884
ich nichts merken lassen, nein, denn ich bin eine Frau von Takt, die
13885
andere nicht mit Klagen belästigt und ihr Herz nicht an jedem Wochentage
13886
auf der Zunge trägt, und habe immer zur Verschlossenheit geneigt. Aber
13887
ich habe gelitten, Tom, gelitten mit allem, was in mir ist, und
13888
sozusagen mit meiner ganzen Persönlichkeit. Wie eine Pflanze, um mich
13889
dieses Bildes zu bedienen, wie eine Blume, die in fremdes Erdreich
13890
verpflanzt worden ... obgleich du den Vergleich wohl unpassend findest,
13891
denn ich bin ein häßliches Weib ... aber in fremderes Erdreich konnte
13892
ich nicht kommen, und lieber ginge ich in die Türkei! Oh, wir sollten
13893
niemals fortgehen, wir hier oben! Wir sollten an unserer Seebucht
13894
bleiben und uns redlich nähren ... Ihr habt euch zuweilen über meine
13895
Vorliebe für den Adel mokiert ... ja, ich habe in diesen Jahren oft an
13896
einige Worte gedacht, die mir vor längerer Zeit einmal jemand gesagt
13897
hat, ein gescheuter Mensch. `Sie haben Sympathie für die Adligen ...´
13898
sagte er, `soll ich Ihnen sagen, warum? Weil Sie selbst eine Adlige
13899
sind! Ihr Vater ist ein großer Herr und Sie sind eine Prinzeß. Ein
13900
Abgrund trennt Sie von uns anderen, die wir nicht zu Ihrem Kreise von
13901
herrschenden Familien gehören ...´ Ja, Tom, wir fühlen uns als Adel und
13902
fühlen einen Abstand und wir sollten nirgend zu leben versuchen, wo man
13903
nichts von uns weiß und uns nicht einzuschätzen versteht, denn wir
13904
werden nichts als Demütigungen davon haben, und man wird uns lächerlich
13905
hochmütig finden. Ja, -- alle haben mich lächerlich hochmütig gefunden.
13906
Man hat es mir nicht gesagt, aber gefühlt habe ich es zu jeder Stunde
13907
und auch darunter habe ich gelitten. Ha! In einem Lande, wo man Torte
13908
mit dem Messer ißt, und wo die Prinzen falsches Deutsch reden, und wo es
13909
als eine verliebte Handlungsweise auffällt, wenn ein Herr einer Dame
13910
den Fächer aufhebt, in einem solchen Lande ist es leicht, hochmütig zu
13911
scheinen, Tom! Akklimatisieren? Nein, bei Leuten ohne Würde, Moral,
13912
Ehrgeiz, Vornehmheit und Strenge, bei unsoignierten, unhöflichen und
13913
saloppen Leuten, bei Leuten, die zu gleicher Zeit träge und
13914
leichtsinnig, dickblütig und oberflächlich sind ... bei solchen Leuten
13915
kann ich mich nicht akklimatisieren und würde es niemals können, so wahr
13916
ich deine Schwester bin! Eva Ewers hat es gekonnt ... gut! Aber eine
13917
Ewers ist noch keine Buddenbrook, und dann hat sie ihren Mann, der zu
13918
etwas nütze ist im Leben. Wie aber habe ich es gehabt? Denke nach,
13919
Thomas, fang' von vorne an und erinnere dich! Ich bin von hier, aus
13920
diesem Hause, wo es etwas gilt, wo man sich regt und Ziele hat, dorthin
13921
gekommen, zu Permaneder, der sich mit meiner Mitgift zur Ruhe gesetzt
13922
hat ... ha, es war echt, es war wahrhaftig kennzeichnend, aber das war
13923
auch das einzig Erfreuliche daran. Was weiter? Ein Kind soll kommen! Wie
13924
habe ich mich gefreut! Es hätte mir alles entgolten! Was geschieht? Es
13925
stirbt. Es ist tot. Das war nicht Permaneders Schuld, behüte, nein. Er
13926
hatte getan, was er konnte, und ist sogar zwei bis drei Tage nicht ins
13927
Wirtshaus gegangen, bewahre! Aber es gehörte doch dazu, Thomas. Es
13928
machte mich nicht glücklicher, kannst du dir denken. Ich habe
13929
ausgehalten und nicht gemurrt. Ich bin allein und unverstanden und als
13930
hochmütig verschrien umhergegangen und habe mir gesagt: Du hast ihm dein
13931
Jawort fürs Leben erteilt. Er ist ein bißchen plump und träge und hat
13932
deine Hoffnungen getäuscht; aber er meint es gut, und sein Herz ist
13933
rein. Und dann habe ich dies erleben müssen und ihn in diesem
13934
widerlichen Augenblick gesehen. Dann habe ich erfahren: so gut versteht
13935
er mich und um so viel besser weiß er mich zu respektieren als die
13936
anderen, daß er mir ein Wort nachruft, ein Wort, das keiner deiner
13937
Speicherarbeiter einem Hunde zuwerfen würde! Und da habe ich gesehen,
13938
daß nichts mich hielt, und daß es eine Schande gewesen wäre, zu bleiben.
13939
Und als ich hier vom Bahnhof die Holstenstraße herauffuhr, ging der
13940
Träger Nielsen vorüber und nahm tief seinen Zylinder ab, und ich habe
13941
wiedergegrüßt: durchaus nicht hochmütig, sondern wie Vater die Leute
13942
grüßte ... so ... mit der Hand. Und jetzt bin ich hier. Und du kannst
13943
zwei Dutzend Arbeitspferde anspannen, Tom: nach München bekömmst du
13944
mich nicht wieder. Und morgen gehe ich zu Gieseke! --«
13946
Dies war die Rede, die Tony hielt, worauf sie sich ziemlich erschöpft in
13947
den Stuhl zurücksinken ließ, das Kinn in die Hand vergrub und auf die
13948
Fensterscheiben starrte.
13950
Ganz erschrocken, benommen, beinahe erschüttert stand der Konsul vor ihr
13951
und schwieg. Dann atmete er auf, erhob die Arme bis zur Höhe der
13952
Schultern und ließ sie auf die Oberschenkel hinabfallen.
13954
»Ja, da ist nichts zu machen!« sagte er leise, drehte sich still auf dem
13955
Absatz um und ging zur Tür.
13957
Sie sah ihm mit demselben Ausdruck nach, mit dem sie ihn empfangen
13958
hatte: leidend und schmollend.
13960
»Tom?« fragte sie. »Bist du mir böse?«
13962
Er hielt den ovalen Türgriff in der einen und machte eine müde Bewegung
13963
der Abwehr mit der anderen Hand. »Ach nein. Keineswegs.«
13965
Sie streckte die Hand nach ihm aus und legte den Kopf auf die Schulter.
13967
»Komm her, Tom ... Deine Schwester hat es nicht sehr gut im Leben. Alles
13968
kommt auf sie herab ... Und sie hat in diesem Augenblick wohl niemanden,
13969
der zu ihr steht ...«
13971
Er kehrte zurück und nahm ihre Hand: von der Seite, einigermaßen
13972
gleichgültig und matt, ohne sie anzusehen.
13974
Plötzlich begann ihre Oberlippe zu zittern ...
13976
»Du mußt nun allein arbeiten«, sagte sie. »Mit Christian, das ist wohl
13977
nichts Rechtes, und ich bin nun fertig ... ich habe abgewirtschaftet ...
13978
ich kann nichts mehr ausrichten ... ja, ihr müßt mir nun schon das
13979
Gnadenbrot geben, mir unnützem Weibe. Ich hätte nicht gedacht, daß es
13980
mir so gänzlich mißlingen würde, dir ein wenig zur Seite zu stehen, Tom!
13981
Nun mußt du ganz allein zusehen, daß wir Buddenbrooks den Platz
13982
behaupten ... Und Gott sei mit dir.«
13984
Es rollten zwei Tränen, große, helle Kindertränen über ihre Wangen
13985
hinunter, deren Haut anfing, kleine Unebenheiten zu zeigen.
13990
Tony ging nicht müßig, sie nahm ihre Sache in die Hand. In der Hoffnung,
13991
sie möchte sich beruhigen, besänftigen, anderen Sinnes werden, hatte der
13992
Konsul vorläufig nur eines von ihr verlangt: sich still zu verhalten
13993
und, sowie auch Erika, das Haus nicht zu verlassen. Alles konnte sich
13994
zum besten wenden ... Fürs erste sollte nichts in der Stadt bekannt
13995
werden. Der Familientag, am Donnerstag, ward abgesagt.
13997
Aber schon am ersten Tage nach Frau Permaneders Ankunft ward
13998
Rechtsanwalt Doktor Gieseke durch ein Schreiben von ihrer Hand in die
13999
Mengstraße entboten. Sie empfing ihn allein, in dem Mittelzimmer am
14000
Korridor der ersten Etage, wo geheizt worden war und wo sie zu
14001
irgendeinem Behufe auf einem schweren Tische ein Tintenfaß, Schreibzeug
14002
und eine Menge weißen Papiers in Folioformat, das von unten aus dem
14003
Kontor stammte, geordnet hatte. Man nahm in zwei Lehnstühlen Platz ...
14005
»Herr Doktor!« sagte sie, indem sie die Arme kreuzte, den Kopf
14006
zurücklegte und zur Decke emporblickte. »Sie sind ein Mann, der das
14007
Leben kennt, sowohl als Mensch wie von Berufs wegen; ich darf offen zu
14008
Ihnen sprechen!« Und dann eröffnete sie ihm, wie sich mit Babett und im
14009
Schlafzimmer alles begeben habe, worauf Doktor Gieseke bedauerte, ihr
14010
erklären zu müssen, daß weder der betrübende Vorfall auf der Treppe,
14011
noch die gewisse, ihr zuteil gewordene Beschimpfung, über die des Nähern
14012
sich zu äußern sie sich weigere, einen hinlänglichen Scheidungsgrund
14015
»Gut«, sagte sie. »Ich danke Ihnen.«
14017
Dann ließ sie sich eine Übersicht der zu Recht bestehenden
14018
Scheidungsgründe liefern und nahm daranschließend mit offenem Kopf und
14019
eindringlichem Interesse einen längeren dotalrechtlichen Vortrag
14020
entgegen, worauf sie den Doktor Gieseke vorläufig mit ernster
14021
Freundlichkeit entließ.
14023
Sie begab sich ins Erdgeschoß hinab und nötigte den Konsul in sein
14026
»Thomas«, sagte sie, »ich bitte dich, dem Manne nun unverzüglich zu
14027
schreiben ... ich nenne nicht gern seinen Namen. Was mein Geld
14028
betrifft, so bin ich aufs genaueste unterrichtet. Er soll sich erklären.
14029
So oder so, mich sieht er nicht wieder. Willigt er in die rechtskräftige
14030
Scheidung, gut, so betreiben wir Rechnungslegung sowie Erstattung meiner
14031
_dos_. Weigert er sich, so brauchen wir ebenfalls nicht zu verzagen,
14032
denn du mußt wissen, Tom, daß Permaneders Recht an meiner _dos_ nach
14033
seiner juristischen Gestalt allerdings Eigentum ist, -- gewiß, das ist
14034
zuzugeben! -- daß ich aber materiell immerhin auch meine Befugnisse
14035
habe, Gottseidank ...«
14037
Der Konsul ging, die Hände auf dem Rücken, umher und bewegte nervös die
14038
Schultern, denn das Gesicht, mit dem sie das Wort »_dos_« hervorbrachte,
14039
war gar zu unsäglich stolz.
14041
Er hatte keine Zeit. Er war bei Gott überhäuft. Sie sollte sich gedulden
14042
und sich gefälligst noch fünfzigmal besinnen! Ihm stand jetzt zunächst,
14043
und zwar morgenden Tages, eine Fahrt nach Hamburg bevor: zu einer
14044
Konferenz, einer leidigen Unterredung mit Christian. Christian hatte
14045
geschrieben, um Unterstützung, um Aushilfe geschrieben, welche die
14046
Konsulin seinem dereinstigen Erbe entnehmen mußte. Um seine Geschäfte
14047
stand es jammervoll, und obgleich er beständig einer Reihe von
14048
Beschwerden unterlag, schien er sich im Restaurant, im Zirkus, im
14049
Theater doch königlich zu amüsieren, und, den Schulden nach zu urteilen,
14050
die jetzt zutage kamen und die er auf seinen gut klingenden Namen hin
14051
hatte machen können, weit über seine Verhältnisse zu leben. Man wußte in
14052
der Mengstraße, wußte es im »Klub« und in der ganzen Stadt, wer vor
14053
allem schuld daran war. Es war eine weibliche Person, eine
14054
alleinstehende Dame, die Aline Puvogel hieß und zwei hübsche Kinder
14055
besaß. Von den Hamburger Kaufherren stand nicht Christian Buddenbrook
14056
allein zu ihr in engen und kostspieligen Beziehungen ...
14058
Kurz, es gab außer Tonys Scheidungswünschen der widerwärtigen Dinge
14059
noch mehr, und die Fahrt nach Hamburg war dringlich. Übrigens war es
14060
wahrscheinlich, daß Permaneder seinerseits zunächst selbst von sich
14061
hören lassen würde ...
14063
Der Konsul reiste, und er kehrte in zorniger und trüber Stimmung zurück.
14064
Da aber aus München noch immer keine Nachricht gekommen war, so sah er
14065
sich genötigt, den ersten Schritt zu tun. Er schrieb; schrieb kühl,
14066
sachlich und ein wenig von oben herab: Unleugbar sei Antonie im
14067
Zusammenleben mit Permaneder schweren Enttäuschungen ausgesetzt gewesen
14068
... auch abgesehen von Einzelheiten habe sie im großen und ganzen das
14069
erhoffte Glück in dieser Ehe nicht finden können ... ihr Wunsch, das
14070
Bündnis gelöst zu sehen, müsse dem billig Denkenden berechtigt
14071
erscheinen ... leider scheine ihr Entschluß, nicht nach München
14072
zurückzukehren, unerschütterlich festzustehen ... Und es folgte die
14073
Frage, wie Permaneder sich diesen Tatsachen gegenüber verhalte ...
14075
Tage der Spannung!... Dann antwortete Herr Permaneder.
14077
Er antwortete, wie niemand, wie weder Doktor Gieseke, noch die Konsulin,
14078
noch Thomas, noch selbst Antonie es erwartet hatte. Er willigte mit
14079
schlichten Worten in die Scheidung.
14081
Er schrieb, daß er das Vorgefallene herzlich bedaure, daß er aber
14082
Antoniens Wünsche respektiere, denn er sähe ein: sie und er paßten »doch
14083
halt nimmer so recht zueinand'«. Wenn er ihr schwere Jahre bereitet
14084
habe, so möge sie versuchen, sie zu vergessen und ihm zu verzeihen ...
14085
Da er sie und Erika wohl nicht wiedersehen werde, so wünsche er ihr und
14086
dem Kinde für immer alles erdenkliche Glück ... Alois Permaneder. --
14087
Ausdrücklich erbot er sich in einer Nachschrift zur sofortigen
14088
Restituierung der Mitgift. Er für sein Teil könne mit dem Seinen sorglos
14089
leben. Er brauche keine Frist, denn Geschäfte seien nicht abzuwickeln,
14090
das Haus sei seine Sache, und die Summe sei sofort liquid. --
14092
Tony war fast ein wenig beschämt und fühlte sich zum ersten Male
14093
geneigt, Herrn Permaneders geringe Leidenschaft in Geldangelegenheiten
14094
lobenswert zu finden.
14096
Nun trat Doktor Gieseke aufs neue in Funktion, er setzte sich mit dem
14097
Gatten in betreff des Scheidungsgrundes in Verbindung, »beiderseitige
14098
unüberwindliche Abneigung« ward festgesetzt, und der Prozeß begann --
14099
Tonys zweiter Scheidungsprozeß, dessen Phasen sie mit Ernst,
14100
Sachkenntnis und ungeheurem Eifer verfolgte. Sie sprach davon, wo sie
14101
ging und stand, so daß der Konsul mehrere Male ärgerlich wurde. Sie war
14102
fürs erste nicht imstande, seinen Kummer zu teilen. Sie war in Anspruch
14103
genommen von Wörtern wie »Früchte«, »Erträgnisse«, »Akzessionen«,
14104
»Dotalsachen«, »Tangibilien«, die sie, den Kopf zurückgelegt und die
14105
Schultern ein wenig emporgezogen, mit würdevoller Geläufigkeit beständig
14106
hervorbrachte. Den tiefsten Eindruck von Doktor Giesekes
14107
Auseinandersetzungen hatte ihr ein Paragraph gemacht, der von einem
14108
etwaigen im Dotalgrundstück gefundenen »Schatze« handelte, welcher als
14109
Bestandteil des Dotalvermögens anzusehen und nach Beendigung der Ehe
14110
herauszugeben sei. Von diesem Schatze, der gar nicht vorhanden war,
14111
erzählte sie aller Welt: Ida Jungmann, Onkel Justus, der armen
14112
Klothilde, den Damen Buddenbrook in der Breiten Straße, die übrigens,
14113
als ihnen die Ereignisse bekanntgeworden waren, die Hände im Schoße
14114
zusammengeschlagen und sich angeblickt hatten: starr vor Erstaunen, daß
14115
ihnen auch diese Genugtuung noch zuteil wurde ... Therese Weichbrodt,
14116
deren Unterricht Erika Grünlich nun wieder genoß, und sogar der guten
14117
Madame Kethelsen, die aus mehr als einem Grunde nicht das geringste
14120
Dann kam der Tag, an dem die Scheidung rechtskräftig und endgültig
14121
ausgesprochen wurde, an dem Tony die letzte notwendige Formalität
14122
erledigte, indem sie sich von Thomas die Familienpapiere erbat und
14123
eigenhändig das neue Faktum verzeichnete ... und nun galt es, sich an
14124
die Sachlage zu gewöhnen.
14126
Sie tat es mit Tapferkeit. Sie überhörte mit unberührbarer Würde die
14127
wunderbar hämischen kleinen Pointen der Damen Buddenbrook, sie übersah
14128
auf der Straße mit unaussprechlicher Kälte die Köpfe der Hagenströms und
14129
Möllendorpfs, die ihr begegneten, und sie verzichtete gänzlich auf das
14130
gesellschaftliche Leben, das ja übrigens seit Jahren nicht mehr in ihrem
14131
elterlichen Hause, sondern in dem ihres Bruders sich abspielte. Sie
14132
hatte ihre nächsten Angehörigen: die Konsulin, Thomas, Gerda; sie hatte
14133
Ida Jungmann, Sesemi Weichbrodt, ihre mütterliche Freundin, Erika, auf
14134
deren =vornehme= Erziehung sie Sorgfalt verwandte und in deren Zukunft
14135
sie vielleicht letzte heimliche Hoffnungen setzte ... So lebte sie, und
14136
so entschwand die Zeit.
14138
Später, auf irgendeine niemals aufgeklärte Weise, ist einzelnen
14139
Familiengliedern das »Wort« bekanntgeworden, dieses desperate Wort, das
14140
in jener Nacht Herr Permaneder sich hatte entschlüpfen lassen. Was hatte
14141
er gesagt? -- »Geh zum Deifi, =Saulud'r dreckats=!«
14143
So schloß Tony Buddenbrooks zweite Ehe.
14153
Taufe!... Taufe in der Breiten Straße!
14155
Alles ist vorhanden, was Mme. Permaneder in Tagen der Hoffnung träumend
14156
vor Augen sah, alles: Denn im Eßzimmer am Tische -- behutsam und ohne
14157
Geklapper, das drüben im Saale die Feier stören würde -- füllt das
14158
Folgmädchen Schlagsahne in viele Tassen mit kochend heißer Schokolade,
14159
die dicht gedrängt auf einem ungeheuren runden Teebrett mit vergoldeten,
14160
muschelförmigen Griffen beieinander stehen ... während der Diener Anton
14161
einen ragenden Baumkuchen in Stücke schneidet und Mamsell Jungmann
14162
Konfekt und frische Blumen in silbernen Dessertschüsseln ordnet, wobei
14163
sie prüfend den Kopf auf die Schulter legt und die beiden kleinen Finger
14164
weit von den übrigen entfernt hält ...
14166
Nicht lange, und alle diese Herrlichkeiten werden, wenn die Herrschaften
14167
sich's im Wohnzimmer und Salon bequem gemacht haben, umhergereicht
14168
werden, und hoffentlich werden sie ausreichen, denn es ist die Familie
14169
im weiteren Sinne versammelt, wenn auch nicht geradezu im weitesten,
14170
denn durch die Överdiecks ist man auch mit den Kistenmakers ein wenig
14171
verwandt, durch diese mit den Möllendorpfs und so fort. Es wäre
14172
unmöglich, eine Grenze zu ziehen!... Die Överdiecks aber sind vertreten,
14173
und zwar durch das Haupt, den mehr als achtzigjährigen Doktor Kaspar
14174
Överdieck, regierender Bürgermeister.
14176
Er ist zu Wagen gekommen und, gestützt auf seinen Krückstock und den Arm
14177
Thomas Buddenbrooks, die Treppe heraufgestiegen. Seine Anwesenheit
14178
erhöht die Würde der Feier ... und ohne Zweifel: Diese Feier ist aller
14181
Denn dort im Saale, vor einem als Altar verkleideten, mit Blumen
14182
geschmückten Tischchen, hinter dem in schwarzem Ornat und schneeweißer,
14183
gestärkter, mühlsteinartiger Halskrause ein junger Geistlicher spricht,
14184
hält eine reich in Rot und Gold gekleidete, große, stämmige, sorgfältig
14185
genährte Person ein kleines, unter Spitzen und Atlasschleifen
14186
verschwindendes Etwas auf ihren schwellenden Armen ... ein Erbe! Ein
14187
Stammhalter! Ein Buddenbrook! Begreift man, was das bedeutet?
14189
Begreift man das stille Entzücken, mit dem die Kunde, als das erste,
14190
leise, ahnende Wort gefallen, von der Breiten in die Mengstraße getragen
14191
worden? Den stummen Enthusiasmus, mit dem Frau Permaneder bei dieser
14192
Nachricht ihre Mutter, ihren Bruder und -- behutsamer -- ihre Schwägerin
14193
umarmt hat? Und nun, da der Frühling gekommen, der Frühling des Jahres
14194
einundsechzig, nun ist er da und empfängt das Sakrament der heiligen
14195
Taufe, er, auf dem längst so viele Hoffnungen ruhen, von dem längst so
14196
viel gesprochen, der seit langen Jahren erwartet, ersehnt worden, den
14197
man von Gott erbeten und um den man Doktor Grabow gequält hat ... er ist
14198
da und sieht ganz unscheinbar aus.
14200
Die kleinen Hände spielen mit den Goldlitzen an der Taille der Amme, und
14201
der Kopf, der mit einem hellblau garnierten Spitzenhäubchen bedeckt ist,
14202
liegt ein wenig seitwärts und unachtsam vom Pastor abgewandt, auf dem
14203
Kissen, so daß die Augen mit einem beinahe altklug prüfenden Blinzeln in
14204
den Saal hinein und auf die Verwandten blicken. In diesen Augen, deren
14205
obere Lider sehr lange Wimpern haben, ist das Hellblau der väterlichen
14206
und das Braun der mütterlichen Iris zu einem lichten, unbestimmten, nach
14207
der Beleuchtung wechselnden Goldbraun geworden; die Winkel aber zu
14208
beiden Seiten der Nasenwurzel sind tief und liegen in bläulichem
14209
Schatten. Das gibt diesem Gesichtchen, das noch kaum eines ist, etwas
14210
vorzeitig Charakteristisches und kleidet ein vier Wochen altes nicht zum
14211
besten; aber Gott wird geben, daß es nichts Ungünstiges bedeutet, denn
14212
auch bei der Mutter, die doch wohlauf ist, verhält es sich so ... und
14213
gleichviel: er lebt, und daß es ein Knabe ist, das war vor vier Wochen
14214
die eigentliche Freude.
14216
Er lebt, und es könnte anders sein. Der Konsul wird niemals den
14217
Händedruck vergessen, mit dem der gute Doktor Grabow, als er vor vier
14218
Wochen Mutter und Kind verlassen konnte, zu ihm gesagt hat: »Seien Sie
14219
dankbar, lieber Freund, es hätte nicht viel gefehlt ...« Der Konsul hat
14220
nicht zu fragen gewagt, woran nicht viel gefehlt hätte. Er weist den
14221
Gedanken, daß es mit diesem lange vergebens ersehnten, winzigen
14222
Geschöpfe, das so sonderbar lautlos zur Welt kam, beinahe gegangen wäre
14223
wie mit Antoniens zweitem Töchterchen, mit Entsetzen von sich ... Aber
14224
er weiß, daß es für Mutter und Kind eine verzweifelte Stunde gewesen
14225
ist, vor vier Wochen, und er beugt sich glücklich und zärtlich zu Gerda
14226
nieder, welche, die Lackschuhe auf einem Sammetkissen gekreuzt, vor ihm
14227
und neben der alten Konsulin in einem Armsessel lehnt.
14229
Wie bleich sie noch ist! Und wie fremdartig schön in ihrer Blässe, mit
14230
ihrem schweren, dunkelroten Haar und ihren rätselhaften Augen, die mit
14231
einer gewissen verschleierten Moquerie auf dem Prediger ruhen. Es ist
14232
Herr Andreas Pringsheim, _pastor marianus_, der nach des alten Kölling
14233
plötzlichem Tode in jungen Jahren schon zum Hauptpastor aufgerückt ist.
14234
Er hält die Hände inbrünstig, dicht unter dem erhobenen Kinn gefaltet.
14235
Er hat blondes, kurzgelocktes Haar und ein knochiges, glattrasiertes
14236
Gesicht, dessen Mimik zwischen fanatischem Ernst und heller Verklärung
14237
wechselt und ein wenig theatralisch erscheint. Er stammt aus Franken,
14238
woselbst er während einiger Jahre inmitten von lauter Katholiken eine
14239
kleine lutherische Gemeinde gehütet hat, und sein Dialekt ist unter dem
14240
Streben nach reiner und pathetischer Aussprache zu einer völlig
14241
eigenartigen Redeweise, mit langen und dunklen oder jäh akzentuierten
14242
Vokalen und einem an den Zähnen rollenden r geworden ...
14244
Er lobt Gott mit leiser, schwellender oder starker Stimme, und die
14245
Familie hört ihm zu: Frau Permaneder, gehüllt in würdevollen Ernst, der
14246
ihr Entzücken und ihren Stolz verbirgt; Erika Grünlich, nun schon fast
14247
fünfzehnjährig, ein kräftiges, junges Mädchen mit aufgestecktem Zopf und
14248
dem rosigen Teint ihres Vaters, und Christian, der heute morgen von
14249
Hamburg eingetroffen ist und seine tiefliegenden Augen von einer zur
14250
anderen Seite schweifen läßt ... Pastor Tiburtius und seine Gattin haben
14251
die Reise von Riga nicht gescheut, um bei der Feier zugegen sein zu
14252
können: Sievert Tiburtius, der die Enden seines langen, dünnen
14253
Backenbartes über beide Schultern gelegt hat, und dessen kleine, graue
14254
Augen sich hie und da in ungeahnter Weise erweitern, größer und größer
14255
werden, hervorquellen, beinahe herausspringen ... und Klara, die dunkel,
14256
ernst und streng dareinblickt und manchmal eine Hand zum Kopfe führt,
14257
denn dort schmerzt es ... Übrigens haben sie den Buddenbrooks ein
14258
prachtvolles Geschenk mitgebracht: einen mächtigen, aufrechten,
14259
ausgestopften, braunen Bären mit offenem Rachen, den ein Verwandter des
14260
Pastors irgendwo im inneren Rußland geschossen, und der jetzt, eine
14261
Visitenkartenschale zwischen den Tatzen, drunten auf dem Vorplatz steht.
14263
Krögers haben ihren Jürgen zu Besuch, den Postbeamten aus Rostock: ein
14264
einfach gekleideter, stiller Mensch. Wo Jakob sich aufhält, weiß niemand
14265
außer seiner Mutter, der geborenen Överdieck, der schwachen Frau, die
14266
heimlich Silberzeug verkauft, um dem Enterbten Geld zu senden ... Auch
14267
die Damen Buddenbrook sind anwesend, und sie sind tief erfreut über das
14268
glückliche Familienereignis, was aber Pfiffi nicht gehindert hat, zu
14269
bemerken, das Kind sehe ziemlich ungesund aus; und das haben die
14270
Konsulin, geborene Stüwing, sowohl wie Friederike und Henriette leider
14271
bestätigen müssen. Die arme Klothilde jedoch, grau, hager, geduldig und
14272
hungrig, ist bewegt von Pastor Pringsheims Worten und der Hoffnung auf
14273
Baumkuchen mit Schokolade ... Von nicht zur Familie gehörigen Personen
14274
sind Herr Friedrich Wilhelm Marcus und Sesemi Weichbrodt zugegen.
14276
Nun wendet der Pastor sich an die Paten und spricht ihnen von ihrer
14277
Pflicht. Justus Kröger ist der eine ... Konsul Buddenbrook hat sich
14278
anfangs geweigert, ihn zu bitten. »Fordern wir den alten Mann nicht zu
14279
Torheiten heraus!« sagte er. »Täglich hat er die furchtbarsten Szenen
14280
mit seiner Frau wegen des Sohnes, und sein bißchen Vermögen verfällt,
14281
und er fängt wahrhaftig vor Kummer schon an, ein bißchen salopp in
14282
seinem Äußern zu werden! Aber was meint ihr? Bitten wir ihn zu Gevatter,
14283
so schenkt er dem Kinde ein ganzes Service aus schwerem Golde und nimmt
14284
keinen Dank dafür!« Onkel Justus indessen ist, als er von einem anderen
14285
Paten hörte -- Stephan Kistenmaker, des Konsuls Freund, wurde genannt
14286
-- in so hohem Grade pikiert gewesen, daß man ihn dennoch herangezogen
14287
hat; und der goldene Becher, den er gespendet, ist zu Thomas
14288
Buddenbrooks Befriedigung nicht übertrieben schwer.
14290
Und der zweite Pate? Es ist dieser schneeweiße, würdige, alte Herr, der
14291
hier mit seiner hohen Halsbinde und seinem weichen, schwarzen Tuchrock,
14292
aus dessen hinterer Tasche stets der Zipfel eines roten Schnupftuches
14293
hervorhängt, sich in dem bequemsten Lehnstuhl über seinen Krückstock
14294
beugt: Bürgermeister Doktor Överdieck. Es ist ein Ereignis, ein Sieg!
14295
Manche Leute begreifen nicht, wie es zugegangen ist. Guter Gott, es ist
14296
doch kaum eine Verwandtschaft! Die Buddenbrooks haben den Alten an den
14297
Haaren herbeigezogen ... Und in der Tat: es ist ein Streich, eine kleine
14298
Intrige, die der Konsul zusammen mit Mme. Permaneder eingefädelt hat.
14299
Eigentlich, in der ersten Freude, als Mutter und Kind in Sicherheit
14300
waren, ist es bloß ein Scherz gewesen. »Ein Junge, Tony! -- Der soll den
14301
Bürgermeister zum Gevatter haben!« hat der Konsul gerufen; aber sie hat
14302
es aufgegriffen und ist mit Ernst darauf eingegangen, worauf auch er
14303
sich die Sache wohl überlegt und dann in einen Versuch gewilligt hat. So
14304
haben sie sich hinter Onkel Justus gesteckt, der seine Frau zu ihrer
14305
Schwägerin, der Gattin des Holzhändlers Överdieck, geschickt hat, die
14306
ihrerseits ihren greisen Schwiegervater ein wenig hat präparieren
14307
müssen. Dann hat ein ehrerbietiger Besuch Thomas Buddenbrooks bei dem
14308
Staatsoberhaupte das Seine getan ...
14310
Und nun sprengt, während die Amme die Haube des Kindes lüftet, der
14311
Pastor vorsichtig zwei oder drei Tropfen aus der silbernen, innen
14312
vergoldeten Schale, die vor ihm steht, auf das spärliche Haar des
14313
kleinen Buddenbrook und nennt langsam und nachdrücklich die Namen, auf
14314
die er ihn tauft: -- =Justus=, =Johann=, =Kaspar=. Dann folgt ein kurzes
14315
Gebet, und die Verwandten gehen vorbei, um dem stillen und gleichmütigen
14316
Wesen einen glückwünschenden Kuß auf die Stirn zu drücken ... Therese
14317
Weichbrodt kommt zuletzt, und die Amme muß ihr das Kind ein wenig
14318
hinunterreichen; dafür aber gibt Sesemi ihm =zwei= Küsse, die leise
14319
knallen und zwischen denen sie sagt: »Du gutes Kend!«
14321
Drei Minuten später hat man sich im Salon und im Wohnzimmer gruppiert,
14322
und die Süßigkeiten machen die Runde. Auch Pastor Pringsheim in seinem
14323
langen Ornat, unter dem die breiten, blankgewichsten Stiefel
14324
hervorsehen, und seiner Halskrause sitzt da, nippt die kühle Schlagsahne
14325
von seiner heißen Schokolade und plaudert mit verklärtem Gesicht in
14326
einer ganz leichten Art, die im Gegensatze zu seiner Rede von besonderer
14327
Wirksamkeit ist. In jeder seiner Bewegungen liegt ausgedrückt: Seht, ich
14328
kann auch den Priester ablegen und ein ganz harmlos fröhliches Weltkind
14329
sein! Er ist ein gewandter, anschmiegsamer Mann. Er spricht mit der
14330
alten Konsulin ein wenig salbungsvoll, mit Thomas und Gerda weltmännisch
14331
und mit glatten Gebärden, mit Frau Permaneder im Tone einer herzlichen,
14332
schalkhaften Heiterkeit ... Hie und da, wenn er sich besinnt, kreuzt er
14333
die Hände im Schoß, legt den Kopf zurück, verfinstert die Brauen und
14334
macht ein langes Gesicht. Beim Lachen zieht er die Luft stoßweise und
14335
zischend durch die geschlossenen Zähne ein.
14337
Plötzlich entsteht draußen auf dem Korridor Bewegung, man hört die
14338
Dienstboten lachen, und in der Tür erscheint ein sonderbarer Gratulant.
14339
Es ist Grobleben: Grobleben, an dessen magerer Nase zu jeder Jahreszeit
14340
beständig ein länglicher Tropfen hängt, ohne jemals hinunterzufallen.
14341
Grobleben ist ein Speicherarbeiter des Konsuls, und sein Brotherr hat
14342
ihm einen Nebenverdienst als Stiefelwichser angewiesen. Frühmorgens
14343
erscheint er in der Breiten Straße, nimmt das vor die Tür gestellte
14344
Schuhwerk und reinigt es unten auf der Diele. Bei Familienfestlichkeiten
14345
aber stellt er sich feiertäglich gekleidet ein, bringt Blumen und hält,
14346
während der Tropfen an seiner Nase balanciert, mit weinerlicher und
14347
salbungsvoller Stimme eine Ansprache, worauf er ein Geldgeschenk
14348
entgegennimmt. Aber er tut es nicht =darum=!
14350
Er hat einen schwarzen Rock angezogen -- es ist ein abgelegter des
14351
Konsuls -- trägt aber Schmierstiefel mit Schäften und einen blauwollenen
14352
Schal um den Hals. In der Hand, einer dürren, roten Hand, hält er ein
14353
großes Bukett von blassen, ein wenig zu weit erblühten Rosen, die sich
14354
zum Teil langsam auf den Teppich entblättern. Seine kleinen, entzündeten
14355
Augen blinzeln umher, scheinbar ohne etwas zu sehen ... Er bleibt in
14356
der Tür stehen, hält den Strauß vor sich hin und beginnt sofort zu
14357
reden, während die alte Konsulin ihm nach jedem Worte ermunternd zunickt
14358
und kleine, erleichternde Einwürfe macht, der Konsul ihn betrachtet,
14359
indem er eine seiner hellen Brauen emporzieht, und einige
14360
Familienmitglieder, wie zum Beispiel Frau Permaneder, den Mund mit dem
14361
Taschentuch bedecken.
14363
»Ick bün man 'n armen Mann, mine Herrschaften, öäwer ick hew 'n
14364
empfindend Hart, un dat Glück und de Freud von min Herrn, Kunsel
14365
Buddenbrook, welcher ümmer gaut tau mi west is, dat geiht mi nah, und so
14366
bün ick kamen, um den Hern Kunsel un die Fru Kunsulin un die ganze
14367
hochverehrte Fomili ut vollem Harten tau gratuleern, un dat dat Kind
14368
gedeihen mög', denn dat verdeinen sei vor Gott un den Minschen, un so'n
14369
Herr, as Kunsel Buddenbrook, giwt dat nich veele, dat is 'n edeln Herrn,
14370
un uns Herrgott wird ihn das allens lohnen ...«
14372
»So, Grobleben! Dat hewn Sei schön segt! Veelen Dank ook, Grobleben! Wat
14373
wolln Sei denn mit de Rosen?«
14375
Aber Grobleben ist noch nicht zu Ende, er strengt seine weinerliche
14376
Stimme an und übertönt die des Konsuls.
14378
»... uns Herrgott wird ihn das allens lohnen, segg ick, ihn un die ganze
14379
hochverehrte Fomili, wenn dat so wid is, un wenn wi vor sinen Staul
14380
stahn, denn eenmal müssen all in de Gruw fahrn, arm un riek, dat is sin
14381
heiliger Will' un Ratschluß, un eener krigt 'nen finen polierten Sarg ut
14382
düern Holz, un de andere krigt 'ne oll Kist', öäwer tau Moder müssen wi
14383
alle warn, wi müssen all tau Moder warn, tau Moder ... tau Moder ...!«
14385
»Nee, Grobleben! Wi hebb'm 'ne Tauf' hüt, un Sei mit eern Moder!...«
14387
»Un düs wärn einige Blumens«, schließt Grobleben.
14389
»Dank Ihnen, Grobleben! Dat is öäwer tau veel! Wat hebb'm Sei sik dat
14390
kosten laten, Minsch! Un so 'ne Red' hew ick all lang nich hürt!... Na,
14391
hier! Maken Sei sik 'nen vergneugten Dag!« Und der Konsul legt ihm die
14392
Hand auf die Schulter, indem er ihm einen Taler gibt.
14394
»Da, guter Mann!« sagt die alte Konsulin. »Haben Sie auch Ihren Heiland
14397
»Den hew ick von Harten leiw, Fru Kunselin, dat is so woahr ...!« Und
14398
Grobleben nimmt auch von ihr einen Taler in Empfang, und dann einen
14399
dritten von Madame Permaneder, worauf er sich unter Kratzfüßen
14400
zurückzieht und die Rosen, soweit sie noch nicht auf dem Teppich liegen,
14401
in Gedanken wieder mitnimmt ...
14403
... Nun ist der Bürgermeister aufgebrochen -- der Konsul hat ihn
14404
hinunter zum Wagen geleitet -- und das ist das Zeichen zum Abschiede
14405
auch für die übrigen Gäste, denn Gerda Buddenbrook bedarf der Schonung.
14406
Es wird still in den Zimmern. Die alte Konsulin mit Tony, Erika und
14407
Mamsell Jungmann sind die letzten.
14409
»Ja, Ida«, sagt der Konsul, »ich habe mir gedacht -- und meine Mutter
14410
ist einverstanden -- Sie haben uns alle einmal gepflegt, und wenn der
14411
kleine Johann ein bißchen größer ist ... jetzt hat er noch die Amme, und
14412
nach ihr wird wohl eine Kinderfrau nötig sein, aber haben Sie Lust, dann
14413
zu uns überzusiedeln?«
14415
»Ja, ja, Herr Konsul, und wenn's Ihrer Frau Gemahlin wird recht
14418
Auch Gerda ist zufrieden mit diesem Plan, und so wird der Vorschlag
14419
schon jetzt zum Beschluß.
14421
Beim Weggehen aber, schon in der Tür, wendet Frau Permaneder sich noch
14422
einmal um. Sie kehrt zu ihrem Bruder zurück, küßt ihn auf beide Wangen
14423
und sagt: »Das ist ein schöner Tag, Tom, ich bin so glücklich, wie seit
14424
manchem Jahr nicht mehr! Wir Buddenbrooks pfeifen noch nicht aus dem
14425
letzten Loch, Gott sei Dank, wer das glaubt, der irrt im höchsten Grade!
14426
Jetzt, wo der kleine Johann da ist -- es ist so schön, daß wir ihn
14427
wieder Johann genannt haben -- jetzt ist mir, als ob noch einmal eine
14428
ganz neue Zeit kommen muß!«
14433
Christian Buddenbrook, Inhaber der Firma H. C. F. Burmeester & Comp. zu
14434
Hamburg, seinen modischen grauen Hut und seinen gelben Stock mit der
14435
Nonnenbüste in der Hand, kam in das Wohnzimmer seines Bruders, der mit
14436
Gerda lesend beisammen saß. Es war halb zehn Uhr am Abend des
14439
»Guten Abend«, sagte Christian. »Ach, Thomas, ich muß dich mal dringend
14440
sprechen ... Entschuldige, Gerda ... Es eilt, Thomas.«
14442
Sie gingen in das dunkle Speisezimmer hinüber, woselbst der Konsul eine
14443
der Gaslampen an der Wand entzündete und seinen Bruder betrachtete. Ihm
14444
ahnte nichts Gutes. Er hatte, abgesehen von der ersten Begrüßung, noch
14445
nicht Gelegenheit gehabt, mit Christian zu sprechen; aber er hatte ihn
14446
heute während der Feierlichkeit aufmerksam beobachtet und gesehen, daß
14447
er ungewöhnlich ernst und unruhig gewesen war, ja, daß er im Verlaufe
14448
von Pastor Pringsheims Rede einmal sogar aus irgendwelchen Gründen den
14449
Saal für mehrere Minuten verlassen hatte ... Thomas hatte ihm keine
14450
Zeile mehr geschrieben seit jenem Tage in Hamburg, an dem Christian
14451
zehntausend Mark Kurant von seinem Erbe im voraus aus seinen Händen zur
14452
Deckung von Schulden empfangen. »Fahre nur so fort!« hatte der Konsul
14453
gesagt. »Dann werden deine Groschen rasch vertan sein. Was mich
14454
betrifft, ich hoffe, daß du künftig recht wenig meine Wege kreuzen
14455
wirst. Du hast meine Freundschaft während all der Jahre auf zu harte
14456
Proben gestellt« ... Warum kam er jetzt? Etwas Dringendes mußte ihn
14459
»Nun?« fragte der Konsul.
14461
»Ich kann es nun nicht mehr«, antwortete Christian, indem er sich, Hut
14462
und Stock zwischen den mageren Knien, seitwärts auf einen der
14463
hochlehnigen Stühle niederließ, die den Eßtisch umstanden.
14465
»Darf ich fragen, was du nun nicht mehr kannst, und was dich zu mir
14466
führt?« sagte der Konsul, der stehenblieb.
14468
»Ich kann es nun nicht mehr«, wiederholte Christian, drehte mit
14469
fürchterlich unruhigem Ernst seinen Kopf hin und her und ließ seine
14470
kleinen, runden, tiefliegenden Augen schweifen. Er zählte jetzt 33
14471
Jahre, aber er sah weit älter aus. Sein rötlichblondes Haar war so stark
14472
gelichtet, daß fast schon die ganze Schädeldecke freilag. Über den tief
14473
eingefallenen Wangen traten die Knochen scharf hervor; dazwischen aber
14474
buckelte sich, nackt, fleischlos, hager, in ungeheurer Wölbung seine
14477
»Wenn es nur dies wäre«, fuhr er fort, indem er mit der Hand an seiner
14478
linken Seite hinunterstrich, ohne seinen Körper zu berühren ... »Es ist
14479
kein Schmerz, es ist eine Qual, weißt du, eine beständige, unbestimmte
14480
Qual. Doktor Drögemüller in Hamburg hat mir gesagt, daß an dieser Seite
14481
alle Nerven zu kurz sind ... Stelle dir vor, an der ganzen linken Seite
14482
sind alle Nerven zu kurz bei mir! Es ist so sonderbar ... manchmal ist
14483
mir, als ob hier an der Seite irgendein Krampf oder eine Lähmung
14484
stattfinden müßte, eine Lähmung für immer ... Du hast keine Vorstellung
14485
... Keinen Abend schlafe ich ordentlich ein. Ich fahre auf, weil
14486
plötzlich mein Herz nicht mehr klopft und ich einen ganz entsetzlichen
14487
Schreck bekomme ... Das geschieht nicht einmal, sondern zehnmal, bevor
14488
ich einschlafe. Ich weiß nicht, ob du es kennst ... ich will es dir ganz
14489
genau beschreiben ... Es ist ...«
14491
»Laß nur«, sagte der Konsul kalt. »Ich nehme nicht an, daß du
14492
hierhergekommen bist, um mir dies zu erzählen?«
14494
»Nein, Thomas, wenn es nur =das= wäre; aber =das= ist es nicht allein!
14495
Es ist mit dem Geschäft ... Ich kann es nun nicht mehr.«
14497
»Du bist wieder in Unordnung?« Der Konsul fuhr nicht einmal auf, er
14498
wurde nicht mehr laut. Er fragte es ganz ruhig, während er seinen Bruder
14499
von der Seite mit einer müden Kälte ansah.
14501
»Nein, Thomas. Und um die Wahrheit zu sagen -- es ist ja nun doch gleich
14502
-- ich bin niemals recht in Ordnung gekommen, auch durch die
14503
Zehntausende damals nicht, wie du selbst weißt ... Die waren eigentlich
14504
nur, damit ich nicht gleich zuzumachen brauchte. Die Sache ist die ...
14505
Ich habe gleich darauf noch Verluste gehabt, in Kaffee ... und bei dem
14506
Bankerott in Antwerpen ... Das ist wahr. Aber dann habe ich eigentlich
14507
gar nichts mehr getan und mich still verhalten. Aber man muß doch leben
14508
... und nun sind da Wechsel und andere Schulden ... fünftausend Taler
14509
... Ach, du weißt nicht, wie sehr ich herunter bin! Und zu allem diese
14512
»Also, du hast dich still verhalten!« schrie der Konsul außer sich. In
14513
diesem Augenblick verlor er dennoch die Fassung. »Du hast die Karre im
14514
Dreck gelassen und dich anderweitig unterhalten! Meinst du, daß ich
14515
nicht vor Augen sehe, wie du gelebt hast, im Theater und im Zirkus und
14516
in Klubs und mit minderwertigen Frauenzimmern.«
14518
»Du meinst Aline ... Ja, für diese Dinge hast du wenig Sinn, Thomas, und
14519
es ist vielleicht mein Unglück, daß ich zuviel Sinn dafür habe; denn
14520
darin hast du recht, daß es mich zuviel gekostet hat und noch immer
14521
ziemlich viel kosten wird, denn ich will dir eines sagen ... wir sind
14522
hier unter uns Brüdern ... Das dritte Kind, das kleine Mädchen, das seit
14523
einem halben Jahre da ist ... es ist von mir.«
14527
»Sage das nicht, Thomas. Du mußt gerecht sein, auch im Zorne, gegen sie
14528
und gegen ... warum sollte es nicht von mir sein. Was aber Aline
14529
betrifft, so ist sie durchaus nicht minderwertig; so etwas darfst du
14530
nicht sagen. Es ist ihr keineswegs gleichgültig, mit wem sie lebt, und
14531
sie hat meinetwegen mit Konsul Holm gebrochen, der viel mehr Geld hat
14532
als ich, so gut ist sie gesinnt ... Nein, du hast keinen Begriff,
14533
Thomas, was für ein prachtvolles Geschöpf das ist! Sie ist so gesund ...
14534
so =gesund= ...!« wiederholte Christian, indem er eine Hand, ihren
14535
Rücken nach außen, mit gekrümmten Fingern vors Gesicht hielt, ähnlich
14536
wie er zu tun pflegte, wenn er von »_That's Maria_« und dem Laster in
14537
London erzählte. »Du solltest nur ihre Zähne sehen, wenn sie lacht! Ich
14538
habe solche Zähne auf der ganzen Welt noch nicht gefunden, in Valparaiso
14539
nicht und in London nicht ... Ich werde nie den Abend vergessen, als ich
14540
sie kennenlernte ... bei Uhlich in der Austernstube ... Sie hielt es
14541
damals mit Konsul Holm; aber ich erzählte ein bißchen und war ein
14542
bißchen nett mit ihr ... Und als ich sie dann nachher bekam ... tja,
14543
Thomas! Das ist ein ganz anderes Gefühl, als wenn man ein gutes Geschäft
14544
macht ... Aber du hörst nicht gern von solchen Dingen, ich sehe es dir
14545
auch jetzt wieder an, und es ist nun ja auch zu Ende. Ich werde ihr nun
14546
Adieu sagen, obgleich ich ja, wegen des Kindes, mit ihr in Verbindung
14547
bleiben werde ... Ich will in Hamburg alles bezahlen, was ich schuldig
14548
bin, verstehst du, und dann zumachen. Ich kann es nun nicht mehr. Mit
14549
Mutter habe ich gesprochen, und sie will mir auch die fünftausend Taler
14550
im voraus geben, damit ich Ordnung machen kann, und damit wirst du
14551
einverstanden sein, denn es ist doch besser, man sagt ganz einfach:
14552
Christian Buddenbrook liquidiert und geht ins Ausland ... als wenn
14553
ich Bankerott mache, darin wirst du mir recht geben. Ich will nämlich
14554
wieder nach London gehen, Thomas, in London eine Stelle annehmen. Die
14555
Selbständigkeit ist so gar nichts für mich, das merke ich mehr und mehr.
14556
Diese Verantwortlichkeit ... Als Angestellter geht man abends sorglos
14557
nach Hause ... Und in London bin ich gern gewesen ... Hast du etwas
14560
Der Konsul hatte während dieser ganzen Auseinandersetzung seinem Bruder
14561
den Rücken zugewandt und, die Hände in den Hosentaschen, mit einem Fuße
14562
Figuren auf dem Boden beschrieben.
14564
»Schön, gehe also nach London«, sagte er ganz einfach. Und ohne sich
14565
auch nur halbwegs noch einmal nach Christian umzuwenden, ließ er ihn
14566
hinter sich und schritt zum Wohnzimmer zurück.
14568
Aber Christian folgte ihm. Er ging auf Gerda zu, die dort allein bei der
14569
Lektüre saß, und gab ihr die Hand.
14571
»Gute Nacht, Gerda. Ja, Gerda, ich gehe nun also demnächst wieder nach
14572
London. Merkwürdig, wie man umhergeworfen wird. Nun wieder so ins
14573
Ungewisse, weißt du, in solche große Stadt, wo es bei jedem dritten
14574
Schritt ein Abenteuer gibt und man soviel erleben kann. Sonderbar ...
14575
kennst du das Gefühl? Es sitzt hier, ungefähr im Magen ... ganz
14581
James Möllendorpf, der älteste kaufmännische Senator, starb auf groteske
14582
und schauerliche Weise. Diesem diabetischen Greise waren die
14583
Selbsterhaltungsinstinkte so sehr abhanden gekommen, daß er in den
14584
letzten Jahren seines Lebens mehr und mehr einer Leidenschaft für Kuchen
14585
und Torten unterlegen war. Doktor Grabow, der auch bei Möllendorpfs
14586
Hausarzt war, hatte mit aller Energie, deren er fähig war, protestiert,
14587
und die besorgte Familie hatte ihrem Oberhaupte das süße Gebäck mit
14588
sanfter Gewalt entzogen. Was aber hatte der Senator getan? Geistig
14589
gebrochen, wie er war, hatte er sich irgendwo in einer unstandesgemäßen
14590
Straße, in der Kleinen Gröpelgrube, An der Mauer oder im Engelswisch ein
14591
Zimmer gemietet, eine Kammer, ein wahres Loch, wohin er sich heimlich
14592
geschlichen hatte, um Torte zu essen ... und dort fand man auch den
14593
Entseelten, den Mund noch voll halb zerkauten Kuchens, dessen Reste
14594
seinen Rock befleckten und auf dem ärmlichen Tische umherlagen. Ein
14595
tödlicher Schlaganfall war der langsamen Auszehrung zuvorgekommen.
14597
Die widerlichen Einzelheiten dieses Todesfalles wurden von der Familie
14598
nach Möglichkeit geheimgehalten; aber sie verbreiteten sich rasch in der
14599
Stadt und bildeten den Gesprächsstoff an der Börse, im »Klub«, in der
14600
»Harmonie«, in den Kontors, in der Bürgerschaft und auf den Bällen,
14601
Diners und Abendgesellschaften, denn das Ereignis fiel in den Februar --
14602
den Februar des Jahres 62 -- und das gesellschaftliche Leben war noch in
14603
vollem Gange. Selbst die Freundinnen der Konsulin Buddenbrook erzählten
14604
sich am »Jerusalemsabend« von Senator Möllendorpfs Tode, wenn Lea
14605
Gerhardt im Vorlesen eine Pause machte, selbst die kleinen
14606
Sonntagsschülerinnen flüsterten davon, wenn sie ehrfürchtig über die
14607
große Buddenbrooksche Diele gingen, und Herr Stuht in der
14608
Glockengießerstraße hatte mit seiner Frau, die in den ersten Kreisen
14609
verkehrte, eine ausführliche Unterredung darüber.
14611
Allein das Interesse konnte nicht lange auf das Zurückliegende gerichtet
14612
bleiben. Gleich mit dem ersten Gerücht von dem Ableben dieses alten
14613
Ratsherrn war die eine große Frage aufgetaucht ... als aber die Erde ihn
14614
deckte, war es diese Frage allein, die alle Gemüter beherrschte: Wer ist
14617
Welche Spannung und welche unterirdische Geschäftigkeit! Der Fremde, der
14618
gekommen ist, die mittelalterlichen Sehenswürdigkeiten und die anmutige
14619
Umgebung der Stadt in Augenschein zu nehmen, merkt nichts davon; aber
14620
welch Treiben unter der Oberfläche! Welche Agitation! Ehrenfeste,
14621
gesunde, von keiner Skepsis angekränkelte Meinungen platzen aufeinander,
14622
poltern vor Überzeugung, prüfen einander und verständigen sich langsam,
14623
langsam. Die Leidenschaften sind aufgeregt. Ehrgeiz und Eitelkeit wühlen
14624
im stillen. Eingesargte Hoffnungen regen sich, stehen auf und werden
14625
enttäuscht. Der alte Kaufmann Kurz in der Bäckergrube, der bei jeder
14626
Wahl drei oder vier Stimmen erhält, wird wiederum am Wahltage bebend in
14627
seiner Wohnung sitzen und des Rufes harren; aber er wird auch diesmal
14628
nicht gewählt werden, er wird fortfahren, mit einer Miene voll
14629
Biedersinn und Selbstzufriedenheit, das Trottoir mit seinem Spazierstock
14630
zu stoßen, und er wird sich mit diesem heimlichen Grame ins Grab legen,
14631
nicht Senator geworden zu sein ...
14633
Als James Möllendorpfs Tod am Donnerstage beim Buddenbrookschen
14634
Familienmittagessen besprochen worden war, hatte Frau Permaneder nach
14635
einigen Ausdrücken des Bedauerns begonnen, ihre Zungenspitze an der
14636
Oberlippe spielen zu lassen und verschlagen zu ihrem Bruder
14637
hinüberzublicken, was die Damen Buddenbrook veranlaßt hatte,
14638
unbeschreiblich spitzige Blicke zu tauschen und dann sämtlich, wie auf
14639
Kommando, während einer Sekunde Augen und Lippen ganz fest zu schließen.
14640
Der Konsul hatte einen Moment das listige Lächeln seiner Schwester
14641
erwidert und dann dem Gespräche eine andere Richtung gegeben. Er wußte,
14642
daß man in der Stadt den Gedanken aussprach, den Tony glückselig in sich
14645
Namen wurden genannt und verworfen. Andere tauchten auf und wurden
14646
gesichtet. Henning Kurz in der Bäckergrube war zu alt. Eine frische
14647
Kraft war endlich vonnöten. Konsul Huneus, der Holzhändler, dessen
14648
Millionen übrigens nicht leicht ins Gewicht gefallen wären, war
14649
verfassungsmäßig ausgeschlossen, weil sein Bruder dem Senate angehörte.
14650
Konsul Eduard Kistenmaker, der Weinhändler, und Konsul Hermann
14651
Hagenström behaupteten sich auf der Liste. Von Anfang an aber klang
14652
beständig dieser Name mit: Thomas Buddenbrook. Und je mehr der Wahltag
14653
sich näherte, desto klarer ward es, daß er zusammen mit Hermann
14654
Hagenström die meisten Chancen besaß.
14656
Kein Zweifel, Hermann Hagenström hatte Anhänger und Bewunderer. Sein
14657
Eifer in öffentlichen Angelegenheiten, die frappierende Schnelligkeit,
14658
mit der die Firma Strunck & Hagenström emporgeblüht war und sich
14659
entfaltet hatte, des Konsuls luxuriöse Lebensführung, das Haus, das er
14660
führte, und die Gänseleberpastete, die er frühstückte, verfehlten nicht,
14661
ihren Eindruck zu machen. Dieser große, ein wenig zu fette Mann mit
14662
seinem rötlichen, kurzgehaltenen Vollbart und seiner ein wenig zu platt
14663
auf der Oberlippe liegenden Nase, dieser Mann, dessen Großvater noch
14664
niemand und er selbst nicht gekannt hatte, dessen Vater infolge seiner
14665
reichen, aber zweifelhaften Heirat gesellschaftlich noch beinahe
14666
unmöglich gewesen war und der dennoch, verschwägert sowohl mit den
14667
Huneus als mit den Möllendorpfs, seinen Namen denjenigen der fünf oder
14668
sechs herrschenden Familien angereiht und gleichgestellt hatte, war
14669
unleugbar eine merkwürdige und respektable Erscheinung in der Stadt. Das
14670
Neuartige und damit Reizvolle seiner Persönlichkeit, das, was ihn
14671
auszeichnete und ihm in den Augen vieler eine führende Stellung gab, war
14672
der liberale und tolerante Grundzug seines Wesens. Die legere und
14673
großzügige Art, mit der er Geld verdiente und verausgabte, war etwas
14674
anderes als die zähe, geduldige und von streng überlieferten Prinzipien
14675
geleitete Arbeit seiner kaufmännischen Mitbürger. Dieser Mann stand frei
14676
von den hemmenden Fesseln der Tradition und der Pietät auf seinen
14677
eigenen Füßen, und alles Altmodische war ihm fremd. Er bewohnte keines
14678
der alten, mit unsinniger Raumverschwendung gebauten Patrizierhäuser, um
14679
deren ungeheure Steindielen sich weißlackierte Galerien zogen. Sein Haus
14680
in der Sandstraße -- der südlichen Verlängerung der Breiten Straße --,
14681
mit schlichter Ölfassade, praktisch ausgebeuteten Raumverhältnissen und
14682
reicher, eleganter, bequemer Einrichtung, war neu und jedes steifen
14683
Stiles bar. Übrigens hatte er in dieses sein Haus noch vor kurzem,
14684
gelegentlich einer seiner größeren Abendgesellschaften, eine ans
14685
Stadttheater engagierte Sängerin geladen, hatte sie nach Tische vor
14686
seinen Gästen, unter denen sich auch sein kunstliebender und
14687
schöngeistiger Bruder, der Rechtsgelehrte, befand, singen lassen und die
14688
Dame aufs glänzendste honoriert. Er war nicht der Mann, in der
14689
Bürgerschaft die Bewilligung größerer Geldsummen zur Restaurierung und
14690
Erhaltung der mittelalterlichen Denkmäler zu befürworten. Daß er aber
14691
der erste, absolut in der ganzen Stadt der erste gewesen war, der seine
14692
Wohnräume und seine Kontors mit Gas beleuchtet hatte, war Tatsache.
14693
Gewiß, wenn Konsul Hagenström irgendeiner Tradition lebte, so war es die
14694
von seinem Vater, dem alten Hinrich Hagenström, übernommene
14695
unbeschränkte, fortgeschrittene, duldsame und vorurteilsfreie
14696
Denkungsart, und hierauf gründete sich die Bewunderung, die er genoß.
14698
Das Prestige Thomas Buddenbrooks war anderer Art. Er war nicht nur er
14699
selbst; man ehrte in ihm noch die unvergessenen Persönlichkeiten seines
14700
Vaters, Großvaters und Urgroßvaters, und abgesehen von seinen eigenen
14701
geschäftlichen und öffentlichen Erfolgen war er der Träger eines
14702
hundertjährigen Bürgerruhmes. Die leichte, geschmackvolle und bezwingend
14703
liebenswürdige Art freilich, in der er ihn repräsentierte und
14704
verwertete, war wohl das Wichtigste; und was ihn auszeichnete, war ein
14705
selbst unter seinen gelehrten Mitbürgern ganz ungewöhnlicher Grad
14706
formaler Bildung, der, wo er sich äußerte, ebensoviel Befremdung wie
14707
Respekt erregte ...
14709
Donnerstags, bei Buddenbrooks, war von der bevorstehenden Wahl in
14710
Gegenwart des Konsuls meist nur in Form von kurzen und fast
14711
gleichgültigen Bemerkungen die Rede, bei denen die alte Konsulin diskret
14712
ihre hellen Augen beiseiteschweifen ließ. Hie und da aber konnte Frau
14713
Permaneder sich trotzdem nicht entbrechen, ein wenig mit ihrer
14714
erstaunlichen Kenntnis der Staatsverfassung zu prunken, deren Satzungen
14715
sie, soweit sie die Wahl eines Senatsmitgliedes betrafen, ebenso
14716
eingehend studiert hatte wie vor Jahr und Tag die Scheidungsparagraphen.
14717
Sie sprach dann von Wahlkammern, Wahlbürgern und Stimmzetteln, erwog
14718
alle denkbaren Eventualitäten, zitierte wörtlich und ohne Anstoß den
14719
feierlichen Eid, der von den Wählern zu leisten ist, erzählte von der
14720
»freimütigen Besprechung«, die verfassungsmäßig von den einzelnen
14721
Wahlkammern über alle diejenigen vorgenommen wird, deren Namen auf der
14722
Kandidatenliste stehen, und gab dem lebhaften Wunsche Ausdruck, an der
14723
»freimütigen Besprechung« der Persönlichkeit Hermann Hagenströms
14724
teilnehmen zu dürfen. Einen Augenblick später beugte sie sich vor und
14725
begann, die Pflaumenkerne auf dem Kompotteller ihres Bruders zu zählen:
14726
»Edelmann -- Bedelmann -- Doktor -- Pastor -- -- Ratsherr!« sagte sie
14727
und schnellte mit ihrer Messerspitze den fehlenden Kern auf den kleinen
14728
Teller hinüber ... Nach Tische aber, unfähig, an sich zu halten, zog sie
14729
den Konsul am Arme beiseite, in eine Fensternische.
14731
»O Gott, Tom! wenn du es wirst ... wenn unser Wappen in die Kriegsstube
14732
im Rathause kommt ... ich sterbe vor Freude! ich falle um und bin tot,
14735
»So, liebe Tony! Nun etwas mehr Haltung und Würde, wenn ich dich bitten
14736
darf! Das pflegt dir doch sonst nicht abzugehen? Gehe ich umher wie
14737
Henning Kurz? Wir sind auch ohne `Senator´ was ... Und du wirst
14738
hoffentlich am Leben bleiben, im einen wie im anderen Falle.«
14740
Und die Agitation, die Beratungen, die Kämpfe der Meinungen nahmen ihren
14741
Fortgang. Konsul Peter Döhlmann, der Suitier, mit seinem gänzlich
14742
verkommenen Geschäft, das nur noch dem Namen nach existierte, und seiner
14743
27jährigen Tochter, deren Erbe er verfrühstückte, beteiligte sich daran,
14744
indem er bei einem Diner, das Thomas Buddenbrook gab, und bei einem
14745
ebensolchen, das Hermann Hagenström veranstaltete, jedesmal den
14746
betreffenden Wirt mit schallender und lärmender Stimme »Herr Senator«
14747
nannte. Siegismund Gosch aber, der alte Makler Gosch, ging umher wie ein
14748
brüllender Löwe und machte sich anheischig, ohne Umschweife jeden zu
14749
erdrosseln, der nicht gewillt sei, für Konsul Buddenbrook zu stimmen.
14751
»Konsul Buddenbrook, meine Herren ... ha! welch ein Mann! Ich habe an
14752
der Seite seines Vaters gestanden, als er _anno_ 48 mit einem Worte die
14753
Wut des entfesselten Pöbels zähmte ... Gäbe es eine Gerechtigkeit auf
14754
Erden, so hätte schon sein Vater, schon der Vater seines Vaters dem
14755
Senate angehören müssen ...«
14757
Im Grunde jedoch war es nicht sowohl Konsul Buddenbrook selbst, dessen
14758
Persönlichkeit das Innere des Herrn Gosch in Flammen setzte, als
14759
vielmehr die junge Frau Konsulin, geborene Arnoldsen. Nicht als ob der
14760
Makler jemals ein Wort mit ihr gewechselt hätte. Er gehörte nicht zu dem
14761
Kreise der reichen Kaufleute, speiste nicht an ihren Tafeln und tauschte
14762
nicht Visiten mit ihnen. Aber, wie schon erwähnt, Gerda Buddenbrook war
14763
nicht sobald in der Stadt erschienen, als der immer sehnsüchtig nach
14764
Außerordentlichem schweifende Blick des finsteren Maklers sie auch schon
14765
erspäht hatte. Mit sicherem Instinkte hatte er alsbald erkannt, daß
14766
diese Erscheinung geeignet sei, seinem unbefriedigten Dasein ein wenig
14767
mehr Inhalt zu verleihen, und mit Leib und Seele hatte er sich ihr, die
14768
ihn kaum dem Namen nach kannte, als Sklave ergeben. Seitdem umkreiste er
14769
in Gedanken diese nervöse und aufs äußerste reservierte Dame, der
14770
niemand ihn vorstellte, wie der Tiger den Bändiger: mit demselben
14771
verbissenen Mienenspiel, derselben tückisch-demütigen Haltung, in der er
14772
auf der Straße, ohne daß sie das erwartet hätte, seinen Jesuitenhut vor
14773
ihr zog ... Diese Welt der Mittelmäßigkeit bot ihm keine Möglichkeit,
14774
für diese Frau eine Tat von gräßlicher Ruchlosigkeit zu begehen, welche
14775
er, bucklig, düster und kalt in seinen Mantel gehüllt, mit teuflischem
14776
Gleichmut verantwortet haben würde! Ihre langweiligen Gewohnheiten
14777
gestatteten ihm nicht, diese Frau durch Mord, Verbrechen und blutige
14778
Listen auf einen Kaiserthron zu erhöhen. Nichts ließ sie ihm übrig, als
14779
im Rathause für die Wahl ihres ingrimmig verehrten Gatten zu stimmen und
14780
ihr, vielleicht, dereinst, die Übersetzung von Lope de Vegas sämtlichen
14786
Jede im Senate erledigte Stelle muß binnen vier Wochen wieder besetzt
14787
werden; so will es die Verfassung. Drei Wochen sind seit James
14788
Möllendorpfs Hintritt verflossen, und nun ist der Wahltag herangekommen,
14789
ein Tauwettertag am Ende des Februar.
14791
In der Breiten Straße, vor dem Rathause mit seiner durchbrochenen
14792
Glasurziegelfassade, seinen spitzen Türmen und Türmchen, die gegen den
14793
grauweißlichen Himmel stehen, seinem auf vorgeschobenen Säulen ruhenden
14794
gedeckten Treppenaufgang, seinen spitzen Arkaden, die den Durchblick auf
14795
den Marktplatz und seinen Brunnen gewähren ... vorm Rathause drängen
14796
sich mittags um 1 Uhr die Leute. Sie stehen unentwegt in dem
14797
schmutzig-wässerigen Schnee der Straße, der unter ihren Füßen vollends
14798
zergeht, sehen sich an, sehen wieder geradeaus und recken die Hälse.
14799
Denn dort, hinter jenem Portale, im Ratssaale, mit seinen vierzehn im
14800
Halbkreise stehenden Armsesseln, erwartet noch zu dieser Stunde die aus
14801
Mitgliedern des Senates und der Bürgerschaft bestehende Wahlversammlung
14802
die Vorschläge der Wahlkammern ...
14804
Die Sache hat sich in die Länge gezogen. Es scheint, daß die Debatten in
14805
den Kammern sich nicht beruhigen wollen, daß der Kampf hart ist, und
14806
daß, bis jetzt, der Versammlung im Ratssaale keineswegs ein und dieselbe
14807
Person vorgeschlagen wurde, denn sie würde vom Bürgermeister sofort als
14808
gewählt erklärt werden ... Sonderbar! Niemand begreift, woher sie
14809
kommen, wo und wie sie entstehen, aber Gerüchte dringen aus dem Portale
14810
auf die Straße heraus und verbreiten sich. Steht dort drinnen Herr
14811
Kaspersen, der ältere der beiden Ratsdiener, der sich selbst nie anders
14812
als »Staatsbeamter« nennt, und dirigiert, was er erfährt, mit
14813
geschlossenen Zähnen und abgewandten Augen durch einen Mundwinkel nach
14814
draußen? Jetzt heißt es, daß die Vorschläge im Sitzungssaale eingelaufen
14815
sind, und daß von jeder der drei Kammern ein anderer vorgeschlagen
14816
wurde: Hagenström, Buddenbrook, Kistenmaker! Gott gebe, daß nun
14817
wenigstens die allgemeine Wahl durch geheime Abstimmung mittels
14818
Stimmzettel eine unbedingte Stimmenmehrheit ergibt! Wer nicht warme
14819
Überschuhe trägt, fängt an, die Beine zu heben und zu stampfen, denn die
14820
Füße schmerzen vor Kälte.
14822
Es sind Leute aus allen Volksklassen, die hier stehen und warten. Man
14823
sieht Seeleute mit bloßem, tätowiertem Halse, die Hände in den weiten,
14824
niedrigen Hosentaschen, Kornträger mit ihren Blusen und Kniehosen aus
14825
schwarzem Glanzleinen und ihrem unvergleichlich biederen
14826
Gesichtsausdruck; Fuhrleute, die von ihren zu Hauf geschichteten
14827
Getreidesäcken geklettert sind, um, die Peitsche in der Hand, des
14828
Wahlergebnisses zu harren; Dienstmädchen mit Halstuch, Schürze und
14829
dickem, gestreiftem Rock, die kleine, weiße Mütze auf dem Hinterkopf und
14830
den großen Henkelkorb am nackten Arme; Fisch- und Gemüsefrauen mit ihren
14831
Strohschuten; sogar ein paar hübsche Gärtnermädchen mit holländischen
14832
Hauben, kurzen Röcken und langen, faltigen, weißen Ärmeln, die aus dem
14833
buntgestickten Mieder hervorquellen ... Dazwischen Bürger, Ladenbesitzer
14834
aus der Nähe, die ohne Hut herausgetreten sind und ihre Meinungen
14835
tauschen, junge, gutgekleidete Kaufleute, Söhne, die im Kontor ihres
14836
Vaters oder eines seiner Freunde ihre drei- oder vierjährige Lehrzeit
14837
erledigen, Schuljungen mit Ränzeln und Bücherpaketen ...
14839
Hinter zwei tabakkauenden Arbeitsleuten mit harten Schifferbärten steht
14840
eine Dame, die in großer Erregung den Kopf hin und her wendet, um
14841
zwischen den Schultern der beiden vierschrötigen Kerle hindurch auf das
14842
Rathaus sehen zu können. Sie trägt eine Art von langem, mit braunem Pelz
14843
besetzten Abendmantel, den sie von innen mit beiden Händen zusammenhält,
14844
und ihr Gesicht ist gänzlich von einem dichten, braunen Schleier
14845
verhüllt. Ihre Gummischuhe trippeln rastlos in dem Schneewasser
14848
»Bi Gott, hei ward dat wedder nich, din Herr Kurz«, sagt der eine
14849
Arbeitsmann zum andern.
14851
»Nee, du Döhsbartel, dat brukst mi nich mehr tau vertellen. Sei stimmen
14852
nu je all öwer Hagenström, Kistenmaker un Buddenbrook af.«
14854
»Je, un nu is dat de Frag', wekker von de dre die annern öwer is.«
14856
»Je, dat seg du man noch mal.«
14858
»Weitst wat? Ick glöw, sei wählen Hagenström.«
14860
»Je, du Klaukscheeter ... Red' du un de Düwel.«
14862
Dann speit er seinen Tabak vor sich nieder, denn das Gedränge erlaubt
14863
ihm nicht, ihn im Bogen von sich zu geben, zieht mit beiden Händen die
14864
Hosen höher unter den Leibriemen hinauf und fährt fort: »Hagenström,
14865
dat's so'n Freßsack, un krigt nich mal Luft durch die Näs, so fett is
14866
hei all ... Nee, wo min Herr Kurz dat nu wedder nich warden daut, nu bün
14867
ick vör Buddenbrook. Dat's 'n fixen Kierl ...«
14869
»Je, dat segst du wull; öäwer Hagenström is all veel rieker ...«
14871
»Doar kömmp es nich auf an. Dat steiht nich in Frag'.«
14873
»Un denn is Buddenbrook ook ümmer so höllschen fien mit sin Manschetten
14874
un sin sieden Krawatt un sin pielen Snurrboart ... Hest em gehen seihn?
14875
Hei huppt ümmer so'n beeten as 'n Vagel ...«
14877
»Je, du Dömelklaas, doarvon is nich de Red'.«
14879
»Hei het je woll 'ne Swester, die von twe Männern wedder aff kamen is?«
14881
... Die Dame im Abendmantel erbebt ...
14883
»Je, dat's so'n' Saak. Öäwer doar weiten wi nix von, un denn kann der
14884
Kunsel doar ook nix för.«
14886
Nein, nicht wahr?! denkt die Dame im Schleier, indem sie ihre Hände
14887
unterm Mantel zusammenpreßt ... Nicht wahr? Oh, Gott sei Dank!
14889
»Un denn«, fügt der Mann hinzu, der zu Buddenbrook hält, »un denn hat
14890
ook Bürgermeester Överdieck Gevadder bi sinen Söhn standen; dat will wat
14891
bedüden, will 'k di man vertellen ...«
14893
Nicht wahr? denkt die Dame. Ja, Gott sei Dank, es hat gewirkt!... Sie
14894
zuckt zusammen. Ein neues Gerücht ist herausgedrungen, läuft im
14895
Zick-Zack nach hinten und gelangt zu ihr. Die allgemeine Wahl hat keine
14896
Entscheidung gebracht. Eduard Kistenmaker, der die wenigsten Stimmen
14897
erhalten, ist ausrangiert worden. Der Kampf zwischen Hagenström und
14898
Buddenbrook dauert fort. Ein Bürger bemerkt mit gewichtiger Miene, daß,
14899
wenn sich Stimmengleichheit ergibt, es nötig sein wird, fünf »Obmänner«
14900
zu erwählen, die nach Stimmenmehrheit zu entscheiden haben ...
14902
Plötzlich ruft ganz vorn am Portal eine Stimme: »Heine Seehas is wählt!«
14904
Und dabei ist Seehase ein immer und ewig betrunkener Mensch, der
14905
Dampfbrot auf einem Handwagen herumfährt! Alles lacht und stellt sich
14906
auf die Zehenspitzen, um sich den Witzbold anzusehen. Auch die Dame im
14907
Schleier wird von einem nervösen Lachen ergriffen, das einen Augenblick
14908
ihre Schultern erschüttert. Dann jedoch, mit einer Bewegung, die
14909
ausdrückt: Ist dies die Stunde, Späße zu machen?... nimmt sie sich
14910
ungeduldig zusammen und lugt wieder leidenschaftlich zwischen den beiden
14911
Arbeitsmännern hindurch zum Rathaus hinüber. Aber in demselben
14912
Augenblick läßt sie die Hände sinken, daß ihr Abendmantel sich vorne
14913
öffnet, und steht da, mit hinabgefallenen Schultern, erschlafft,
14916
=Hagenström!= -- Die Nachricht ist da, niemand weiß woher. Sie ist da,
14917
wie aus dem Erdboden hervorgekommen oder vom Himmel gefallen und ist
14918
überall zugleich. Es gibt keinen Widerspruch. Es ist entschieden.
14919
Hagenström! -- Ja, ja, er ist es nun also. Da ist nichts mehr zu
14920
erwarten. Die Dame im Schleier hätte es vorher wissen können. So geht es
14921
immer im Leben. Man kann nun ganz einfach nach Hause gehen. Sie fühlt,
14922
wie das Weinen in ihr aufsteigt ...
14924
Und kaum hat dieser Zustand eine Sekunde lang gedauert, als ein
14925
plötzlicher Stoß, eine ruckartige Bewegung durch die ganze
14926
Menschenansammlung geht, ein Schub, der sich von vorn nach hinten
14927
fortsetzt und die Vorderen gegen ihre Hintermänner lehnt, während zu
14928
gleicher Zeit dort hinten im Portale etwas Hellrotes aufblitzt ... Die
14929
roten Röcke der beiden Ratsdiener, Kaspersen und Uhlefeldt, welche in
14930
Gala, mit Dreispitz, weißen Reithosen, gelben Stulpen und
14931
Galanteriedegen, Seite an Seite erscheinen und durch die zurückweichende
14932
Menge hindurch ihren Weg gehen.
14934
Sie gehen wie das Schicksal: ernst, stumm, verschlossen, ohne nach
14935
rechts oder links zu sehen, mit gesenkten Augen ... und schlagen mit
14936
unerbittlicher Entschiedenheit die Richtung ein, die ihnen das Ergebnis
14937
der Wahl, von dem sie unterrichtet sind, gewiesen hat. Und es ist
14938
=nicht= die Richtung der Sandstraße, sondern sie gehen nach rechts die
14939
Breite Straße hinunter!
14941
Die Dame im Schleier traut ihren Augen nicht. Aber rings um sie her
14942
sieht man es gleich ihr. Die Leute schieben sich in eben derselben
14943
Richtung den Ratsdienern nach, sie sagen einander: »Nee, nee,
14944
Buddenbrook! nich Hagenström!« ... und schon kommen in angeregten
14945
Gesprächen allerlei Herren aus dem Portale, biegen um und gehen
14946
geschwinden Schrittes die Breite Straße hinunter, um die ersten bei der
14947
Gratulation zu sein.
14949
Da nimmt die Dame ihren Abendmantel zusammen und läuft davon. Sie läuft,
14950
wie eine Dame sonst eigentlich nicht läuft. Ihr Schleier verschiebt sich
14951
und läßt ihr erhitztes Gesicht sehen; aber das ist gleichgültig. Und
14952
obgleich einer ihrer pelzbesetzten Überschuhe in dem wässerigen Schnee
14953
beständig ausschlappt und sie in der boshaftesten Weise behindert,
14954
überholt sie alle Welt. Sie erreicht zuerst das Eckhaus an der
14955
Bäckergrube, sie schellt am Windfang Feuer und Mordio, sie ruft dem
14956
öffnenden Mädchen zu: »Sie kommen, Kathrin, sie kommen!« sie nimmt die
14957
Treppe, stürmt droben ins Wohnzimmer, woselbst ihr Bruder, der
14958
wahrhaftig ein bißchen bleich ist, die Zeitung beiseite legt und ihr
14959
eine etwas abwehrende Handbewegung entgegen macht ... sie umarmt ihn
14960
und wiederholt: »Sie kommen, Tom, sie kommen! Du bist es, und Hermann
14961
Hagenström ist durchgefallen!«
14965
Das war ein Freitag. Schon am folgenden Tage stand Senator Buddenbrook
14966
im Ratssaale vor dem Stuhle des verstorbenen James Möllendorpf, und in
14967
Gegenwart der versammelten Väter sowie des Bürgerausschusses leistete er
14968
diesen Eid: »Ich will meinem Amte gewissenhaft vorstehen, das Wohl des
14969
Staates nach allen meinen Kräften erstreben, die Verfassung desselben
14970
getreu befolgen, das öffentliche Gut redlich verwalten und bei meiner
14971
Amtsführung, namentlich auch bei allen Wahlen, weder auf eigenen Vorteil
14972
noch auf Verwandtschaft oder Freundschaft Rücksicht nehmen. Ich will die
14973
Gesetze des Staates handhaben und Gerechtigkeit üben gegen jeden, er sei
14974
reich oder arm. Ich will auch verschwiegen sein in allem, was
14975
Verschwiegenheit erfordert, besonders aber will ich geheimhalten, was
14976
geheimzuhalten mir geboten wird. So wahr mir Gott helfe!«
14981
Unsere Wünsche und Unternehmungen gehen aus gewissen Bedürfnissen
14982
unserer Nerven hervor, die mit Worten schwer zu bestimmen sind. Das, was
14983
man Thomas Buddenbrooks »Eitelkeit« nannte, die Sorgfalt, die er seinem
14984
Äußeren zuwandte, der Luxus, den er mit seiner Toilette trieb, war in
14985
Wirklichkeit etwas gründlich anderes. Es war ursprünglich um nichts
14986
mehr, als das Bestreben eines Menschen der Aktion, sich vom Kopf bis zur
14987
Zehe stets jener Korrektheit und Intaktheit bewußt zu sein, die Haltung
14988
gibt. Die Anforderungen aber wuchsen, die er selbst und die Leute an
14989
seine Begabung und seine Kräfte stellten. Er war mit privaten und
14990
öffentlichen Pflichten überhäuft. Bei der »Ratssetzung«, der Verteilung
14991
der Ämter an die Mitglieder des Senates, war ihm als Hauptressort das
14992
Steuerwesen zugefallen. Aber auch Eisenbahn-, Zoll- und andere
14993
staatliche Geschäfte nahmen ihn in Anspruch, und in tausend Sitzungen
14994
von Verwaltungs- und Aufsichtsräten, in denen ihm seit seiner Wahl das
14995
Präsidium zufiel, bedurfte es seiner ganzen Umsicht, Liebenswürdigkeit
14996
und Elastizität, um beständig die Empfindlichkeit weit bejahrterer Leute
14997
zu berücksichtigen, sich scheinbar ihrer älteren Erfahrung unterzuordnen
14998
und dennoch die Macht in Händen zu behalten. Wenn das Merkwürdige zu
14999
beobachten war, daß gleichzeitig seine »Eitelkeit«, das heißt dieses
15000
Bedürfnis, sich körperlich zu erquicken, zu erneuern, mehrere Male am
15001
Tage die Kleidung zu wechseln, sich wiederherzustellen und morgenfrisch
15002
zu machen, in auffälliger Weise zunahm, so bedeutete das, obgleich
15003
Thomas Buddenbrook kaum 37 Jahre zählte, ganz einfach ein Nachlassen
15004
seiner Spannkraft, eine raschere Abnützbarkeit ...
15006
Bat der gute Doktor Grabow ihn, sich ein wenig mehr Ruhe zu gönnen, so
15007
antwortete er: »Oh, mein lieber Doktor! Soweit bin ich noch nicht.« Er
15008
wollte damit sagen, daß er noch unabsehbar viel an sich zu arbeiten
15009
habe, bevor er, dermaleinst vielleicht, sich einen Zustand erobert haben
15010
würde, den er, fertig und am Ziele, nun in Behagen würde genießen
15011
können. In Wahrheit glaubte er kaum an diesen Zustand. Es trieb ihn
15012
vorwärts und ließ ihm keinen Frieden. Auch wenn er scheinbar ruhte, nach
15013
Tisch vielleicht, mit den Zeitungen, arbeiteten, während er mit einer
15014
gewissen langsamen Leidenschaftlichkeit die ausgezogene Spitze seines
15015
Schnurrbartes drehte und an seinen blassen Schläfen die Adern sichtbar
15016
wurden, tausend Pläne in seinem Kopf durcheinander. Und sein Ernst war
15017
gleich heftig beim Ersinnen eines geschäftlichen Manövers oder einer
15018
öffentlichen Rede, wie bei dem Vorhaben, nun endlich einmal kurzerhand
15019
seinen gesamten Vorrat an Leibwäsche zu erneuern, um wenigstens in
15020
dieser Beziehung für einige Zeit fertig und in Ordnung zu sein!
15022
Wenn solche Anschaffungen und Restaurierungen ihm vorübergehend eine
15023
gewisse Befriedigung und Beruhigung gewährten, so mochte er die Ausgaben
15024
dafür sich skrupellos gestatten, denn seine Geschäfte gingen in diesen
15025
Jahren so ausgezeichnet wie ehemals nur zur Zeit seines Großvaters. Der
15026
Name der Firma gewann nicht nur in der Stadt, sondern auch draußen an
15027
Klang, und innerhalb des Gemeinwesens wuchs noch immer sein Ansehen.
15028
Jedermann anerkannte mit Neid oder freudiger Teilnahme seine Tüchtigkeit
15029
und Geschicklichkeit, während er selbst vergeblich danach rang, mit
15030
Behagen in Reihe und Ordnung zu schaffen, weil er hinter seiner
15031
planenden Phantasie sich beständig zum Verzweifeln im Rückstande fühlte.
15033
So war es nicht Übermut, daß Senator Buddenbrook im Sommer dieses Jahres
15034
63 umherging und über dem Plane sann, sich ein großes, neues Haus zu
15035
bauen. Wer glücklich ist, bleibt am Platze. Seine Rastlosigkeit trieb
15036
ihn dazu, und seine Mitbürger hätten dies Unternehmen seiner »Eitelkeit«
15037
zurechnen können, denn es gehörte dazu. Ein neues Haus, eine radikale
15038
Veränderung des äußeren Lebens, Aufräumen, Umzug, Neuinstallierung mit
15039
Ausscheidung alles Alten und Überflüssigen, des ganzen Niederschlages
15040
vergangener Jahre: diese Vorstellungen gaben ihm ein Gefühl von
15041
Sauberkeit, Neuheit, Erfrischung, Unberührtheit, Stärkung ... und er
15042
mußte alles dessen wohl bedürftig sein, denn er griff mit Eifer danach
15043
und hatte sein Augenmerk schon auf eine bestimmte Stelle gerichtet.
15045
Es war ein ziemlich umfangreiches Grundstück in der unteren
15046
Fischergrube. Ein altersgraues, schlecht unterhaltenes Haus stand dort
15047
zum Verkaufe, dessen Besitzerin, eine steinalte Jungfer, die es als ein
15048
Überbleibsel einer vergessenen Familie ganz allein bewohnt hatte,
15049
kürzlich gestorben war. An diesem Platze wollte der Senator sein Haus
15050
erstehen lassen, und auf seinen Gängen zum Hafen passierte er ihn oft
15051
mit prüfenden Blicken. Die Nachbarschaft war sympathisch: gute
15052
Bürgerhäuser mit Giebeln; am bescheidensten unter ihnen erschien das
15053
_vis-à-vis_: ein schmales Ding mit einem kleinen Blumenladen im
15056
Er beschäftigte sich angestrengt mit diesem Unternehmen. Er machte einen
15057
ungefähren Überschlag der Kosten, und obgleich die Summe, die er
15058
vorläufig festsetzte, nicht gering war, fand er, daß er sie ohne
15059
Überanstrengung zu leisten vermochte. Dennoch erblaßte er bei dem
15060
Gedanken, daß das Ganze vielleicht ein unnützer Streich sein könne, und
15061
gestand sich, daß sein jetziges Haus für ihn, seine Frau, sein Kind und
15062
die Dienerschaft ja eigentlich Raum in Fülle hatte. Aber seine
15063
halbbewußten Bedürfnisse waren stärker, und in dem Wunsche, von außen
15064
her in seinem Vorhaben bekräftigt und berechtigt zu werden, eröffnete er
15065
sich zunächst seiner Schwester.
15067
»Kurz, Tony, was hältst du von der Sache! Die Wendeltreppe zum
15068
Badezimmer ist ja ganz spaßhaft, aber im Grunde ist das Ganze doch bloß
15069
eine Schachtel. Es ist so wenig repräsentabel, wie? Und jetzt, wo du es
15070
richtig dahin gebracht hast, daß ich Senator geworden bin ... Mit einem
15071
Worte: Bin ich's mir schuldig ...?«
15073
Ach, mein Gott, was war er sich in Madame Permaneders Augen nicht
15074
schuldig! Sie war voll ernster Begeisterung. Sie kreuzte die Arme auf
15075
der Brust und ging mit etwas erhobenen Schultern und zurückgelegtem
15076
Kopfe im Zimmer umher.
15078
»Da hast du recht, Tom! O Gott, wie recht du hast! Da gibt es gar keinen
15079
Einwand, denn wer zum Überfluß eine Arnoldsen mit 100000 Talern hat ...
15080
Übrigens bin ich stolz, daß du mich zuerst ins Vertrauen ziehst, das ist
15081
schön von dir!... Und =wenn= schon, Tom, dann auch =vornehm=, das sage
15084
»Nun ja, der Meinung bin ich auch. Ich will etwas daranwenden. Voigt
15085
soll es machen, und ich freue mich schon darauf, den Riß mit dir zu
15086
besehen. Voigt hat viel Geschmack ...«
15088
Die zweite Zustimmung, die Thomas sich einholte, war diejenige Gerdas.
15089
Sie lobte den Plan durchaus. Das Getümmel des Umzuges würde nichts
15090
Angenehmes sein, aber die Aussicht auf ein großes Musikzimmer mit guter
15091
Akustik stimmte sie glücklich. Und was die alte Konsulin betraf, so war
15092
sie sofort bereit, den Bau als logische Folge der übrigen Glücksfälle zu
15093
betrachten, die sie mit Genugtuung und Dank gegen Gott erlebte. Seit der
15094
Geburt des Erben und des Konsuls Wahl in den Rat äußerte sich ihr
15095
Mutterstolz noch unverhohlener als früher; sie hatte eine Art, »mein
15096
Sohn, der Senator« zu sagen, die die Damen Buddenbrook aus der Breiten
15097
Straße aufs höchste irritierte.
15099
Die alternden Mädchen fanden wahrhaftig allzu wenig Ablenkung von dem
15100
Anblick des eklatanten Aufschwunges, den Thomas' äußeres Leben nahm. Am
15101
Donnerstag die arme Klothilde zu verhöhnen, bereitete wenig Genugtuung,
15102
und über Christian, der durch Vermittlung Mr. Richardsons, seines
15103
ehemaligen Prinzipals, in London eine Stellung gefunden und von dort aus
15104
ganz kürzlich den aberwitzigen Wunsch herübertelegraphiert hatte,
15105
Fräulein Puvogel als Gattin sich zu nehmen, worauf er allerdings von der
15106
Konsulin aufs strengste zurückgewiesen war ... über Christian, der ganz
15107
einfach zur Rangordnung Jakob Krögers gehörte, waren die Akten
15108
geschlossen. So entschädigte man sich ein wenig an den kleinen Schwächen
15109
der Konsulin und Frau Permaneders, indem man zum Beispiel das Gespräch
15110
auf Haartrachten brachte; denn die Konsulin war imstande, mit der
15111
sanftesten Miene zu sagen, sie trage »ihr« Haar schlicht ... während
15112
doch alle von Gott mit Verstand begabten Menschen, vor allen aber die
15113
Damen Buddenbrook sich sagen mußten, daß der unveränderlich
15114
rötlichblonde Scheitel unter der Haube der alten Dame längst nicht mehr
15115
»ihr« Haar genannt werden könne. Noch lohnender aber war es, Kusine Tony
15116
zu veranlassen, sich ein wenig über die Personen zu äußern, die ihr
15117
bisheriges Leben in hassenswerter Weise beeinflußt hatten.
15118
Tränen-Trieschke! Grünlich! Permaneder! Hagenströms!... Diese Namen, die
15119
Tony, wenn sie gereizt ward, wie ebenso viele kleine Trompetenstöße des
15120
Abscheus mit etwas emporgezogenen Schultern in die Luft hinein verlauten
15121
ließ, klangen den Töchtern Onkel Gottholds recht angenehm in die Ohren.
15123
Übrigens verhehlten sie sich nicht -- und übernahmen keineswegs die
15124
Verantwortung, es zu verschweigen --, daß der kleine Johann zum
15125
Erschrecken langsam gehen und sprechen lerne ... Sie waren im Rechte
15126
damit, und es ist zuzugeben, daß Hanno -- dies war der Rufname, den Frau
15127
Senator Buddenbrook für ihren Sohn eingeführt hatte -- zu einer Zeit,
15128
als er alle Mitglieder seiner Familie mit ziemlicher Korrektheit zu
15129
nennen vermochte, noch immer außerstande war, die Namen Friederike,
15130
Henriette und Pfiffi in verständlicher Weise zu bilden. Was das Gehen
15131
betraf, so war ihm jetzt, im Alter von fünf Vierteljahren, noch kein
15132
selbständiger Schritt gelungen, und es war um diese Zeit, daß die Damen
15133
Buddenbrook mit hoffnungslosem Kopfschütteln erklärten, dieses Kind
15134
werde stumm und lahm bleiben für sein ganzes Leben.
15136
Sie durften später diese traurige Prophezeiung als Irrtum erkennen; aber
15137
niemand leugnete, daß Hanno in seiner Entwicklung ein wenig zurückstand.
15138
Er hatte gleich in der frühesten Zeit seines Lebens schwere Kämpfe zu
15139
bestehen gehabt und seine Umgebung in beständiger Furcht gehalten. Als
15140
ein stilles und wenig kräftiges Kind war er zur Welt gekommen, und bald
15141
nach der Taufe hatte ein nur drei Tage dauernder Anfall von
15142
Brechdurchfall beinahe genügt, sein mit Mühe in Gang gebrachtes kleines
15143
Herz endgültig stillstehen zu lassen. Er blieb am Leben, und der gute
15144
Doktor Grabow traf nun, mit der sorgfältigsten Ernährung und Pflege,
15145
Vorkehrungen gegen die drohenden Krisen des Zahnens. Kaum aber wollte
15146
die erste weiße Spitze den Kiefer durchbrechen, als auch schon die
15147
Krämpfe sich einstellten, um sich dann stärker und einige Male in
15148
Entsetzen erregender Weise zu wiederholen. Wieder kam es dahin, daß der
15149
alte Arzt den Eltern nur noch wortlos die Hände drückte ... Das Kind lag
15150
in tiefster Erschöpfung, und der stiere Seitenblick der tief
15151
umschatteten Augen deutete auf eine Gehirnaffektion. Das Ende schien
15152
fast wünschenswert.
15154
Dennoch gelangte Hanno wieder zu einigen Kräften, sein Blick begann die
15155
Dinge zu fassen, und wenn auch die überstandenen Strapazen seine
15156
Fortschritte im Sprechen und Gehen verlangsamten, so gab es nun doch
15157
keine unmittelbare Gefahr mehr zu fürchten.
15159
Hanno war schlankgliedrig und ziemlich lang für sein Alter. Sein
15160
hellbraunes, sehr weiches Haar begann in dieser Zeit ungemein schnell zu
15161
wachsen und fiel bald, kaum merklich gewellt, auf die Schultern seines
15162
faltigen, schürzenartigen Kleidchens nieder. Schon begannen die
15163
Familienähnlichkeiten sich vollkommen erkennbar bei ihm auszuprägen. Von
15164
Anbeginn besaß er ganz ausgesprochen die Hände der Buddenbrooks: breit,
15165
ein wenig zu kurz, aber fein gegliedert; und seine Nase war genau die
15166
seines Vaters und Urgroßvaters, wenn auch die Flügel noch zarter bleiben
15167
zu wollen schienen. Das ganze längliche und schmale Untergesicht jedoch
15168
gehörte weder den Buddenbrooks noch den Krögers, sondern der
15169
mütterlichen Familie -- wie auch vor allem sein Mund, der frühzeitig --
15170
schon jetzt -- dazu neigte, sich in zugleich wehmütiger und ängstlicher
15171
Weise verschlossen zu halten ... mit diesem Ausdruck, dem später der
15172
Blick seiner eigenartig goldbraunen Augen mit den bläulichen Schatten
15173
sich immer mehr anpaßte ...
15175
Unter den Blicken voll verhaltener Zärtlichkeit, die sein Vater ihm
15176
schenkte, unter der Sorgfalt, mit der seine Mutter seine Kleidung und
15177
Pflege überwachte, angebetet von seiner Tante Antonie, mit Reitern und
15178
Kreiseln beschenkt von der Konsulin und Onkel Justus -- begann er zu
15179
leben, und wenn sein hübscher kleiner Wagen auf der Straße erschien,
15180
blickten die Leute ihm mit Interesse und Erwartung nach. Was aber die
15181
würdige Kinderfrau Madame Decho betraf, die zunächst noch den Dienst
15182
versah, so war es beschlossene Sache, daß in das neue Haus nicht mehr
15183
sie, sondern an ihrer Statt Ida Jungmann einziehen sollte, während die
15184
Konsulin sich nach anderer Hilfe umsehen würde ...
15186
Senator Buddenbrook verwirklichte seine Pläne. Der Ankauf des
15187
Grundstückes in der Fischergrube machte keinerlei Schwierigkeiten, und
15188
das Haus in der Breiten Straße, zu dessen Übernahme der Makler Gosch
15189
sich sofort mit Ingrimm bereit erklärt hatte, brachte Herr Stephan
15190
Kistenmaker, dessen Familie wuchs und der mit seinem Bruder in Rotspohn
15191
gutes Geld verdiente, unmittelbar käuflich an sich. Herr Voigt übernahm
15192
den Bau, und bald schon konnte man Donnerstags im Familienkreise seinen
15193
sauberen Riß entrollen und die Fassade im voraus schauen: ein prächtiger
15194
Rohbau mit Sandstein-Karyatiden, die den Erker trugen, und einem flachen
15195
Dache, über welches Klothilde gedehnt und freundlich bemerkte, daß man
15196
nachmittags Kaffee darauf trinken könne ... Selbst in betreff der
15197
Parterreräumlichkeiten des Mengstraßenhauses, die nun leer stehen
15198
würden, denn auch seine Kontors gedachte der Senator in die Fischergrube
15199
zu verlegen, ordnete sich rasch alles zum besten, denn es erwies sich,
15200
daß die städtische Feuer-Versicherungsgesellschaft gewillt war, die
15201
Stuben mietweise als Büros zu übernehmen.
15203
Der Herbst kam, graues Gemäuer stürzte zu Schutt zusammen, und über
15204
geräumigen Kellern erwuchs, während der Winter hereinbrach und wieder an
15205
Kraft verlor, Thomas Buddenbrooks neues Haus. Kein Gesprächsstoff in der
15206
Stadt, der anziehender gewesen wäre! Es wurde tipptopp, es wurde das
15207
schönste Wohnhaus weit und breit! Gab es etwa in Hamburg schönere?...
15208
Mußte aber auch verzweifelt teuer sein, und der alte Konsul hätte solche
15209
Sprünge sicherlich nicht gemacht ... Die Nachbarn, die Bürgersleute in
15210
den Giebelhäusern, lagen in den Fenstern, sahen den Arbeiten der Männer
15211
auf den Gerüsten zu, freuten sich, wie der Bau emporstieg, und suchten
15212
den Zeitpunkt des Richtfestes zu bestimmen.
15214
Es kam heran und ward mit allen Umständlichkeiten begangen. Droben auf
15215
dem flachen Dache hielt ein alter Maurerpolier eine Rede, an deren Ende
15216
er eine Champagnerflasche über seine Schulter schleuderte, während
15217
zwischen den Fahnen die großmächtige Richtkrone aus Rosen, grünem Laub
15218
und bunten Blättern schwerfällig im Winde schwankte. Dann aber ward in
15219
einem nahen Wirtshause den sämtlichen Arbeitern an langen Tischen ein
15220
Festmahl mit Bier, belegtem Butterbrot und Zigarren gegeben, und mit
15221
seiner Gattin und seinem kleinen Sohne, den Madame Decho auf dem Arme
15222
trug, schritt Senator Buddenbrook in dem niedrigen Raume zwischen den
15223
Reihen der Tafelnden hindurch und nahm dankend die Hochrufe entgegen,
15224
die man ihm darbrachte.
15226
Draußen ward Hanno wieder in seinen Wagen gesetzt, und Thomas
15227
überschritt mit Gerda den Fahrdamm, um noch einen Blick an der roten
15228
Fassade mit den weißen Karyatiden hinaufgleiten zu lassen. Drüben, vor
15229
dem kleinen Blumenladen mit der schmalen Tür und dem dürftigen
15230
Schaufensterchen, in welchem ein paar Töpfe mit Zwiebelgewächsen
15231
nebeneinander auf einer grünen Glasscheibe paradierten, stand Iwersen,
15232
der Besitzer des Geschäftes, ein blonder, riesenstarker Mann, in
15233
wollener Jacke, neben seiner Frau, die weit schmächtiger war und einen
15234
dunklen, südlichen Gesichtstypus zeigte. Sie hielt einen vier- oder
15235
fünfjährigen Jungen an der einen Hand, schob mit der andern ein
15236
Wägelchen, in dem ein kleineres Kind schlummerte, langsam hin und her
15237
und befand sich ersichtlich in guter Hoffnung.
15239
Iwersen verbeugte sich ebenso tief wie ungeschickt, während seine Frau,
15240
die nicht aufhörte, das Kinderwägelchen hin und her zu rollen, aus ihren
15241
schwarzen, länglich geschnittenen Augen ruhig und aufmerksam die
15242
Senatorin betrachtete, die am Arme ihres Gatten auf sie zukam.
15244
Thomas blieb stehen und wies mit dem Stock nach der Richtkrone hinauf.
15246
»Das haben Sie schön gemacht, Iwersen!«
15248
»Kömmt nich mir zu, Herr Senator. Dat's min Fru eer Saak.«
15250
»Ah!« sagte der Senator kurz, wobei er mit einem kleinen Ruck den Kopf
15251
erhob und eine Sekunde lang hell, fest und freundlich in das Gesicht
15252
Frau Iwersens blickte. Und ohne ein Wort hinzuzufügen, verabschiedete er
15253
sich mit einer verbindlichen Handbewegung.
15258
Eines Sonntags, zu Beginn des Juli -- Senator Buddenbrook hatte seit
15259
etwa vier Wochen sein neues Haus bezogen -- erschien Frau Permaneder
15260
noch gegen Abend bei ihrem Bruder. Sie überschritt den kühlen,
15261
steinernen Flur, der mit Reliefs nach Thorwaldsen geschmückt war und von
15262
dem zur Rechten eine Tür in die Kontors führte, schellte an der
15263
Windfangtür, die von der Küche aus durch den Druck auf einen Gummiball
15264
geöffnet werden konnte, und erfuhr auf dem geräumigen Vorplatz, wo, am
15265
Fuße der Haupttreppe, der Bär, das Geschenk der Tiburtius', stand, von
15266
Anton, dem Bedienten, daß der Senator noch bei der Arbeit sei.
15268
»Schön«, sagte sie, »danke, Anton; ich gehe zu ihm.«
15270
Aber sie schritt zuvor noch am Kontoreingang vorbei, ein wenig nach
15271
rechts, dorthin, wo über ihr das kolossale Treppenhaus sich auftat,
15272
dieses Treppenhaus, das im ersten Stockwerk von der Fortsetzung des
15273
gußeisernen Treppengeländers gebildet ward, in der Höhe der zweiten
15274
Etage aber zu einer weiten Säulengalerie in Weiß und Gold wurde, während
15275
von der schwindelnden Höhe des »einfallenden Lichtes« ein mächtiger,
15276
goldblanker Lustre herniederschwebte ... »Vornehm!« sagte Frau
15277
Permaneder leise und befriedigt, indem sie in diese offene und helle
15278
Pracht hineinblickte, die ihr ganz einfach die Macht, den Glanz und
15279
Triumph der Buddenbrooks bedeutete. Dann aber fiel ihr ein, daß sie in
15280
einer betrübenden Angelegenheit hierhergekommen sei, und sie wandte sich
15281
langsam dem Kontoreingang zu.
15283
Thomas war ganz allein dort drinnen; er saß an seinem Fensterplatz und
15284
schrieb einen Brief. Er blickte auf, indem er eine seiner hellen Brauen
15285
emporzog, und streckte seiner Schwester die Hand entgegen.
15287
»'n Abend, Tony. Was bringst du Gutes.«
15289
»Ach, nicht viel Gutes, Tom!... Nein, das Treppenhaus ist gar zu
15290
herrlich!... Übrigens sitzest du hier im Halbdunkeln und schreibst.«
15292
»Ja ... ein eiliger Brief. -- Also nichts Gutes? Jedenfalls wollen wir
15293
ein bißchen im Garten herumgehen dabei; das ist angenehmer. Komm.«
15295
Ein Geigenadagio tönte tremolierend aus der ersten Etage herab, während
15296
sie über die Diele gingen.
15298
»Horch!« sagte Frau Permaneder und blieb einen Augenblick stehen ...
15299
»Gerda spielt. Wie himmlisch! O Gott, dieses Weib ... sie ist eine Fee!
15300
Wie geht es Hanno, Tom?«
15302
»Er wird gerade mit der Jungmann zu Abend essen. Schlimm, daß es mit
15303
seinem Gehen noch immer nicht so recht vorwärts will ...«
15305
»Das wird schon kommen, Tom, wird schon kommen! Wie seid ihr mit Ida
15308
»Oh, wie sollten wir nicht zufrieden sein ...«
15310
Sie passierten den rückwärts gelegenen steinernen Flur, indem sie die
15311
Küche zur Rechten ließen, und traten durch eine Glastür über zwei Stufen
15312
in den zierlichen und duftenden Blumengarten hinaus.
15314
»Nun?« fragte der Senator.
15316
Es war warm und still. Die Düfte der reinlich abgezirkelten Beete lagen
15317
in der Abendluft, und der von hohen lilafarbenen Iris umstandene
15318
Springbrunnen sandte seinen Strahl mit friedlichem Plätschern dem
15319
dunklen Himmel entgegen, an dem die ersten Sterne zu erglimmen begannen.
15320
Im Hintergrunde führte eine kleine, von zwei niedrigen Obelisken
15321
flankierte Freitreppe zu einem erhöhten Kiesplatze empor, auf welchem
15322
ein offener, hölzerner Pavillon stand, der mit seiner herabgelassenen
15323
Markise einige Gartenstühle beschirmte. Zur Linken ward das Grundstück
15324
durch eine Mauer vom Nachbargarten abgegrenzt; rechts aber war die
15325
Seitenwand des Nebenhauses in ihrer ganzen Höhe mit einem hölzernen
15326
Gerüst verkleidet, das bestimmt war, mit der Zeit von Schlinggewächsen
15327
bedeckt zu werden. Es gab zu den Seiten der Freitreppe und des
15328
Pavillonplatzes ein paar Johannis- und Stachelbeersträucher; aber nur
15329
=ein= großer Baum war da, ein knorriger Walnußbaum, der links an der
15332
»Die Sache ist die«, antwortete Frau Permaneder zögernd, während die
15333
Geschwister auf dem Kieswege langsam den vorderen Platz zu umschreiten
15334
begannen ... »Tiburtius schreibt ...«
15336
»Klara?!« fragte Thomas ... »Bitte, kurz und ohne Umstände!«
15338
»Ja, Tom, sie liegt, es steht schlimm mit ihr, und der Doktor fürchtet,
15339
daß es Tuberkeln sind ... Gehirntuberkulose ... so schwer es mir fällt,
15340
es auszusprechen. Sieh her: dies ist der Brief, den ihr Mann mir
15341
schreibt. Diese Einlage, die an Mutter adressiert ist und in der, sagt
15342
er, dasselbe steht, sollen wir ihr geben, nachdem wir sie ein bißchen
15343
vorbereitet haben. Und dann ist hier noch diese zweite Einlage: auch an
15344
Mutter und von Klara selbst sehr unsicher mit Bleistift geschrieben. Und
15345
Tiburtius erzählt, daß sie selbst dabei gesagt hat, es seien ihre
15346
letzten Zeilen, denn es sei das Traurige, daß sie sich gar keine Mühe
15347
gäbe, zu leben. Sie hat sich ja immer nach dem Himmel gesehnt ...«
15348
schloß Frau Permaneder und trocknete ihre Augen.
15350
Der Senator ging schweigend, die Hände auf dem Rücken und mit tief
15351
gesenktem Kopfe neben ihr.
15353
»Du bist so still, Tom ... Und du hast recht; was soll man sagen? Und
15354
dies grade jetzt, wo auch Christian krank in Hamburg liegt ...«
15356
Denn so verhielt es sich. Christians »Qual« in der linken Seite war in
15357
letzter Zeit zu London so stark geworden, hatte sich in so reelle
15358
Schmerzen verwandelt, daß er alle seine kleineren Beschwerden darüber
15359
vergessen hatte. Er hatte sich nicht mehr zu helfen gewußt, hatte seiner
15360
Mutter geschrieben, er müsse nach Hause kommen, um sich von ihr pflegen
15361
zu lassen, hatte seinen Platz in London fahren lassen und war abgereist.
15362
Kaum aber in Hamburg angelangt, hatte er zu Bette gehen müssen, der
15363
Arzt hatte Gelenkrheumatismus festgestellt und Christian aus dem Hotel
15364
ins Krankenhaus schaffen lassen, da eine Weiterreise fürs erste
15365
unmöglich sei. Da lag er nun und diktierte seinem Wärter höchst
15366
trübselige Briefe ...
15368
»Ja«, antwortete der Senator leise; »es scheint, daß eins zum andern
15371
Sie legte einen Augenblick den Arm um seine Schultern.
15373
»Aber du mußt nicht verzagt sein, Tom! Dazu hast du noch lange kein
15374
Recht! Du hast guten Mut nötig ...«
15376
»Ja, bei Gott, den hätte ich nötig!«
15378
»Wieso, Tom?... Sage mal: Warum warst du eigentlich vorgestern,
15379
Donnerstag, den ganzen Nachmittag so schweigsam, wenn ich das wissen
15382
»Ach ... Geschäfte, mein Kind. Ich habe eine nicht ganz kleine Partie
15383
Roggen nicht sehr vorteilhaft ... na, kurz und gut: eine große Partie
15384
sehr unvorteilhaft verkaufen müssen ...«
15386
»Oh, das kommt vor, Tom! Das passiert heute, und morgen bringst du's
15387
wieder ein. Sich dadurch gleich die Stimmung verderben zu lassen ...«
15389
»Falsch, Tony«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Meine Stimmung ist
15390
nicht unter Null, weil ich Mißerfolg habe. =Umgekehrt.= Das ist mein
15391
Glaube, und darum trifft es auch zu.«
15393
»Aber, was ist denn mit deiner Stimmung?!« fragte sie erschreckt und
15394
erstaunt. »Man sollte annehmen ... du solltest fröhlich sein, Tom! Klara
15395
ist am Leben ... alles wird gut gehen mit Gottes Hilfe! Und im übrigen?
15396
Hier gehen wir in deinem Garten umher, und alles duftet nur so. Dort
15397
liegt dein Haus, ein Traum von einem Haus; Hermann Hagenström bewohnt
15398
eine Kate im Vergleiche damit! Das alles hast du zuwege gebracht ...«
15400
»Ja, es ist fast zu schön, Tony. Ich will sagen: es ist noch zu neu. Es
15401
verstört mich noch ein wenig, und daher mag die üble Stimmung kommen,
15402
die mir zusetzt und mir in allen Dingen schadet. Ich habe mich sehr auf
15403
dies alles gefreut, aber diese Vorfreude war, wie ja immer, das Beste,
15404
denn das Gute kommt immer zu spät, immer wird es zu spät fertig, wenn
15405
man sich nicht mehr recht darüber freuen kann ...«
15407
»Nicht mehr freuen, Tom! Jung wie du bist!«
15409
»Man ist so jung oder alt wie man sich fühlt. -- Und =wenn= es kommt,
15410
das Gute und Erwünschte, schwerfällig und verspätet, so kommt es,
15411
behaftet mit allem kleinlichen, störenden, ärgerlichen Beiwerk, allem
15412
Staube der Wirklichkeit, mit dem man in der Phantasie nicht gerechnet
15413
hat, und der einen reizt ... reizt ...«
15415
»Ja, ja ... Aber so jung oder alt wie man sich =fühlt=, Tom --?«
15417
»Ja, Tony. Es mag vorübergehen ... eine Verstimmung -- gewiß. Aber ich
15418
fühle mich in dieser Zeit älter, als ich bin. Ich habe geschäftliche
15419
Sorgen, und im Aufsichtsrat der Büchener Eisenbahn hat mich Konsul
15420
Hagenström gestern ganz einfach zu Boden geredet, widerlegt, beinahe dem
15421
allgemeinen Lächeln ausgesetzt ... Mir ist, als ob mir dergleichen
15422
früher nicht hätte geschehen können. Mir ist, als ob mir etwas zu
15423
entschlüpfen begönne, als ob ich dieses Unbestimmte nicht mehr so fest
15424
in Händen hielte, wie ehemals ... Was ist der Erfolg? Eine geheime,
15425
unbeschreibliche Kraft, Umsichtigkeit, Bereitschaft ... das Bewußtsein,
15426
einen Druck auf die Bewegungen des Lebens um mich her durch mein bloßes
15427
Vorhandensein auszuüben ... Der Glaube an die Gefügigkeit des Lebens zu
15428
meinen Gunsten ... Glück und Erfolg sind in uns. Wir müssen sie halten:
15429
fest, tief. Sowie hier drinnen etwas nachzulassen beginnt, sich
15430
abzuspannen, müde zu werden, alsbald wird alles frei um uns her,
15431
widerstrebt, rebelliert, entzieht sich unserem Einfluß ... Dann kommt
15432
eines zum andern, Schlappe folgt auf Schlappe, und man ist fertig. Ich
15433
habe in den letzten Tagen oft an ein türkisches Sprichwort gedacht, das
15434
ich irgendwo las: `Wenn das Haus fertig ist, so kommt der Tod´. Nun, es
15435
braucht noch nicht grade der Tod zu sein. Aber der Rückgang ... der
15436
Abstieg ... der Anfang vom Ende ... Siehst du, Tony«, fuhr er fort,
15437
indem er den Arm unter den seiner Schwester schob, und seine Stimme
15438
wurde noch leiser: »Als wir Hanno tauften, erinnerst du dich? Da sagtest
15439
du zu mir: `Mir ist, als ob jetzt noch eine ganz neue Zeit beginnen
15440
müsse!´ Ich höre es noch ganz deutlich, und es schien dann, als solltest
15441
du recht bekommen, denn es kam die Senatswahl, und ich hatte Glück, und
15442
hier wuchs das Haus aus dem Erdboden. Aber `Senator´ und Haus sind
15443
Äußerlichkeiten, und ich weiß etwas, woran du noch nicht gedacht hast,
15444
ich weiß es aus Leben und Geschichte. Ich weiß, daß oft die äußeren,
15445
sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und
15446
Aufstieges erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts
15447
geht. Diese äußeren Zeichen brauchen Zeit, anzukommen, wie das Licht
15448
eines solchen Sternes dort oben, von dem wir nicht wissen, ob er nicht
15449
schon im Erlöschen begriffen, nicht schon erloschen ist, wenn er am
15450
hellsten strahlt ...«
15452
Er verstummte, und sie gingen eine Weile schweigend, während der
15453
Springbrunnen in der Stille plätscherte und es in der Krone des
15454
Walnußbaumes flüsterte. Dann atmete Frau Permaneder so mühsam auf, daß
15455
es wie Schluchzen klang.
15457
»Wie traurig du sprichst, Tom! So traurig wie noch nie! Aber es ist gut,
15458
daß du dich ausgesprochen hast, und nun wird es dir leichter werden, dir
15459
alles das aus dem Sinn zu schlagen.«
15461
»Ja, Tony, das muß ich, so gut es geht, versuchen. Und nun gib mir die
15462
beiden Einlagen von Klara und dem Pastor. Es wird dir recht sein, wenn
15463
ich dir die Sache abnehme und morgen vormittag selbst mit Mutter
15464
spreche. Die gute Mutter! Aber wenn es Tuberkeln sind, so muß man sich
15470
»Und du fragst mich nicht?! Du gehst über mich hinweg?!«
15472
»Ich habe gehandelt, wie ich handeln mußte!«
15474
»Du hast über alle Grenzen verwirrt und vernunftlos gehandelt!«
15476
»Vernunft ist nicht das Höchste auf Erden!«
15478
»Oh, keine Phrasen!... Es handelt sich um die einfachste Gerechtigkeit,
15479
die du in empörender Weise außer acht gelassen hast!«
15481
»Ich bemerke dir, mein Sohn, daß du deinerseits in deinem Tone die
15482
Ehrfurcht außer acht läßt, die du mir schuldest!«
15484
»Und ich entgegne dir, meine liebe Mutter, daß ich diese Ehrfurcht noch
15485
niemals vergessen habe, daß aber meine Eigenschaft als Sohn zu Null
15486
wird, sobald ich dir in Sachen der Firma und der Familie als männliches
15487
Oberhaupt und an der Stelle meines Vaters gegenüberstehe!« ...
15489
»Ich will nun, daß du schweigst, Thomas!«
15491
»O nein! ich werde nicht schweigen, bis du deine maßlose Torheit und
15492
Schwäche erkennst!«
15494
»Ich disponiere über mein Vermögen wie es mir beliebt!«
15496
»Billigkeit und Vernunft setzen deinem Belieben Schranken!«
15498
»Nie hätte ich gedacht, daß du mich so zu kränken vermöchtest!«
15500
»Nie hätte ich gedacht, daß du mir so rücksichtslos ins Gesicht zu
15501
schlagen vermöchtest ...!«
15503
»Tom!... Aber Tom!« ließ sich Frau Permaneders verängstigte Stimme
15504
vernehmen. Sie saß, die Hände ringend, am Fenster des Landschaftszimmers,
15505
während ihr Bruder mit furchtbar erregten Schritten den Raum durchmaß
15506
und die Konsulin, aufgelöst in Zorn und Schmerz, auf dem Sofa saß, indem
15507
sie sich mit einer Hand auf das Polster stützte und die andere bei einem
15508
heftigen Wort auf die Tischplatte niederfallen ließ. Alle drei trugen
15509
Trauer um Klara, die nicht mehr auf Erden weilte, und alle drei waren
15510
bleich und außer sich ...
15512
Was ging vor? Etwas Entsetzliches, Grauenerregendes, etwas, was den
15513
Beteiligten selbst als monströs und unglaublich erschien! Ein Streit,
15514
eine erbitterte Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn!
15516
Es war im August, an einem schwülen Nachmittage. Zehn Tage schon,
15517
nachdem der Senator seiner Mutter mit aller Vorsicht die beiden Briefe
15518
von Sievert und Klara Tiburtius überreicht hatte, war ihm die schwere
15519
Aufgabe geworden, die alte Dame mit der Todesnachricht zu treffen. Dann
15520
war er zum Begräbnis nach Riga gereist, war zusammen mit seinem Schwager
15521
Tiburtius zurückgekehrt, der einige Tage bei der Familie seiner
15522
entschlafenen Gattin verbracht, und auch Christian im Hamburger
15523
Krankenhause besucht hatte ... und jetzt, da der Pastor seit zwei Tagen
15524
sich wieder in seiner Heimat befand, hatte die Konsulin ihrem Sohne mit
15525
ersichtlichem Zögern diese Eröffnung gemacht ...
15527
»Hundertsiebenundzwanzigtausendfünfhundert Kurantmark!« rief er und
15528
schüttelte die gefalteten Hände vor seinem Gesicht. »Sei's um die
15529
Mitgift! Hätte er doch die Achtzigtausend behalten mögen, obgleich kein
15530
Kind vorhanden ist! Aber das Erbe! Klaras Erbe ihm zuzusprechen! Und du
15531
fragst mich nicht! Du gehst über mich hinweg!« ...
15533
»Thomas, um Christi willen, laß mir Gerechtigkeit widerfahren! Konnte
15534
ich denn anders? Konnte ich es denn?!... Sie, die nun bei Gott, und all
15535
dem entrückt ist, sie schreibt mir von ihrem Sterbebette aus ... mit
15536
Bleistift ... mit zitternder Hand ... `Mutter´, schreibt sie, `wir
15537
werden uns hier unten niemals wiedersehen, und dies sind, das fühle ich
15538
so deutlich, meine letzten Zeilen ... Mit meinem letzten Bewußtsein
15539
schreibe ich sie, das meinem Manne gilt ... Gott hat uns nicht mit
15540
Kindern gesegnet; aber was =mein= gewesen wäre, wenn ich Dich überlebt
15541
hätte, laß es, wenn Du mir dereinst =dorthin= nachfolgst -- laß es =ihm=
15542
zufallen, damit er es zu seinen Lebzeiten genieße! Mutter, es ist meine
15543
letzte Bitte ... die Bitte einer Sterbenden ... Du wirst sie mir nicht
15544
abschlagen ...´ Nein, Thomas! ich habe sie ihr nicht abgeschlagen; ich
15545
konnte es nicht! Ich habe ihr depeschiert, und sie ist in Frieden
15546
hinübergegangen ...« Die Konsulin weinte heftig.
15548
»Und man gönnt mir nicht eine Silbe! Man verheimlicht mir alles! Man
15549
geht über mich hinweg!« wiederholte der Senator.
15551
»Ja, ich =habe= geschwiegen, Thomas; denn ich fühlte, daß ich die letzte
15552
Bitte meines sterbenden Kindes erfüllen =mußte= ... und ich weiß, daß du
15553
versucht hättest, es mir zu verbieten!«
15555
»Ja! bei Gott! Das hätte ich!«
15557
»Und du hättest das Recht nicht dazu gehabt, denn drei meiner Kinder
15558
sind einig mit mir!«
15560
»Oh, mich dünkt, meine Meinung wiegt die zweier Damen und eines maroden
15563
»Du sprichst so lieblos von deinen Geschwistern, wie hart zu mir!«
15565
»Klara war eine fromme aber unwissende Frau, Mutter! Und Tony ist ein
15566
Kind, -- das übrigens bis zur Stunde ebenfalls nichts gewußt hat, denn
15567
es hätte ja zur Unzeit geplaudert, nicht wahr? Und Christian?... Ja, er
15568
hat sich Christians Einwilligung verschafft, dieser Tiburtius ... Wer
15569
hätte dergleichen von ihm erwartet?!... Weißt du noch nicht, begreifst
15570
du noch nicht, was er ist, dieser ingeniöse Pastor? Ein Wicht ist er!
15571
Ein Erbschleicher ...!«
15573
»Schwiegersöhne sind immer Filous«, sagte Frau Permaneder mit dumpfer
15576
»Ein Erbschleicher! Was tut er? Er fährt nach Hamburg, er setzt sich an
15577
Christians Bett und redet auf ihn ein. `Ja!´ sagt Christian. `Ja,
15578
Tiburtius. Gott befohlen. Haben Sie einen Begriff von der Qual in meiner
15579
linken Seite?...´ Oh, Dummheit und Schlechtigkeit sind gegen mich
15580
verschworen --!« Und der Senator -- außer sich, an das Schmiedeeisengitter
15581
der Ofennische gelehnt -- drückte seine beiden verschlungenen Hände
15584
Dieser Paroxysmus von Entrüstung entsprach nicht den Umständen! Nein, es
15585
waren nicht diese 127500 Kurantmark, die ihn in einen Zustand
15586
versetzten, wie ihn noch niemals irgend jemand an ihm beobachtet hatte!
15587
Es war vielmehr dies, daß in seinem vorher schon gereizten Empfinden
15588
sich auch dieser Fall noch der Kette von Niederlagen und Demütigungen
15589
anreihte, die er während der letzten Monate im Geschäft und in der Stadt
15590
hatte erfahren müssen ... Nichts fügte sich mehr! Nichts ging mehr nach
15591
seinem Willen! War es so weit gekommen, daß man im Hause seiner Väter in
15592
den wichtigsten Angelegenheiten »über ihn hinwegging« ...? Daß ein
15593
Rigaer Pastor ihn rücklings übertölpelte?... Er hätte es verhindern
15594
können, aber sein Einfluß war gar nicht erprobt worden! Die Ereignisse
15595
waren ohne ihn ihren Gang gegangen! Aber ihm schien, daß das früher
15596
nicht hätte geschehen können, daß es früher nicht =gewagt= haben würde,
15597
zu geschehen! Es war eine neue Erschütterung des eigenen Glaubens an
15598
sein Glück, seine Macht, seine Zukunft ... Und es war nichts als seine
15599
innere Schwäche und Verzweiflung, die vor Mutter und Schwester während
15600
dieses Auftrittes hervorbrach.
15602
Frau Permaneder stand auf und umarmte ihn.
15604
»Tom«, sagte sie, »beruhige dich doch! Komm doch zu dir! Ist es so
15605
schlimm? Du machst dich ja krank! Tiburtius braucht ja nicht gar so
15606
lange zu leben ... und nach seinem Tode fällt ja das Erbteil an uns
15607
zurück! Und es soll ja auch geändert werden, wenn du willst! Kann es
15608
nicht geändert werden, Mama?«
15610
Die Konsulin antwortete nur mit Schluchzen.
15612
»Nein ... ach nein!« sagte der Senator, indem er sich zusammenraffte und
15613
mit der Hand eine schwach ablehnende Geste beschrieb. »Es ist, wie es
15614
ist. Meint ihr, ich werde in die Gerichte laufen und gegen meine Mutter
15615
prozessieren, um dem internen Skandal einen öffentlichen hinzuzufügen?
15616
Es gehe wie es will ...« schloß er und ging mit erschlafften Bewegungen
15617
zur Glastür, wo er noch einmal stehenblieb.
15619
»Nur glaubt nicht, daß es zum besten mit uns steht«, sagte er gedämpft.
15620
»Tony hat 80000 Kurantmark verloren ... und Christian hat außer seiner
15621
Mitgift von 50000, die er vertan, schon an die 30000 Vorschuß verbraucht
15622
... die sich vermehren werden, da er ohne Verdienst ist und eine Kur in
15623
Öynhausen gebrauchen wird ... Nun fällt nicht nur Klaras Mitgift für
15624
immer, sondern dereinst auch ihr ganzer Vermögensanteil für
15625
unbestimmbare Zeit aus der Familie hinaus ... Und die Geschäfte gehen
15626
schlecht, sie gehen zum Verzweifeln, genau seit der Zeit, daß ich mehr
15627
als Hunderttausend an mein Haus gewandt habe ... Nein, es steht nicht
15628
gut um eine Familie, in der Veranlassung gegeben wird zu Auftritten wie
15629
dieser hier. Glaubt mir -- glaubt mir das eine: Wäre Vater am Leben,
15630
wäre er hier bei uns zugegen: er würde die Hände falten und uns alle der
15631
Gnade Gottes empfehlen.«
15636
Krieg und Kriegsgeschrei, Einquartierung und Geschäftigkeit: Preußische
15637
Offiziere bewegen sich in der parkettierten Zimmerflucht der Bel-Etage
15638
von Senator Buddenbrooks neuem Hause, küssen der Hausdame die Hände und
15639
werden von Christian, der von Öynhausen zurückgekehrt ist, in den Klub
15640
eingeführt, während im Mengstraßenhause Mamsell Severin, Riekchen
15641
Severin, der Konsulin neue Jungfer, zusammen mit den Mädchen eine Menge
15642
Matratzen in das »Portal«, das alte Gartenhaus, schleppt, das voll von
15645
Gewimmel, Verstörung und Spannung überall! Die Mannschaften ziehen zum
15646
Tore hinaus, neue rücken ein, überfluten die Stadt, essen, schlafen,
15647
erfüllen die Ohren der Bürger mit Trommelwirbeln, Trompetensignalen und
15648
Kommandorufen und marschieren wieder ab. Königliche Prinzen werden
15649
begrüßt; Durchmarsch folgt auf Durchmarsch. Dann Stille und Erwartung.
15651
Im Spätherbst und Winter kehren die Truppen siegreich zurück, werden
15652
wiederum einquartiert und ziehen unter den Hochrufen der aufatmenden
15653
Bürger nach Hause. -- Friede. Der kurze, ereignisschwangere Friede von
15656
Und zwischen zwei Kriegen, unberührt und ruhevoll in den Falten seines
15657
Schürzenkleidchens und dem Gelock seines weichen Haares, spielt der
15658
kleine Johann im Garten am Springbrunnen oder auf dem »Altan«, der
15659
eigens für ihn durch eine kleine Säulenestrade vom Vorplatz der zweiten
15660
Etage abgetrennt ist, die Spiele seiner 4½ Jahre ... Diese Spiele, deren
15661
Tiefsinn und Reiz kein Erwachsener mehr zu verstehen vermag, und zu
15662
denen nichts weiter nötig ist als drei Kieselsteine oder ein Stück Holz,
15663
das vielleicht eine Löwenzahnblüte als Helm trägt: vor allem aber die
15664
reine, starke, inbrünstige, keusche, noch unverstörte und
15665
uneingeschüchterte Phantasie jenes glückseligen Alters, wo das Leben
15666
sich noch scheut, uns anzutasten, wo noch weder Pflicht noch Schuld Hand
15667
an uns zu legen wagt, wo wir sehen, hören, lachen, staunen und träumen
15668
dürfen, ohne daß noch die Welt Dienste von uns verlangt ... wo die
15669
Ungeduld derer, die wir doch lieben möchten, uns noch nicht nach
15670
Anzeichen und ersten Beweisen quält, daß wir diese Dienste mit
15671
Tüchtigkeit werden leisten können ... Ach, nicht lange mehr, und mit
15672
plumper Übermacht wird alles über uns herfallen, um uns zu
15673
vergewaltigen, zu exerzieren, zu strecken, zu kürzen, zu verderben ...
15675
Große Dinge geschahen, während Hanno spielte. Der Krieg entbrannte, der
15676
Sieg schwankte und entschied sich, und Hanno Buddenbrooks Vaterstadt,
15677
die klug zu Preußen gestanden hatte, blickte nicht ohne Genugtuung auf
15678
das reiche Frankfurt, das seinen Glauben an Österreich bezahlen mußte,
15679
indem es aufhörte, eine freie Stadt zu sein.
15681
Bei dem Fallissement einer Frankfurter Großfirma aber, im Juli,
15682
unmittelbar vor Eintritt des Waffenstillstandes, verlor das Haus Johann
15683
Buddenbrook mit einem Schlage die runde Summe von zwanzigtausend Talern
15694
Wenn Herr Hugo Weinschenk, seit einiger Zeit Direktor im Dienste der
15695
städtischen Feuerversicherungsgesellschaft, mit seinem geschlossenen
15696
Leibrock, seinem schmalen, schwarzen, auf männliche und ernste Art in
15697
die Mundwinkel hineingewachsenen Schnurrbart und seiner etwas hängenden
15698
Unterlippe, wiegenden und selbstbewußten Schrittes über die große Diele
15699
schritt, um sich von den vorderen Büros in die hinteren zu begeben,
15700
wobei er seine beiden Fäuste vor sich hertrug und die Ellenbogen in
15701
legerer Weise an den Seiten bewegte, bot er das Bild eines tätigen,
15702
wohlsituierten und imponierenden Mannes.
15704
Andererseits war Erika Grünlich, nun zwanzigjährig: ein großes,
15705
erblühtes Mädchen, frischfarbig und hübsch vor Gesundheit und Kraft.
15706
Führte der Zufall sie die Treppe hinab oder an das obere Geländer, wenn
15707
eben Herr Weinschenk des Weges kam -- und der Zufall tat dies nicht
15708
selten -- so nahm der Direktor den Zylinder von seinem kurzen, schwarzen
15709
Haupthaar, das an den Schläfen schon zu ergrauen begann, wiegte sich
15710
stärker in der Taille seines Gehrockes und begrüßte das junge Mädchen
15711
mit einem erstaunten und bewundernden Blick seiner kühn
15712
umherschweifenden, braunen Augen ... worauf Erika davonlief, sich
15713
irgendwo auf eine Fensterbank setzte und vor Ratlosigkeit und Verwirrung
15714
eine Stunde lang weinte.
15716
Fräulein Grünlich war unter Therese Weichbrodts Obhut in Züchten
15717
herangewachsen, und ihre Gedanken gingen nicht weit. Sie weinte über
15718
Herrn Weinschenks Zylinder, die Art, mit der er bei ihrem Anblick seine
15719
Brauen emporzucken und wieder fallen ließ, seine höchst königliche
15720
Haltung und seine balancierenden Fäuste. Ihre Mutter inzwischen, Frau
15721
Permaneder, sah weiter.
15723
Die Zukunft ihrer Tochter bekümmerte sie seit Jahren, denn Erika war,
15724
verglichen mit anderen heiratsfähigen Mädchen, ja im Nachteile. Frau
15725
Permaneder verkehrte nicht nur nicht in der Gesellschaft, sie lebte in
15726
Feindschaft mit ihr. Die Annahme, daß man sie in den ersten Kreisen auf
15727
Grund ihrer zweimaligen Scheidung als minderwertig betrachte, war ihr
15728
ein wenig zur fixen Idee geworden, und sie sah Verachtung und
15729
Gehässigkeit da, wo wahrscheinlich oft nichts als Gleichgültigkeit
15730
vorhanden war. Wahrscheinlich zum Beispiel würde Konsul Hermann
15731
Hagenström, dieser freisinnige und loyale Kopf, den der Reichtum heiter
15732
und wohlwollend machte, sie auf der Straße gegrüßt haben, wenn der
15733
Blick, mit dem sie zurückgeworfenen Hauptes an seinem Gesichte
15734
vorbeisah, diesem »Gänseleberpastetengesicht«, das sie, mit einem ihrer
15735
starken Worte, »haßte wie die Pest«, es ihm nicht aufs strengste
15736
verboten hätte. So kam es, daß auch Erika der Sphäre ihres Onkels, des
15737
Senators, durchaus fern stand, daß sie keine Bälle besuchte und,
15738
Herrenbekanntschaften zu machen, sich ihr wenig Gelegenheit bot.
15740
Dennoch war es, besonders seit sie selbst, wie sie sagte,
15741
»abgewirtschaftet« hatte, Frau Antonies heißester Wunsch, daß ihre
15742
Tochter die Hoffnungen erfüllen möge, die ihr, der Mutter,
15743
fehlgeschlagen, und eine Heirat machen, welche, vorteilhaft und
15744
glücklich, der Familie zur Ehre gereichen, und die Schicksale der Mutter
15745
vergessen lassen würde. In erster Linie ihrem älteren Bruder gegenüber,
15746
der in letzter Zeit so geringe Hoffnungsfreudigkeit an den Tag legte,
15747
sehnte Tony sich nach einem Beweise, daß das Glück der Familie noch
15748
nicht erschöpft, daß sie keineswegs schon am Ende angelangt sei ... Ihre
15749
zweite Mitgift, die 17000 Taler, die Herr Permaneder mit so viel Kulanz
15750
wieder herausgegeben hatte, lagen für Erika bereit, und kaum hatte Frau
15751
Antonie, scharfäugig und erfahren, die zarte Verbindung bemerkt, die
15752
sich zwischen ihrer Tochter und dem Direktor angesponnen hatte, als sie
15753
schon den Himmel mit Gebeten anzugehen begann, Herr Weinschenk möge
15756
Er tat es. Er erschien in der ersten Etage, ward von den drei Damen,
15757
Großmutter, Tochter und Enkelin, empfangen, plauderte zehn Minuten lang
15758
und versprach, nachmittags um die Kaffeezeit einmal zu zwangloser
15759
Unterhaltung wiederzukommen.
15761
Auch das geschah, und man lernte einander kennen. Der Direktor war aus
15762
Schlesien gebürtig, woselbst sein alter Vater noch lebte; seine Familie
15763
indes schien nicht in Betracht zu kommen, und Hugo Weinschenk vielmehr
15764
ein _self-made man_ zu sein. Er besaß das nicht angeborene, nicht ganz
15765
sichere, etwas übertriebene und etwas mißtrauische Selbstbewußtsein
15766
eines solchen, seine Formen waren nicht eben vollkommen, und seine
15767
Konversation von Herzen ungewandt. Übrigens zeigte sein etwas
15768
kleinbürgerlich geschnittener Gehrock einige blanke Stellen, seine
15769
Manschetten mit den großen Jettknöpfen waren nicht ganz frisch und
15770
sauber, und am Mittelfinger der linken Hand war infolge irgendeines
15771
Unglücksfalles der Nagel völlig verdorrt und kohlschwarz ... ein
15772
ziemlich unerfreulicher Anblick, der aber nicht hinderte, daß Hugo
15773
Weinschenk ein hochachtungswerter, fleißiger, energischer Mensch mit
15774
12000 Kurantmark jährlicher Einkünfte und in Erika Grünlichs Augen sogar
15775
ein schöner Mann war.
15777
Frau Permaneder hatte rasch die Lage überblickt und abgeschätzt. Sie
15778
sprach sich gegen die Konsulin und den Senator offen darüber aus. Es war
15779
klar, daß die Interessen sich entgegenkamen und sich ergänzten. Direktor
15780
Weinschenk war, wie Erika, ohne jegliche gesellschaftliche Verbindung;
15781
die beiden waren geradezu aufeinander angewiesen und von Gott
15782
ersichtlich füreinander bestimmt. Wollte der Direktor, der sich den
15783
Vierzig näherte, und dessen Haupthaar sich zu melieren begann, einen
15784
Hausstand gründen, was seiner Stellung zukam und seinen Verhältnissen
15785
entsprach, so eröffnete ihm die Verbindung mit Erika Grünlich den
15786
Eintritt in eine der ersten Familien der Stadt und war geeignet, ihn in
15787
seinem Berufe zu fördern, in seiner Position zu befestigen. Was aber
15788
Erikas Wohlfahrt betraf, so durfte Frau Permaneder sich sagen, daß
15789
wenigstens ihre eigenen Schicksale in diesem Falle ausgeschlossen seien.
15790
Mit Herrn Permaneder wies Hugo Weinschenk nicht die geringste
15791
Ähnlichkeit auf, und von Bendix Grünlich unterschied er sich durch seine
15792
Eigenschaft als solid situierter Beamter mit festem Gehalt, die eine
15793
weitere Karriere nicht ausschloß.
15795
Mit einem Worte: es war auf beiden Seiten viel guter Wille vorhanden,
15796
die Nachmittagsbesuche Direktor Weinschenks wiederholten sich in rascher
15797
Folge, und im Januar -- dem Januar des Jahres 1867 -- gestattete er
15798
sich, mit einigen kurzen, männlichen und geraden Worten um Erika
15799
Grünlichs Hand zu bitten.
15801
Von nun an gehörte er zur Familie, begann an den »Kindertagen«
15802
teilzunehmen und ward von den Angehörigen seiner Braut mit
15803
Zuvorkommenheit aufgenommen. Ohne Zweifel empfand er sofort, daß er
15804
unter ihnen nicht recht am Platze war; aber er verkleidete dies Gefühl
15805
mit einer desto kühneren Haltung, und die Konsulin, Onkel Justus,
15806
Senator Buddenbrook -- wenn auch nicht gerade die Damen Buddenbrook aus
15807
der Breiten Straße -- waren gegenüber diesem tüchtigen Büromenschen,
15808
diesem gesellschaftlich unerfahrenen Manne der harten Arbeit zu
15809
taktvoller Nachsicht bereit.
15811
Sie war vonnöten; denn immer wieder galt es, mit einem belebenden und
15812
ablenkenden Worte eine Stille zu verscheuchen, die sich an der
15813
Familientafel im Eßsaale ausbreitete, wenn etwa der Direktor sich in
15814
allzu neckischer Art mit Erikas Wangen und Armen beschäftigte, wenn er
15815
sich gesprächsweise erkundigte, ob Orangemarmelade eine Mehlspeise sei,
15816
-- »Mehlschpeis'« sagte er mit kecker Betonung -- oder wenn er der
15817
Meinung Ausdruck gab, »Romeo und Julia« sei ein Stück von Schiller ...
15818
Dinge, die er unter sorglosem Händereiben, den Oberkörper schräg gegen
15819
die Stuhllehne zurückgeworfen, mit vieler Frische und Festigkeit
15822
Am besten verständigte er sich mit dem Senator, der über Politik und
15823
Geschäftliches hin eine Unterhaltung mit ihm sicher zu steuern wußte,
15824
ohne daß ein Unglück geschah. Vollkommen verzweifelt aber gestaltete
15825
sich sein Verhältnis zu Gerda Buddenbrook. Die Persönlichkeit dieser
15826
Dame befremdete ihn in solchem Grade, daß er außerstande war, einen auch
15827
nur für zwei Minuten ausreichenden Gesprächsstoff für sie zu finden. Da
15828
er wußte, daß sie die Violine spielte, und diese Tatsache starken
15829
Eindruck auf ihn gemacht hatte, so beschränkte er sich darauf, bei jedem
15830
Zusammentreffen am Donnerstag aufs neue die scherzhafte Frage an sie zu
15831
richten: »Wie geht's der Geige?« -- Nach dem dritten Male aber bereits
15832
enthielt die Senatorin sich jeder Antwort hierauf.
15834
Christian seinerseits pflegte seinen neuen Verwandten mit gekrauster
15835
Nase zu beobachten und am nächsten Tage sein Benehmen und seine
15836
Sprechweise eingehend nachzuahmen. Der zweite Sohn des seligen Konsul
15837
Johann Buddenbrook war in Öynhausen von seinem Gelenkrheumatismus
15838
genesen; aber eine gewisse Steifheit der Glieder dauerte noch fort, und
15839
die periodische »Qual« in seiner linken Seite -- dort, wo »alle Nerven
15840
zu kurz« waren -- sowie die sonstigen Störungen, denen er sich
15841
ausgesetzt fühlte: Atmungs- und Schluckbeschwerden, Unregelmäßigkeiten
15842
des Herzens und Neigung zu Lähmungserscheinungen oder Furcht davor --
15843
waren keineswegs aus der Welt geschafft. Auch war sein Äußeres kaum
15844
dasjenige eines Mannes, der erst am Ende der Dreißiger steht. Sein
15845
Schädel war vollständig entblößt; nur am Hinterkopf und an den Schläfen
15846
stand noch ein wenig seines dünnen, rötlichen Haares, und seine kleinen,
15847
runden Augen, die mit unruhigem Ernste umherschweiften, lagen tiefer als
15848
jemals in ihren Höhlen. Gewaltiger aber auch und knochiger, als jemals,
15849
sprang seine große, gehöckerte Nase zwischen den hageren und fahlen
15850
Wangen hervor, über dem dichten, rotblonden Schnurrbart, der den Mund
15851
überhing ... Und die Hose aus durablem und elegantem englischen Stoff
15852
umschlotterte seine dürren, gekrümmten Beine.
15854
Seit seiner Heimkehr bewohnte er wie ehemals ein Zimmer am Korridor der
15855
ersten Etage im Hause seiner Mutter, hielt sich jedoch mehr im »Klub«
15856
als in der Mengstraße auf, denn dort wurde ihm das Leben nicht sehr
15857
angenehm gemacht. Riekchen Severin nämlich, Ida Jungmanns Nachfolgerin,
15858
die nun die Dienstboten der Konsulin regierte und den Hausstand führte,
15859
ein untersetztes, 27jähriges Geschöpf vom Lande, mit roten, gesprungenen
15860
Wangen und aufgeworfenen Lippen, hatte mit bäuerlichem Sinn für Tatsachen
15861
erkannt, daß auf diesen beschäftigungslosen Geschichtenerzähler, der
15862
abwechselnd albern und elend war, und über den die Respektsperson, der
15863
Senator, mit erhobener Augenbraue hinwegsah, nicht viel Rücksicht zu
15864
nehmen sei, und sie vernachlässigte ganz einfach seine Bedürfnisse. »Je,
15865
Herr Buddenbrook!« sagte sie. »Ich hab' nu keine Zeit für Ihnen!« Worauf
15866
Christian sie mit krauser Nase anblickte, als wollte er sagen: Schämst
15867
du dich gar nicht?... und mit steifen Gelenken seines Weges ging.
15869
»Meinst du, ich habe immer eine Kerze?« sagte er zu Tony ... »Selten!
15870
Meistens muß ich mit einem Streichholz zu Bette gehen ...« Oder er
15871
erklärte auch -- denn das Taschengeld, das seine Mutter ihm noch
15872
bewilligen konnte, war gering --: »Schlechte Zeiten!... Ja, das war
15873
früher alles anders! Was meinst du wohl?... ich muß mir jetzt oft fünf
15874
Schillinge für Zahnpulver leihen!«
15876
»Christian!« rief Frau Permaneder. »Wie unwürdig! Mit einem Streichholz!
15877
Fünf Schillinge! Sprich doch wenigstens nicht davon!« Sie war entrüstet,
15878
empört, in ihren heiligsten Gefühlen beleidigt; allein das änderte
15881
Die fünf Schillinge für Zahnpulver entlieh Christian von seinem alten
15882
Freunde Andreas Gieseke, Doktor beider Rechte. Er hatte Glück mit dieser
15883
Freundschaft, und sie ehrte ihn; denn der Rechtsanwalt Gieseke, dieser
15884
Suitier, der die Würde zu wahren wußte, war im vergangenen Winter, als
15885
der alte Kaspar Överdieck sanft entschlummert und Doktor Langhals an
15886
seine Stelle gerückt war, zum Senator erwählt worden. Seinen
15887
Lebenswandel aber beeinflußte das nicht. Man wußte, daß ihm, der seit
15888
seiner Verheiratung mit einem Fräulein Huneus inmitten der Stadt ein
15889
geräumiges Haus besaß, auch in der Vorstadt St. Gertrud jene kleine,
15890
grünbewachsene und behaglich ausgestattete Villa gehörte, die von einer
15891
noch jungen und außerordentlich hübschen Dame unbestimmter Herkunft ganz
15892
allein bewohnt ward. Über der Haustür prangte in zierlich vergoldeten
15893
Buchstaben das Wort »_=Quisisana=_«, und in der ganzen Stadt war das
15894
friedliche Häuschen bekannt unter diesem Namen, den man übrigens mit
15895
sehr weichen S- und sehr getrübten A-Lauten sprach. Christian
15896
Buddenbrook aber, als bester Freund des Senators Gieseke, hatte sich
15897
Zutritt verschafft in Quisisana, und er hatte dort auf die nämliche Art
15898
reüssiert wie zu Hamburg bei Aline Puvogel und bei ähnlichen
15899
Gelegenheiten in London, in Valparaiso und an so vielen anderen Punkten
15900
der Erde. Er hatte »ein bißchen erzählt«, er war »ein bißchen nett«
15901
gewesen, und er verkehrte nun in dem grünen Häuschen mit der gleichen
15902
Regelmäßigkeit wie Senator Gieseke selbst. Ob dies mit dem Wissen und
15903
Einverständnis des letzteren geschah, das steht dahin; sicher aber ist,
15904
daß Christian Buddenbrook in Quisisana ganz kostenlos dieselbe
15905
freundliche Zerstreuung fand, die Senator Gieseke mit dem schweren Gelde
15906
seiner Gattin bezahlen mußte.
15908
Kurze Zeit nach der Verlobung Hugo Weinschenks mit Erika Grünlich machte
15909
der Direktor seinem Schwager den Vorschlag, in das Versicherungsbüro
15910
einzutreten, und in der Tat arbeitete Christian vierzehn Tage lang im
15911
Dienste der Brandkasse. Leider jedoch zeigte sich dann, daß nicht allein
15912
die Qual in seiner linken Seite, sondern auch seine übrigen, schwer
15913
bestimmbaren Übel sich hierdurch verstärkten, daß übrigens der Direktor
15914
ein überaus heftiger Vorgesetzter war, der gelegentlich eines Mißgriffes
15915
keinen Anstand genommen hatte, seinen Schwager einen »Seehund« zu nennen
15916
... und Christian war genötigt, diesen Posten wieder zu verlassen.
15918
Was aber Madame Permaneder anging, so war sie glücklich, so äußerte ihre
15919
lichte Gemütsstimmung sich in Aperçus wie dieses, daß das irdische Leben
15920
doch hin und wieder auch seine guten Seiten habe. Wahrhaftig, sie
15921
erblühte aufs neue in diesen Wochen, die, mit ihrer belebenden
15922
Geschäftigkeit, ihren vielfältigen Plänen, ihren Wohnungssorgen und
15923
ihrem Ausstattungsfieber, sie allzu deutlich an die Zeit ihres eignen
15924
ersten Verlöbnisses gemahnten, als daß sie sie nicht verjüngt und mit
15925
grenzenloser Hoffnungsfreudigkeit erfüllt hätten. Viel von dem graziösen
15926
Übermut ihrer Mädchentage kehrte in ihre Mienen und ihre Bewegungen
15927
zurück, ja, die Stimmung eines ganzen Jerusalemsabends entweihte sie
15928
durch eine so ausgelassene Fröhlichkeit, daß selbst Lea Gerhardt das
15929
Buch ihres Vorfahren sinken ließ und mit den großen, unwissenden und
15930
mißtrauischen Augen der Tauben im Saale umherblickte ...
15932
Erika sollte sich von ihrer Mutter nicht trennen. Mit dem Einverständnis
15933
des Direktors, ja, auf seinen Wunsch hin, war beschlossen worden, daß
15934
Frau Antonie -- wenigstens vorderhand -- bei den Weinschenks wohnen, daß
15935
sie der unerfahrenen Erika im Haushalte zur Seite stehen sollte ... und
15936
dies grade war es, was in ihr die köstliche Empfindung hervorrief, als
15937
hätte niemals ein Bendix Grünlich, niemals ein Alois Permaneder gelebt,
15938
als zergingen alle Mißerfolge, Enttäuschungen und Leiden ihres Lebens zu
15939
nichts, und als dürfe sie mit frischen Hoffnungen nun noch einmal von
15940
vorne beginnen. Zwar ermahnte sie Erika zur Dankbarkeit gegen Gott, der
15941
ihr den einzig geliebten Mann beschere, während sie selbst, die Mutter,
15942
ihre erste und herzliche Neigung mit Pflicht und Vernunft habe ertöten
15943
müssen; zwar war es Erikas Name, den sie zusammen mit dem des Direktors
15944
mit vor Freude unsicherer Hand in die Familienpapiere schrieb ... aber
15945
sie, sie selbst, Tony Buddenbrook, war die eigentliche Braut. Sie war
15946
es, die noch einmal mit kundiger Hand Portieren und Teppiche prüfen,
15947
noch einmal Möbel- und Ausstattungsmagazine durchstöbern, noch einmal
15948
eine =vornehme= Wohnung besichtigen und mieten durfte! Sie war es, die
15949
noch einmal das fromme und weitläufige Elternhaus verlassen und aufhören
15950
sollte, bloß eine geschiedene Frau zu sein; der noch einmal die
15951
Möglichkeit sich auftat, ihr Haupt zu erheben und ein neues Leben zu
15952
beginnen, geeignet, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erwecken und das
15953
Ansehen der Familie zu fördern ... Ja, war es ein Traum? Schlafröcke
15954
erschienen auf der Bildfläche! Zwei Schlafröcke für sie und Erika, aus
15955
weichem, gewirktem Stoff, mit breiten Schleppen und dichten Reihen von
15956
Sammetschleifen, vom Halsverschluß bis zum Saume hinunter!
15958
Die Wochen aber verstrichen, und Erika Grünlichs Brautzeit neigte sich
15959
ihrem Ende entgegen. Das junge Paar hatte in einigen wenigen Häusern
15960
Besuche gemacht, denn der Direktor, ernster und in geselligen Dingen
15961
unerfahrener Arbeitsmensch, wie er war, gedachte seine Mußestunden der
15962
intimen Häuslichkeit zu widmen ... ein Verlobungsdiner hatte Thomas,
15963
Gerda, das Brautpaar, Friederike, Henriette und Pfiffi Buddenbrook mit
15964
der nächsten Freundschaft des Senators in dem großen Saale des
15965
Fischergrubenhauses vereint, wobei es wiederum befremdete, daß der
15966
Direktor nicht aufhörte, Erikas dekolletierten Hals zu klopfen ... und
15967
die Hochzeit nahte heran.
15969
Die Säulenhalle war, wie einst, als Frau Grünlich die Myrten trug, der
15970
Schauplatz der Trauung. Frau Stuht aus der Glockengießerstraße,
15971
dieselbe, die in den ersten Kreisen verkehrte, war der Braut beim
15972
Faltenarrangement ihres weißen Atlaskleides und beim Anlegen des grünen
15973
Schmuckes behilflich gewesen, Senator Buddenbrook war erster, und
15974
Christians Freund, Senator Gieseke, zweiter Brautführer, zwei ehemalige
15975
Pensionsfreundinnen Erikas fungierten als Brautjungfern, Direktor Hugo
15976
Weinschenk sah stattlich und männlich aus und trat, auf dem Wege zum
15977
improvisierten Altar, nur =ein=mal auf Erikas herabwallenden Schleier,
15978
Pastor Pringsheim, die Hände unterm Kinn gefaltet, zelebrierte mit aller
15979
verklärten Feierlichkeit, die ihm eigen, und alles verlief nach Brauch
15980
und Würde. Als die Ringe gewechselt wurden, und das tiefe und das helle
15981
»Ja« -- beide ein wenig heiser -- in der Stille erklangen, brach Frau
15982
Permaneder, überwältigt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in
15983
lautes Weinen aus -- es war noch immer ihr unbedenkliches und
15984
unverhohlenes Kinderweinen -- während die Damen Buddenbrook, von denen
15985
Pfiffi zur Feier des Tages eine goldene Kette an ihrem Pincenez trug,
15986
wie immer bei solchen Gelegenheiten ein wenig säuerlich dareinlächelten
15987
... Mlle. Weichbrodt jedoch, Therese Weichbrodt, die in den letzten
15988
Jahren noch sehr viel kleiner geworden war, als früher, Sesemi, die
15989
ovale Brosche mit dem Porträt ihrer Mutter an ihrem dünnen Hälschen,
15990
sprach mit jener übergroßen Festigkeit, welche eine tiefe innere Rührung
15991
verbergen soll: »Sei glöcklich, du =gutes= Kend!«
15993
Dann folgte, im Kreise der weißen Götterfiguren, welche in
15994
unveränderlich gelassenen Stellungen aus der blauen Tapete hervortraten,
15995
ein ebenso solennes, wie solides Festmahl, gegen dessen Ende die
15996
Neuvermählten verschwanden, um ihre Reise durch einige Großstädte
15997
anzutreten ... Das war um die Mitte des April; und während der folgenden
15998
vierzehn Tage vollbrachte Frau Permaneder, unterstützt vom Tapezierer
15999
Jacobs, eines ihrer Meisterstücke: die vornehme Herrichtung jener
16000
geräumigen ersten Etage, die in einem Hause der mittleren Bäckergrube
16001
gemietet worden war, und deren mit Blumen reichlich geputzte Räume dann
16002
das heimkehrende Paar umfingen.
16004
Und es begann Tony Buddenbrooks dritte Ehe.
16006
Ja, diese Bezeichnung war zutreffend, und der Senator selbst hatte eines
16007
Donnerstags, als Weinschenks nicht zugegen waren, die Sache bei diesem
16008
Namen genannt, was Frau Permaneder sich mit Behagen hatte gefallen
16009
lassen. In der Tat, alle Sorgen des Hausstandes fielen auf sie, aber
16010
auch Freude und Stolz nahm sie für sich in Anspruch, und eines Tages,
16011
als sie unversehens mit der Konsulin Julchen Möllendorpf geb. Hagenström
16012
auf der Straße zusammentraf, blickte sie ihr mit einem so
16013
triumphierenden und herausfordernden Ausdruck ins Gesicht, daß Frau
16014
Möllendorpf sich dazu verstand, zuerst zu grüßen ... Stolz und Freude
16015
wurden in ihrer Miene und Haltung zur ernsten Feierlichkeit, wenn sie
16016
die Verwandten, die kamen, das neue Heim zu besichtigen, darin
16017
umherführte, während Erika Weinschenk selbst fast ebenfalls wie ein
16018
bewundernder Gast dabei erschien.
16020
Die Schleppe ihres Schlafrockes hinter sich herziehend, die Schultern
16021
ein wenig emporgezogen, den Kopf zurückgelehnt und am Arme den mit
16022
Atlasschleifen besetzten Schlüsselkorb -- sie schwärmte für
16023
Atlasschleifen -- zeigte Frau Antonie den Besuchern die Möbel, die
16024
Portieren, das durchsichtige Porzellan, das blitzende Silberzeug, die
16025
großen Ölgemälde, die der Direktor angeschafft hatte: lauter Stilleben
16026
von Eßwaren und unbekleidete Frauengestalten, denn dies war Hugo
16027
Weinschenks Geschmack -- und ihre Bewegungen schienen zu sagen: Seht,
16028
dahin habe ich es noch einmal gebracht im Leben. Es ist fast so vornehm
16029
wie bei Grünlich und sicherlich vornehmer als bei Permaneder!
16031
Die alte Konsulin kam, in grau und schwarz gestreifter Seide, einen
16032
diskreten Patschuliduft um sich verbreitend, ließ ihre hellen Augen
16033
geruhig über alles hingleiten und legte, ohne laute Bewunderung zu
16034
äußern, eine anerkennende Befriedigung an den Tag. Der Senator kam mit
16035
Frau und Kind, amüsierte sich mit Gerda über Tonys glückselige
16036
Überheblichkeit und verhinderte mit Mühe, daß sie ihren angebeteten
16037
kleinen Hanno mit Korinthenbrot und Portwein erstickte ... Es kamen die
16038
Damen Buddenbrook, welche einstimmig bemerkten, alles sei so schön, daß
16039
sie ihrerseits, bescheidene Mädchen wie sie seien, nicht darin wohnen
16040
möchten ... Die arme Klothilde kam, grau, geduldig und hager, ließ sich
16041
auslachen und trank vier Tassen Kaffee, worauf sie auch alles übrige in
16042
gedehnten und freundlichen Worten belobte ... Dann und wann, wenn im
16043
»Klub« niemand anwesend gewesen war, erschien auch Christian, nahm ein
16044
Gläschen Benediktiner, erzählte, daß er jetzt willens sei, die Agentur
16045
für eine Champagner- und Kognakfirma zu übernehmen -- darauf verstehe er
16046
sich, und es sei eine leichte, angenehme Arbeit, man sei sein eigner
16047
Herr, schreibe sich hie und da ein bißchen in sein Notizbuch und habe im
16048
Handumdrehen dreißig Taler verdient -- lieh sich hierauf vierzig
16049
Schilling von Frau Permaneder, um der ersten Liebhaberin vom
16050
Stadttheater ein Bukett überreichen zu können, kam, Gott weiß, infolge
16051
welcher Ideenverbindung, auf »Maria« und das »Laster« in London zu
16052
sprechen, verfiel in die Geschichte des räudigen Hundes, der in einer
16053
Schachtel von Valparaiso nach San Franzisko gereist war, und erzählte
16054
nun, da er im Zuge war, mit einer solchen Fülle, Schwunghaftigkeit und
16055
Komik, daß er einen Saal voll Menschen hätte unterhalten können.
16057
Er geriet in Begeisterung, er redete in Zungen. Er sprach Englisch,
16058
Spanisch, Plattdeutsch und Hamburgisch, er schilderte chilenische
16059
Messerabenteurer und Diebsaffären aus Whitechapel, verfiel darauf, einen
16060
Blick in seinen Vorrat von Couplets tun zu lassen und sang oder sprach
16061
mit mustergültigem Mienenspiel und einem pittoresken Talent in den
16064
»Ick güng so ganz pomad'
16065
So up de Esplanad',
16066
Da güng so'n lüttje Deern
16068
Die hatt' so'n feinen Pli
16069
Mi so'n französ'schen _cu_
16070
Und 'n groten Deller achter up'm Kopp
16071
Ick seg: `Mein liebes Kind,
16072
Wei Sie so nüdlich sind,
16073
Erlauben Sie mir Ihren Arm vielleicht?´
16074
Sie dreit sik um so recht
16075
Und -- kiekt -- mi an -- und segt -- --:
16076
`Ga man na Hus, mi Jung, und si vergneugt!´«
16078
Und kaum war er hiermit fertig, als er zu Berichten aus dem Zirkus Renz
16079
überging und die ganze Entree eines englischen Sprechclowns in einer Art
16080
wiederzugeben begann, daß man sich einbilden konnte, vor der Manege zu
16081
sitzen. Man vernahm das übliche Geschrei schon hinter der Gardine, das
16082
»Machen Sie mich die Türe auf!«, die Streitigkeiten mit dem Stallmeister
16083
und dann, in breitem und jammerndem Englisch-Deutsch, eine Reihe von
16084
Erzählungen. Es war die Geschichte von dem Manne, der im Schlafe eine
16085
Maus verschluckt und sich deshalb zum Tierarzt begibt, welcher ihm
16086
seinerseits rät, nunmehr auch eine Katze zu verschlucken ... Die
16087
Geschichte von »Meiner Großmutter, frisch und gesund wie die Frau war«,
16088
in welcher ebendieser Großmutter auf dem Wege zum Bahnhofe tausend
16089
Abenteuer begegnen und ihr schließlich, frisch und gesund wie die Frau
16090
war, der Zug vor der Nase davonfährt ... worauf Christian die Pointe mit
16091
einem triumphierenden »Musik, Herr Kapellmeister!« abbrach und selbst,
16092
wie erwachend, ganz erstaunt schien, daß die Musik nicht einsetzte ...
16094
Und dann, ganz plötzlich, verstummte er, veränderte sich sein Gesicht,
16095
erschlafften seine Bewegungen. Seine kleinen, runden, tiefliegenden
16096
Augen begannen mit unruhigem Ernst nach allen Richtungen zu wandern, er
16097
strich mit der Hand an seiner linken Seite hinunter, es war, als horche
16098
er in sein Inneres hinein, woselbst Seltsames geschah ... Er trank noch
16099
ein Gläschen Likör, ward noch einmal ein wenig aufgeräumter, versuchte
16100
noch eine Geschichte zu erzählen und brach dann in ziemlich deprimierter
16103
Frau Permaneder, die in dieser Zeit ausnehmend lachlustig war und sich
16104
köstlich amüsiert hatte, begleitete ihren Bruder in ausgelassener Laune
16105
zur Treppe. »Adieu, Herr Agent!« sagte sie. »Minnesänger! Mädchenfänger!
16106
Altes Schaf! Komm bald mal wieder!« Und sie lachte aus vollem Halse
16107
hinter ihm drein und kehrte in ihre Wohnung zurück.
16109
Aber Christian Buddenbrook focht das nicht an; er überhörte es, denn er
16110
war in Gedanken. Na, dachte er, nun will ich mal ein bißchen nach
16111
Quisisana gehen. Und den Hut etwas schief auf dem Kopf, gestützt auf
16112
seinen Stock mit der Nonnenbüste, langsam, steif und ein wenig lahmend
16113
ging er die Treppe hinab.
16118
Es war im Frühling des Jahres achtundsechzig, als Frau Permaneder eines
16119
Abends gegen zehn Uhr sich in der ersten Etage des Fischergrubenhauses
16120
einstellte. Senator Buddenbrook saß allein im Wohnzimmer, das mit
16121
olivenfarbenen Ripsmöbeln ausgestattet war, an dem runden Mitteltisch im
16122
Lichte der großen Gaslampe, die vom Plafond herabhing. Er hatte die
16123
»Berliner Börsenzeitung« vor sich ausgebreitet und las, leicht über den
16124
Tisch gebeugt, seine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger der
16125
Linken und auf der Nase ein goldenes Pincenez, dessen er sich seit
16126
einiger Zeit bei der Arbeit bedienen mußte. Er hörte die Schritte seiner
16127
Schwester durch das Eßzimmer kommen, nahm das Glas von den Augen und
16128
blickte gespannt in das Dunkel hinein, bis Tony zwischen den Portieren
16129
und im Lichtbereich auftauchte.
16131
»Oh, du bist es. Guten Abend. Schon zurück von Pöppenrade? Wie geht es
16134
»Guten Abend, Tom! Danke, Armgard ist wohlauf ... Du bist hier ganz
16137
»Ja, du kommst mir sehr erwünscht. Ich habe heute abend so allein essen
16138
müssen, wie der Papst; denn Fräulein Jungmann kommt als Gesellschaft
16139
nicht recht in Betracht, weil sie jeden Augenblick aufspringt und
16140
hinaufläuft, um nach Hanno zu sehen ... Gerda ist im Kasino. Tamayo
16141
geigt dort. Christian hat sie abgeholt ...«
16143
»Dausend! um wie Mutter zu reden. -- Ja, ich habe in letzter Zeit
16144
bemerkt, Tom, daß Gerda und Christian sich gut vertragen.«
16146
»Ich auch. Seit er dauernd hier ist, fängt sie an, Geschmack an ihm zu
16147
gewinnen. Sie hört auch ganz aufmerksam zu, wenn er seine Leiden
16148
beschreibt ... Mein Gott, er amüsiert sie. Neulich sagte sie zu mir: `Er
16149
ist kein Bürger, Thomas! Er ist noch weniger ein Bürger, als du!´ ...«
16151
»Bürger ... Bürger, Tom?! Ha, mir scheint, daß es auf Gottes weiter Welt
16152
keinen besseren Bürger als du ...«
16154
»Nun ja; nicht gerade so zu verstehen!... Leg' ein bißchen ab, mein
16155
Kind. Dein Aussehen ist süperb. Die Landluft hat dir gut getan?«
16157
»Vortrefflich!« sagte sie, indem sie ihre Mantille und den Kapotthut mit
16158
lilaseidenen Bändern beiseitelegte und sich in majestätischer Haltung
16159
auf einem der Fauteuils am Tische niederließ ... »Magen und Nachtruhe,
16160
alles hat sich gebessert in dieser kurzen Zeit. Diese kuhwarme Milch und
16161
diese Würste und Schinken ... man gedeiht, wie das Vieh und das Korn.
16162
Und dieser frische Honig, Tom, ich habe ihn immer für eines der besten
16163
Nahrungsmittel gehalten. Das ist reines Naturprodukt! Da weiß man doch,
16164
was man verschluckt! Ja, es war wahrhaftig liebenswürdig von Armgard,
16165
daß sie sich unserer alten Pensionsfreundschaft erinnerte und mich
16166
einlud. Und Herr von Maiboom war gleichfalls von einer Zuvorkommenheit
16167
... Sie baten mich so inständig, doch noch ein paar Wochen zu bleiben,
16168
aber du weißt: Erika behilft sich nur schwer ohne mich, und besonders
16169
jetzt, da die kleine Elisabeth auf der Welt ist ...«
16171
»_A propos_, wie geht es dem Kinde?«
16173
»Danke, Tom, es macht sich; es ist gottlob recht gut bei Schick für
16174
seine vier Monate, obgleich Friederike, Henriette und Pfiffi es nicht
16175
für lebensfähig hielten ...«
16177
»Und Weinschenk? Wie fühlt er sich als Vater? Ich sehe ihn ja eigentlich
16178
nur Donnerstags ...«
16180
»Oh, der ist unverändert! Siehst du: er ist ein so braver und fleißiger
16181
Mann, und in gewisser Weise ja auch das Muster eines Ehegatten, denn er
16182
verachtet die Wirtshäuser, kommt vom Büro geraden Weges nach Hause und
16183
verbringt seine Freistunden bei uns. Aber nun ist die Sache die, Tom --
16184
unter uns können wir ja offen darüber reden --: Er verlangt von Erika,
16185
daß sie beständig heiter ist, beständig spricht und scherzt, denn wenn
16186
er abgearbeitet und verstimmt nach Hause kommt, sagt er, dann will er,
16187
daß seine Frau ihn in leichter und fröhlicher Weise unterhält, ihn
16188
amüsiert und aufheitert; dazu, sagt er, sei die Frau auf der Welt ...«
16190
»Dummkopf!« murmelte der Senator.
16192
»Wie?... Nun, das Schlimme ist, daß Erika ein wenig zur Melancholie
16193
neigt, Tom, sie muß es von mir haben. Sie ist hier und da ernst und
16194
schweigsam und gedankenvoll, und dann schilt er sie und braust auf, in
16195
Worten, die, ehrlich gesagt, nicht immer ganz zartfühlend sind. Man
16196
merkt es eben allzu häufig, daß er eigentlich kein Mann von Familie ist
16197
und das, was man eine vornehme Erziehung nennt, leider nicht genossen
16198
hat. Ja, ich gestehe dir offen: noch ein paar Tage vor meiner Abreise
16199
nach Pöppenrade ist es vorgekommen, daß er den Deckel der Suppenterrine
16200
am Boden zerschlagen hat, weil die Suppe versalzen war ...«
16204
»Nein, im Gegenteil. Aber wir wollen ihn deshalb nicht verurteilen. Mein
16205
Gott, wir sind alle mit Mängeln behaftet, und ein so tüchtiger,
16206
gediegener und arbeitsamer Mann ... behüte ... Nein, Tom, eine rauhe
16207
Außenseite und ein guter Kern, das ist noch nicht das Schlimmste im
16208
irdischen Leben. Ich komme soeben aus Verhältnissen, will ich dir sagen,
16209
die trauriger sind. Armgard hat, wenn sie mit mir allein war, bitterlich
16212
»Was du sagst! -- Herr von Maiboom?...«
16214
»Ja, Tom; und darauf wollte ich hinaus. Wir sitzen hier und plaudern,
16215
aber in Wirklichkeit bin ich heute abend in einer sehr ernsten und
16216
wichtigen Angelegenheit gekommen.«
16218
»Nun? Was ist denn mit Herrn von Maiboom?«
16220
»Ralf von Maiboom ist ein liebenswürdiger Mann, Thomas, aber er ist ein
16221
Junker Leichtfuß, ein Daus. Er spielt in Rostock, er spielt in
16222
Warnemünde, und seine Schulden sind wie Sand am Meer. Man sollte es
16223
nicht glauben, wenn man ein paar Wochen auf Pöppenrade lebt! Das
16224
Herrenhaus ist vornehm, und alles ringsumher gedeiht, und an Milch und
16225
Wurst und Schinken ist kein Mangel. Man hat auf so einem Gute manchmal
16226
keinen Maßstab für die tatsächlichen Verhältnisse ... Kurz, sie sind in
16227
Wahrheit aufs jämmerlichste zerrüttet, Tom, was Armgard mir unter
16228
herzbrechendem Schluchzen gestanden hat.«
16230
»Traurig, traurig.«
16232
»Das sage du nur noch einmal. Aber die Sache ist nun diese, daß, wie
16233
sich mir herausgestellt hat, die Leute mich nicht aus ganz
16234
uneigennützigem Antriebe zu sich eingeladen haben.«
16238
»Das will ich dir sagen, Tom. Herr von Maiboom braucht Geld, er braucht
16239
sofort eine größere Summe, und da er die alte Freundschaft kannte, die
16240
zwischen seiner Frau und mir besteht, und wußte, daß ich deine Schwester
16241
bin, so hat er in seiner Bedrängnis sich hinter seine Frau gesteckt, die
16242
ihrerseits sich hinter mich gesteckt hat ... verstehst du?«
16244
Der Senator bewegte die Fingerspitzen seiner Rechten auf seinem Scheitel
16245
hin und her und verzog ein wenig das Gesicht.
16247
»Ich glaube, ja«, sagte er. »Deine ernste und wichtige Angelegenheit
16248
scheint mir auf einen Vorschuß auf die Pöppenrader Ernte hinauszulaufen,
16249
wenn ich nicht irre? Aber da habt ihr euch, du und deine Freunde, nicht
16250
an den richtigen Mann gewandt, wie mich dünkt. Erstens nämlich habe ich
16251
noch niemals ein Geschäft mit Herrn von Maiboom gemacht, und dies wäre
16252
denn doch wohl eine ziemlich sonderbare Anknüpfung von Beziehungen.
16253
Zweitens haben wir, Urgroßvater, Großvater, Vater und ich, wohl hie und
16254
da den Landleuten Vorschüsse gezahlt, wenn anders sie durch ihre
16255
Persönlichkeit und sonstigen Verhältnisse eine gewisse Sicherheit boten
16256
... Wie du selbst mir aber vor zwei Minuten Herrn von Maibooms
16257
Persönlichkeit und Verhältnisse charakterisiert hast, kann doch von
16258
solcher Sicherheit hier kaum die Rede sein ...«
16260
»Du bist im Irrtum, Tom. Ich habe dich ausreden lassen, aber du bist im
16261
Irrtum. Es kann sich hier nicht um irgendeinen Vorschuß handeln. Maiboom
16262
braucht fünfunddreißigtausend Kurantmark ...«
16266
»Fünfunddreißigtausend Kurantmark, die binnen knapper zwei Wochen fällig
16267
sind. Das Messer steht ihm an der Kehle, und, um deutlich zu sein: er
16268
muß zusehen, schon jetzt, sofort, zu verkaufen.«
16270
»Auf dem Halm? Oh, o der arme Kerl!« Und der Senator, der mit dem
16271
Pincenez auf der Tischdecke spielte, schüttelte den Kopf. »Aber das
16272
scheint mir für unsere Verhältnisse ein ziemlich ungewöhnlicher Fall zu
16273
sein«, sagte er. »Ich habe von solchen Geschäften hauptsächlich aus
16274
Hessen gehört, wo ein nicht kleiner Teil der Landleute in den Händen von
16275
Juden ist ... Wer weiß, in das Netz welches Halsabschneiders der arme
16276
Herr von Maiboom gerät ...«
16278
»Juden? Halsabschneider?« rief Frau Permaneder überaus verwundert ...
16279
»Aber es ist von dir die Rede, Tom, von =dir=!«
16281
Plötzlich warf Thomas Buddenbrook das Pincenez vor sich hin auf den
16282
Tisch, so daß es ein Stück auf der Zeitung entlang glitt, und wandte mit
16283
einem Ruck den ganzen Oberkörper seiner Schwester zu.
16285
»Von -- mir?« fragte er mit den Lippen, ohne einen Ton von sich zu
16286
geben; und dann setzte er laut hinzu: »Geh schlafen, Tony! Du bist ja
16289
»Ja, Tom, so sagte Ida Jungmann abends zu uns, wenn wir gerade anfingen,
16290
vergnügt zu werden. Aber ich versichere dich, daß ich niemals wacher und
16291
munterer gewesen bin als jetzt, wo ich bei Nacht und Nebel zu dir komme,
16292
um dir Armgards -- also, indirekt, Ralf von Maibooms Vorschlag zu
16295
»Nun, ich halte diesen Vorschlag deiner Naivität und der Ratlosigkeit
16296
der Maibooms zugute.«
16298
»Ratlosigkeit? Naivität? Ich verstehe dich nicht, Thomas, ich bin leider
16299
weit entfernt davon! Dir wird Gelegenheit geboten, eine gute Tat zu tun
16300
und gleichzeitig das beste Geschäft deines Lebens zu machen ...«
16302
»Ach was, meine Liebe, du redest lauter Unsinn!« rief der Senator und
16303
warf sich sehr ungeduldig zurück. »Verzeih, aber du kannst einen mit
16304
deiner Unschuld in Harnisch jagen! Du begreifst also nicht, daß du mir
16305
zu etwas höchst Unwürdigem, zu unreinlichen Manipulationen rätst? Ich
16306
soll im Trüben fischen? Einen Menschen brutal ausbeuten? Die Bedrängnis
16307
dieses Gutsbesitzers benützen, um den Wehrlosen übers Ohr zu hauen? Ihn
16308
zwingen, mir die Ernte eines Jahres gegen den halben Preis abzutreten,
16309
damit ich einen Wucherprofit einstreichen kann?«
16311
»Ach, so siehst du die Sache an«, sagte Frau Permaneder eingeschüchtert
16312
und nachdenklich. Und wieder lebhaft fuhr sie fort: »Aber es ist nicht
16313
nötig, durchaus nicht nötig, Tom, es von dieser Seite zu nehmen! Ihn
16314
zwingen? Aber er kommt ja zu dir. Er benötigt das Geld, und er möchte
16315
die Sache auf dem Wege der Freundschaft erledigen; unter der Hand, in
16316
aller Stille. Darum hat er die Verbindung mit uns aufgespürt, und darum
16317
bin ich eingeladen worden!«
16319
»Kurz, er täuscht sich über mich und den Charakter meiner Firma. Ich
16320
habe meine Überlieferungen. Ein solches Geschäft ist von uns in hundert
16321
Jahren nicht gemacht worden, und ich bin nicht gesonnen, mit derartigen
16322
Manövern den Anfang zu machen.«
16324
»Gewiß, du hast deine Überlieferungen, Tom, und jederlei Achtung davor!
16325
Sicherlich, Vater hätte sich hierauf nicht eingelassen; bewahre; wer
16326
behauptet das?... Aber, so dumm ich bin, das weiß ich, daß du ein ganz
16327
anderer Mensch bist als Vater, und daß, als du die Geschäfte übernahmst,
16328
du einen ganz anderen Wind wehen ließest als er, und daß du unterdessen
16329
manches getan hast, was er nicht getan haben würde. Dafür bist du jung
16330
und ein unternehmender Kopf. Aber ich fürchte immer, du hast dich in
16331
letzter Zeit durch ein und das andere Mißgeschick einschüchtern lassen
16332
... und wenn du jetzt nicht mehr mit so gutem Erfolge arbeitest wie
16333
früher, so liegt das daran, daß du dir aus lauter Vorsicht und
16334
ängstlicher Gewissenhaftigkeit die Gelegenheit zu guten Coups
16335
entschlüpfen läßt ...«
16337
»Ach, ich bitte dich, liebes Kind, du reizest mich!« sagte der Senator
16338
mit scharfer Stimme und wandte sich hin und her. »Sprechen wir doch von
16341
»Ja, du bist gereizt, Thomas, ich sehe es wohl. Du warst es von Anfang
16342
an, und gerade darum habe ich weitergeredet, um dir zu beweisen, daß du
16343
dich zu Unrecht beleidigt fühlst. Wenn ich mich aber frage, warum du
16344
gereizt bist, so kann ich mir nur sagen, daß du im Grunde doch nicht so
16345
ganz abgeneigt bist, dich mit der Sache zu beschäftigen. Denn ein so
16346
dummes Weib ich bin, das weiß ich aus mir selbst und von anderen Leuten,
16347
daß man im Leben über einen Vorschlag nur dann erregt und böse wird,
16348
wenn man sich in seinem Widerstande nicht ganz sicher fühlt und
16349
innerlich sehr versucht ist, darauf einzugehen.«
16351
»Sehr fein«, sagte der Senator, zerbiß das Mundstück seiner Zigarette
16354
»Fein? Ha, nein, das ist die einfachste Erfahrung, die das Leben mich
16355
gelehrt hat. Aber laß es gut sein, Tom. Ich will nicht in dich dringen.
16356
Kann ich dich zu einer solchen Sache überreden? Nein, dazu fehlen mir
16357
die Kenntnisse. Ich bin bloß ein dummes Ding ... Schade ... Nun,
16358
gleichviel. Es hat mich sehr interessiert. Ich war einerseits
16359
erschrocken und betrübt für Maibooms, andererseits aber froh für dich.
16360
Ich habe mir gedacht: Tom geht seit einiger Zeit ein bißchen freudelos
16361
umher. Früher klagte er, und jetzt klagt er schon nicht einmal mehr. Er
16362
hat hie und da Geld verloren, die Zeiten sind schlecht, und das grade
16363
jetzt, da =meine= Lage sich eben wieder durch Gottes Güte verbessert hat
16364
und ich mich glücklich fühle. Und dann habe ich mir gedacht: Dies ist
16365
etwas für ihn, ein Coup, ein guter Fang. Damit kann er manche Scharte
16366
auswetzen und den Leuten zeigen, daß bis heute die Firma Johann
16367
Buddenbrook noch nicht gänzlich vom Glücke verlassen ist. Und wenn du
16368
darauf eingegangen wärest, so wäre ich sehr stolz gewesen, die Sache
16369
vermittelt zu haben, denn du weißt, daß es immer mein Traum und meine
16370
Sehnsucht gewesen ist, unserem Namen dienstlich zu sein ... Genug ...
16371
nun ist also die Frage wohl erledigt. -- Was mich aber ärgert, das ist
16372
der Gedanke, daß Maiboom ja dennoch und in jedem Falle auf dem Halm
16373
verkaufen muß, Tom, und wenn er hier in der Stadt sich umsieht, so wird
16374
er schon Käufer finden ... er wird schon einen finden ... und das wird
16375
Hermann Hagenström sein, ha, der Filou ...«
16377
»Oh, ja, man darf zweifeln, ob er die Sache von der Hand weisen würde«,
16378
sagte der Senator mit Bitterkeit; und Frau Permaneder antwortete dreimal
16379
hintereinander: »Siehst du wohl, siehst du wohl, siehst du wohl?!«
16381
Plötzlich begann Thomas Buddenbrook den Kopf zu schütteln und ärgerlich
16384
»Es ist albern ... Wir sprechen hier, mit einem großen Aufwand von
16385
Ernst, -- wenigstens deinerseits -- über etwas ganz Unbestimmtes,
16386
vollständig in der Luft Stehendes! Meines Wissens habe ich dich noch
16387
nicht einmal gefragt, um was es sich eigentlich handelt, was Herr von
16388
Maiboom eigentlich zu verkaufen hat ... Ich kenne ja Pöppenrade gar
16391
»Oh, du hättest natürlich hinfahren müssen!« sagte sie eifrig. »Es ist
16392
ein Katzensprung bis Rostock, und von dort aus ist es gar nichts mehr!
16393
Was er zu verkaufen hat? Pöppenrade ist ein großes Gut. Ich weiß
16394
positiv, daß es mehr als tausend Sack Weizen bringt ... Aber mir ist
16395
nichts Genaueres bekannt. Wie es mit Roggen, Hafer und Gerste bestellt?
16396
Sind es 500 Sack von jedem? Mehr oder weniger? Ich weiß es nicht. Es
16397
steht alles herrlich, das kann ich sagen. Aber ich kann dir nicht mit
16398
Zahlen dienen, Tom, ich bin eine Gans. Du müßtest natürlich
16401
Eine Pause entstand.
16403
»Nun, es ist nicht der Mühe wert, zwei Worte darüber zu verlieren«,
16404
sagte der Senator kurz und fest, ergriff sein Pincenez, schob es in die
16405
Westentasche, knöpfte seinen Rock zu, erhob sich und fing an, mit
16406
raschen, starken und freien Bewegungen, die jedes Zeichen von
16407
Nachdenklichkeit geflissentlich ausschlossen, im Zimmer hin und her zu
16410
Dann blieb er am Tische stehen, und während er sich ein wenig darüber
16411
hin seiner Schwester entgegenbeugte und mit der Spitze des gekrümmten
16412
Zeigefingers leicht auf die Platte schlug, sagte er: »Ich werde dir mal
16413
eine Geschichte erzählen, meine liebe Tony, die dir zeigen soll, wie ich
16414
mich zu dieser Sache verhalte. Ich kenne dein _faible_ für den Adel im
16415
allgemeinen und die mecklenburgische Noblesse im besonderen, und darum
16416
bitte ich dich um Geduld, wenn in meiner Geschichte einer dieser Herren
16417
einen Denkzettel erhält ... Du weißt, unter ihnen ist dieser und jener,
16418
der den Kaufleuten, obgleich sie ihm doch so nötig sind wie er ihnen,
16419
nicht allzuviel Hochachtung entgegenbringt, die -- bis zu einem gewissen
16420
Grade anzuerkennende -- Überlegenheit des Produzenten über den
16421
Zwischenhändler im geschäftlichen Verkehre allzusehr betont und, kurz,
16422
den Kaufmann mit nicht sehr anderen Augen ansieht als den hausierenden
16423
Juden, dem man, mit dem Bewußtsein, übervorteilt zu werden, getragene
16424
Kleider überläßt. Ich schmeichle mir, im allgemeinen den Eindruck eines
16425
moralisch minderwertigen Ausbeuters auf die Herren nicht gemacht zu
16426
haben, und habe unter ihnen weit zähere Händler angetroffen, als ich
16427
bin. Bei einem aber bedurfte es erst des folgenden kleinen
16428
Gewaltstreichs, um mich ihm gesellschaftlich ein wenig näher zu bringen
16429
... Es war der Herr von Groß-Poggendorf, von dem du gewiß gehört hast,
16430
und mit dem ich vor Jahr und Tag vielfach zu tun hatte: Graf Strelitz,
16431
ein höchst feudaler Mann mit einem viereckigen Glas im Auge ... ich
16432
begriff niemals, daß er sich nicht schnitt ... lackierten Stulpstiefeln
16433
und einer Reitpeitsche mit goldenem Griff. Er hatte die Gewohnheit, mit
16434
halb geöffnetem Munde und halb geschlossenen Augen von einer
16435
unbegreiflichen Höhe auf mich herabzublicken ... Mein erster Besuch bei
16436
ihm war bedeutsam. Nach einer einleitenden Korrespondenz fuhr ich zu ihm
16437
und trat, vom Bedienten gemeldet, ins Arbeitszimmer. Graf Strelitz saß
16438
am Schreibtisch. Er erwidert meine Verbeugung, indem er sich halbwegs
16439
vom Sessel erhebt, schreibt die letzte Zeile eines Briefes, wendet sich
16440
dann zu mir, indem er über mich hinwegsieht, und beginnt die
16441
Unterhandlungen über seine Ware. Ich lehne am Sofatische, kreuze Arme
16442
und Beine und bin amüsiert. Ich stehe fünf Minuten lang im Gespräche.
16443
Nach weiteren fünf Minuten setze ich mich auf den Tisch und lasse ein
16444
Bein in der Luft schaukeln. Unsere Verhandlungen nehmen ihren Fortgang,
16445
und nach Verlauf einer Viertelstunde sagt er mit einer wirklich gnädigen
16446
Handbewegung leichthin: »Wollen Sie nicht übrigens einen Stuhl nehmen?«
16447
-- »Wie?« sagte ich ... »Oh, nicht nötig! Ich sitze längst.«
16449
»Sagtest du? Sagtest du es?« rief Frau Permaneder entzückt ... Sofort
16450
hatte sie alles Vorhergehende beinahe vergessen und lebte vollständig in
16451
dieser Anekdote. »Du saßest längst! Es ist ausgezeichnet!...«
16453
»Nun ja; und ich versichere dich, daß der Graf von diesem Augenblick an
16454
sein Benehmen durchaus änderte, daß er mir die Hand reichte, wenn ich
16455
kam, mich zum Sitzen nötigte ... und daß wir in der Folge geradezu
16456
befreundet geworden sind. Warum aber erzähle ich dir das? Um dich zu
16457
fragen: Würde ich wohl das Herz, das Recht, die innere Sicherheit haben,
16458
auch Herrn von Maiboom in dieser Weise zu belehren, wenn er, mit mir
16459
über den Pauschalpreis für seine Ernte verhandelnd, vergessen sollte,
16460
mir -- einen Stuhl anzubieten ...?«
16462
Frau Permaneder schwieg. »Gut«, sagte sie dann und stand auf. »Du sollst
16463
recht haben, Tom, und wie ich schon sagte, ich will nicht in dich
16464
dringen. Du mußt wissen, was du zu tun und zu lassen hast, und damit
16465
Punktum. Wenn du mir nur glaubst, daß ich in guter Absicht gesprochen
16466
habe ... Abgemacht! Gute Nacht, Tom!... Oder nein, warte. Ich muß zuvor
16467
deinem Hanno einen Kuß geben und die gute Ida begrüßen ... Ich gucke
16468
dann hier noch einmal herein ...«
16470
Und damit ging sie.
16475
Sie stieg die Treppe zur zweiten Etage hinan, ließ den »Altan« zur
16476
Rechten liegen, ging an dem weißgoldenen Geländer der Galerie entlang
16477
und durchschritt ein Vorzimmer, dessen Tür zum Korridor offenstand und
16478
von dem ein zweiter Ausgang linkerseits in das Ankleidezimmer des
16479
Senators führte. Dann drückte sie vorsichtig auf den Griff der geradeaus
16480
gelegenen Tür und trat ein.
16482
Es war eine außerordentlich geräumige Stube, deren Fenster mit faltigen,
16483
großgeblümten Vorhängen verhüllt waren. Die Wände waren ein wenig kahl.
16484
Abgesehen von einem sehr großen schwarzgerahmten Stich, der über
16485
Fräulein Jungmanns Bett hing und Giacomo Meyerbeer, umgeben von den
16486
Gestalten seiner Opern, darstellte, gab es nur noch eine Anzahl von
16487
englischen Buntdrucken, die Kinder mit gelbem Haar und roten
16488
Babykleidern darstellten und mit Stecknadeln an der hellen Tapete
16489
befestigt waren. Ida Jungmann saß in der Mitte des Zimmers an dem großen
16490
Ausziehtisch und stopfte Hannos Strümpfchen. Die treue Preußin stand nun
16491
am Anfang der Fünfziger, aber obgleich sie sehr früh begonnen hatte, zu
16492
ergrauen, war ihr glatter Scheitel doch noch immer nicht weiß geworden,
16493
sondern in einem bestimmten Zustande der Melierung verblieben, und ihre
16494
aufrechte Gestalt war so starkknochig und rüstig, ihre braunen Augen
16495
waren so frisch, klar und unermüdlich wie vor zwanzig Jahren.
16497
»Guten Abend, Ida, du gute Seele!« sagte Frau Permaneder gedämpft aber
16498
fröhlich, denn die kleine Erzählung ihres Bruders hatte sie in die beste
16499
Stimmung versetzt. »Wie geht es dir, du altes Möbel?«
16501
»Ei, ei, Tonychen; Möbel, mein Kindchen? So spät noch hier?«
16503
»Ja, ich war bei meinem Bruder ... in Geschäften, die keinen Aufschub
16504
duldeten ... Leider hat sich die Sache zerschlagen ... Schläft er?«
16505
fragte sie und wies mit dem Kinn nach dem kleinen Bette, welches an der
16506
linken Seitenwand stand, das grünverhüllte Kopfende hart an der hohen
16507
Tür, die zum Schlafzimmer Senator Buddenbrooks und seiner Gattin
16510
»Pst«, sagte Ida; »ja, er schläft.« Und Frau Permaneder trat auf den
16511
Zehenspitzen an das Bettchen, lüftete vorsichtig die Gardinen und lugte
16512
gebückt in das Gesicht ihres schlafenden Neffen.
16514
Der kleine Johann Buddenbrook lag auf dem Rücken, hatte aber sein von
16515
dem langen, hellbraunen Haar umrahmtes Gesichtchen dem Zimmer zugewandt
16516
und atmete mit einem leichten Geräusch in das Kopfkissen hinein. Von
16517
seinen Händen, deren Finger kaum aus den viel zu langen und weiten
16518
Ärmeln seines Nachthemdes hervorsahen, lag die eine auf seiner Brust,
16519
die andere neben ihm auf der Steppdecke, und dann und wann zuckten die
16520
gekrümmten Finger leise. Auch an den halb geöffneten Lippen war eine
16521
schwache Bewegung bemerkbar, als versuchten sie, Worte zu bilden. Von
16522
Zeit zu Zeit ging, von unten nach oben, etwas Schmerzliches über dieses
16523
ganze Gesichtchen, das, mit einem Erzittern des Kinnes beginnend, sich
16524
über die Mundpartie fortpflanzte, die zarten Nüstern vibrieren ließ und
16525
die Muskeln der schmalen Stirn in Bewegung versetzte ... Die langen
16526
Wimpern vermochten nicht die bläulichen Schatten zu verdecken, die in
16527
den Augenwinkeln lagerten.
16529
»Er träumt«, sagte Frau Permaneder gerührt. Dann beugte sie sich über
16530
das Kind, küßte behutsam seine schlafwarme Wange, ordnete mit Sorgfalt
16531
die Gardine und trat wieder an den Tisch, wo Ida, im gelben Schein der
16532
Lampe, einen neuen Strumpf über die Stopfkugel zog, das Loch prüfte und
16533
es zu schließen begann.
16535
»Du stopfst, Ida. Merkwürdig, ich kenne dich eigentlich gar nicht
16538
»Ja, ja, Tonychen ... Was das Jungchen alles zerreißt, seit er zur
16541
»Aber er ist doch ein so stilles und sanftes Kind?«
16543
»Ja, ja ... Aber doch.«
16545
»Geht er denn gern zur Schule?«
16547
»Nein, nein, Tonychen! Hätt' lieber noch bei mir weiterlernen wollen.
16548
Und ich hätt's auch gewünscht, mein Kindchen, denn die Herren kennen ihn
16549
ja nicht so von klein auf wie ich und wissen es nicht so, wie man ihn
16550
nehmen muß beim Lernen ... Das Aufmerken wird ihm oft schwer, und er
16551
wird rasch müde ...«
16553
»Der Arme! Hat er schon Schläge bekommen?«
16555
»Aber nein! Mei boje kochhanne ... sie werden doch nicht so hartherz'g
16556
sein wollen! Wenn das Jungchen sie ansieht ...«
16558
»Wie war's denn eigentlich, als er zum ersten Male hinging? Hat er
16561
»Ja, das hat er. Er weint so leicht ... Nicht laut, aber so in sich
16562
hinein ... Und dann hat er deinen Herrn Bruder am Rock festhalten wollen
16563
und immer wieder gebeten, er möchte dableiben ...«
16565
»So, hat mein Bruder ihn hingebracht?... Ja, das ist ein schwerer
16566
Moment, Ida, glaube mir. Ha, ich weiß es wie gestern! Ich heulte ... ich
16567
versichere dich, ich heulte wie ein Kettenhund, es wurde mir entsetzlich
16568
schwer. Und warum? Weil ich es zu Hause so gut gehabt hatte, gerade wie
16569
Hanno. Die Kinder aus vornehmen Häusern weinten alle, das ist mir sofort
16570
aufgefallen, während die anderen sich gar nichts daraus machten und uns
16571
anglotzten und grinsten ... Gott! was ist ihm, Ida --?!«
16573
Sie vollendete ihre Handbewegung nicht und wandte sich erschrocken nach
16574
dem Bettchen um, von wo ein Schrei ihr Plaudern unterbrochen hatte, ein
16575
Angstschrei, der sich im nächsten Augenblick mit noch gequälterem, noch
16576
entsetzterem Ausdruck wiederholte und dann drei-, vier-, fünfmal rasch
16577
nacheinander erklang ... »Oh! oh! oh!« ein vor Grauen überlauter,
16578
entrüsteter und verzweifelter Protest, der sich gegen etwas
16579
Abscheuliches richten mußte, was sich zeigte oder geschah ... Im
16580
nächsten Augenblick stand der kleine Johann aufrecht im Bette, und
16581
während er unverständliche Worte stammelte, blickten seine
16582
weitgeöffneten, so eigenartig goldbraunen Augen, ohne etwas von der
16583
Wirklichkeit wahrzunehmen, starr in eine gänzlich andere Welt hinein ...
16585
»Nichts«, sagte Ida. »Der _pavor_. Ach, das ist manchmal noch viel
16586
ärger.« Und in aller Ruhe legte sie die Arbeit beiseite, ging mit ihren
16587
langen, schweren Schritten auf Hanno zu und legte ihn, während sie mit
16588
tiefer, beruhigender Stimme zu ihm sprach, wieder unter die Decke.
16590
»Ja, so, der _pavor_ ...« wiederholte Frau Permaneder. »Wacht er nun?«
16592
Aber Hanno wachte keineswegs, obgleich seine Augen weit und starr
16593
blieben und seine Lippen fortfuhren, sich zu bewegen ...
16595
»Wie? So ... so ... Nun hören wir auf zu plappern ... =Was= sagst du?«
16596
fragte Ida; und auch Frau Permaneder trat näher, um auf dies unruhige
16597
Murmeln und Stammeln zu horchen.
16599
»Will ich ... in mein ... Gärtlein gehn ...«, sagte Hanno mit schwerer
16600
Zunge, »will mein' Zwiebeln gießen ...«
16602
»Er sagt seine Gedichte her«, erklärte Ida Jungmann mit Kopfschütteln.
16603
»So, so! Genug, schlaf nun, mein Jungchen!...«
16605
»Steht ein ... bucklicht Männlein da, ... fängt als an zu niesen ...«,
16606
sagte Hanno und seufzte dann. Plötzlich aber veränderte sich sein
16607
Gesichtsausdruck, seine Augen schlossen sich halb, er bewegte den Kopf
16608
auf dem Kissen hin und her, und mit leiser, schmerzlicher Stimme fuhr er
16611
»Der Mond der scheint,
16612
Das Kindlein weint,
16613
Die Glock schlägt zwölf,
16614
Daß Gott doch allen Kranken helf!...«
16616
Bei diesen Worten aber schluchzte er tief auf, Tränen traten hinter
16617
seinen Wimpern hervor, liefen langsam über seine Wangen ... und hiervon
16618
erwachte er. Er umarmte Ida, sah sich mit nassen Augen um, murmelte
16619
befriedigt etwas von »Tante Tony«, schob sich ein wenig zurecht und
16620
schlief dann ruhig weiter.
16622
»Sonderbar!« sagte Frau Permaneder, als Ida sich wieder an den Tisch
16623
setzte. »Was für Gedichte waren das, Ida?«
16625
»Sie stehen in seinem Lesebuch«, antwortete Fräulein Jungmann, »und
16626
darunter ist gedruckt: `Des Knaben Wunderhorn´. Sie sind kurios ... Er
16627
hat sie in diesen Tagen lernen müssen, und über das mit dem Männlein hat
16628
er viel gesprochen. Kennst du es?... Recht graulich ist es. Dies
16629
bucklige Männlein steht überall, zerbricht den Kochtopf, ißt das Mus,
16630
stiehlt das Holz, läßt das Spinnrad nicht gehen, lacht einen aus ... und
16631
dann, zum Schlusse, bittet es auch noch, man möge es in sein Gebet
16632
einschließen! Ja, das hat es dem Jungchen nun angetan. Er hat tagein --
16633
tagaus darüber nachgedacht. Weißt du, was er sagte? Zwei-, dreimal hat
16634
er gesagt: `Nicht wahr, Ida, es tut es nicht aus Schlechtigkeit, nicht
16635
aus Schlechtigkeit!... Es tut es aus Traurigkeit und ist dann noch
16636
trauriger darüber ... Wenn man betet, so braucht es das alles nicht mehr
16637
zu tun.´ Und heute abend noch, als seine Mama ihm Gute Nacht sagte,
16638
bevor sie ins Konzert ging, hat er sie gefragt, ob er auch für das
16639
bucklige Männlein beten solle ...«
16641
»Und hat es auch getan?«
16643
»Nicht laut, aber wahrscheinlich im stillen ... Aber über das andere
16644
Gedicht, das `Ammenuhr´ heißt, hat er gar nicht gesprochen, sondern nur
16645
geweint. Er gerät so leicht ins Weinen, das Jungchen, und kann dann
16646
lange nicht aufhören ...«
16648
»Aber was ist denn so traurig darin?«
16650
»Weiß =ich= ... Über den Anfang, die Stelle, bei der er sogar eben im
16651
Schlafe schluchzte, kam er beim Aufsagen nie hinweg ... und auch nachher
16652
über den Fuhrmann, der sich schon um drei von der Streu erhebt, hat er
16655
Frau Permaneder lachte gerührt und machte dann ein ernstes Gesicht.
16657
»Aber ich will dir sagen, Ida, es ist nicht gut, ich halte es nicht für
16658
gut, daß ihm alles so nahe geht. Der Fuhrmann steht um drei Uhr auf --
16659
nun, mein lieber Gott, dafür ist er ein Fuhrmann! Das Kind -- soviel
16660
weiß ich schon -- neigt dazu, alle Dinge mit zu eindringlichen Augen
16661
anzusehen und sich alles zu sehr zu Herzen zu nehmen ... Das muß an ihm
16662
zehren, glaube mir. Man sollte einmal ernstlich mit Grabow sprechen ...
16663
Aber das ist es eben«, fuhr sie fort, indem sie die Arme verschränkte,
16664
den Kopf zur Seite neigte und mißmutig mit der Fußspitze auf dem Boden
16665
trommelte; »Grabow wird alt, und, abgesehen davon: so herzensgut er ist,
16666
ein Biedermann, ein wirklich braver Mensch ... was seine Eigenschaften
16667
als Arzt betrifft, so halte ich nicht gerade große Stücke auf ihn, Ida,
16668
Gott verzeihe mir, wenn ich mich in ihm täusche. So zum Beispiel mit
16669
Hannos Unruhe, seinem Auffahren bei Nacht, seinen Angstanfällen im
16670
Traume ... Grabow weiß es, und alles, was er tut, ist, daß er uns sagt,
16671
was es ist, uns einen lateinischen Namen nennt: _pavor nocturnus_ ...
16672
ja, lieber Gott, das ist sehr belehrend ... Nein, er ist ein lieber
16673
Mann, ein guter Hausfreund, alles; aber ein Licht ist er nicht. Ein
16674
bedeutender Mensch sieht anders aus und zeigt schon in der Jugend, daß
16675
etwas an ihm ist. Grabow hat die Zeit von Achtundvierzig mit erlebt; er
16676
war ein junger Mann damals. Aber meinst du, daß er sich jemals erregt
16677
hat -- über die Freiheit und die Gerechtigkeit und den Umsturz von
16678
Privilegien und Willkür? Er ist ein Gelehrter, aber ich bin überzeugt,
16679
daß die unerhörten Bundesgesetze von damals über die Universitäten und
16680
die Presse ihn vollständig kalt gelassen haben. Er hat sich niemals ein
16681
wenig wild gebärdet, niemals ein wenig über die Schnur gehauen ... Er
16682
hat immer sein langes, mildes Gesicht gehabt, und nun verordnet er Taube
16683
und Franzbrot und, wenn der Fall ernst ist, einen Eßlöffel Altheesaft
16684
... Gute Nacht, Ida ... Ach nein, ich glaube, da gibt es ganz andere
16685
Ärzte!... Schade, daß ich Gerda nicht mehr sehe ... Ja, danke, es ist
16686
noch Licht auf dem Korridor ... Gute Nacht.«
16688
Als Frau Permaneder im Vorübergehen die Tür zum Eßzimmer öffnete, um,
16689
ins Wohnzimmer hinein, auch ihrem Bruder gute Nacht zuzurufen, sah sie,
16690
daß in der ganzen Flucht Licht war und daß Thomas, die Hände auf dem
16691
Rücken, darin hin und wider ging.
16696
Allein geblieben, hatte der Senator seinen Platz am Tische wieder
16697
eingenommen, sein Pincenez hervorgezogen und in der Lektüre seiner
16698
Zeitung fortfahren wollen. Aber nach zwei Minuten schon hatten seine
16699
Augen sich von dem bedruckten Papier erhoben, und ohne die Haltung
16700
seines Körpers zu verändern, hatte er lange Zeit geradeaus, zwischen den
16701
Portieren hindurch, unverwandt in das Dunkel des Salons geblickt.
16703
Wie bis zur Unkenntlichkeit verändert sein Gesicht sich ausnahm, wenn er
16704
sich allein befand! Die Muskeln des Mundes und der Wangen, sonst
16705
diszipliniert und zum Gehorsam gezwungen, im Dienste einer
16706
unaufhörlichen Willensanstrengung, spannten sich ab, erschlafften; wie
16707
eine Maske fiel die längst nur noch künstlich festgehaltene Miene der
16708
Wachheit, Umsicht, Liebenswürdigkeit und Energie von diesem Gesichte ab,
16709
um es in dem Zustande einer gequälten Müdigkeit zurückzulassen; die
16710
Augen, mit trübem und stumpfem Ausdruck auf einen Gegenstand gerichtet,
16711
ohne ihn zu umfassen, röteten sich, begannen zu tränen -- und ohne Mut
16712
zu dem Versuche, auch sich selbst noch zu täuschen, vermochte er von
16713
allen Gedanken, die schwer, wirr und ruhelos seinen Kopf erfüllten, nur
16714
den einen, verzweifelten festzuhalten, daß Thomas Buddenbrook mit
16715
zweiundvierzig Jahren ein ermatteter Mann war.
16717
Er strich langsam und tief aufatmend mit der Hand über Stirn und Augen,
16718
entzündete mechanisch eine neue Zigarette, obgleich er wußte, daß es ihm
16719
schadete, und fuhr fort, durch den Rauch ins Dunkel zu blicken ... Welch
16720
ein Gegensatz zwischen der leidenden Schlaffheit seiner Züge und der
16721
eleganten, beinahe martialischen Toilette, die diesem Kopfe gewidmet war
16722
-- dem parfümierten, lang ausgezogenen Schnurrbart, der peinlich
16723
rasierten Glätte von Kinn und Wangen, der sorgfältigen Frisur des
16724
Haupthaares, dessen beginnende Lichtung am Wirbel nach Möglichkeit
16725
verdeckt war, das, in zwei länglichen Einbuchtungen von den zarten
16726
Schläfen zurücktretend, einen schmalen Scheitel bildete und über den
16727
Ohren nicht mehr lang und gekraust, wie einst, sondern sehr kurz
16728
gehalten war, damit man nicht sehe, daß es an dieser Stelle ergraute ...
16729
Er selbst empfand ihn, diesen Gegensatz, und er wußte wohl, daß
16730
niemandem draußen in der Stadt der Widerstreit entgehen konnte, der
16731
zwischen seiner beweglichen, elastischen Aktivität und der matten Blässe
16732
seines Gesichtes bestand.
16734
Nicht, daß er in geringerem Maße als ehemals dort draußen eine wichtige
16735
und unentbehrliche Persönlichkeit gewesen wäre. Die Freunde wiederholten
16736
es, und die Neider konnten es nicht leugnen, daß Bürgermeister Doktor
16737
Langhals mit weit vernehmbarer Stimme den Ausspruch seines Vorgängers
16738
Oeverdieck bestätigt hatte: Senator Buddenbrook sei des Bürgermeisters
16739
rechte Hand. Daß aber die Firma Johann Buddenbrook nicht mehr das war,
16740
was sie vorzeiten gewesen, das schien eine so gassenläufige Wahrheit,
16741
daß Herr Stuht in der Glockengießerstraße es seiner Frau erzählen
16742
konnte, wenn sie mittags zusammen ihre Specksuppe verzehrten ... und
16743
Thomas Buddenbrook stöhnte darüber.
16745
Gleichwohl war er selbst es, der zur Entstehung dieser Anschauungsweise
16746
am meisten beigetragen hatte. Er war ein reicher Mann, und keiner der
16747
Verluste, die er erlitten, auch den schweren des Jahres sechsundsechzig
16748
nicht ausgenommen, hatte die Existenz der Firma ernstlich in Frage
16749
stellen können. Aber obgleich er, wie selbstverständlich, fortfuhr, in
16750
angemessener Weise zu repräsentieren und seinen Diners die Anzahl von
16751
Gängen zu geben, die seine Gäste von ihnen erwarteten, hatte doch die
16752
Vorstellung, sein Glück und Erfolg sei dahin, diese Vorstellung, die
16753
mehr eine innere Wahrheit war, als daß sie auf äußere Tatsachen
16754
gegründet gewesen wäre, ihn in einen Zustand so argwöhnischer
16755
Verzagtheit versetzt, daß er, wie niemals zuvor, das Geld an sich zu
16756
halten und in seinem Privatleben in fast kleinlicher Weise zu sparen
16757
begann. Hundertmal hatte er den kostspieligen Bau seines neuen Hauses
16758
verwünscht, das ihm, so empfand er, nichts als Unheil gebracht hatte.
16759
Die Sommerreisen wurden eingestellt, und der kleine Stadtgarten mußte
16760
den Aufenthalt am Strande oder im Gebirge ersetzen. Die Mahlzeiten, die
16761
er gemeinsam mit seiner Gattin und dem kleinen Hanno einnahm, waren auf
16762
sein wiederholtes und strenges Geheiß von einer Einfachheit, die im
16763
Gegensatze zu dem weiten, parkettierten Speisezimmer mit seinem hohen
16764
und luxuriösen Plafond und seinen prachtvollen Eichenmöbeln komisch
16765
wirkte. Während längerer Zeit war Dessert nur für den Sonntag gestattet
16766
... Die Eleganz seines Äußeren blieb dieselbe; aber Anton, der
16767
langjährige Bediente, wußte doch in der Küche zu erzählen, daß der
16768
Senator jetzt nur noch jeden zweiten Tag das weiße Hemd wechsele, da die
16769
Wäsche das feine Linnen allzusehr ruiniere ... Er wußte noch mehr. Er
16770
wußte auch, daß er entlassen werden sollte. Gerda protestierte. Drei
16771
Dienstboten seien zur Instandhaltung eines so großen Hauses kaum genug.
16772
Es half nichts: mit einem angemessenen Geldgeschenk ward Anton, der so
16773
lange den Bock eingenommen hatte, wenn Thomas Buddenbrook in den Senat
16774
fuhr, verabschiedet.
16776
Solchen Maßregeln entsprach das freudlose Tempo, das der Geschäftsgang
16777
angenommen hatte. Nichts war mehr zu verspüren von dem neuen und
16778
frischen Geiste, mit dem der junge Thomas Buddenbrook einst den Betrieb
16779
belebt hatte -- und sein Sozius, Herr Friedrich Wilhelm Marcus, welcher,
16780
nur mit geringem Kapitale beteiligt, in keinem Falle bedeutenden Einfluß
16781
besessen hätte, war von Natur und Temperament jeder Initiative bar.
16783
Im Laufe der Jahre hatte seine Pedanterie zugenommen und war zur
16784
vollständigen Wunderlichkeit geworden. Er brauchte eine Viertelstunde,
16785
um sich, unter Schnurrbartstreichen, Räuspern und bedächtigen
16786
Seitenblicken, eine Zigarre anzuschneiden und die Spitze in seinen
16787
Geldbeutel zu versenken. Des Abends, wenn die Gaslampen jeden Winkel des
16788
Kontors taghell erleuchteten, unterließ er es niemals, noch eine
16789
brennende Stearinkerze auf sein Pult zu stellen. Nach jeder halben
16790
Stunde erhob er sich, um sich zur Wasserleitung zu begeben und seinen
16791
Kopf zu begießen. Eines Vormittags lag unordentlicherweise ein leerer
16792
Getreidesack unter seinem Pult, den er für eine Katze hielt und zum
16793
Gaudium des gesamten Personals unter lauten Verwünschungen zu verjagen
16794
suchte ... Nein, er war nicht der Mann, der jetzigen Mattigkeit seines
16795
Kompagnons zum Trotz, fördernd in die Geschäfte einzugreifen, und oft
16796
erfaßte den Senator, wie jetzt, während er matten Blickes in die
16797
Finsternis des Salons hinüberstarrte, die Scham und eine verzweifelte
16798
Ungeduld, wenn er sich den unbeträchtlichen Kleinbetrieb, das
16799
pfennigweise Geschäftemachen vergegenwärtigte, zu dem sich in letzter
16800
Zeit die Firma Johann Buddenbrook erniedrigt hatte.
16802
Aber, war es nicht gut so? Auch das Unglück, dachte er, hat seine Zeit.
16803
War es nicht weise, sich still zu verhalten, während es in uns herrscht,
16804
sich nicht zu rühren, abzuwarten und in Ruhe innere Kräfte zu sammeln?
16805
Warum mußte man jetzt mit diesem Vorschlag an ihn herantreten, ihn aus
16806
seiner klugen Resignation vor der Zeit aufstören und ihn mit Zweifeln
16807
und Bedenken erfüllen! War die Zeit gekommen? War dies ein Fingerzeig?
16808
Sollte er ermuntert werden, aufzustehen und einen Schlag zu führen? Mit
16809
aller Entschiedenheit, die er seiner Stimme zu geben vermocht, hatte er
16810
das Ansinnen zurückgewiesen; aber war, seit Tony aufgebrochen, wirklich
16811
das Ganze erledigt? Es schien nicht, denn er saß hier und grübelte. »Man
16812
begegnet einem Vorschlage nur dann mit Erregtheit, wenn man sich in
16813
seinem Widerstande nicht sicher fühlt ...« Eine verteufelt schlaue
16814
Person, diese kleine Tony!
16816
Was hatte er ihr entgegengehalten? Er hatte es sehr gut und eindringlich
16817
gesagt, wie er sich erinnerte. »Unreinliche Manipulation ... Im Trüben
16818
fischen ... Brutale Ausbeutung ... Einen Wehrlosen übers Ohr hauen ...
16819
Wucherprofit ...« ausgezeichnet! Allein es fragte sich, ob dies die
16820
Gelegenheit war, so laute Worte ins Gefecht zu führen. Konsul Hermann
16821
Hagenström würde sie nicht gesucht und würde sie nicht gefunden haben.
16822
War Thomas Buddenbrook ein Geschäftsmann, ein Mann der unbefangenen Tat
16823
oder ein skrupulöser Nachdenker?
16825
O ja, das war die Frage; das war von jeher, so lange er denken konnte,
16826
seine Frage gewesen! Das Leben war hart, und das Geschäftsleben war in
16827
seinem rücksichtslosen und unsentimentalen Verlaufe ein Abbild des
16828
großen und ganzen Lebens. Stand Thomas Buddenbrook mit beiden Beinen
16829
fest wie seine Väter in diesem harten und praktischen Leben? Oft genug,
16830
von jeher, hatte er Ursache gehabt, daran zu zweifeln! Oft genug, von
16831
Jugend an, hatte er diesem Leben gegenüber sein Fühlen korrigieren
16832
müssen ... Härte zufügen, Härte erleiden und es nicht als Härte, sondern
16833
als etwas Selbstverständliches =empfinden= -- würde er das niemals
16834
vollständig erlernen?
16836
Er erinnerte sich des Eindruckes, den die Katastrophe des Jahres 66 auf
16837
ihn hervorgebracht hatte, und er rief sich die unaussprechlich
16838
schmerzlichen Empfindungen zurück, die ihn damals überwältigt hatten. Er
16839
hatte eine große Summe Geldes verloren ... ach, nicht das war das
16840
Unerträglichste gewesen! Aber er hatte zum ersten Male in vollem Umfange
16841
und am eigenen Leibe die grausame Brutalität des Geschäftslebens
16842
verspüren müssen, in dem alle guten, sanften und liebenswürdigen
16843
Empfindungen sich vor dem einen rohen, nackten und herrischen Instinkt
16844
der Selbsterhaltung verkriechen und in dem ein erlittenes Unglück bei
16845
den Freunden, den besten Freunden, nicht Teilnahme, nicht Mitgefühl,
16846
sondern -- »Mißtrauen«, kaltes, ablehnendes Mißtrauen hervorruft. Hatte
16847
er das nicht gewußt? War er berufen, sich darüber zu verwundern? Wie
16848
sehr hatte er sich später in besseren und stärkeren Stunden darüber
16849
geschämt, daß er in den schlaflosen Nächten von damals sich empört, voll
16850
Ekel und unheilbar verletzt gegen die häßliche und schamlose Härte des
16851
Lebens aufgelehnt hatte!
16853
Wie albern das gewesen war! Wie lächerlich jedesmal diese Regungen
16854
gewesen waren, wenn er sie empfunden hatte! Wie war es überhaupt
16855
möglich, daß sie in ihm entstanden? Denn nochmals gefragt: War er ein
16856
praktischer Mensch oder ein zärtlicher Träumer?
16858
Ach, diese Frage hatte er sich schon tausendmal gestellt, und er hatte
16859
sie, in starken und zuversichtlichen Stunden, bald so und -- in müden --
16860
bald so beantwortet. Aber er war zu scharfsinnig und ehrlich, als daß er
16861
sich nicht schließlich die Wahrheit hätte gestehen müssen, daß er ein
16862
Gemisch von beidem sei.
16864
Zeit seines Lebens hatte er sich den Leuten als tätiger Mann
16865
präsentiert; aber soweit er mit Recht dafür galt -- war er es nicht, mit
16866
seinem gern zitierten Goetheschen Wahl- und Wahrspruch -- aus bewußter
16867
Überlegung gewesen? Er hatte ehemals Erfolge zu verzeichnen gehabt ...
16868
aber waren sie nicht nur aus dem Enthusiasmus, der Schwungkraft
16869
hervorgegangen, die er der Reflexion verdankte? Und da er nun
16870
daniederlag, da seine Kräfte -- wenn auch, Gott gebe es, nicht für immer
16871
-- erschöpft schienen: war es nicht die notwendige Folge dieses
16872
unhaltbaren Zustandes, dieses unnatürlichen und aufreibenden
16873
Widerstreites in seinem Innern?... Ob sein Vater, sein Großvater, sein
16874
Urgroßvater die Pöppenrader Ernte auf dem Halme gekauft haben würden?
16875
Gleichviel!... Gleichviel!... Aber daß sie praktische Menschen gewesen,
16876
daß sie es voller, ganzer, stärker, unbefangener, natürlicher gewesen
16877
waren, als er, das war es, was feststand!...
16879
Eine große Unruhe ergriff ihn, ein Bedürfnis nach Bewegung, Raum und
16880
Licht. Er schob seinen Stuhl zurück, ging hinüber in den Salon und
16881
entzündete mehrere Gasflammen des Lüsters über dem Mitteltische. Er
16882
blieb stehen, drehte langsam und krampfhaft an der langen Spitze seines
16883
Schnurrbartes und blickte, ohne etwas zu sehen, in diesem luxuriösen
16884
Gemache umher. Es nahm zusammen mit dem Wohnzimmer die ganze
16885
Frontbreite des Hauses ein, war mit hellen, geschweiften Möbeln
16886
ausgestattet und trug, mit seinem großen Konzertflügel, auf dem Gerdas
16887
Geigenkasten stand, seiner mit Notenbüchern beladenen Etagere daneben,
16888
dem geschnitzten Stehpult und den Basreliefs von musizierenden Amoretten
16889
über den Türen, den Charakter eines Musikzimmers. Der Erker war mit
16892
Senator Buddenbrook stand zwei oder drei Minuten, ohne sich zu bewegen.
16893
Dann raffte er sich auf, ging ins Wohnzimmer zurück, trat ins
16894
Speisezimmer und erleuchtete auch dies. Er machte sich am Büffett zu
16895
schaffen, trank, um sein Herz zu beruhigen, oder um überhaupt etwas zu
16896
tun, ein Glas Wasser und ging dann rasch, die Hände auf dem Rücken,
16897
weiter in die Tiefe des Hauses hinein. Das »Rauchzimmer« war dunkel
16898
möbliert und mit Holz getäfelt. Er öffnete mechanisch den
16899
Zigarrenschrank, verschloß ihn sofort wieder und erhob, am Spieltische,
16900
den Deckel einer kleinen eichenen Truhe, die Kartenspiele, Notizblocks
16901
und ähnliche Dinge enthielt. Er ließ eine Anzahl knöcherner Anlegemarken
16902
klappernd durch seine Hand gleiten, warf den Deckel zu und wandte sich
16903
abermals zum Gehen.
16905
Ein kleines Kabinett mit einem buntfarbigen Fensterchen grenzte an das
16906
Rauchzimmer. Es war leer bis auf einige ganz leichte »Servanten«, die
16907
ineinander geschoben waren und auf denen ein Likörkasten stand. Von hier
16908
aus aber betrat man den Saal, welcher, mit seiner ungeheuren
16909
Parkettfläche und seinen vier hohen, weinrot verhangenen Fenstern, die
16910
auf den Garten hinausblickten, wiederum die ganze Breite des Hauses in
16911
Anspruch nahm. Er war ausgestattet mit einem Paar schwerer, niedriger
16912
Sofas von dem Rot der Portieren und einer Anzahl von Stühlen, die
16913
hochlehnig und ernst an den Wänden standen. Ein Kamin war dort, hinter
16914
dessen Gitter falsche Kohlen lagen und mit ihren Streifen von
16915
rotgoldenem Glanzpapier zu glühen schienen. Auf der Marmorplatte, vor
16916
dem Spiegel, ragten zwei mächtige chinesische Vasen ...
16918
Nun lag die ganze Zimmerflucht im Lichte einzelner Gasflammen, wie nach
16919
einem Feste, wenn der letzte Gast soeben davongefahren. Der Senator
16920
durchmaß den Saal einmal der Länge nach, blieb dann an dem Fenster
16921
stehen, das dem Kabinett gegenüber lag, und blickte in den Garten
16924
Der Mond stand hoch und klein zwischen flockigen Wolken, und der
16925
Springbrunnen ließ seinen Strahl in der Stille unter den überhängenden
16926
Zweigen des Walnußbaumes plätschern. Thomas sah hinüber auf den
16927
Pavillon, der das Ganze abschloß, auf die kleine, weiß glänzende
16928
Terrasse mit den beiden Obelisken, auf die regelmäßigen Kieswege, die
16929
frisch umgegrabenen, abgezirkelten Beete und Rasenplätze ... aber diese
16930
ganze zierliche und ungestörte Symmetrie, weit entfernt, ihn zu
16931
beruhigen, verletzte und reizte ihn. Er erfaßte mit der Hand die Klinke
16932
des Fensters, legte seine Stirn darauf und ließ seine Gedanken ihren
16933
qualvollen Gang wieder antreten.
16935
Wo wollte es mit ihm hinaus? Er erinnerte sich einer Bemerkung, die er
16936
vorhin seiner Schwester gegenüber hatte fallen lassen und über die er
16937
selbst sich, sobald sie ausgesprochen, als über etwas höchst
16938
Überflüssiges geärgert hatte. Er hatte vom Grafen Strelitz gesprochen,
16939
vom Landadel, und hatte bei dieser Gelegenheit klar und deutlich die
16940
Meinung ausgedrückt, daß eine soziale Überlegenheit des Produzenten über
16941
den Zwischenhändler anzuerkennen sei. War das zutreffend? Ach, mein
16942
Gott, es war so unsäglich gleichgültig, ob es zutreffend war! Aber war
16943
=er= berufen, diesen Gedanken auszusprechen, ihn in Erwägung zu ziehen,
16944
überhaupt darauf zu verfallen? War er imstande, sich seinen Vater,
16945
seinen Großvater, irgendeinen seiner Mitbürger vorzustellen, wie er
16946
diesem Gedanken nachhing und ihm Ausdruck verlieh? Ein Mann, der fest
16947
und zweifellos in seinem Berufe steht, kennt nur diesen, weiß nur von
16948
diesem, schätzt nur diesen ...
16950
Plötzlich fühlte er, wie das Blut ihm heiß zum Kopfe stieg, wie er
16951
errötete bei einer zweiten Erinnerung, die weiter zurücklag. Er sah sich
16952
mit seinem Bruder Christian im Garten des Mengstraßen-Hauses umhergehen,
16953
begriffen in einem Streite, einer dieser so tief bedauernswerten
16954
erregten Auseinandersetzungen ... Christian hatte, in seiner indiskreten
16955
und kompromittierenden Art, vor vielen Ohren eine liederliche Äußerung
16956
getan, über welche er ihn, wütend, empört, aufs äußerste gereizt, zur
16957
Rede gestellt hatte. Eigentlich, hatte Christian gesagt, eigentlich und
16958
im Grunde sei doch jeder Geschäftsmann ein Betrüger ... Wie? war diese
16959
insipide und nichtswürdige Redensart ihrem Wesen nach so weit entfernt
16960
von derjenigen, die er selbst sich soeben noch seiner Schwester
16961
gegenüber gestattet hatte? Er hatte sich darüber entrüstet, hatte
16962
wutentbrannt dagegen protestiert ... Aber wie hatte diese schlaue,
16963
kleine Tony, gesagt? Wer sich ereifert ...
16965
»Nein!« sagte der Senator plötzlich mit lauter Stimme, erhob mit einem
16966
Ruck den Kopf, ließ den Fenstergriff fahren, stieß sich förmlich davon
16967
zurück und sagte ebenso laut: »Dies ist zu Ende!« Dann räusperte er
16968
sich, um über die unangenehme Empfindung hinwegzukommen, die seine
16969
eigene, einsame Stimme ihm verursachte, wandte sich und begann, schnell
16970
gesenkten Kopfes, die Hände auf dem Rücken, hin und her durch alle
16973
»Dies ist zu Ende!« wiederholte er. »Es muß ein Ende gemacht werden! Ich
16974
verbummele, ich versumpfe, ich werde alberner als Christian!« Oh, es war
16975
unendlich dankenswert, daß er sich nicht in Unwissenheit darüber befand,
16976
wie es mit ihm stand! Nun war es in seine Hand gegeben, sich zu
16977
korrigieren! Mit Gewalt!... Laß sehen ... laß sehen ... was war es für
16978
ein Angebot, das ihm da gemacht worden war? Die Ernte ... Die
16979
Pöppenrader Ernte auf dem Halm? »Ich werde es tun!« sagte er mit
16980
leidenschaftlichem Flüstern und schüttelte sogar eine Hand mit
16981
ausgestrecktem Zeigefinger. »Ich werde es tun!«
16983
Es war ja wohl das, was man einen Coup nennt? Eine Gelegenheit, ein
16984
Kapital von, sagen wir einmal, vierzigtausend Kurantmark ganz einfach --
16985
und ein wenig übertrieben ausgedrückt -- zu verdoppeln?... Ja, es war
16986
ein Fingerzeig, ein Wink, sich zu erheben! Es handelte sich um einen
16987
Anfang, einen ersten Streich, und das Risiko, das damit verbunden war,
16988
ergab nur eine Widerlegung mehr aller moralischen Skrupeln. Gelang es,
16989
dann war er wieder hergestellt, dann würde er wieder wagen, dann würde
16990
er das Glück und die Macht wieder mit diesen inneren elastischen
16991
Klammern halten ...
16993
Nein, den Herren Strunck & Hagenström würde dieser Fang leider entgehen!
16994
Es gab am Orte eine Firma, die in diesem Falle infolge von persönlichen
16995
Verbindungen denn doch die Vorhand hatte!... In der Tat, das Persönliche
16996
war hier das Entscheidende. Es war kein gewöhnliches Geschäft, das man
16997
kühl und in den üblichen Formen erledigt. Es trug vielmehr, wie es durch
16998
Tonys Vermittlung eingeleitet worden, halbwegs den Charakter einer
16999
Privatangelegenheit, die mit Diskretion und Verbindlichkeit zu behandeln
17000
war. Ach nein, Hermann Hagenström wäre wohl kaum der Mann dafür
17001
gewesen!... Thomas benutzte als Kaufmann die Konjunktur und auch beim
17002
Verkaufe, nachher, würde er sie bei Gott zu benutzen wissen! Andererseits
17003
aber erwies er dem bedrängten Gutsherrn einen Dienst, zu dem er, durch
17004
die Freundschaft Tonys mit Frau von Maiboom, ganz allein berufen
17005
war. Schreiben also ... heute abend noch schreiben -- nicht auf dem
17006
Geschäftspapier mit Firmendruck, sondern auf einem Privatbriefbogen, auf
17007
dem nur »Senator Buddenbrook« gedruckt stand -- in rücksichtsvollster
17008
Weise schreiben und fragen, ob ein Besuch in den nächsten Tagen genehm
17009
sei. Eine heikle Sache immerhin. Ein etwas glatter Grund und Boden, auf
17010
dem man sich mit einiger Grazie bewegen mußte ... Desto mehr etwas für
17013
Und seine Schritte wurden noch geschwinder, sein Atem tiefer. Er setzte
17014
sich einen Augenblick, sprang auf und wanderte aufs neue durch alle
17015
Zimmer. Er durchdachte das Ganze noch einmal, er dachte an Herrn Marcus,
17016
an Hermann Hagenström, Christian und Tony, sah die gelbreife Ernte von
17017
Pöppenrade im Winde schwanken, phantasierte von dem allgemeinen
17018
Aufschwung der Firma, der diesem Coup folgen würde, verwarf zornig alle
17019
Bedenken, schüttelte seine Hand und sagte: »Ich werde es tun!«
17021
Frau Permaneder öffnete die Tür zum Speisezimmer und rief: »Gute Nacht!«
17022
Er antwortete, ohne es zu wissen. Gerda, von der sich Christian an der
17023
Haustür verabschiedet hatte, trat ein, und in ihren seltsamen, nahe
17024
beieinanderliegenden braunen Augen lag der rätselhafte Schimmer, den die
17025
Musik ihnen zu geben pflegt. Der Senator blieb mechanisch vor ihr
17026
stehen, fragte mechanisch nach dem spanischen Virtuosen und dem Verlaufe
17027
seines Konzertes und versicherte dann, sogleich sich ebenfalls zur Ruhe
17030
Aber er ging nicht zur Ruhe, sondern nahm seine Wanderung wieder auf. Er
17031
dachte an die Säcke mit Weizen, Roggen, Hafer und Gerste, welche die
17032
Böden des »Löwen«, des »Walfisches«, der »Eiche« und der »Linde« füllen
17033
sollten, sann über dem Preise, dem -- oh, durchaus nicht unanständigen
17034
Preise, den er zu bieten beabsichtigte, stieg um Mitternacht leise ins
17035
Kontor hinunter und schrieb bei Herrn Marcus' Stearinkerze in einem Zuge
17036
einen Brief an Herrn von Maiboom auf Pöppenrade, einen Brief, der, als
17037
er ihn mit fieberheißem und schwerem Kopfe durchlas, ihm als der beste
17038
und taktvollste seines Lebens erschien.
17040
Das war in der Nacht vor dem 27. Mai. Am nächsten Tage eröffnete er
17041
seiner Schwester in leichter und humoristischer Weise, daß er die Sache
17042
nun von allen Seiten betrachtet habe und daß er Herrn von Maiboom nicht
17043
einfach einen Korb geben und an den nächsten Beutelschneider verweisen
17044
könne. Am 30. des Monats unternahm er eine Reise nach Rostock und fuhr
17045
von dort mit einem Mietswagen über Land.
17047
Seine Laune war vortrefflich in den nächsten Tagen, sein Gang elastisch
17048
und frei, sein Mienenspiel verbindlich. Er neckte Klothilde, lachte
17049
herzlich über Christian, scherzte mit Tony, spielte am Sonntag eine
17050
ganze Stunde lang mit Hanno auf dem »Altan« in der zweiten Etage, indem
17051
er seinem Sohne half, winzige Getreidesäcke an einem kleinen,
17052
ziegelroten Speicher hinaufzuwinden und dabei die hohlen und gedehnten
17053
Rufe der Arbeiter nachahmte ... und hielt in der Bürgerschaftssitzung
17054
vom 3. Juni über den langweiligsten Gegenstand von der Welt, über
17055
irgendeine Steuerfrage, eine so ausgezeichnete und witzige Rede, daß er
17056
in allen Stücken Recht bekam und Konsul Hagenström, der ihm opponiert
17057
hatte, der allgemeinen Heiterkeit anheimfiel.
17062
War es Unachtsamkeit oder Absicht von des Senators Seite -- es fehlte
17063
nicht viel, so wäre er über eine Tatsache hinweggegangen, die nun durch
17064
Frau Permaneder, welche sich am treuesten und hingebendsten mit den
17065
Familienpapieren beschäftigte, aller Welt verkündet ward: die Tatsache,
17066
daß in den Dokumenten der 7. Juli des Jahres 1768 als Gründungstag der
17067
Firma angenommen war, und daß die hundertste Wiederkehr dieses Tages
17070
Fast schien es, daß Thomas sich unangenehm berührt fühlte, als Tony ihn
17071
mit bewegter Stimme darauf aufmerksam machte. Der Aufschwung seiner
17072
Laune war nicht von Dauer gewesen. Allzubald war er wieder still
17073
geworden, stiller vielleicht als vorher. Mitten in der Arbeit konnte er
17074
das Kontor verlassen, um, von Unruhe erfaßt, einsam im Garten
17075
umherzugehen, dann und wann wie gehemmt und aufgehalten stehenzubleiben
17076
und seufzend die Augen mit der Hand zu bedecken. Er sagte nichts, er
17077
sprach sich nicht aus ... Gegen wen auch? Herr Marcus war -- ein
17078
erstaunlicher Anblick -- zum ersten Male in seinem Leben heftig
17079
geworden, als sein Kompagnon ihm kurzerhand von dem Geschäfte mit
17080
Pöppenrade Mitteilung gemacht hatte, und hatte jede Verantwortung und
17081
jede Beteiligung abgelehnt. Seiner Schwester, Frau Permaneder, aber
17082
verriet sich Thomas an einem Donnerstagabend auf der Straße, als sie
17083
sich mit einer Anspielung auf die Ernte von ihm verabschiedete, durch
17084
einen einzigen kurzen Händedruck, dem er hastig und leise die Worte
17085
hinzufügte: »Ach, Tony, ich wollte, ich hätte schon wieder verkauft!«
17086
Dann wandte er sich, jäh abbrechend, zum Gehen und ließ Frau Antonie
17087
verdutzt und ergriffen zurück ... Dieser plötzliche Händedruck hatte
17088
etwas von ausbrechender Verzweiflung, dieses geflüsterte Wort so viel
17089
von lange verhaltener Angst gehabt ... Als aber Tony bei der nächsten
17090
Gelegenheit versucht hatte, auf die Sache zurückzukommen, hatte er sich
17091
in desto ablehnenderes Schweigen gehüllt, voll Scham über die Schwäche,
17092
mit der er sich einen Augenblick hatte gehen lassen, voll Erbitterung
17093
über seine Untauglichkeit, dies Unternehmen vor sich selbst zu
17096
Nun sagte er schwerfällig und verdrießlich: »Ach, meine Liebe, ich
17097
wollte, wir könnten das ganz einfach ignorieren!«
17099
»Ignorieren, Tom? Unmöglich! Undenkbar! Meinst du, du könntest diese
17100
Tatsache unterschlagen? Meinst du, die ganze Stadt könnte die Bedeutung
17101
dieses Tages vergessen?«
17103
»Ich sage nicht, daß es möglich ist; ich sage, daß es mir lieber wäre,
17104
wir könnten den Tag mit Stillschweigen begehen. Die Vergangenheit zu
17105
feiern, ist hübsch, wenn man, was Gegenwart und Zukunft betrifft, guter
17106
Dinge ist ... Sich seiner Väter zu erinnern ist angenehm, wenn man sich
17107
einig mit ihnen weiß und sich bewußt ist, immer in ihrem Sinne gehandelt
17108
zu haben ... Käme das Jubiläum zu gelegenerer Zeit ... Kurz, ich bin
17109
wenig aufgelegt, Feste zu feiern.«
17111
»Du mußt so nicht reden, Tom. Du meinst es auch nicht so und weißt wohl,
17112
daß es eine Schande, eine Schande wäre, das hundertjährige Jubiläum der
17113
Firma Johann Buddenbrook sang- und klanglos vorübergehen zu lassen! Du
17114
bist jetzt nur ein bißchen nervös, und ich weiß auch warum ... obgleich
17115
eigentlich gar keine Ursache dafür vorhanden ist ... Aber wenn der Tag
17116
da ist, dann wirst du so freudig bewegt sein, wie wir alle ...«
17118
Sie hatte recht, der Tag war nicht mit Stillschweigen zu übergehen.
17119
Nicht lange, so tauchte in den »Anzeigen« eine vorbereitende Notiz auf,
17120
die eine ausführliche Rekapitulation der Geschichte des altangesehenen
17121
Handelshauses für den Festtag selbst in Aussicht stellte -- und es hätte
17122
ihrer kaum bedurft, um die wohllöbliche Kaufmannschaft aufmerksam zu
17123
machen. Was aber die Familie betraf, so war Justus Kröger der erste, der
17124
am Donnerstag das Bevorstehende zur Sprache brachte, und Frau Permaneder
17125
sorgte dafür, daß, war das Dessert abgetragen, die ehrwürdige Ledermappe
17126
mit den Familiendokumenten feierlich aufgelegt ward, und daß man als
17127
Vorfeier sich mit den Daten, die aus dem Leben des seligen Johan
17128
Buddenbrook, Hannos Ur-Ur-Großvater, des Gründers der Firma, bekannt
17129
waren, eingehend beschäftigte. Wann er die Frieseln und wann die echten
17130
Blattern gehabt, wann er vom dritten Boden auf die Darre gestürzt und
17131
wann in ein hitzig Fieber mit Raserei verfallen, verlas sie mit einem
17132
religiösen Ernste. Sie konnte sich nicht genug tun, sie griff zurück
17133
bis ins 16. Jahrhundert zu dem ältesten Buddenbrook, der bekannt, zu
17134
dem, der zu Grabau Ratsherr gewesen und zu dem Gewandschneider in
17135
Rostock, der sich »sehr gut gestanden« -- was unterstrichen war -- und
17136
so außerordentlich viele lebendige und tote Kinder gehabt ... »Was für
17137
ein prächtiger Mensch!« rief sie aus und machte sich daran, alte
17138
vergilbte und eingerissene Briefe und Festpoeme vorzutragen ...
17142
Herr Wenzel war, wie sich versteht, am Morgen des siebenten Juli der
17145
»Ja, Herr Senater, hundert Jahr!« sagte er und ließ Messer und
17146
Streichriemen behende in seinen roten Händen spielen ... »Und ungefähr
17147
die Hälfte davon, das darf ich woll sagen, hab' ich in der werten
17148
Familie rasiert, und da erlebt man manches mit, wenn man immer der erste
17149
ist, der den Chef zu sprechen kriegt ... Der selige Herr Konsul war auch
17150
immer des Morgens am gesprächigsten, und dann fragte er mich woll:
17151
Wenzel, fragt' er, was halten Sie von dem Roggen? Soll ich verkaufen
17152
oder meinen Sie, daß er noch steigt?...«
17154
»Ja, Wenzel, ich kann mir das Ganze auch ohne Sie nicht denken. Ihr
17155
Beruf, wie ich Ihnen schon manchmal sagte, hat wirklich sehr viel
17156
Reizvolles. Wenn Sie morgens mit Ihrer Tour fertig sind, dann sind Sie
17157
klüger als alle, denn dann haben Sie die Chefs von ungefähr allen großen
17158
Häusern unter dem Messer gehabt und kennen die Laune von jedem
17159
einzelnen, und darum kann Sie jeder einzelne beneiden, denn das ist sehr
17162
»Da is was Wahres dran, Herr Senater. Was aber Herrn Senater seine eigne
17163
Laune betrifft, wenn ich so sagen darf ... Herr Senater sind heut'
17164
morgen wieder ein bißchen blaß?«
17166
»So? Ja, ich habe Kopfschmerzen, und die werden nach menschlicher
17167
Voraussicht nicht so schnell vorübergehen, denn ich glaube, man wird
17168
mich heute etwas in Anspruch nehmen.«
17170
»Glaub' ich auch, Herr Senater. Die Teilnahme ist groß, die Teilnahme
17171
ist sehr groß. Sehen Herr Senater nachher man gleich mal aus dem
17172
Fenster. Eine Menge Fahnen! Und unten vor der Fischergrube liegen der
17173
`Wullenwewer´ und die `Friederike Oeverdieck´ mit allen Wimpeln ...«
17175
»Na, machen Sie also schnell, Wenzel, ich habe keine Zeit zu
17178
Der Senator nahm heute nicht erst die Kontorjacke, sondern zog zu seinem
17179
hellen Beinkleid sofort einen schwarzen, offenen Rock an, der die weiße
17180
Pikeeweste sehen ließ. Besuche waren für den Vormittag zu erwarten. Er
17181
warf einen letzten Blick in den Toilettespiegel, ließ noch einmal die
17182
langen Spitzen des Schnurrbartes durch die Brennschere gleiten und
17183
wandte sich mit einem kurzen Seufzer zum Gehen. Der Tanz begann ... Wäre
17184
erst dieser Tag vorüber! Würde er einen Augenblick allein sein, einen
17185
Augenblick seine Gesichtsmuskeln abspannen können? Empfänge während des
17186
ganzen Tages, bei denen es galt, den Gratulationen von hundert Menschen
17187
mit Takt und Würde zu begegnen, nach allen Seiten mit Umsicht und
17188
sicherer Nuancierung passende Worte zu finden, ehrerbietige, ernste,
17189
freundliche, ironische, scherzhafte, nachsichtige, herzliche ... und vom
17190
Nachmittag bis in die Nacht hinein ein Herrendiner im Ratsweinkeller ...
17192
Es war nicht wahr, daß er Kopfschmerzen hatte. Er war nur müde und
17193
fühlte wieder, kaum daß der erste Morgenfriede der Nerven vorbei, diesen
17194
unbestimmten Gram auf sich lasten ... Warum hatte er gelogen? War es
17195
nicht beständig, als hätte er seinem Übelbefinden gegenüber ein
17196
schlechtes Gewissen? Warum? Warum?... Aber es war jetzt keine Zeit,
17197
darüber nachzudenken.
17199
Als er ins Eßzimmer trat, kam Gerda ihm lebhaft entgegen. Auch sie war
17200
schon in Empfangstoilette. Sie trug einen glatten Rock aus schottischem
17201
Stoff, eine weiße Bluse und ein dünnes, seidenes Zuavenjäckchen darüber,
17202
von der dunkelroten Farbe ihres schweren Haares. Sie zeigte lächelnd
17203
ihre breiten, ebenmäßigen Zähne, die noch weißer waren als ihr schönes
17204
Gesicht, und auch ihre Augen, diese nahe beisammen liegenden,
17205
rätselhaften, braunen Augen mit den bläulichen Schatten, lächelten
17208
»Ich bin schon stundenlang auf den Füßen; woraus du schließen kannst,
17209
wie enthusiastisch meine Glückwünsche sind.«
17211
»Sieh da! Die hundert Jahre machen Eindruck auf dich?«
17213
»Den allertiefsten!... Aber es ist auch möglich, daß es nur das
17214
Festliche überhaupt ist ... Was für ein Tag! Dies da, zum Beispiel«, und
17215
sie wies auf den Frühstückstisch, der mit Blumen aus dem Garten bekränzt
17216
war, »ist Fräulein Jungmanns Werk ... Übrigens irrst du, wenn du denkst,
17217
du könntest jetzt Tee trinken. Im Salon erwarten dich schon die
17218
wichtigsten Mitglieder der Familie, und zwar mit einer Festgabe, an der
17219
ich ebenfalls nicht ganz unbeteiligt bin ... Höre, Thomas, dies ist
17220
natürlich nur der Anfang des Reigens von Visiten, der sich entwickeln
17221
wird. Zu Anfang will ich aushalten, aber gegen Mittag ziehe ich mich
17222
zurück, das sage ich dir. Der Himmel ist, obgleich das Barometer ein
17223
wenig gefallen ist, noch immer von einem unverschämten Blau -- was zwar
17224
zu den Flaggen ... denn die ganze Stadt ist beflaggt ... sehr gut
17225
aussieht -- aber es wird eine fürchterliche Hitze geben ... Komm jetzt
17226
hinüber. Dein Frühstück muß warten. Du hättest früher aufstehen sollen.
17227
Nun mußt du die erste Rührung auf deinen leeren Magen wirken lassen ...«
17229
Die Konsulin, Christian, Klothilde, Ida Jungmann, Frau Permaneder und
17230
Hanno befanden sich im Salon, und die beiden letzteren hielten, nicht
17231
ohne Anstrengung, die Festgabe der Familie, eine große Gedenktafel,
17232
aufrecht ... Die Konsulin umarmte ihren Ältesten in tiefer Bewegung.
17234
»Mein lieber Sohn, das ist ein schöner Tag ... ein schöner Tag ...«
17235
wiederholte sie. »Wir dürfen niemals aufhören, Gott in unseren Herzen zu
17236
preisen für alle Gnade ... für alle Gnade ...« Sie weinte.
17238
Den Senator befiel eine Schwäche in dieser Umarmung. Es war, als ob in
17239
seinem Inneren sich etwas löste und ihn verließ. Seine Lippen bebten.
17240
Ein hinfälliges Bedürfnis erfüllte ihn, in den Armen seiner Mutter, an
17241
ihrer Brust, in dem zarten Parfüm, das von der weichen Seide ihres
17242
Kleides ausging, mit geschlossenen Augen zu verharren, nichts mehr sehen
17243
und nichts mehr sagen zu müssen ... Er küßte sie und richtete sich auf,
17244
um seinem Bruder die Hand zu reichen, der sie mit der halb zerstreuten
17245
und halb verlegenen Miene drückte, die ihm bei Feierlichkeiten eigen
17246
war. Klothilde sagte etwas Gedehntes und Freundliches. Was Fräulein
17247
Jungmann betraf, so beschränkte sie sich darauf, sich sehr tief zu
17248
verbeugen, wobei ihre Hand mit der silbernen Uhrkette spielte, die an
17249
ihrem flachen Busen hing ...
17251
»Komm her, Tom«, sagte Frau Permaneder mit wankender Stimme; »wir können
17252
es nun nicht mehr halten, Hanno und ich.« Sie trug die Tafel beinahe
17253
allein, da Hannos Arme nicht viel vermochten, und bot in ihrer
17254
begeisterten Überanstrengung das Bild einer verzückten Märtyrerin. Ihre
17255
Augen waren feucht, ihre Wangen hoch gerötet, und ihre Zungenspitze
17256
spielte mit einem halb verzweifelten, halb spitzbübischen Ausdruck an
17259
»Ja, nun zu euch!« sagte der Senator. »Was ist denn das? Kommt, laßt
17260
los, wir wollen sie anlehnen.« Er stellte die Tafel neben dem Flügel
17261
aufrecht gegen die Wand und blieb, umgeben von den Seinen, davor stehen.
17263
Der schwere, geschnitzte Nußholzrahmen umspannte einen Karton, welcher
17264
unter Glas die Porträts der vier Inhaber der Firma Johann Buddenbrook
17265
zeigte; Name und Jahreszahl standen in Golddruck unter jedem. Da war,
17266
nach einem alten Ölgemälde angefertigt, das Bild Johan Buddenbrooks, des
17267
Gründers, ein langer und ernster alter Herr, der mit festgeschlossenen
17268
Lippen streng und willensfest über sein Jabot hinwegblickte; da war das
17269
breite und joviale Angesicht Johann Buddenbrooks, Jean Jacques
17270
Hoffstedes Freund; da hielt, mit seinem in die Vatermörder geschobenen
17271
Kinn, seinem breiten und faltigen Munde und seiner großen, stark
17272
gebogenen Nase, der Konsul Johann Buddenbrook die geistvollen, von
17273
religiöser Schwärmerei sprechenden Augen auf den Beschauer gerichtet;
17274
und endlich war da Thomas Buddenbrook selbst, in etwas jüngeren Jahren
17275
... Eine stilisierte, goldene Kornähre zog sich zwischen den Bildern
17276
hin, unter denen, ebenfalls in Golddruck, die Zahlen 1768 und 1868
17277
bedeutsam nebeneinander prangten. Zu Häupten des Ganzen aber war in
17278
hohen gotischen Lettern und in der Schreibart dessen, der ihn seinen
17279
Nachfahren überliefert, der Spruch zu lesen: »Mein Sohn, sey mit Lust
17280
bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht
17281
ruhig schlafen können.«
17283
Die Hände auf dem Rücken betrachtete der Senator die Tafel längere Zeit.
17285
»Ja, ja«, sagte er plötzlich mit ziemlich spöttischem Akzent, »eine
17286
ungestörte Nachtruhe ist eine gute Sache ...« Dann, ernst, wenn auch ein
17287
wenig flüchtig, sagte er an alle Anwesenden gewandt: »Ich dank' euch
17288
herzlich, meine Lieben! Das ist ein sehr schönes und sinniges
17289
Geschenk!... Was meint ihr -- wohin hängen wir es? Ins Privatkontor?«
17291
»Ja, Tom, über deinen Schreibtisch im Privatkontor!« antwortete Frau
17292
Permaneder und umarmte ihren Bruder; dann zog sie ihn in den Erker und
17295
Unter dem tiefblauen Sommerhimmel flatterten die zweifarbigen Flaggen
17296
von allen Häusern -- die ganze Fischergrube hinunter, von der
17297
Breitenstraße bis zum Hafen, woselbst der »Wullenwewer« und die
17298
»Friederike Oeverdieck« ihrem Reeder zu Ehren unter vollem Wimpelschmuck
17301
»So ist die ganze Stadt!« sagte Frau Permaneder, und ihre Stimme bebte
17302
... »Ich bin schon spazieren gegangen, Tom. Auch Hagenströms haben
17303
geflaggt! Ha, sie können nicht anders ... Ich würde ihnen die Fenster
17306
Er lächelte, und sie zog ihn ins Zimmer zurück an den Tisch.
17308
»Und hier sind Telegramme, Tom ... nur die ersten, persönlichen
17309
natürlich, von der auswärtigen Familie. Die von den Geschäftsfreunden
17310
gehen ans Kontor ...«
17312
Sie öffneten ein paar Depeschen: von den Hamburgern, von den
17313
Frankfurtern, von Herrn Arnoldsen und seinen Angehörigen in Amsterdam,
17314
von Jürgen Kröger in Wismar ... Plötzlich errötete Frau Permaneder tief.
17316
»Er ist in seiner Art ein guter Mensch«, sagte sie und schob ihrem
17317
Bruder ein Telegramm zu, das sie erbrochen. Es war gezeichnet:
17320
»Aber die Zeit vergeht«, sagte der Senator und ließ den Deckel seiner
17321
Taschenuhr springen. »Ich möchte Tee trinken. Wollt ihr mir Gesellschaft
17322
leisten? Das Haus wird nachher wie ein Taubenschlag ...«
17324
Seine Gattin, der Ida Jungmann ein Zeichen gegeben hatte, hielt ihn
17327
»Einen Augenblick, Thomas ... Du weißt, Hanno muß gleich in die
17328
Privatstunde ... Er möchte dir ein Gedicht hersagen ... Komm her, Hanno.
17329
Und nun als ob niemand da wäre. Keine Aufregung!«
17331
Der kleine Johann mußte auch während der Ferien -- denn im Juli waren
17332
Sommerferien -- Privatunterricht im Rechnen nehmen, um in diesem Fache
17333
mit seiner Klasse Schritt halten zu können. Irgendwo in der Vorstadt
17334
Sankt Gertrud, in einer heißen Stube, in der es nicht zum besten roch,
17335
erwartete ihn ein Mann mit rotem Bart und unreinlichen Fingernägeln, um
17336
mit ihm dies verzweifelte Einmaleins zu exerzieren. Zuvor aber galt es,
17337
dem Papa das Gedicht aufzusagen, das Gedicht, das er mit Ida auf dem
17338
Altan in der zweiten Etage sorgfältig erlernt ...
17340
Er lehnte am Flügel, in seinem Kopenhagener Matrosenanzug mit dem
17341
breiten Leinwandkragen, dem weißen Halseinsatz und dem dicken
17342
Schifferknoten, der unter dem Kragen hervorquoll, die zarten Beine
17343
gekreuzt, Kopf und Oberkörper ein wenig abgewandt, in einer Haltung voll
17344
scheuer und unbewußter Grazie. Vor zwei oder drei Wochen war sein langes
17345
Haar ihm abgeschnitten worden, weil in der Schule nicht nur seine
17346
Kameraden, sondern auch seine Lehrer sich darüber lustig gemacht hatten.
17347
Aber auf dem Kopfe war es noch stark und weich gelockt und wuchs tief in
17348
die Schläfen und in die zarte Stirn hinein. Er hielt seine Lider
17349
gesenkt, daß die langen, braunen Wimpern auf die bläuliche Umschattung
17350
seiner Augen fielen, und seine geschlossenen Lippen waren ein wenig
17353
Er wußte wohl, was geschehen würde. Er würde weinen müssen, vor Weinen
17354
dies Gedicht nicht beenden können, bei dem sich einem das Herz
17355
zusammenzog, wie wenn am Sonntag in der Marienkirche Herr Pfühl, der
17356
Organist, die Orgel auf eine gewisse, durchdringend feierliche Weise
17357
spielte ... weinen, wie es immer geschah, wenn man von ihm verlangte,
17358
daß er sich produziere, ihn examinierte, ihn auf seine Fähigkeit und
17359
Geistesgegenwart prüfte, wie Papa das liebte. Hätte nur Mama lieber
17360
nichts von Aufregung gesagt! Es sollte eine Ermutigung sein, aber sie
17361
war verfehlt, das fühlte er. Da standen sie und sahen ihn an. Sie
17362
fürchteten und erwarteten, daß er weinen werde ... war es da möglich,
17363
=nicht= zu weinen? Er hob die Wimpern und suchte die Augen Idas, die mit
17364
ihrer Uhrkette spielte und ihm in ihrer säuerlich-biderben Art mit dem
17365
Kopfe zunickte. Ein übergroßes Bedürfnis befiel ihn, sich an sie zu
17366
schmiegen, sich von ihr fortbringen zu lassen und nichts zu hören, als
17367
ihre tiefe, beruhigende Stimme, die da sagte: Sei still, Hannochen, mein
17368
Jungchen, brauchst nichts hersagen ...
17370
»Nun, mein Sohn, laß hören«, sagte der Senator kurz. Er hatte sich in
17371
einen Lehnsessel am Tische niedergelassen und wartete. Er lächelte
17372
durchaus nicht -- heute so wenig wie sonst bei ähnlichen Gelegenheiten.
17373
Ernst, die eine Braue emporgezogen, maß er die Gestalt des kleinen
17374
Johann mit prüfendem, ja sogar kaltem Blick.
17376
Hanno richtete sich auf. Er strich mit der Hand über das glattpolierte
17377
Holz des Flügels, ließ einen scheuen Rundblick über die Anwesenden
17378
hingleiten, und ein wenig ermutigt durch die Milde, die ihm aus den
17379
Augen Großmamas und Tante Tonys entgegenleuchtete, sagte er mit leiser,
17380
ein wenig harter Stimme: »Schäfers Sonntagslied ... Von Uhland.«
17382
»Oh, mein Lieber, das ist nichts!« rief der Senator. »Man hängt dort
17383
nicht am Klavier und faltet die Hände auf dem Bauche ... Frei stehen!
17384
Frei sprechen! Das ist das Erste. Hier stelle dich mal zwischen die
17385
Portieren! Und nun den Kopf hoch ... und die Arme ruhig hängen
17388
Hanno stellte sich auf die Schwelle zum Wohnzimmer und ließ die Arme
17389
hängen. Gehorsam erhob er den Kopf, aber die Wimpern hielt er so tief
17390
gesenkt, daß nichts von seinen Augen zu sehen war. Wahrscheinlich
17391
schwammen schon Tränen darin.
17393
»Das ist der Tag des Herrn«, sagte er ganz leise, und desto stärker
17394
klang die Stimme seines Vaters, der ihn unterbrach: »Einen Vortrag
17395
beginnt man mit einer Verbeugung, mein Sohn! Und dann viel lauter. Noch
17396
einmal, bitte! `Schäfers Sonntagslied´ ...«
17398
Das war grausam, und der Senator wußte wohl, daß er dem Kinde damit den
17399
letzten Rest von Haltung und Widerstandskraft raubte. Aber der Junge
17400
sollte ihn sich nicht rauben lassen! Er sollte sich nicht beirren
17401
lassen! Er sollte Festigkeit und Männlichkeit gewinnen ... »Schäfers
17402
Sonntagslied ...!« wiederholte er unerbittlich und aufmunternd ...
17404
Aber mit Hanno war es zu Ende. Sein Kopf hing tief auf der Brust, und
17405
seine kleine Rechte, die blaß und mit bläulichen Pulsadern aus dem unten
17406
ganz engen, dunkelblauen, mit einem Anker bestickten Matrosenärmel
17407
hervorsah, zerrte krampfhaft an dem Brokatstoff der Portiere. »Ich bin
17408
allein auf weiter Flur«, sagte er noch, und dann war es endgültig aus.
17409
Die Stimmung des Verses ging mit ihm durch. Ein übergewaltiges Mitleid
17410
mit sich selbst machte, daß die Stimme ihm ganz und gar versagte, und
17411
daß die Tränen unwiderstehlich unter den Lidern hervorquollen. Eine
17412
Sehnsucht nach gewissen Nächten überkam ihn plötzlich, in denen er, ein
17413
wenig krank, mit Halsschmerzen und leichtem Fieber im Bette lag und Ida
17414
kam, um ihm zu trinken zu geben und liebevoll eine frische Kompresse auf
17415
seine Stirn zu legen ... Er beugte sich seitwärts, legte den Kopf auf
17416
die Hand, mit der er sich an der Portiere hielt, und schluchzte.
17418
»Nun, das ist kein Vergnügen!« sagte der Senator hart und gereizt und
17419
stand auf. »Worüber weinst du? Weinen könnte man darüber, daß du selbst
17420
an einem Tage, wie heute, nicht genug Energie aufbringen kannst, um mir
17421
eine Freude zu machen. Bist du denn ein kleines Mädchen? Was soll aus
17422
dir werden, wenn du so fortfährst? Gedenkst du dich später immer in
17423
Tränen zu baden, wenn du zu den Leuten sprechen sollst?...«
17425
Nie, dachte Hanno verzweifelt, nie werde ich zu den Leuten sprechen!
17427
»Überlege dir die Sache bis heute nachmittag«, schloß der Senator; und
17428
während Ida Jungmann bei ihrem Pflegling kniete, ihm die Augen trocknete
17429
und halb vorwurfsvoll, halb zärtlich tröstend auf ihn einsprach, ging er
17430
ins Eßzimmer hinüber.
17432
Während er eilig frühstückte, verabschiedeten sich die Konsulin, Tony,
17433
Klothilde und Christian von ihm. Sie sollten heute zusammen mit den
17434
Krögers, den Weinschenks und den Damen Buddenbrook hier bei Gerda zu
17435
Mittag speisen, indes der Senator wohl oder übel bei dem Diner im
17436
Ratskeller zugegen sein mußte, aber nicht so lange dort zu bleiben
17437
gedachte, als daß er nicht hoffte, die Familie abends noch in seinem
17440
Er trank an dem bekränzten Tische den heißen Tee aus der Untertasse, aß
17441
hastig ein Ei und tat auf der Treppe ein paar Züge aus der Zigarette.
17442
Grobleben, seinen wollenen Schal auch zu dieser Sommerszeit um den Hals,
17443
einen Stiefel über den linken Unterarm gezogen, die Wichsbürste in der
17444
Rechten und einen länglichen Tropfen an der Nase, kam vom Gartenflur auf
17445
die vordere Diele und trat seinem Herrn am Fuße der Haupttreppe
17446
entgegen, wo jetzt der aufrechte Braunbär mit seiner Visitkartenschale
17447
seinen Platz hatte ...
17449
»Je, Herr Senater, hunnert Jahr' ... un de Ein is arm, und de Anner is
17452
»Schön, Grobleben, is all gaut!« Und der Senator ließ ein Geldstück in
17453
die Hand mit der Wichsbürste gleiten, worauf er über die Diele und durch
17454
das Empfangskontor schritt, das ihr zunächst lag. Im Hauptkontor kam der
17455
Kassierer, ein langer Mann mit treuen Augen, ihm entgegen, um ihm in
17456
sorgfältigen Redewendungen die Glückwünsche des gesamten Personals zu
17457
übermitteln. Der Senator dankte in zwei Worten und ging an seinen Platz
17458
am Fenster. Aber kaum hatte er begonnen, einen Blick in die
17459
bereitliegenden Zeitungen zu tun und die Post zu öffnen, als an die Tür
17460
gepocht wurde, die zum vorderen Flur führte, und Gratulanten erschienen.
17462
Es war eine Abordnung der Speicher-Arbeiterschaft, sechs Männer, die
17463
breitbeinig und schwer wie Bären hereinkamen, mit ungeheurer Biederkeit
17464
ihre Mundwinkel nach unten zogen und ihre Mützen in den Händen drehten.
17465
Ihr Wortführer spie den braunen Saft seines Kautabaks in die Stube, zog
17466
seine Hose empor und redete mit wildbewegter Stimme von »hunnert Jahren«
17467
und »noch veelen hunnert Jahren« ... Der Senator stellte ihnen eine
17468
beträchtliche Lohnerhöhung für diese Woche in Aussicht und entließ sie.
17470
Steuerbeamte kamen, um im Namen des Ressorts ihren Chef zu
17471
beglückwünschen. Als sie gingen, trafen sie in der Tür mit einer Anzahl
17472
Matrosen zusammen, welche, unter der Führung zweier Steuermänner, von
17473
den beiden zur Reederei gehörigen Schiffen »Wullenwewer« und »Friederike
17474
Oeverdieck« gesandt waren, die augenblicklich im Hafen lagen. Und es kam
17475
eine Deputation der Kornträger in schwarzen Blusen, Kniehosen und
17476
Zylindern. Dazwischen meldeten sich einzelne Bürger. Schneidermeister
17477
Stuht aus der Glockengießerstraße erschien, einen schwarzen Rock über
17478
dem wollenen Hemd. Dieser oder jener Nachbar, Blumenhändler Iwersen
17479
gratulierte. Ein alter Briefträger, mit weißem Bart, Ringen in den Ohren
17480
und Triefaugen, ein origineller Kauz, den der Senator an guten Tagen auf
17481
der Straße anzureden und »Herr Oberpostmeister« zu nennen pflegte, rief
17482
schon in der Tür: »Es is nich =da=rum, Herr Senator, ick komm nich
17483
=da=rum! Ick weet wull, de Lüd vertellen sick dat all, dat hier hüt
17484
jeder wat schenkt kriegt ... öäwer dat is nicht darum ...!« Dennoch nahm
17485
er dankbar sein Geldstück entgegen ... Das fand kein Ende. Als es halb
17486
elf Uhr war, meldete das Folgmädchen, daß die Senatorin im Salon die
17487
ersten Gäste empfange.
17489
Thomas Buddenbrook verließ das Kontor und eilte die Haupttreppe hinan.
17490
Droben am Eingang zum Salon verweilte er eine halbe Minute vorm Spiegel,
17491
ordnete seine Krawatte und sog einen Augenblick den Eau-de-Cologne-Duft
17492
seines Taschentuches ein. Er war bleich, obgleich sein Körper sich in
17493
Transpiration befand; seine Hände und Füße aber waren kalt. Die Empfänge
17494
im Kontor hatten ihn beinahe schon abgenutzt ... Er atmete auf und trat
17495
ein, um in dem von Sonnenlicht erfüllten Gemach den Konsul Huneus,
17496
Holzgroßhändler und fünffacher Millionär, seine Gemahlin, ihre Tochter
17497
und deren Gatten, Herrn Senator Doktor Gieseke, zu begrüßen. Die
17498
Herrschaften waren zusammen von Travemünde hereingekommen, woselbst sie,
17499
wie mehrere der ersten Familien, die nur dem Buddenbrookschen
17500
Geschäftsjubiläum zu Ehren ihre Badekur unterbrachen, den Juli
17503
Man saß nicht drei Minuten auf den hellen, geschweiften Fauteuils
17504
beieinander, als Konsul Oeverdieck, Sohn des verstorbenen
17505
Bürgermeisters, mit seiner Gattin, der geborenen Kistenmaker, eintraf;
17506
und als Konsul Huneus sich verabschiedete, begegnete er seinem Bruder,
17507
der eine Million weniger besaß, aber dafür Senator war.
17509
Nun war der Reigen eröffnet. Die große, weiße Tür mit dem Relief von
17510
musizierenden Amoretten darüber blieb kaum einen Augenblick geschlossen
17511
und gewährte beständig den Ausblick auf das vom einfallenden Licht
17512
durchflutete Treppenhaus, sowie auf die Haupttreppe selbst, auf der sich
17513
unaufhörlich die Gäste herauf- und hinunterbewegten. Da aber der Salon
17514
geräumig war und die Gruppen, die sich bildeten, von Gesprächen
17515
zusammengehalten wurden, so waren die Kommenden weit zahlreicher als die
17516
Gehenden, und bald beschränkte man sich nicht mehr auf das Zimmer,
17517
sondern überhob das Dienstmädchen des Öffnens und Schließens der Tür,
17518
ließ sie offen und stand auch auf dem parkettierten Korridor beisammen.
17519
Schwirrendes und dröhnendes Gespräch von Damen- und Männerstimmen,
17520
Händeschütteln, Verbeugungen, Scherzworte und lautes, behagliches
17521
Lachen, das sich zwischen den Säulen des Treppenhauses emporschwingt und
17522
von der Decke, der großen Glasscheibe des »Einfallenden Lichtes«,
17523
widerhallt. Senator Buddenbrook nimmt bald zu Häupten der Treppe, bald
17524
drinnen an der Schwelle des Erkers ernst und formell gemurmelte oder
17525
kordial hervorgestoßene Glückwünsche entgegen. Bürgermeister Doktor
17526
Langhals, ein vornehm untersetzter Herr, der sein rasiertes Kinn in der
17527
weißen Binde birgt, mit kurzen, grauen Koteletts und müdem
17528
Diplomatenblick, wird mit allgemeiner Ehrerbietung empfangen. Der
17529
Weinhändler Konsul Eduard Kistenmaker nebst seiner Gattin, der geborenen
17530
Möllendorpf, sowie sein Bruder und Teilhaber Stephan, Senator
17531
Buddenbrooks treuester Anhänger und Freund, mit seiner Frau, einer
17532
außerordentlich gesunden Gutsbesitzerstochter, sind eingetroffen. Die
17533
verwitwete Senatorin Möllendorpf thront im Salon inmitten des Sofas,
17534
während ihre Kinder, Herr Konsul August Möllendorpf mit seiner Gemahlin
17535
Julchen, geborene Hagenström, soeben anlangen, ihre Gratulation
17536
erledigen und sich grüßend durch die Versammlung bewegen. Konsul Hermann
17537
Hagenström hat für seinen schweren Körper eine Stütze am Treppengeländer
17538
gefunden und plaudert, während seine platt auf der Oberlippe liegende
17539
Nase ein wenig mühsam in den rötlichen Bart hineinatmet, mit Herrn
17540
Senator Doktor Cremer, dem Polizeichef, dessen braungrau melierter
17541
Backenbart sein mit einer gewissen milden Schlauheit lächelndes Gesicht
17542
umrahmt. Staatsanwalt Doktor Moritz Hagenström, dessen schöne Gattin,
17543
die geborene Puttfarken aus Hamburg, ebenfalls anwesend ist, zeigt
17544
irgendwo lächelnd seine spitzigen, lückenhaften Zähne. Einen Augenblick
17545
sieht man, wie der alte Doktor Grabow Senator Buddenbrooks Rechte
17546
zwischen seinen beiden Händen hält, um gleich darauf vom Baumeister
17547
Voigt verdrängt zu werden. Pastor Pringsheim, in bürgerlicher Kleidung
17548
und nur durch die Länge seines Gehrockes seine Würde andeutend, kommt
17549
mit ausgebreiteten Armen und gänzlich verklärtem Angesicht die Treppe
17550
herauf. Auch Friedrich Wilhelm Marcus ist zugegen. Diejenigen Herren,
17551
die irgendeine Körperschaft, den Senat, die Bürgerschaft, die
17552
Handelskammer repräsentieren, sind im Frack erschienen. -- Halb zwölf
17553
Uhr. Die Hitze ist sehr stark geworden. Die Dame des Hauses hat sich vor
17554
einer Viertelstunde zurückgezogen ...
17556
Plötzlich wird drunten am Windfang ein stampfendes und schlürfendes
17557
Geräusch laut, wie wenn viele Leute auf einmal die Diele beträten, und
17558
gleichzeitig klingt eine lärmende und schallende Stimme auf, die das
17559
ganze Haus erfüllt ... Alles drängt zum Geländer; man staut sich auf dem
17560
ganzen Korridor, vor den Türen zum Salon, zum Eßzimmer und Rauchzimmer,
17561
und lugt hinunter. Dort unten ordnet sich eine Schar von fünfzehn oder
17562
zwanzig Männern mit Musikinstrumenten, kommandiert von einem Herrn mit
17563
brauner Perücke, grauem Schifferbart und einem künstlichen Gebiß von
17564
breiten gelben Zähnen, das er lautredend zeigt ... Was geschieht? Konsul
17565
Peter Döhlmann hält mit der Kapelle vom Stadttheater seinen Einzug!
17566
Schon steigt er selbst im Triumphe die Treppe herauf, ein Paket mit
17567
Programmen in der Hand schwingend!
17569
Und nun beginnt in dieser unmöglichen und maßlosen Akustik, in der die
17570
Töne zusammenfließen, die Akkorde einander verschlingen und sinnlos
17571
machen, und in der das überlaut knarrende Grunzen der großen Baßtrompete,
17572
in welche ein dicker Mann mit verzweifeltem Gesichtsausdruck stößt,
17573
alles übrige dominiert, das Ständchen, das man dem Hause Buddenbrook zu
17574
seinem Jubiläum bringt -- es beginnt mit dem Chorale »Nun danket alle
17575
Gott«, dem alsbald eine Paraphrase über Offenbachs »Schöne Helena«
17576
folgt, worauf zunächst ein Potpourri von Volksliedern erklingen wird
17577
... Es ist ein ziemlich umfangreiches Programm.
17579
Ein hübscher Einfall von Döhlmann! Man beglückwünscht den Konsul, und
17580
niemand ist nun geneigt, aufzubrechen, bevor das Konzert zu Ende. Man
17581
steht und sitzt im Salon und auf dem Korridor, hört zu und plaudert ...
17583
Thomas Buddenbrook hielt sich, zusammen mit Stephan Kistenmaker, Senator
17584
Doktor Gieseke und Baumeister Voigt jenseits der Haupttreppe auf, bei
17585
der äußeren Tür zum Rauchzimmer und unweit des Aufganges zur zweiten
17586
Etage. Er stand an die Wand gelehnt, warf hier und da ein Wort in das
17587
Gespräch seiner Gruppe und blickte im übrigen schweigsam über das
17588
Geländer hinweg ins Leere. Die Hitze hatte noch zugenommen, sie war noch
17589
drückender geworden; aber Regen war nun nicht mehr ausgeschlossen, denn
17590
den Schatten nach zu urteilen, die über das »Einfallende Licht«
17591
hinwegzogen, waren Wolken am Himmel. Ja, diese Schatten waren so häufig
17592
und folgten einander so schnell, daß die beständig wechselnde, zuckende
17593
Beleuchtung des Treppenhauses schließlich die Augen schmerzen machte.
17594
Jeden Augenblick erlosch der Glanz des vergoldeten Stucks, des
17595
Messingkronleuchters und der Blechinstrumente dort unten, um gleich
17596
darauf wieder aufzublitzen ... Nur einmal verweilte der Schatten ein
17597
wenig länger als gewöhnlich, und unterdessen hörte man mit leicht
17598
prasselndem Geräusch und in längeren Pausen fünf-, sechs- oder siebenmal
17599
etwas Hartes auf die Scheibe des »Einfallenden Lichtes« niederprallen:
17600
ein paar Hagelkörner ohne Zweifel. Dann erfüllte wieder Sonnenlicht das
17601
Haus von oben bis unten.
17603
Es gibt einen Zustand der Depression, in dem alles, was uns unter
17604
normalen Umständen ärgert und eine gesunde Reaktion unseres Unwillens
17605
hervorruft, uns mit einem matten, dumpfen und schweigsamen Grame
17606
niederdrückt ... So grämte Thomas sich über das Benehmen des kleinen
17607
Johann, so grämte er sich über die Empfindungen, die diese ganze
17608
Feierlichkeit in ihm bewirkte, und noch mehr über diejenigen, deren er
17609
sich beim besten Willen unfähig fühlte. Mehrere Male versuchte er sich
17610
aufzuraffen, seinen Blick zu erhellen und sich zu sagen, daß dies ein
17611
schöner Tag sei, der ihn notwendig mit gehobener und freudiger Stimmung
17612
erfüllen müsse. Aber, obgleich der Lärm der Instrumente, das
17613
Stimmengewirr und der Anblick der vielen Menschen seine Nerven
17614
erschütterten und zusammen mit der Erinnerung an die Vergangenheit, an
17615
seinen Vater, oftmals eine schwache Rührung in ihm aufsteigen ließen, so
17616
überwog doch der Eindruck des Lächerlichen und Peinlichen, das für ihn
17617
dem Ganzen anhaftete, dieser minderwertigen, akustisch verzerrten Musik,
17618
dieser banalen, von Kursen und Diners schwatzenden Versammlung ... und
17619
dieses Gemisch von Rührung und Widerwillen gerade versetzte ihn in eine
17620
matte Verzweiflung ...
17622
Um 12¼ Uhr, als das Programm des Stadttheater-Orchesters anfing, seinem
17623
Ende entgegenzugehen, trat ein Zwischenfall ein, der die herrschende
17624
Festlichkeit in keiner Weise berührte oder unterbrach, der aber, seinem
17625
geschäftlichen Charakter zufolge, den Hausherrn nötigte, seine Gäste für
17626
kurze Minuten zu verlassen. Die Haupttreppe herauf nämlich kam, als die
17627
Musik eben pausierte, in völliger Verwirrung ob der vielen Herrschaften,
17628
der jüngste Lehrling des Kontors, ein kleiner, stark verwachsener
17629
Mensch, der seinen schamroten Kopf noch tiefer als nötig zwischen den
17630
Schultern trug, den einen seiner unnatürlich langen, dünnen Arme in
17631
übertriebener Weise hin und her schlenkerte, um sich das Ansehen
17632
zuversichtlicher Lässigkeit zu geben, und mit dem anderen ein gefaltetes
17633
Papier vor sich her trug, ein Telegramm. Im Heraufsteigen suchte er mit
17634
scheu umherspringenden Blicken nach seinem Chef, und als er ihn dort
17635
drüben entdeckt hatte, wand er sich mit hastig gemurmelten
17636
Entschuldigungen durch die Menge der Gäste, die ihm den Weg versperrte.
17638
Seine Verschämtheit war ganz überflüssig, denn niemand achtete seiner.
17639
Ohne ihn anzusehen, und indem man fortfuhr, zu plaudern, machte man ihm
17640
mit einer kleinen Bewegung Platz und bemerkte kaum mit einem flüchtigen
17641
Blick, daß er dem Senator Buddenbrook das Telegramm mit einem Bückling
17642
überreichte, und daß dieser hierauf von Kistenmaker, Gieseke und Voigt
17643
weg mit ihm beiseite trat, um zu lesen. Auch heute, da doch die weitaus
17644
meisten Drahtnachrichten in bloßen Glückwünschen bestanden, mußte
17645
während der Geschäftszeit jede Depesche sofort und unter allen Umständen
17648
Beim Aufgang zur zweiten Etage bildete der Korridor ein Knie, um sich
17649
nun in der Richtung der Saallänge bis zur Gesindetreppe hinzuziehen, bei
17650
der sich ein Nebeneingang zum Saale befand. Der Treppe zum zweiten
17651
Stockwerk gegenüber war die Öffnung zum Schacht der Winde, mit der die
17652
Speisen aus der Küche heraufbefördert wurden, und dabei stand an der
17653
Wand ein größerer Tisch, an welchem das Folgmädchen Silberzeug zu putzen
17654
pflegte. Hier blieb der Senator stehen, indem er dem buckligen Lehrling
17655
den Rücken zuwandte, und erbrach die Depesche.
17657
Plötzlich erweiterten sich seine Augen so sehr, daß jeder, der es
17658
gesehen hätte, entsetzt zurückgefahren wäre, und mit einem einzigen,
17659
kurzen, krampfhaften Ruck zog er die Luft so heftig ein, daß sie im Nu
17660
seine Kehle austrocknete und ihn husten machte.
17662
Er vermochte zu sagen: »Es ist gut.« Aber das Stimmengeräusch hinter ihm
17663
machte ihn unverständlich. »Es ist gut«, wiederholte er; aber nur die
17664
beiden ersten Wörter hatten Ton; das letzte war ein Flüstern.
17666
Da der Senator sich nicht bewegte, sich nicht umwandte, nicht einmal
17667
andeutungsweise eine Bewegung rückwärts machte, so wiegte der bucklige
17668
Lehrling sich noch einen Augenblick unsicher und zögernd von einem Fuß
17669
auf den andern. Dann vollführte er abermals seinen bizarren Bückling und
17670
begab sich die Gesindetreppe hinunter.
17672
Senator Buddenbrook blieb an dem Tische stehen. Seine Hände, in denen er
17673
die entfaltete Depesche hielt, hingen schlaff vor ihm nieder, und
17674
während er noch immer mit halb offenem Munde kurz, mühsam und schnell
17675
atmete, wobei sein Oberkörper sich arbeitend vor- und rückwärts bewegte,
17676
schüttelte er, verständnislos und wie vom Schlage gerührt, unaufhörlich
17677
seinen Kopf hin und her. »Das bißchen Hagel ... das bißchen Hagel ...«
17678
wiederholte er sinnlos. Dann aber ward sein Atem tiefer und ruhiger, die
17679
Bewegung seines Körpers langsamer; seine halbgeschlossenen Augen
17680
verschleierten sich mit einem müden und fast gebrochenen Ausdruck, und
17681
mit schwerem Kopfnicken wandte er sich zur Seite.
17683
Er öffnete die Tür zum Saale und trat ein. Langsam, gesenkten Hauptes,
17684
schritt er über die spiegelnde Fußbodenfläche des weiten Raumes und
17685
ließ sich ganz hinten am Fenster auf einem der dunkelroten Ecksofas
17686
nieder. Es war still und kühl hier. Man vernahm das Plätschern des
17687
Springbrunnens im Garten, eine Fliege stieß summend gegen die
17688
Fensterscheibe, und nur ein gedämpftes Geräusch drang vom Vorplatze zu
17691
Er legte ermattet den Kopf auf das Polster und schloß die Augen. »Es ist
17692
gut so, es ist gut so«, murmelte er halblaut; und dann, ausatmend,
17693
befriedigt, befreit, wiederholte er noch einmal: »Es ist ganz gut so!«
17695
Mit gelösten Gliedern und friedevollem Gesichtsausdruck ruhte er fünf
17696
Minuten lang. Dann richtete er sich auf, faltete das Telegramm zusammen,
17697
schob es in die Brusttasche seines Rockes und stand auf, um zu seinen
17700
Aber in demselben Augenblick sank er mit einem Ächzen des Ekels auf das
17701
Polster zurück. Die Musik ... die Musik setzte wieder ein, mit einem
17702
albernen Lärm, der einen Galopp bedeuten sollte und in welchem Pauke und
17703
Becken einen Rhythmus markierten, den die übrigen voreilig und verspätet
17704
ineinander hallenden Schallmassen nicht innehielten, einem
17705
aufdringlichen und in seiner naiven Unbefangenheit unerträglich
17706
aufreizenden Tohuwabohu von Knarren, Schmettern und Quinquilieren,
17707
zerrissen von den aberwitzigen Pfiffen der Pikkoloflöte. --
17712
»O Bach! Sebastian Bach, verehrteste Frau!« rief Herr Edmund Pfühl,
17713
Organist von Sankt Marien, der in großer Bewegung den Salon
17714
durchschritt, während Gerda lächelnd, den Kopf in die Hand gestützt, am
17715
Flügel saß, und Hanno, lauschend in einem Sessel, eins seiner Knie mit
17716
beiden Händen umspannte ... »Gewiß ... wie Sie sagen ... er ist es,
17717
durch den das Harmonische über das Kontrapunktische den Sieg
17718
davongetragen hat ... er hat die moderne Harmonik erzeugt, gewiß! Aber
17719
wodurch? Muß ich Ihnen sagen, wodurch? Durch die vorwärtsschreitende
17720
Entwicklung des kontrapunktischen Stiles -- Sie wissen es so gut wie
17721
ich! Was also ist das treibende Prinzip dieser Entwicklung gewesen? Die
17722
Harmonik? O nein! Keineswegs! Sondern die Kontrapunktik, verehrteste
17723
Frau! Die Kontrapunktik!... Wozu, frage ich Sie, hätten wohl die
17724
absoluten Experimente der Harmonik geführt? Ich warne ... solange meine
17725
Zunge mir gehorcht, warne ich vor den bloßen Experimenten der Harmonik!«
17727
Sein Eifer war groß bei solchen Gesprächen, und er ließ ihm freien Lauf,
17728
denn er fühlte sich zu Hause in diesem Salon. Jeden Mittwoch, am
17729
Nachmittage, erschien seine große, vierschrötige und ein wenig
17730
hochschultrige Gestalt, in einem kaffeebraunen Leibrock, dessen Schöße
17731
die Kniekehlen bedeckten, auf der Schwelle, und in Erwartung seiner
17732
Partnerin öffnete er liebevoll den Bechstein-Flügel, ordnete die
17733
Violinstimmen auf dem geschnitzten Stehpult und präludierte dann einen
17734
Augenblick leicht und kunstvoll, indem er seinen Kopf wohlgefällig von
17735
einer Schulter auf die andere sinken ließ.
17737
Ein erstaunlicher Haarwuchs, eine verwirrende Menge von kleinen, festen,
17738
fuchsbraun und graumelierten Löckchen ließ diesen Kopf ungewöhnlich dick
17739
und schwer erscheinen, obgleich er frei auf dem langen, mit einem sehr
17740
großen Kehlkopfknoten versehenen Halse thronte, der aus dem Klappkragen
17741
hervorragte. Der unfrisierte, gebauschte Schnurrbart, von der Farbe des
17742
Haupthaares, trat weiter aus dem Gesichte hervor, als die kleine,
17743
gedrungene Nase ... Unter seinen runden Augen, die braun und blank
17744
waren, und deren Blick beim Musizieren die Dinge träumerisch zu
17745
durchschauen und jenseits ihrer Erscheinung zu ruhen schien, war die
17746
Haut ein wenig beutelartig geschwollen ... Dies Gesicht war nicht
17747
bedeutend, es trug zum mindesten nicht den Stempel einer starken und
17748
wachen Intelligenz. Seine Lider waren meist halb gesenkt, und oft hing
17749
sein rasiertes Kinn, ohne daß sich doch die Unterlippe von der oberen
17750
trennte, schlaff und willenlos abwärts, was dem Munde einen weichen,
17751
innig verschlossenen, stupiden und hingebenden Ausdruck verlieh, wie ihn
17752
derjenige eines süß Schlummernden zeigt ...
17754
Übrigens kontrastierte mit dieser Weichheit seines äußeren Wesens ganz
17755
seltsam die Strenge und Würde seines Charakters. Edmund Pfühl war ein
17756
weithin hochgeschätzter Organist, und der Ruf seiner kontrapunktischen
17757
Gelehrsamkeit hatte sich nicht innerhalb der Mauern seiner Vaterstadt
17758
gehalten. Das kleine Buch über die Kirchentonarten, das er hatte drucken
17759
lassen, wurde an zwei oder drei Konservatorien zum Privatstudium
17760
empfohlen, und seine Fugen und Choralbearbeitungen wurden hie und da
17761
gespielt, wo zu Gottes Ehre eine Orgel erklang. Diese Kompositionen,
17762
sowie auch die Phantasien, die er Sonntags in der Marienkirche zum
17763
besten gab, waren unangreifbar, makellos, erfüllt von der
17764
unerbittlichen, imposanten, moralisch-logischen Würde des Strengen
17765
Satzes. Ihr Wesen war fremd aller irdischen Schönheit, und was sie
17766
ausdrückten, berührte keines Laien rein menschliches Empfinden. Es
17767
sprach aus ihnen, es triumphierte sieghaft in ihnen die zur asketischen
17768
Religion gewordene Technik, das zum Selbstzweck, zur absoluten
17769
Heiligkeit erhobene Können. Edmund Pfühl dachte gering von aller
17770
Wohlgefälligkeit und sprach ohne Liebe von der schönen Melodie, das ist
17771
wahr. Aber so rätselhaft es sein mag: dennoch war er kein trockener
17772
Mensch und kein verknöcherter Gesell. »Palestrina!« sagte er mit einer
17773
kategorischen und furchteinflößenden Miene. Aber gleich darauf, während
17774
er am Instrumente eine Reihe von archaistischen Kunststücken ertönen
17775
ließ, war sein Gesicht eitel Weichheit, Entrücktheit und Schwärmerei,
17776
und als sähe er die letzte Notwendigkeit alles Geschehens unmittelbar an
17777
der Arbeit, ruhte sein Blick in einer heiligen Ferne ... Dieser
17778
Musikantenblick, der vag und leer erscheint, weil er in dem Reiche einer
17779
tieferen, reineren, schlackenloseren und unbedingteren Logik weilt, als
17780
dem unserer sprachlichen Begriffe und Gedanken.
17782
Seine Hände waren groß, weich, scheinbar knochenlos und mit
17783
Sommersprossen bedeckt -- und weich und hohl, gleichsam als stäke ein
17784
Bissen in seiner Speiseröhre, war die Stimme, mit welcher er Gerda
17785
Buddenbrook begrüßte, wenn sie die Portieren zurückschlug und vom
17786
Wohnzimmer aus eintrat: »Ihr Diener, gnädige Frau!«
17788
Während er sich ein wenig von dem Sessel erhob und mit gesenktem Kopfe
17789
ehrerbietig die Hand entgegennahm, die sie ihm reichte, ließ er mit der
17790
Linken schon fest und klar die Quinten erklingen, worauf Gerda die
17791
Stradivari ergriff und rasch, mit sicherem Gehör die Saiten stimmte.
17793
»Das _G_-Moll-Konzert von Bach, Herr Pfühl. Mich dünkt, das ganze Adagio
17794
ging noch ziemlich mangelhaft ...«
17796
Und der Organist intonierte. Kaum aber waren die ersten Akkorde einander
17797
gefolgt, so pflegte es zu geschehen, daß langsam, ganz vorsichtig die
17798
Tür zum Korridor geöffnet ward und mit lautloser Behutsamkeit der kleine
17799
Johann über den Teppich zu einem Lehnsessel schlich. Dort ließ er sich
17800
nieder, umfaßte seine Knie mit beiden Händen, verhielt sich still und
17801
lauschte: auf die Klänge sowohl, wie auf das, was gesprochen wurde.
17803
»Nun, Hanno, ein bißchen Musik naschen?« fragte Gerda in einer Pause und
17804
ließ ihre nahe beieinander liegenden, umschatteten Augen, in denen das
17805
Spiel einen feuchten Glanz entzündet hatte, zu ihm hinübergleiten ...
17807
Dann stand er auf und reichte mit einer stummen Verbeugung Herrn Pfühl
17808
die Hand, der sacht und liebevoll über Hannos hellbraunes Haar strich,
17809
das sich so weich und graziös um Stirn und Schläfen schmiegte.
17811
»Horche du nur, mein Sohn!« sagte er mit mildem Nachdruck, und das Kind
17812
betrachtete ein wenig scheu des Organisten großen, beim Sprechen in die
17813
Höhe wandernden Kehlkopfapfel, worauf es sich leise und schnell an
17814
seinen Platz zurückbegab, als könne es die Fortsetzung des Spieles und
17815
der Gespräche kaum erwarten.
17817
Ein Satz Haydn, einige Seiten Mozart, eine Sonate von Beethoven wurden
17818
durchgeführt. Dann jedoch, während Gerda, die Geige unterm Arm, neue
17819
Noten herbeisuchte, geschah das Überraschende, daß Herr Pfühl, Edmund
17820
Pfühl, Organist an Sankt Marien, mit seinem freien Zwischenspiel
17821
allgemach in einen sehr seltsamen Stil hinüberglitt, wobei in seinem
17822
fernen Blick eine Art verschämten Glückes erglänzte ... Unter seinen
17823
Fingern hub ein Schwellen und Blühen, ein Weben und Singen an, aus
17824
welchem sich, leise zuerst und wieder verwehend, dann immer klarer und
17825
markiger, in kunstvoller Kontrapunktik ein altväterisch grandioses,
17826
wunderlich pomphaftes Marschmotiv hervorhob ... Eine Steigerung, eine
17827
Verschlingung, ein Übergang ... und mit der Auflösung setzte im
17828
_fortissimo_ die Violine ein. Das Meistersinger-Vorspiel zog vorüber.
17830
Gerda Buddenbrook war eine leidenschaftliche Verehrerin der neuen Musik.
17831
Was aber Herrn Pfühl betraf, so war sie bei ihm auf einen so wild
17832
empörten Widerstand gestoßen, daß sie anfangs daran verzweifelt hatte,
17833
ihn für sich zu gewinnen.
17835
Am Tage, da sie ihm zum ersten Male Klavierauszüge aus »Tristan und
17836
Isolde« aufs Pult gelegt und ihn gebeten hatte, ihr vorzuspielen, war er
17837
nach fünfundzwanzig Takten aufgesprungen und mit allen Anzeichen des
17838
äußersten Ekels zwischen Erker und Flügel hin und wider geeilt.
17840
»Ich spiele dies nicht, gnädige Frau, ich bin Ihr ergebenster Diener,
17841
aber ich spiele dies nicht! Das ist keine Musik ... glauben Sie mir doch
17842
... ich habe mir immer eingebildet, ein wenig von Musik zu verstehen!
17843
Dies ist das Chaos! Dies ist Demagogie, Blasphemie und Wahnwitz! Dies
17844
ist ein parfümierter Qualm, in dem es blitzt! Dies ist das Ende aller
17845
Moral in der Kunst! Ich spiele es nicht!« Und mit diesen Worten hatte er
17846
sich wieder auf den Sessel geworfen und, während sein Kehlkopf auf und
17847
nieder wanderte, unter Schlucken und hohlem Husten weitere
17848
fünfundzwanzig Takte hervorgebracht, um dann das Klavier zu schließen
17851
»Pfui! Nein, Herr du mein Gott, dies geht zu weit! Verzeihen Sie mir,
17852
verehrteste Frau, ich rede offen ... Sie honorieren mich, Sie bezahlen
17853
mich seit Jahr und Tag für meine Dienste ... und ich bin ein Mann in
17854
bescheidener Lebenslage. Aber ich lege mein Amt nieder, ich verzichte
17855
darauf, wenn Sie mich zu diesen Ruchlosigkeiten zwingen ...! Und das
17856
Kind, dort sitzt das Kind auf seinem Stuhle! Es ist leise
17857
hereingekommen, um Musik zu hören! Wollen Sie seinen Geist denn ganz und
17858
gar vergiften?« ...
17860
Aber so fürchterlich er sich gebärdete, -- langsam und Schritt für
17861
Schritt, durch Gewöhnung und Zureden, zog sie ihn zu sich herüber.
17863
»Pfühl«, sagte sie, »seien Sie billig und nehmen Sie die Sache mit Ruhe.
17864
Seine ungewohnte Art im Gebrauch der Harmonien verwirrt Sie ... Sie
17865
finden, im Vergleich damit, Beethoven rein, klar und natürlich. Aber
17866
bedenken Sie, wie Beethoven seine nach alter Weise gebildeten
17867
Zeitgenossen aus der Fassung gebracht hat ... und Bach selbst, mein
17868
Gott, man warf ihm Mangel an Wohlklang und Klarheit vor!... Sie sprechen
17869
von Moral ... aber was verstehen Sie unter Moral in der Kunst? Wenn ich
17870
nicht irre, ist sie der Gegensatz zu allem Hedonismus? Nun gut, den
17871
haben Sie hier. So gut wie bei Bach. Großartiger, bewußter, vertiefter
17872
als bei Bach. Glauben Sie mir, Pfühl, diese Musik ist Ihrem innersten
17873
Wesen weniger fremd, als Sie annehmen!«
17875
»Gaukelei und Sophismen -- um Vergebung«, murrte Herr Pfühl. Aber sie
17876
behielt recht: diese Musik war ihm im Grunde weniger fremd, als er
17877
anfangs glaubte. Zwar mit dem Tristan söhnte er sich niemals vollständig
17878
aus, obgleich er Gerdas Bitte, den »Liebestod« für Violine und
17879
Pianoforte zu setzen, schließlich mit vielem Geschick erfüllte. Gewisse
17880
Partien der »Meistersinger« waren es, für die er zuerst ein oder das
17881
andere Wort der Anerkennung fand ... und nun begann unwiderstehlich
17882
erstarkend die Liebe zu dieser Kunst sich in ihm zu regen. Er gestand
17883
sie nicht, er erschrak fast darüber und verleugnete sie mit Murren. Aber
17884
seine Partnerin brauchte nun nicht mehr in ihn zu dringen, damit er,
17885
hatten die alten Meister ihr Recht erhalten, seine Griffe kompliziere
17886
und, mit jenem Ausdrucke eines verschämten und fast ärgerlichen Glückes
17887
im Blick, in das Leben und Weben der Leitmotive hinüberführe. Nach dem
17888
Spiele aber entspann sich vielleicht eine Auseinandersetzung über die
17889
Beziehungen dieses Kunststiles zu dem des Strengen Satzes, und eines
17890
Tages erklärte Herr Pfühl, er sähe sich, obgleich das Thema ihn
17891
persönlich ja nicht berühre, nun doch verpflichtet, seinem Buche über
17892
den Kirchenstil einen Anhang ȟber die Anwendung der alten Tonarten in
17893
Richard Wagners Kirchen- und Volksmusik« hinzuzufügen.
17895
Hanno saß ganz still, die kleinen Hände um sein Knie gefaltet und, wie
17896
er zu tun pflegte, die Zunge an einem Backenzahn scheuernd, wodurch sein
17897
Mund ein wenig verzogen wurde. Mit großen, unverwandten Augen
17898
beobachtete er seine Mutter und Herrn Pfühl. Er lauschte auf ihr Spiel
17899
und auf ihre Gespräche, und so geschah es, daß, nach den ersten
17900
Schritten, die er auf seinem Lebenswege getan, er der Musik als einer
17901
außerordentlich ernsten, wichtigen und tiefsinnigen Sache gewahr wurde.
17902
Kaum hie und da verstand er ein Wort von dem, was gesprochen wurde, und
17903
was erklang, ging meist weit über sein kindliches Verständnis hinaus.
17904
Wenn er dennoch immer wiederkam und ohne sich zu langweilen Stunde für
17905
Stunde reglos an seinem Platze ausharrte, so waren es Glaube, Liebe und
17906
Ehrfurcht, die ihn dazu vermochten.
17908
Er war erst sieben Jahre alt, als er mit Versuchen begann, gewisse
17909
Klangverbindungen, die Eindruck auf ihn gemacht, auf eigene Hand am
17910
Flügel zu wiederholen. Seine Mutter sah ihm lächelnd zu, verbesserte
17911
seine mit stummem Eifer zusammengesuchten Griffe und unterwies ihn
17912
darin, warum gerade dieser Ton nicht fehlen dürfe, damit sich aus diesem
17913
Akkord der andere ergäbe. Und sein Gehör bestätigte ihm, was sie ihm
17916
Nachdem Gerda Buddenbrook ihn ein wenig hatte gewähren lassen, beschloß
17917
sie, daß er Klavierunterricht bekommen sollte.
17919
»Ich glaube, er inkliniert nicht zum Solistentum«, sagte sie zu Herrn
17920
Pfühl, »und ich bin eigentlich froh darüber, denn es hat seine
17921
Schattenseiten. Ich rede nicht über die Abhängigkeit des Solisten von
17922
der Begleitung, obgleich sie unter Umständen sehr empfindlich werden
17923
kann, und wenn ich Sie nicht hätte ... Aber dann besteht immer die
17924
Gefahr, daß man in mehr oder minder vollendetes Virtuosentum gerät ...
17925
Sehen Sie, ich weiß ein Lied davon zu singen. Ich bekenne Ihnen offen,
17926
ich bin der Ansicht, daß für den Solisten eigentlich die Musik erst mit
17927
einem sehr hohen Grade von Können beginnt. Die angestrengte
17928
Konzentration auf die Oberstimme, ihre Phrasierung und Tonbildung, wobei
17929
die Polyphonie nur als etwas sehr Vages und Allgemeines zum Bewußtsein
17930
kommt, kann bei mittelmäßig Begabten ganz leicht eine Verkümmerung des
17931
harmonischen Sinnes und des Gedächtnisses für Harmonien zur Folge haben,
17932
die später schwer zu korrigieren ist. Ich liebe meine Geige und habe es
17933
ziemlich weit mit ihr gebracht, aber eigentlich steht das Klavier mir
17934
höher ... Ich sage nur dies: die Vertrautheit mit dem Klavier, als mit
17935
einem Mittel, die vielfältigsten und reichsten Tongebilde zu resümieren,
17936
einem unübertrefflichen Mittel zur musikalischen Reproduktion, bedeutet
17937
für mich ein intimeres, klareres und umfassenderes Verhältnis zur Musik
17938
... Hören Sie, Pfühl, ich möchte Sie gleich selbst für ihn in Anspruch
17939
nehmen, seien Sie so gut! Ich weiß wohl, es gibt hier in der Stadt noch
17940
zwei oder drei Leute -- ich glaube, weiblichen Geschlechts --, die
17941
Unterricht geben; aber das sind eben Klavierlehrerinnen ... Sie
17942
verstehen mich ... Es kommt so wenig darauf an, auf ein Instrument
17943
dressiert zu werden, sondern vielmehr darauf, ein wenig von Musik zu
17944
verstehen, nicht wahr?... Auf Sie verlasse ich mich. Sie nehmen die
17945
Sache ernster. Und Sie sollen sehen, Sie werden ganz guten Erfolg mit
17946
ihm haben. Er hat die Buddenbrookschen Hände ... Die Buddenbrooks können
17947
alle Nonen und Dezimen greifen. -- Aber sie haben noch niemals Gewicht
17948
darauf gelegt«, schloß sie lachend, und Herr Pfühl erklärte sich bereit,
17949
den Unterricht zu übernehmen.
17951
Von nun an kam er auch am Montagnachmittag, um sich, während Gerda im
17952
Wohnzimmer saß, mit dem kleinen Johann zu beschäftigen. Er ging in nicht
17953
gewöhnlicher Art dabei vor, denn er fühlte, daß er dem stummen und
17954
leidenschaftlichen Eifer des Kindes mehr schuldig war, als es ein
17955
bißchen auf dem Klavier spielen zu lehren. Kaum war das Erste und
17956
Elementarste überwunden, als er schon anfing, in leicht faßlicher Form
17957
zu theoretisieren und seinen Schüler die Grundlagen der Harmonielehre
17958
sehen zu lassen. Und Hanno verstand; denn man bestätigte ihm nur, was er
17959
eigentlich von jeher schon gewußt hatte.
17961
Soweit wie nur immer möglich, trug Herr Pfühl dem sehnsüchtigen
17962
Vorwärtsdrängen des Kindes Rechnung. Mit liebevoller Sorgfalt war er
17963
darauf bedacht, die Bleigewichte zu erleichtern, mit denen die Materie
17964
die Füße der Phantasie und des eifernden Talentes beschwert. Er
17965
verlangte nicht allzu streng eine große Fingerfertigkeit beim Üben der
17966
Tonleitern, oder sie war ihm doch nicht der Zweck dieser Übungen. Was er
17967
bezweckte und schnell erreichte, war vielmehr eine klare, umfassende und
17968
eindringliche Übersicht über alle Tonarten, eine innere und
17969
überblickende Vertrautheit mit ihren Verwandtschaften und Verbindungen,
17970
aus welcher nach gar nicht langer Zeit sich jener rasche Blick für viele
17971
Kombinationsmöglichkeiten, jenes intuitive Herrschaftsgefühl über die
17972
Klaviatur ergab, das zur Phantasie und Improvisation verführt ... Mit
17973
einer rührenden Feinfühligkeit würdigte er die geistigen Bedürfnisse
17974
dieses kleinen, vom Hören verwöhnten Schülers, die auf einen ernsten
17975
Stil gerichtet waren. Er ernüchterte die Tiefe und Feierlichkeit seiner
17976
Stimmung nicht mit dem Üben banaler Liedchen. Er ließ ihn Choräle
17977
spielen und ließ keinen Akkord sich aus dem anderen ergeben, ohne auf
17978
die Gesetzmäßigkeit dieses Ergebnisses hinzuweisen.
17980
Bei ihrer Stickerei oder ihrem Buche verfolgte Gerda jenseits der
17981
Portieren den Gang des Unterrichtes.
17983
»Sie übertreffen alle meine Erwartungen«, sagte sie gelegentlich zu
17984
Herrn Pfühl. »Aber gehen Sie nicht zu weit? Gehen Sie nicht zu
17985
außerordentlich vor? Ihre Methode ist, wie mir scheint, eminent
17986
schöpferisch ... Manchmal fängt er wahrhaftig schon mit Versuchen an, zu
17987
phantasieren. Aber wenn er Ihre Methode nicht verdient, wenn er nicht
17988
begabt genug dafür ist, so lernt er gar nichts ...«
17990
»Er verdient sie«, sagte Herr Pfühl und nickte. »Manchmal betrachte ich
17991
seine Augen ... es liegt so vieles darin, aber seinen Mund hält er
17992
verschlossen. Später einmal im Leben, das vielleicht seinen Mund immer
17993
fester verschließen wird, muß er eine Möglichkeit haben, zu reden ...«
17995
Sie sah ihn an, diesen vierschrötigen Musikanten mit seiner
17996
Fuchsperücke, seinen Beuteln unter den Augen, seinem gebauschten
17997
Schnurrbart und seinem großen Kehlkopf -- und dann reichte sie ihm die
17998
Hand und sagte: »Haben Sie Dank, Pfühl. Sie meinen es gut, und wir
17999
können noch gar nicht wissen, wieviel Sie an ihm tun.« --
18001
Und Hannos Dankbarkeit für diesen Lehrer, seine Hingabe an seine
18002
Führerschaft war ohnegleichen. Er, der trotz aller Nachhilfestunden in
18003
der Schule dumpf und ohne Hoffnung auf Verständnis über seiner
18004
Rechentafel brütete, er begriff am Flügel alles, was Herr Pfühl ihm
18005
sagte, er begriff es und eignete es sich an, wie man nur das sich
18006
aneignen kann, was einem schon von jeher gehört hat. Edmund Pfühl aber,
18007
in seinem braunen Schoßrock, erschien ihm wie ein großer Engel, der ihn
18008
jeden Montag Nachmittag in die Arme nahm, um ihn aus aller alltäglichen
18009
Misere in das klingende Reich eines milden, süßen und trostreichen
18010
Ernstes zu entführen ...
18012
Manchmal fand der Unterricht in Herrn Pfühls Hause statt, einem
18013
geräumigen alten Giebelhause mit vielen kühlen Gängen und Winkeln, das
18014
der Organist ganz allein mit einer alten Wirtschafterin bewohnte.
18015
Manchmal auch, am Sonntag, durfte der kleine Buddenbrook dem
18016
Gottesdienst in der Marienkirche droben an der Orgel beiwohnen, und das
18017
war etwas anderes als unten mit den anderen Leuten im Schiff zu sitzen.
18018
Hoch über der Gemeinde, hoch noch über Pastor Pringsheim auf seiner
18019
Kanzel saßen die beiden inmitten des Brausens der gewaltigen
18020
Klangmassen, die sie gemeinsam entfesselten und beherrschten, denn mit
18021
glückseligem Eifer und Stolz durfte Hanno seinem Lehrer manchmal beim
18022
Handhaben der Register behilflich sein. Wenn aber das Nachspiel zum
18023
Chorgesang zu Ende war, wenn Herr Pfühl langsam alle Finger von den
18024
Tasten gelöst hatte und nur den Grund- und Baßton noch leise und
18025
feierlich hatte verhallen lassen -- wenn dann nach einer stimmungsvollen
18026
Kunstpause unter dem Schalldeckel der Kanzel Pastor Pringsheims
18027
modulierende Stimme hervorzudringen begann, so geschah es gar nicht
18028
selten, daß Herr Pfühl ganz einfach sich über die Predigt zu mokieren,
18029
über Pastor Pringsheims stilisiertes Fränkisch, seine langen, dunklen
18030
oder scharf akzentuierten Vokale, seine Seufzer und den jähen Wechsel
18031
zwischen Finsternis und Verklärung auf seinem Angesicht zu lachen
18032
anfing. Dann lachte auch Hanno, leise und tiefbelustigt, denn ohne sich
18033
anzusehen und ohne es sich zu sagen, waren die beiden dort oben der
18034
Ansicht, daß diese Predigt ein ziemlich albernes Geschwätz und der
18035
eigentliche Gottesdienst vielmehr das sei, was der Pastor und seine
18036
Gemeinde wohl nur für eine Beigabe zur Erhöhung der Andacht hielten:
18039
Ja, das geringe Verständnis, das er unten im Schiff, unter diesen
18040
Senatoren, Konsuln und Bürgern und ihren Familien, für seine Leistungen
18041
vorhanden wußte, war Herrn Pfühls beständige Kümmernis, und eben darum
18042
hatte er gern seinen kleinen Schüler bei sich, den er wenigstens leise
18043
darauf aufmerksam machen konnte, daß das, was er soeben gespielt, etwas
18044
außerordentlich Schwieriges gewesen sei. Er erging sich in den
18045
sonderbarsten technischen Unternehmungen. Er hatte eine »rückgängige
18046
Imitation« angefertigt, eine Melodie komponiert, welche vorwärts und
18047
rückwärts gelesen gleich war, und hierauf eine ganze »krebsgängig« zu
18048
spielende Fuge gegründet. Als er fertig war, legte er mit trübem
18049
Gesichtsausdruck die Hände in den Schoß. »Es merkt es niemand«, sagte er
18050
mit hoffnungslosem Kopfschütteln. Und dann flüsterte er, während Pastor
18051
Pringsheim predigte: »Das war eine krebsgängige Imitation, Johann. Du
18052
weißt noch nicht, was das ist ... es ist die Nachahmung eines Themas von
18053
hinten nach vorn, von der letzten Note zur ersten ... etwas ziemlich
18054
Schwieriges. Später wirst du erfahren, was die Nachahmung im strengen
18055
Satze bedeutet ... Mit dem Krebsgang werde ich dich niemals quälen, dich
18056
nicht dazu zwingen ... Man braucht ihn nicht zu können. Aber glaube nie
18057
denen, die dergleichen als Spielerei ohne musikalischen Wert bezeichnen.
18058
Du findest den Krebsgang bei den großen Komponisten aller Zeiten. Nur
18059
die Lauen und Mittelmäßigen verwerfen solche Übungen aus Hochmut.
18060
=Demut= ziemt sich; das merke dir, Johann.« --
18062
-- Am 15. April 1869, seinem achten Geburtstage, spielte Hanno der
18063
versammelten Familie zusammen mit seiner Mutter eine kleine, eigene
18064
Phantasie vor, ein einfaches Motiv, das er ausfindig gemacht, merkwürdig
18065
gefunden und ein wenig ausgebaut hatte. Natürlich hatte Herr Pfühl, dem
18066
er es anvertraut, mancherlei daran auszusetzen gehabt.
18068
»Was ist das für ein theatralischer Schluß, Johann! Das paßt ja gar
18069
nicht zum übrigen? Zu Anfang ist alles ganz ordentlich, aber wie
18070
verfällst du hier plötzlich aus _H_-Dur in den Quart-Sext-Akkord der
18071
vierten Stufe mit erniedrigter Terz, möchte ich wissen? Das sind Possen.
18072
Und du tremolierst ihn auch noch. Das hast du irgendwo aufgeschnappt ...
18073
Woher stammt es? ich weiß es schon. Du hast zu gut zugehört, wenn ich
18074
deiner Frau Mama gewisse Sachen vorspielen mußte ... Ändere den Schluß,
18075
Kind, dann ist es ein ganz sauberes kleines Ding.«
18077
Aber gerade auf diesen Mollakkord und diesen Schluß legte Hanno das
18078
allergrößte Gewicht, und seine Mutter amüsierte sich so sehr darüber,
18079
daß es dabei blieb. Sie nahm die Geige, spielte die Oberstimme mit und
18080
variierte dann, während Hanno den Satz ganz einfach wiederholte, den
18081
Diskant bis zum Schluß in Läufen von Zweiunddreißigsteln. Das klang ganz
18082
großartig, Hanno küßte sie vor Glück, und so trugen sie es am 15. April
18085
Die Konsulin, Frau Permaneder, Christian, Klothilde, Herr und Frau
18086
Konsul Kröger, Herr und Frau Direktor Weinschenk, sowie die Damen
18087
Buddenbrook aus der Breiten Straße und Fräulein Weichbrodt hatten zur
18088
Feier von Hannos Geburtstag um vier Uhr beim Senator und seiner Frau zu
18089
Mittag gegessen; nun saßen sie im Salon und blickten lauschend auf das
18090
Kind, das in seinem Matrosenanzug am Flügel saß, und auf die fremdartige
18091
und elegante Erscheinung Gerdas, die zuerst auf der _g_-Saite eine
18092
prachtvolle Kantilene entwickelte und dann, mit unfehlbarer Virtuosität,
18093
eine Flut von perlenden und schäumenden Kadenzen entfesselte. Der
18094
Silberdraht am Griff ihres Bogens blitzte im Licht der Gasflammen.
18096
Hanno, bleich vor Erregung, hatte bei Tische fast nichts essen können;
18097
aber jetzt war die Hingebung an sein Werk, das, ach, nach zwei Minuten
18098
schon wieder zu Ende sein sollte, so groß in ihm, daß er in
18099
vollständiger Entrücktheit alles um sich her vergessen hatte. Dies
18100
kleine melodische Gebilde war mehr harmonischer als rhythmischer Natur,
18101
und ganz seltsam mutete der Gegensatz an, der zwischen den primitiven,
18102
fundamentalen und kindlichen musikalischen Mitteln und der gewichtigen,
18103
leidenschaftlichen und fast raffinierten Art bestand, in welcher diese
18104
Mittel betont und zur Geltung gebracht wurden. Mit einer schrägen und
18105
ziehenden Bewegung des Kopfes nach vorn hob Hanno bedeutsam jeden
18106
Übergangston hervor, und, ganz vorn auf dem Sessel sitzend, suchte er
18107
durch Pedal und Verschiebung jedem neuen Akkord einen empfindlichen Wert
18108
zu verleihen. In der Tat, wenn der kleine Hanno einen Effekt erzielte --
18109
und beschränkte sich derselbe auch ganz allein auf ihn selbst --, so war
18110
der Effekt weniger empfindsamer als empfindlicher Natur. Irgendein ganz
18111
einfacher harmonischer Kunstgriff ward durch gewichtige und verzögernde
18112
Akzentuierung zu einer geheimnisvollen und preziösen Bedeutung erhoben.
18113
Irgendeinem Akkord, einer neuen Harmonie, einem Einsatz wurde, während
18114
Hanno die Augenbrauen emporzog und mit dem Oberkörper eine hebende,
18115
schwebende Bewegung vollführte, durch eine plötzlich eintretende, matt
18116
hallende Klanggebung eine nervös überraschende Wirkungsfähigkeit zuteil
18117
... Und nun kam der Schluß, Hannos geliebter Schluß, der an primitiver
18118
Gehobenheit dem Ganzen die Krone aufsetzte. Leise und glockenrein
18119
umperlt und umflossen von den Läufen der Violine, tremolierte
18120
_pianissimo_ der _E_-Mollakkord ... Er wuchs, er nahm zu, er schwoll
18121
langsam, langsam an, im _forte_ zog Hanno das dissonierende, zur
18122
Grundtonart leitende _Cis_ herzu, und während die Stradivari wogend und
18123
klingend auch dieses _Cis_ umrauschte, steigerte er die Dissonanz mit
18124
aller seiner Kraft bis zum _fortissimo_. Er verweigerte sich die
18125
Auflösung, er enthielt sie sich und den Hörern vor. Was würde sie sein,
18126
diese Auflösung, dieses entzückende und befreite Hineinsinken in
18127
_H_-Dur? Ein Glück ohnegleichen, eine Genugtuung von überschwänglicher
18128
Süßigkeit. Der Friede! Die Seligkeit! Das Himmelreich!... Noch nicht ...
18129
noch nicht! Noch einen Augenblick des Aufschubs, der Verzögerung, der
18130
Spannung, die unerträglich werden mußte, damit die Befriedigung desto
18131
köstlicher sei ... Noch ein letztes, allerletztes Auskosten dieser
18132
drängenden und treibenden Sehnsucht, dieser Begierde des ganzen Wesens,
18133
dieser äußersten und krampfhaften Anspannung des Willens, der sich
18134
dennoch die Erfüllung und Erlösung noch verweigerte, weil er wußte: Das
18135
Glück ist nur ein Augenblick ... Hannos Oberkörper reckte sich langsam
18136
empor, seine Augen wurden ganz groß, seine geschlossenen Lippen
18137
zitterten, mit einem stoßweisen Beben zog er die Luft durch die Nase ein
18138
... und dann war die Wonne nicht mehr zurückzuhalten. Sie kam, kam über
18139
ihn, und er wehrte ihr nicht länger. Seine Muskeln spannten sich ab,
18140
ermattet und überwältigt sank sein Kopf auf die Schulter nieder, seine
18141
Augen schlossen sich, und ein wehmütiges, fast schmerzliches Lächeln
18142
unaussprechlicher Beseligung umspielte seinen Mund, während mit
18143
Verschiebung und Pedal, umflüstert, umwoben, umrauscht und umwogt von
18144
den Läufen der Violine, sein Tremolo, dem er nun Baßläufe gesellte, nach
18145
_H_-Dur hinüberglitt, sich ganz rasch zum _fortissimo_ steigerte und
18146
dann mit einem kurzen, nachhallosen Aufbrausen abbrach. --
18148
Es war unmöglich, daß die Wirkung, die dieses Spiel auf Hanno selbst
18149
ausübte, sich auch auf die Zuhörer erstreckte. Frau Permaneder zum
18150
Beispiel hatte von dem ganzen Aufwand nicht das allermindeste
18151
verstanden. Wohl aber hatte sie des Kindes Lächeln gesehen, die Bewegung
18152
seines Oberkörpers, das selige Zur-Seite-Sinken seines kleinen, zärtlich
18153
geliebten Kopfes ... und dieser Anblick hatte sie in den Tiefen ihrer
18154
leicht gerührten Gutmütigkeit ergriffen.
18156
»Wie spielt der Junge! Wie spielt das Kind!« rief sie aus, indem sie
18157
beinahe weinend auf ihn zueilte und ihn in die Arme schloß ... »Gerda,
18158
Tom, er wird ein Mozart, ein Meyerbeer, ein ...« und in Ermangelung
18159
eines dritten Namens von ähnlicher Bedeutung, der ihr nicht sogleich
18160
einfiel, beschränkte sie sich darauf, ihren Neffen, der, die Hände im
18161
Schoße, noch ganz ermattet und mit abwesenden Augen dasaß, mit Küssen zu
18164
»Genug, Tony, genug!« sagte der Senator leise. »Ich bitte dich, was
18165
setzest du ihm in den Kopf ...«
18170
Thomas Buddenbrook war in seinem Herzen nicht einverstanden mit dem
18171
Wesen und der Entwicklung des kleinen Johann.
18173
Er hatte einst, allem Kopfschütteln schnell verblüffter Philister zum
18174
Trotz, Gerda Arnoldsen heimgeführt, weil er sich stark und frei genug
18175
gefühlt hatte, unbeschadet seiner bürgerlichen Tüchtigkeit einen
18176
distinguierteren Geschmack an den Tag zu legen als den allgemein
18177
üblichen. Aber sollte nun das Kind, dieser lange vergebens ersehnte
18178
Erbe, der doch äußerlich und körperlich manche Abzeichen seiner
18179
väterlichen Familie trug, so ganz und gar dieser Mutter gehören? Sollte
18180
er, von dem er erhofft hatte, daß er einst mit glücklicherer und
18181
unbefangenerer Hand die Arbeit seines Lebens fortführen werde, der
18182
ganzen Umgebung, in der er zu leben und zu wirken berufen, ja seinem
18183
Vater selbst, innerlich und von Natur aus fremd und befremdend
18186
Gerdas Geigenspiel hatte für Thomas bislang, übereinstimmend mit ihren
18187
seltsamen Augen, die er liebte, zu ihrem schweren dunkelroten Haar und
18188
ihrer ganzen außerordentlichen Erscheinung, eine reizvolle Beigabe mehr
18189
zu ihrem eigenartigen Wesen bedeutet; jetzt aber, da er sehen mußte, wie
18190
die Leidenschaft der Musik, die ihm fremd war, so früh schon, so von
18191
Anbeginn und von Grund aus sich auch seines Sohnes bemächtigte, wurde
18192
sie ihm zu einer feindlichen Macht, die sich zwischen ihn und das Kind
18193
stellte, aus dem seine Hoffnungen doch einen echten Buddenbrook, einen
18194
starken und praktisch gesinnten Mann mit kräftigen Trieben nach außen,
18195
nach Macht und Eroberung machen wollten. Und in der reizbaren
18196
Verfassung, in der er sich befand, schien es ihm, als drohe diese
18197
feindselige Macht ihn zu einem Fremden in seinem eigenen Hause zu
18200
Er war nicht imstande, sich der Musik, wie Gerda und ihr Freund, dieser
18201
Herr Pfühl, sie betrieben, zu nähern, und Gerda, exklusiv und unduldsam
18202
in Dingen der Kunst, erschwerte ihm noch diese Annäherung in wirklich
18205
Nie hatte er geglaubt, daß das Wesen der Musik seiner Familie so
18206
gänzlich fremd sei, wie es jetzt den Anschein gewann. Sein Großvater
18207
hatte gern ein wenig die Flöte geblasen, und er selbst hatte immer mit
18208
Wohlgefallen auf hübsche Melodien, die entweder eine leichte Grazie oder
18209
einige beschauliche Wehmut oder eine munterstimmende Schwunghaftigkeit
18210
an den Tag legten, gelauscht. Gab er aber seinem Geschmack an
18211
irgendeinem derartigen Gebilde Ausdruck, so konnte er gewärtig sein, daß
18212
Gerda die Achseln zuckte und mit einem mitleidigen Lächeln sagte: »Wie
18213
ist es möglich, mein Freund! Ein Ding so ganz ohne musikalischen
18216
Er haßte diesen »musikalischen Wert«, dieses Wort, mit dem sich für ihn
18217
kein anderer Begriff verband als der eines kalten Hochmutes. Es trieb
18218
ihn, sich, während Hanno dabeisaß, dagegen zu erheben. Mehr als einmal
18219
geschah es, daß er bei solchen Gelegenheiten aufbegehrte und ausrief:
18220
»Ach, Liebste, das Trumpfen auf diesen `musikalischen Wert´ scheint mir
18221
eine ziemlich dünkelhafte und geschmacklose Sache zu sein!«
18223
Und sie erwiderte ihm: »Thomas, ein für allemal, von der Musik als Kunst
18224
wirst du niemals etwas verstehen, und so intelligent du bist, wirst du
18225
niemals einsehen, daß sie mehr ist als ein kleiner Nachtischspaß und
18226
Ohrenschmaus. In der Musik geht dir der Sinn für das Banale ab, der dir
18227
doch sonst nicht fehlt ... und er ist das Kriterium des Verständnisses
18228
in der Kunst. Wie fremd dir die Musik ist, kannst du schon daraus
18229
ersehen, daß dein musikalischer Geschmack deinen übrigen Bedürfnissen
18230
und Anschauungen ja eigentlich gar nicht entspricht. Was freut dich in
18231
der Musik? Der Geist eines gewissen faden Optimismus, den du, wäre er in
18232
einem Buche eingeschlossen, empört oder ärgerlich belustigt in die Ecke
18233
werfen würdest. Schnelle Erfüllung jedes kaum erregten Wunsches ...
18234
Prompte, freundliche Befriedigung des kaum ein wenig aufgestachelten
18235
Willens ... Geht es in der Welt etwa zu wie in einer hübschen
18236
Melodie?... Das ist läppischer Idealismus ...«
18238
Er verstand sie, er verstand, was sie sagte. Aber er vermochte ihr mit
18239
dem Gefühl nicht zu folgen und nicht zu begreifen, warum Melodien, die
18240
ihn ermunterten oder rührten, null und nichtig sein -- und Musikstücke,
18241
die ihn herb und verworren anmuteten, den höchsten musikalischen Wert
18242
besitzen sollten. Er stand vor einem Tempel, von dessen Schwelle Gerda
18243
ihn mit unnachsichtiger Gebärde verwies ... und kummervoll sah er, wie
18244
sie mit dem Kinde darin verschwand.
18246
Er ließ nichts merken von der Sorge, mit der er die Entfremdung
18247
beobachtete, die zwischen ihm und seinem kleinen Sohne zuzunehmen
18248
schien, und der Anschein, als bewürbe er sich um des Kindes Gunst, wäre
18249
ihm furchtbar gewesen. Er hatte ja während des Tages nur wenig Muße, mit
18250
dem Kleinen zusammenzutreffen; gelegentlich der Mahlzeiten aber
18251
behandelte er ihn mit einer freundschaftlichen Kordialität, die einen
18252
Anflug von ermunternder Härte besaß. »Nun, Kamerad«, sagte er, indem er
18253
ihn ein paarmal auf den Hinterkopf klopfte und sich, seiner Frau
18254
gegenüber, neben ihn an den Speisetisch setzte ... »Wie geht's! Was
18255
haben wir getrieben! Gelernt?... Und Klavier gespielt? Das ist recht!
18256
Aber nicht zu viel, sonst haben wir keine Lust mehr zum übrigen und
18257
bleiben Ostern sitzen!« Keine Muskel in seinem Gesicht verriet dabei die
18258
besorgte Spannung, mit der er erwartete, wie Hanno seine Begrüßung
18259
aufnehmen, wie sie erwidern werde; nichts verriet etwas von dem
18260
schmerzlichen Sichzusammenziehen seines Inneren, wenn das Kind einfach
18261
einen scheuen Blick aus seinen goldbraunen, umschatteten Augen zu ihm
18262
hingleiten ließ, der nicht einmal sein Gesicht erreichte, -- und sich
18263
stumm über seinen Teller beugte.
18265
Ungeheuerlich wäre es gewesen, sich über diese kindische Unbeholfenheit
18266
zu bekümmern. Während des Beisammenseins, in den Pausen etwa, beim
18267
Wechseln des Geschirrs, war es seine Pflicht, sich ein wenig mit dem
18268
Jungen zu beschäftigen, ihn ein bißchen zu prüfen, seinen praktischen
18269
Sinn für Tatsachen herauszufordern ... Wieviel Einwohner besaß die
18270
Stadt? Welche Straßen führten von der Trave zur oberen Stadt hinauf? Wie
18271
hießen die zum Geschäft gehörigen Speicher? Frisch und schlagfertig
18272
hergesagt! -- Aber Hanno schwieg. Nicht aus Trotz gegen seinen Vater,
18273
nicht um ihm wehe zu tun. Aber die Einwohner, die Straßen und selbst die
18274
Speicher, die ihm unter gewöhnlichen Umständen unendlich gleichgültig
18275
waren, flößten ihm, zum Gegenstand eines Examens erhoben, einen
18276
verzweifelten Widerwillen ein. Er mochte vorher ganz munter gewesen
18277
sein, mochte sogar mit seinem Vater geplaudert haben -- sowie das
18278
Gespräch auch nur annähernd den Charakter einer kleinen Prüfung annahm,
18279
sank seine Stimmung unter Null, brach seine Widerstandskraft vollständig
18280
zusammen. Seine Augen verschleierten sich, sein Mund nahm einen
18281
verzagten Ausdruck an, und was ihn beherrschte, war ein großes
18282
schmerzliches Bedauern über die Unvorsichtigkeit, mit welcher Papa, der
18283
doch wissen mußte, daß solche Versuche zu nichts Gutem führten, nun sich
18284
selbst und allen die Mahlzeit verdorben habe. Mit Augen, die in Tränen
18285
schwammen, sah er auf seinen Teller nieder. Ida stieß ihn an und
18286
flüsterte ihm zu ... die Straßen, die Speicher. Aber ach, das war ja
18287
unnütz, ganz unnütz! Sie mißverstand ihn. Er wußte ja die Namen, zum
18288
Teile wenigstens, ganz gut, und so leicht wäre es gewesen, Papas
18289
Wünschen bis zu einem gewissen Grade wenigstens entgegenzukommen, wenn
18290
es eben möglich gewesen wäre, wenn ihn nicht eben etwas unüberwindlich
18291
Trauriges daran gehindert hätte ... Ein strenges Wort, ein Klopfen mit
18292
der Gabel auf den Messerblock von seiten seines Vaters schreckte ihn
18293
auf. Er warf einen Blick auf seine Mutter und Ida und versuchte zu
18294
sprechen; aber schon die ersten Silben wurden von Schluchzen erstickt;
18295
es ging nicht. »Genug!« rief der Senator zornig. »Schweig! Ich will gar
18296
nichts mehr hören! Du brauchst nichts herzusagen! Du darfst stumm und
18297
dumm vor dich hinbrüten dein Lebtag!« Und in schweigsamer Mißstimmung
18298
ward die Mahlzeit zu Ende geführt.
18300
Diese träumerische Schwäche aber, dieses Weinen, dieser vollständige
18301
Mangel an Frische und Energie war der Punkt, an dem der Senator
18302
einsetzte, wenn er gegen Hannos leidenschaftliche Beschäftigung mit der
18303
Musik Bedenken erhob.
18305
Hannos Gesundheit war immer zart gewesen. Besonders seine Zähne hatten
18306
von jeher die Ursache von mancherlei schmerzhaften Störungen und
18307
Beschwerden ausgemacht. Das Hervorbrechen der Milchzähne mit seiner
18308
Gefolgschaft von Fieber und Krämpfen hatte ihm beinah das Leben
18309
gekostet, und dann hatte sein Zahnfleisch stets zur Entzündung und zur
18310
Bildung von Geschwüren geneigt, die Mamsell Jungmann, wenn sie reif
18311
waren, mit einer Stecknadel zu öffnen pflegte. Jetzt, zur Zeit des
18312
Zahnwechsels, waren die Leiden noch größer. Schmerzen kamen, die fast
18313
über Hannos Kräfte gingen, und schlaflos, unter leisem Stöhnen und
18314
Weinen in einem matten Fieber, das keine andere Ursache als eben den
18315
Schmerz hatte, verbrachte er ganze Nächte. Die Zähne, die äußerlich so
18316
schön und weiß wie die seiner Mutter, dabei aber außerordentlich weich
18317
und verletzlich waren, wuchsen falsch, sie bedrängten einander, und
18318
damit allen diesen Übelständen gesteuert würde, mußte der kleine Johann
18319
einen furchtbaren Menschen in sein junges Leben eintreten sehen: Herrn
18320
Brecht, den Zahnarzt Brecht in der Mühlenstraße ...
18322
Schon der Name dieses Mannes gemahnte gräßlich an jenes Geräusch, das im
18323
Kiefer entsteht, wenn mit Ziehen, Drehen und Heben die Wurzeln eines
18324
Zahnes herausgebrochen werden, und ließ Hannos Herz sich in der Angst
18325
zusammenziehen, die er erlitt, wenn er, gegenüber der treuen Ida
18326
Jungmann, im Wartezimmer des Herrn Brecht in einem Lehnstuhl kauerte
18327
und, während er die scharf riechende Luft dieser Räumlichkeiten atmete,
18328
illustrierte Journale besah, bis der Zahnarzt mit seinem ebenso
18329
höflichen wie grauenerregenden »Bitte« in der Tür des Operationszimmers
18332
Eine Anziehungskraft, einen seltsamen Reiz besaß dieses Wartezimmer, und
18333
das war ein stattlicher bunter Papagei mit giftigen kleinen Augen, der
18334
in einem Winkel inmitten eines Messingbauers saß und aus unbekannten
18335
Gründen Josephus hieß. Mit der Stimme eines wütenden alten Weibes
18336
pflegte er zu sagen: »Nehmen Sie Platz ... Einen Momang ...« und
18337
obgleich dies unter den obwaltenden Umständen wie ein abscheulicher Hohn
18338
klang, war Hanno Buddenbrook ihm mit einem Gemisch von Liebe und Grauen
18339
zugetan. Ein Papagei ... ein großer, bunter Vogel, welcher Josephus hieß
18340
und reden konnte! War er nicht wie entwischt aus einem Zauberwalde, aus
18341
einem der Grimmschen Märchen, die Ida zu Hause vorlas?... Auch das
18342
»Bitte«, mit dem Herr Brecht die Tür öffnete, wiederholte Josephus aufs
18343
eindringlichste, und so geschah es, daß man seltsamerweise lachend das
18344
Operationszimmer betrat und sich auf den großen, unheimlich
18345
konstruierten Stuhl am Fenster setzte, neben dem die Tretmaschine stand.
18347
Was Herrn Brecht persönlich betraf, so sah er ganz ähnlich aus wie
18348
Josephus, denn ebenso hart und krumm bog seine Nase sich auf den schwarz
18349
und grau melierten Schnurrbart hinab, wie der Schnabel des Papageis. Das
18350
Schlimme aber, das eigentlich Entsetzliche an ihm bestand darin, daß er
18351
nervös und selbst den Qualen nicht gewachsen war, die zuzufügen sein Amt
18352
ihn zwang. »Wir müssen zur Extraktion schreiten, Fräulein«, sagte er zu
18353
Ida Jungmann und erblich. Dann, wenn Hanno in einem matten, kalten
18354
Schweiße und mit übergroßen Augen, unfähig, zu protestieren, unfähig,
18355
davonzulaufen, in einem Seelenzustand, der sich absolut durch nichts von
18356
dem eines hinzurichtenden Delinquenten unterschied, Herrn Brecht, die
18357
Zange im Ärmel, auf sich zukommen sah, so konnte er bemerken, daß auf
18358
der kahlen Stirn des Zahnarztes kleine Schweißtropfen perlten, und daß
18359
sein Mund ebenfalls von Angst verzogen war ... Und wenn der abscheuliche
18360
Vorgang vorüber, wenn Hanno, bleich, zitternd, mit tränenden Augen und
18361
entstelltem Gesicht, sein Blut in die blaue Schale zu seiner Seite
18362
spie, so mußte Herr Brecht einen Augenblick irgendwo Platz nehmen, sich
18363
die Stirn trocknen und ein wenig Wasser trinken ...
18365
Man versicherte den kleinen Johann, daß dieser Mann ihm viel Gutes tue
18366
und ihn vor vielen noch größeren Schmerzen bewahre; aber wenn Hanno die
18367
Pein, die Herr Brecht ihm zugefügt, mit dem positiven und fühlbaren
18368
Vorteil verglich, den er ihm verdankte, so überwog die erstere zu sehr,
18369
als daß er nicht alle diese Besuche in der Mühlenstraße zu den
18370
schlimmsten aller unnützen Qualen hätte rechnen müssen. Im Hinblick auf
18371
die Weisheitszähne, die dermaleinst kommen würden, mußten vier
18372
Backzähne, die soeben, weiß, schön und noch vollkommen gesund
18373
herangewachsen waren, entfernt werden, und das nahm, da man das Kind
18374
nicht überanstrengen wollte, vier Wochen in Anspruch. Was für eine Zeit!
18375
Diese langgezogene Marter, in der schon die Angst vor dem Bevorstehenden
18376
wieder einsetzte, wenn noch die Erschöpfung nach dem Überstandenen
18377
herrschte, ging zu weit. Als der letzte Zahn gezogen war, lag Hanno acht
18378
Tage lang krank, und zwar aus reiner Ermattung.
18380
Übrigens beeinflußten diese Zahnbeschwerden nicht nur seine
18381
Gemütsstimmung, sondern auch die Funktionen einzelner Organe. Die
18382
Behinderungen beim Kauen hatten immer wieder Verdauungsstörungen, ja
18383
auch Anfälle von gastrischem Fieber zur Folge, und diese
18384
Magenverstimmungen standen im Zusammenhange mit vorübergehenden Anfällen
18385
von verstärktem oder geschwächtem unregelmäßigen Herzschlag und
18386
Schwindelgefühlen. Bei all dem bestand unvermindert, ja verstärkt, das
18387
seltsame Leiden fort, das Doktor Grabow »_pavor nocturnus_« nannte. Kaum
18388
eine Nacht verging, ohne daß der kleine Johann ein- oder zweimal
18389
emporfuhr und händeringend, mit allen Anzeichen der unerträglichsten
18390
Angst nach Hilfe oder Erbarmen rief, als stände er in Flammen, als
18391
wollte man ihn erwürgen, als geschähe etwas unsäglich Grauenhaftes ...
18392
Am Morgen wußte er nichts mehr von allem. -- Doktor Grabow suchte dieses
18393
Leiden mit einem abendlichen Trunk von Heidelbeersaft zu behandeln;
18394
allein das half ganz und gar nichts.
18396
Die Hemmungen, denen Hannos Körper unterworfen war, die Schmerzen, die
18397
er erlitt, verfehlten nicht, in ihm jenes ernsthafte Gefühl vorzeitiger
18398
Erfahrenheit hervorzurufen, das man Altklugheit nennt, und wenn es
18399
auch, gleichsam als würde es von einer überwiegenden Begabung mit gutem
18400
Geschmacke niedergehalten, nicht oft und durchaus nicht aufdringlich
18401
zutage trat, so äußerte es sich doch hie und da in Form einer wehmütigen
18402
Überlegenheit ... »Wie geht es dir, Hanno?« fragte jemand von seinen
18403
Verwandten, seine Großmutter, die Damen Buddenbrook aus der Breiten
18404
Straße ... und ein kleines, resigniertes Emporziehen des Mundes, ein
18405
Zucken seiner vom blauen Matrosenkragen bedeckten Achseln war die ganze
18408
»Gehst du gern zur Schule?«
18410
»Nein«, antwortete Hanno ruhig und mit einer Offenheit, welche
18411
angesichts ernsterer Dinge es nicht der Mühe wert erachtet, in solchen
18412
Angelegenheiten zu lügen.
18414
»Nicht? Oh! Man muß aber doch lernen: Schreiben, Rechnen, Lesen ...«
18416
»Und so weiter«, sagte der kleine Johann.
18418
Nein, er ging nicht gern in die alte Schule, diese ehemalige
18419
Klosterschule mit Kreuzgängen und gotisch gewölbten Klassenzimmern.
18420
Fehlen wegen Unwohlseins und gänzliche Unaufmerksamkeit, wenn seine
18421
Gedanken bei irgendeiner harmonischen Verbindung oder den noch
18422
unenträtselten Wundern eines Musikstückes weilten, das er von seiner
18423
Mutter und Herrn Pfühl gehört, förderten ihn nicht eben in den
18424
Wissenschaften, und die Hilfslehrer und Seminaristen, die ihn in diesen
18425
unteren Klassen unterrichteten, und deren gesellschaftliche
18426
Unterlegenheit, geistige Gedrücktheit und körperliche Ungepflegtheit er
18427
empfand, flößten ihm neben der Furcht vor Strafe eine heimliche
18428
Mißachtung ein. Herr Tietge, der Rechenlehrer, ein kleiner Greis in
18429
fettigem schwarzen Rock, der schon zur Zeit des verstorbenen Marcellus
18430
Stengel im Dienste der Anstalt gewirkt hatte, und der auf eine
18431
unmögliche Weise in sich hineinschielte, was er durch Brillengläser,
18432
rund und dick wie Schiffsluken, zu korrigieren suchte, -- Herr Tietge
18433
gemahnte den kleinen Johann in jeder Stunde, wie fleißig und
18434
scharfsinnig sein Vater stets beim Rechnen gewesen sei ... Beständig
18435
nötigten Herrn Tietge starke Hustenanfälle, den Boden des Katheders mit
18436
seinem Auswurf zu bedecken.
18438
Hannos Verhältnis zu seinen kleinen Kameraden war im allgemeinen ganz
18439
fremder und äußerlicher Natur; nur mit einem von ihnen verknüpfte ihn,
18440
und zwar seit den ersten Schultagen, ein festes Band, und das war ein
18441
Kind von vornehmer Herkunft, aber gänzlich verwahrlostem Äußeren, ein
18442
Graf Mölln mit dem Vornamen Kai.
18444
Es war ein Junge von Hannos Statur, aber nicht wie dieser mit einem
18445
dänischen Matrosenhabit, sondern mit einem ärmlichen Anzug von
18446
unbestimmter Farbe bekleidet, an dem hie und da ein Knopf fehlte, und
18447
der am Gesäß einen großen Flicken zeigte. Seine Hände, die aus den zu
18448
kurzen Ärmeln hervorsahen, erschienen imprägniert mit Staub und Erde und
18449
von unveränderlich hellgrauer Farbe, aber sie waren schmal und
18450
außerordentlich fein gebildet, mit langen Fingern und langen, spitz
18451
zulaufenden Nägeln. Und diesen Händen entsprach der Kopf, welcher,
18452
vernachlässigt, ungekämmt und nicht sehr reinlich, von Natur mit allen
18453
Merkmalen einer reinen und edlen Rasse ausgestattet war. Das flüchtig in
18454
der Mitte gescheitelte, rötlichgelbe Haar war von einer alabasterweißen
18455
Stirn zurückgestrichen, unter welcher, tief und scharf zugleich,
18456
hellblaue Augen blitzten. Die Wangenknochen traten ein wenig hervor, und
18457
die Nase, mit zarten Nüstern und schmalem, ganz leicht gebogenem Rücken,
18458
war, wie der Mund mit etwas geschürzter Oberlippe, schon jetzt von
18459
charakteristischem Gepräge.
18461
Hanno Buddenbrook hatte den kleinen Grafen schon vor Beginn der
18462
Schulzeit zwei- oder dreimal ganz flüchtig zu sehen bekommen, und zwar
18463
auf Spaziergängen, die er mit Ida gen Norden durchs Burgtor hinaus
18464
gemacht. Dort nämlich, weit draußen, unfern des ersten Dorfes, war
18465
irgendwo ein kleines Gehöft, ein winziges, fast wertloses Anwesen, das
18466
überhaupt keinen Namen hatte. Man gewann, blickte man hin, den Eindruck
18467
eines Misthaufens, einer Anzahl Hühner, einer Hundehütte und eines
18468
armseligen, katenartigen Gebäudes, mit tief hinunterreichendem, rotem
18469
Dache. Dies war das Herrenhaus, und dort wohnte Kais Vater, Eberhard
18472
Er war ein Sonderling, den selten jemand zu sehen bekam, und der,
18473
beschäftigt mit Hühner-, Hunde- und Gemüsezucht, abgeschieden von aller
18474
Welt auf seinem kleinen Gehöfte hauste: ein großer Mann mit
18475
Stulpenstiefeln, einer grünen Friesjoppe, kahlem Kopfe, einem ungeheuren
18476
ergrauten Rübezahlbarte, einer Reitpeitsche in der Hand, obgleich er
18477
durchaus kein Pferd besaß, und einem unter der buschigen Braue ins Auge
18478
geklemmten Monokel. Es gab, außer ihm und seinem Sohne, weit und breit
18479
keinen Grafen Mölln mehr im Lande. Die einzelnen Zweige der ehemals
18480
reichen, mächtigen und stolzen Familie waren nach und nach verdorrt,
18481
abgestorben und vermodert, und nur eine Tante des kleinen Kai, mit der
18482
sein Vater aber nicht in Korrespondenz stand, war noch am Leben. Sie
18483
veröffentlichte unter einem abenteuerlichen Pseudonym Romane in
18484
Familienblättern. -- Was den Grafen Eberhard betraf, so erinnerte man
18485
sich, daß er, um sich vor allen Störungen durch Anfragen, Angebote und
18486
Bettelei zu schützen, während längerer Zeit, nachdem er das Anwesen vorm
18487
Burgtor bezogen, ein Schild an seiner niedrigen Haustür geführt hatte,
18488
auf dem zu lesen gewesen: »Hier wohnt Graf Mölln ganz allein, braucht
18489
nichts, kauft nichts und hat nichts zu verschenken.« Als das Schild
18490
seine Wirkung getan und niemand ihn mehr belästigte, hatte er es wieder
18493
Mutterlos -- denn die Gräfin war an seiner Geburt gestorben, und
18494
irgendein ältliches Frauenzimmer führte das Hauswesen -- war der kleine
18495
Kai hier wild wie ein Tier unter den Hühnern und Hunden herangewachsen,
18496
und hier hatte -- von fern und mit großer Scheu -- Hanno Buddenbrook ihn
18497
gesehen, wie er gleich einem Kaninchen im Kohle umhersprang, sich mit
18498
jungen Hunden balgte und mit seinen Purzelbäumen die Hühner erschreckte.
18500
In der Schulstube hatte er ihn wiedergefunden, und seine Scheu vor dem
18501
verwilderten Äußeren des kleinen Grafen hatte wohl anfangs
18502
fortbestanden. Aber nicht lange, so hatte ein sicherer Instinkt ihn die
18503
unsoignierte Hülle durchschauen lassen, hatte ihn auf diese weiße Stirn,
18504
diesen schmalen Mund, diese länglich geschnittenen, hellblauen Augen
18505
achten lassen, die mit einer Art zorniger Befremdung dareingeblickt
18506
hatten, und eine große Sympathie für diesen Kameraden unter allen
18507
übrigen hatte ihn ganz erfüllt. Dennoch war er viel zu zurückhaltend,
18508
als daß er den Mut gefunden hätte, die Freundschaft einzuleiten, und
18509
ohne die rücksichtslose Initiative des kleinen Kai wären die beiden
18510
einander wohl fremd geblieben. Ja, das leidenschaftliche Tempo, mit dem
18511
Kai sich ihm genähert, hatte den kleinen Johann anfangs sogar
18512
erschreckt. Dieser kleine, verwahrloste Gesell hatte mit einem Feuer,
18513
einer stürmisch aggressiven Männlichkeit um die Gunst des stillen,
18514
elegant gekleideten Hanno geworben, der gar nicht zu widerstehen gewesen
18515
war. Zwar konnte er ihm beim Unterricht nicht behilflich sein, denn
18516
seinem ungezähmten und frei umherschweifenden Sinn war das Einmaleins
18517
etwas ebenso Abscheuliches wie dem träumerisch abwesenden des kleinen
18518
Buddenbrook; aber er hatte ihn mit allem beschenkt, was sein gewesen
18519
war, mit Glaskugeln, Holzkreiseln und sogar mit einer kleinen,
18520
verbogenen Blechpistole, obgleich sie das Beste war, was er besaß ...
18521
Hand in Hand mit ihm, in den Pausen, hatte er ihm von seinem Heim, von
18522
den jungen Hunden und Hühnern erzählt, und hatte ihn mittags, obgleich
18523
stets Ida Jungmann, ein Päckchen belegten Butterbrotes in der Hand,
18524
ihren Pflegling vor der Schultür zum Spazierengehen erwartete, so weit
18525
wie möglich begleitet. Bei dieser Gelegenheit hatte er erfahren, daß der
18526
kleine Buddenbrook zu Hause Hanno genannt wurde, und sofort hatte er
18527
sich dieses Kosenamens bemächtigt, um seinen Freund nun nie mehr anders
18530
Eines Tages hatte er verlangt, daß Hanno, statt nach dem Mühlenwall, mit
18531
ihm nach seines Vaters Besitz spazierengehe, um neugeborene
18532
Meerschweinchen zu besehen, und Fräulein Jungmann hatte endlich den
18533
Bitten der beiden nachgegeben. Sie waren nach dem gräflichen Anwesen
18534
hinausgewandert, hatten den Misthaufen, das Gemüse, die Hunde, Hühner
18535
und Meerschweinchen in Augenschein genommen und waren schließlich auch
18536
in das Haus eingetreten, woselbst in einem niedrigen, langgestreckten
18537
Raume zu ebener Erde Graf Eberhard, ein Bild trotziger Vereinsamung,
18538
lesend an einem schweren Bauerntisch gesessen und unwirsch nach dem
18539
Begehren gefragt hatte ...
18541
Ida Jungmann war nicht zu bewegen gewesen, diesen Besuch zu wiederholen;
18542
vielmehr hatte sie darauf bestanden, daß, wollten die beiden beieinander
18543
sein, Kai lieber Hanno besuchen sollte, und so hatte der kleine Graf
18544
denn zum ersten Male mit aufrichtiger Bewunderung, aber doch ohne Scheu
18545
das prachtvolle Vaterhaus seines Freundes betreten. Von da an hatte er
18546
oft und öfter sich eingestellt, und nun konnte nur im Winter hoch
18547
liegender Schnee ihn hindern, den weiten Weg am Nachmittage noch einmal
18548
zurückzulegen, um ein paar Stunden bei Hanno Buddenbrook zu verbringen.
18550
Man saß in dem großen Kinderzimmer im zweiten Stockwerk zusammen und
18551
erledigte seine Schularbeiten. Es gab da lange Rechenaufgaben zu lösen,
18552
die, nachdem man beide Seiten der Schiefertafel mit Additionen,
18553
Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen bedeckt hatte, am Ende
18554
und als Resultat ganz einfach Null ergeben mußten -- wo nicht, so
18555
steckte irgendwo ein Fehler, der gesucht, gesucht werden mußte, bis man
18556
das kleine bösartige Tier gefunden hatte und vertilgen konnte: und
18557
hoffentlich steckte er nicht zu hoch, weil sonst beinahe das Ganze noch
18558
einmal geschrieben werden mußte. Ferner galt es, sich mit deutscher
18559
Grammatik zu beschäftigen, die Kunst der Komparation zu erlernen und
18560
ganz reinlich und gradlinig Betrachtungen untereinander zu schreiben,
18561
wie zum Beispiel: »Horn ist durchsichtig, Glas ist durchsichtiger, Luft
18562
ist am durchsichtigsten.« Worauf man sein Diktatheft zur Hand nahm, um
18563
Sätze zu studieren wie diesen: »Unsere Hedwig ist zwar sehr willig, aber
18564
den Kehricht auf dem Estrich fegt sie niemals ordentlich zusammen.« Bei
18565
dieser Übung voller Versuchungen und Fußangeln hatte die Absicht
18566
bestanden, daß man Hedwig, willig und fegt mit einem ch, Estrich mit g
18567
und Kehricht womöglich ebenfalls mit einem g schreiben sollte, und das
18568
hatte man denn auch gründlich besorgt, weshalb nun die Korrektur
18569
vorgenommen werden mußte. War aber alles fertig, so packte man ein und
18570
setzte sich auf das Fensterbrett, um Ida vorlesen zu hören.
18572
Die gute Seele las vom Katerlieschen, von dem, der auszog, das Fürchten
18573
zu lernen, von Rumpelstilzchen, Rapunzel und Froschkönig -- mit tiefer,
18574
geduldiger Stimme und halb geschlossenen Augen, denn sie sagte die
18575
Märchen, die sie in ihrem Leben schon allzuoft gelesen, beinahe ganz aus
18576
dem Kopfe her, und dabei schlug sie mechanisch die Blätter mit dem
18577
benetzten Zeigefinger um.
18579
Bei dieser Unterhaltung aber geschah das Merkwürdige, daß in dem kleinen
18580
Kai sich das Bedürfnis zu regen und auszubilden begann, es dem Buche
18581
gleichzutun und selbst etwas zu erzählen, und das war um so erwünschter,
18582
als man die gedruckten Märchen allmählich alle kannte, und auch Ida sich
18583
dann und wann ein wenig ausruhen mußte. Kais Geschichten waren anfangs
18584
kurz und einfach, wurden dann aber kühner und komplizierter und gewannen
18585
an Interesse dadurch, daß sie nicht gänzlich in der Luft standen,
18586
sondern von der Wirklichkeit ausgingen und diese in ein seltsames und
18587
geheimnisvolles Licht rückten ... Besonders gern vernahm Hanno die
18588
Erzählung von einem bösen, aber außerordentlich mächtigen Zauberer, der
18589
einen schönen und hochbegabten Prinzen mit Namen Josephus in der Gestalt
18590
eines bunten Vogels bei sich gefangen halte und alle Menschen mit seinen
18591
tückischen Künsten quäle. Schon aber wachse in der Ferne der Auserwählte
18592
heran, welcher dereinst an der Spitze einer unwiderstehlichen Armee von
18593
Hunden, Hühnern und Meerschweinchen gegen den Zauberer furchtlos zu
18594
Felde ziehen und den Prinzen, sowie die ganze Welt, besonders aber Hanno
18595
Buddenbrook vermittels eines Schwertstreiches von ihm erlösen werde.
18596
Dann werde, befreit und entzaubert, Josephus in sein Reich zurückkehren,
18597
König werden und Hanno sowohl wie Kai zu sehr hohen Würden emporsteigen
18600
Senator Buddenbrook, der hie und da, wenn er das Kinderzimmer passierte,
18601
die Freunde beisammen sah, hatte gegen diesen Verkehr nichts
18602
einzuwenden, denn es war leicht zu beobachten, daß die beiden einander
18603
vorteilhaft beeinflußten. Hanno wirkte besänftigend, zähmend und
18604
geradezu veredelnd auf Kai, der ihn zärtlich liebte, die Weiße seiner
18605
Hände bewunderte und sich ihm zuliebe die seinen von Fräulein Jungmann
18606
mit Bürste und Seife behandeln ließ. Und wenn Hanno seinerseits ein
18607
wenig Frische und Wildheit von dem kleinen Grafen empfing, so war das
18608
mit Freude zu begrüßen, denn Senator Buddenbrook verhehlte sich nicht,
18609
daß die beständige weibliche Obhut, unter welcher der Junge stand, nicht
18610
eben geeignet war, die Eigenschaften der Männlichkeit in ihm anzureizen
18613
Die Treue und Hingebung der guten Ida Jungmann, die nun schon länger als
18614
drei Jahrzehnte den Buddenbrooks diente, war ja mit Gold nicht zu
18615
bezahlen. Sie hatte die vorhergehende Generation mit Aufopferung gehegt
18616
und gepflegt: Hanno aber trug sie auf Händen, sie hüllte ihn gänzlich in
18617
Zärtlichkeit und Sorgfalt ein, sie liebte ihn abgöttisch und ging in
18618
ihrem naiven und unerschütterlichen Glauben an seine absolut bevorzugte
18619
und bevorrechtigte Stellung in der Welt oftmals bis zum Absurden. Sie
18620
war, galt es, für ihn zu handeln, von erstaunlicher und manchmal
18621
peinlicher Unverfrorenheit. Gelegentlich eines Einkaufs beim Konditor
18622
zum Beispiel unterließ sie es niemals, sehr ungeniert in die
18623
ausgestellten Schalen hineinzugreifen, um ihm diese oder jene Süßigkeit
18624
zuzustecken, ohne dafür zu bezahlen -- denn konnte der Mann sich nicht
18625
nur geehrt fühlen? Und vor einem umlagerten Schaufenster war sie sofort
18626
bei der Hand, die Leute in ihrem westpreußischen Dialekt freundlich,
18627
aber entschieden um Platz für ihren Schützling zu ersuchen. Ja, er war
18628
in ihren Augen etwas so ganz Besonderes, daß sie kaum je ein anderes
18629
Kind würdig gehalten hatte, mit ihm in Berührung zu kommen. Was den
18630
kleinen Kai betraf, so war die beiderseitige Zuneigung stärker gewesen
18631
als ihr Mißtrauen; auch hatte der Name sie ein wenig bestochen.
18632
Gesellten sich aber auf dem Mühlenwall, wenn sie sich mit Hanno auf
18633
einer Bank niedergelassen hatte, andere Kinder mit ihrer Begleitung zu
18634
ihnen, so erhob Fräulein Jungmann sich beinahe sogleich und ging unter
18635
irgendeinem Vorwande von Verspätung oder Zugwind von dannen. Die
18636
Erklärungen, die sie dem kleinen Johann dafür zuteil werden ließ, waren
18637
geeignet, in ihm die Vorstellung zu erwecken, als seien alle seine
18638
Altersgenossen mit Skrofeln und »Bösen Säften« schwer behaftet, -- nur
18639
er nicht. Und das trug nicht gerade dazu bei, seine sowieso schon
18640
mangelnde Zutraulichkeit und Unbefangenheit zu stärken.
18642
Senator Buddenbrook wußte von solchen Einzelheiten nicht; aber er sah,
18643
daß die Entwicklung seines Sohnes von Natur und infolge äußerer
18644
Einflüsse vorläufig keineswegs die Richtung einschlug, die er ihr zu
18645
geben wünschte. Hätte er seine Erziehung in die Hand nehmen, täglich und
18646
stündlich auf seinen Geist wirken können! Aber die Zeit fehlte ihm
18647
dazu, und mit Schmerz mußte er sehen, wie gelegentliche Versuche dazu
18648
kläglich mißlangen und das Verhältnis zwischen Vater und Kind nur kälter
18649
und fremder machten. Ein Bild schwebte ihm vor, nach dem er seinen Sohn
18650
zu modeln sich sehnte: das Bild von Hannos Urgroßvater, wie er selbst
18651
ihn als Knabe gekannt -- ein heller Kopf, jovial, einfach, humoristisch
18652
und stark ... Konnte er so nicht werden? War das unmöglich? Und
18653
warum?... Hätte er wenigstens die Musik unterdrücken und verbannen
18654
können, die den Jungen dem praktischen Leben entfremdete, seiner
18655
körperlichen Gesundheit sicherlich nicht nützlich war und seine
18656
Geisteskräfte absorbierte! Grenzte sein träumerisches Wesen nicht
18657
manchmal geradezu an Unzurechnungsfähigkeit?
18659
Eines Nachmittags war Hanno drei Viertelstunden vorm Essen, das um vier
18660
Uhr stattfand, allein in die erste Etage hinabgestiegen. Er hatte eine
18661
Zeitlang am Flügel geübt und hielt sich nun müßig im Wohnzimmer auf.
18662
Halb liegend saß er auf der Chaiselongue, nestelte an dem Schifferknoten
18663
auf seiner Brust, und indem seine Augen, ohne etwas zu suchen, seitwärts
18664
glitten, gewahrte er auf dem zierlichen Nußholzschreibtisch seiner
18665
Mutter eine offene Ledermappe -- die Mappe mit den Familienpapieren. Er
18666
stützte den Ellbogen auf das Rückenpolster und das Kinn in die Hand und
18667
betrachtete die Sachen ein Weilchen aus der Ferne. Ohne Zweifel hatte
18668
Papa sich heute nach dem zweiten Frühstück damit beschäftigt und sie zu
18669
weiterem Gebrauche liegenlassen. Eines stak in der Mappe, lose Blätter,
18670
die draußen lagen, waren vorläufig mit einem metallenen Lineal
18671
beschwert, das große Schreibheft mit goldnem Schnitt und
18672
verschiedenartigem Papier lag offen da.
18674
Hanno glitt nachlässig von der Ottomane hinunter und ging zum
18675
Schreibtisch. Das Buch war an jener Stelle aufgeschlagen, wo in den
18676
Handschriften mehrerer seiner Vorfahren und zuletzt in der seines Vaters
18677
der ganze Stammbaum der Buddenbrooks mit Klammern und Rubriken in
18678
übersichtlichen Daten geordnet war. Mit einem Bein auf dem Schreibsessel
18679
kniend, das weichgewellte hellbraune Haar in die flache Hand gestützt,
18680
musterte Hanno das Manuskript ein wenig von der Seite, mit dem
18681
mattkritischen und ein bißchen verächtlichen Ernste einer vollkommenen
18682
Gleichgültigkeit und ließ seine freie Hand mit Mamas Federhalter
18683
spielen, der halb aus Gold und halb aus Ebenholz bestand. Seine Augen
18684
wanderten über all diese männlichen und weiblichen Namen hin, die hier
18685
unter- und nebeneinander standen, zum Teile in altmodisch
18686
verschnörkelter Schrift mit weit ausladenden Schleifen, in gelblich
18687
verblaßter oder stark aufgetragener schwarzer Tinte, an der Reste von
18688
Goldstreusand klebten ... Er las auch, ganz zuletzt, in Papas winziger,
18689
geschwind über das Papier eilender Schrift, unter denen seiner Eltern
18690
seinen eigenen Namen -- Justus, =Johann=, Kaspar, geb. d. 15. April
18691
1861 --, was ihm einigen Spaß machte, richtete sich dann ein wenig auf,
18692
nahm mit nachlässigen Bewegungen Lineal und Feder zur Hand, legte das
18693
Lineal unter seinen Namen, ließ seine Augen noch einmal über das ganze
18694
genealogische Gewimmel hingleiten: und hierauf, mit stiller Miene und
18695
gedankenloser Sorgfalt, mechanisch und verträumt, zog er mit der
18696
Goldfeder einen schönen, sauberen Doppelstrich quer über das ganze Blatt
18697
hinüber, die obere Linie ein wenig stärker als die untere, so, wie er
18698
jede Seite seines Rechenheftes verzieren mußte ... Dann legte er einen
18699
Augenblick prüfend den Kopf auf die Seite und wandte sich ab.
18701
Nach Tische rief der Senator ihn zu sich und herrschte ihn mit
18702
zusammengezogenen Brauen an.
18704
»Was ist das. Woher kommt das. Hast du das getan?«
18706
Er mußte sich einen Augenblick besinnen, ob er es getan habe, und dann
18707
sagte er schüchtern und ängstlich: »Ja.« »Was heißt das! Was ficht dich
18708
an! Antworte! Wie kommst du zu dem Unfug!« rief der Senator, indem er
18709
mit dem leicht zusammengerollten Heft auf Hannos Wange schlug.
18711
Und der kleine Johann, zurückweichend, stammelte, indem er mit der Hand
18712
nach seiner Wange fuhr: »Ich glaubte ... ich glaubte ... es käme nichts
18718
Donnerstags, wenn die Familie, umgeben von den ruhevoll lächelnden
18719
Götterstatuen der Tapete, beim Essen saß, gab es seit kurzem einen
18720
neuen, sehr ernsten Gesprächsgegenstand, der auf den Gesichtern der
18721
Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße den Ausdruck kalter
18722
Zurückhaltung, in den Mienen und Gesten Frau Permaneders aber eine
18723
außerordentliche Erregung hervorrief. Sie sprach zurückgelegten Hauptes
18724
und indem sie beide Arme zugleich vorwärts oder nach oben streckte, mit
18725
Zorn, mit Entrüstung, mit aufrichtiger, tiefgefühlter Empörung. Sie ging
18726
von dem besonderen Falle, um den es sich handelte, zum allgemeinen über,
18727
sprach über schlechte Menschen überhaupt und ließ, unterbrochen von dem
18728
trockenen nervösen Räuspern, das mit ihrer Magenschwäche zusammenhing,
18729
mit einer gewissen Kehlkopfstimme, die ihr eigen war, wenn sie zürnte,
18730
kleine Trompetenstöße des Abscheus ertönen, die etwa klangen wie
18731
»Tränen-Trieschke --!« »Grünlich --!« »Permaneder --!« ... Das
18732
Sonderbare aber war der neue Ruf, der hinzugekommen war, und den sie mit
18733
unbeschreiblicher Verachtung und Gehässigkeit hervorbrachte. Er lautete:
18734
»=Der Staatsanwalt --!=«
18736
Wenn dann Direktor Hugo Weinschenk, verspätet wie immer, denn er war mit
18737
Geschäften überhäuft, den Saal betrat und, mit balancierenden Fäusten
18738
sich ungewöhnlich lebhaft in der Taille seines Gehrockes wiegend, zu
18739
seinem Platze schritt, wobei seine Unterlippe unter dem schmalen
18740
Schnurrbart mit keckem Ausdruck hinabhing, so verstummte das Gespräch,
18741
so lagerte sich eine peinliche, schwüle Stille über der Tafel, bis der
18742
Senator allen aus der Verlegenheit half, indem er ganz leichthin und als
18743
handle es sich um irgendein Geschäft, sich bei dem Direktor nach dem
18744
Stande der Angelegenheit erkundigte. Und Hugo Weinschenk antwortete, die
18745
Sachen ständen sehr gut, sie ständen, wie das nicht anders möglich sei,
18746
vortrefflich ... worauf er leicht und fröhlich von etwas anderem sprach.
18747
Er war viel aufgeräumter als früher, ließ seine Augen mit einer gewissen
18748
wilden Unbefangenheit umherschweifen und fragte viele Male, ohne Antwort
18749
zu erhalten, nach dem Befinden von Gerda Buddenbrooks Geige. Überhaupt
18750
plauderte er viel und munter, und unangenehm war nur der Umstand, daß
18751
er in seinem Freimut nicht immer genügend nach seinen Worten sah und vor
18752
übermäßig guter Laune hie und da Geschichten vorbrachte, die nicht ganz
18753
am Platze waren. Eine Anekdote zum Beispiel, die er erzählte, handelte
18754
von einer Amme, welche die Gesundheit des ihr anvertrauten Kindes
18755
dadurch beeinträchtigt hatte, daß sie an Blähungen litt; in einer Weise,
18756
die er ohne Zweifel für humoristisch hielt, ahmte er den Hausarzt nach,
18757
der gerufen hatte: »Wer stinkt hier so! Wer ist es, der hier so stinkt!«
18758
und spät oder nie bemerkte er, daß seine Gattin heftig errötet war, daß
18759
die Konsulin, Thomas und Gerda unbewegt dasaßen, die Damen Buddenbrook
18760
durchbohrende Blicke tauschten, selbst Riekchen Severin am unteren
18761
Tischende beleidigt dareinblickte und höchstens der alte Konsul Kröger
18764
Was war es mit dem Direktor Weinschenk? Dieser ernste, tätige und
18765
kernhafte Mann, dieser Mann, der, abhold aller Geselligkeit und von
18766
rauher Außenseite, mit zäher Pflichttreue nur seiner Arbeit zugetan war,
18767
-- dieser Mann sollte nicht =ein=mal, nein, wiederholt sich eines
18768
schweren Fehltrittes schuldig gemacht haben, ja, er war angeklagt,
18769
gerichtlich angeklagt, mehrere Male ein geschäftliches Manöver
18770
ausgeführt zu haben, das nicht fragwürdig, sondern unreinlich und
18771
verbrecherisch zu nennen war, und ein Prozeß, dessen Ausgang nicht
18772
abzusehen, war gegen ihn im Gange! -- Was wurde ihm zur Last gelegt? --
18773
Brände hatten an verschiedenen Orten stattgefunden, größere
18774
Feuersbrünste, die der Gesellschaft, welche den damit Betroffenen
18775
kontraktlich verbunden gewesen, große Summen gekostet haben würden.
18776
Direktor Weinschenk aber sollte, erst nachdem er durch seine Agenten
18777
rasche vertrauliche Mitteilung von den Unglücksfällen empfangen, also
18778
bewußt betrügerischerweise, die Rückversicherungen bei einer anderen
18779
Gesellschaft vorgenommen und dieser so den Schaden zugeschoben haben.
18780
Nun lag die Sache in den Händen des Staatsanwaltes, des Staatsanwaltes
18781
Doktor Moritz Hagenström ...
18783
»Thomas«, sagte die Konsulin unter vier Augen zu ihrem Sohne, »ich bitte
18784
dich ... ich verstehe nichts. Was soll ich von der Sache halten!«
18786
Und er antwortete: »Ja, meine liebe Mutter ... Was läßt sich da sagen!
18787
Daß alles ganz in Ordnung ist, muß man leider bezweifeln. Aber daß
18788
Weinschenk in dem Umfange schuldig ist, wie gewisse Leute es wollen,
18789
halte ich ebenfalls für unwahrscheinlich. Es gibt im Geschäftsleben
18790
moderneren Stiles etwas, was man Usance nennt ... Eine Usance, verstehst
18791
du, das ist ein Manöver, das nicht ganz einwandfrei ist, sich nicht ganz
18792
mit dem geschriebenen Gesetze verträgt und für den Laienverstand schon
18793
unredlich aussieht, das aber dennoch nach stillschweigender Übereinkunft
18794
in der Geschäftswelt gang und gäbe ist. Die Grenzlinie zwischen Usance
18795
und Schlimmerem ist sehr schwer zu ziehen ... Einerlei ... Wenn
18796
Weinschenk sich vergangen hat, so hat er es höchstwahrscheinlich nicht
18797
ärger getrieben als viele seiner Kollegen, die ungestraft davongekommen
18798
sind. Aber ... für einen günstigen Ausgang des Prozesses stehe ich
18799
deshalb durchaus nicht. Vielleicht würde er in einer großen Stadt
18800
freigesprochen werden; aber hier, wo alles auf Cliquenwesen und
18801
persönliche Motive hinausläuft ... Das hätte er bei der Wahl seines
18802
Verteidigers besser bedenken sollen. Wir haben hier in der Stadt keinen
18803
hervorragenden Anwalt, keinen eminenten Kopf mit überlegenem und
18804
überzeugendem Rednertalent, der mit allen Hunden gehetzt und in den
18805
bedenklichsten Sachen versiert wäre. Dafür aber hängen unsere Herren
18806
Juristen untereinander zusammen, sie sind einander verbunden durch
18807
gemeinsame Interessen, durch Mittagessen, womöglich durch
18808
Verwandtschaft, und haben aufeinander Rücksicht zu nehmen. Meiner
18809
Ansicht nach wäre es klug gewesen, wenn Weinschenk einen hier ansässigen
18810
Advokaten genommen hätte. Aber was hat er getan? Er hat es für nötig
18811
befunden -- ich sage für nötig befunden, und das gibt zuletzt über sein
18812
gutes Gewissen zu denken --, sich einen Verteidiger aus Berlin zu
18813
verschreiben, den Doktor Breslauer, einen rechten Teufelsbraten, einen
18814
geriebenen Redner, einen raffinierten Rechtsvirtuosen, dem der Ruhm
18815
vorangeht, soundso vielen betrügerischen Bankerottiers am Zuchthause
18816
vorbeigeholfen zu haben. Der wird nun ohne Zweifel die Sache gegen ein
18817
sehr großes Honorar mit ebenso großer Schlauheit führen ... Aber ob das
18818
von Nutzen sein wird? Ich sehe es kommen, daß unsere wackeren
18819
Rechtsgelehrten sich mit Händen und Füßen dagegen sträuben werden, sich
18820
von dem fremden Herrn imponieren zu lassen, und daß der Gerichtshof für
18821
Doktor Hagenströms Plaidoyer ein sehr viel willigeres Ohr haben wird ...
18822
Und die Zeugen? Was sein eigenes Geschäftspersonal betrifft, so glaube
18823
ich nicht, daß es ihm besonders liebevoll zur Seite stehen wird. Das,
18824
was wir Wohlwollenden -- und, ich glaube, auch er selbst -- seine rauhe
18825
Außenseite nennen, hat ihm nicht viel Freunde gemacht ... Kurz, Mutter,
18826
mir ahnt Arges. Es wäre ja schlimm für Erika, wenn es ein Unglück gäbe,
18827
aber am wehesten sollte es mir um Tony tun. Siehst du, sie hat ja recht,
18828
wenn sie sagt, daß Hagenström die Sache mit Genugtuung in die Hand
18829
genommen hat. Sie geht uns alle an, und ein schmählicher Ausgang würde
18830
uns insgesamt betreffen, denn Weinschenk gehört einmal zur Familie und
18831
sitzt an unserem Tische. Was mich angeht, ich komme darüber hinweg. Ich
18832
weiß, wie ich mich zu benehmen habe. Ich muß in der Öffentlichkeit der
18833
Sache ganz fremd gegenüberstehen, darf nicht die Verhandlungen besuchen
18834
-- obgleich Breslauer mich interessieren würde -- und darf mich, schon
18835
um mich vor dem Vorwurf irgendwelcher Beeinflussungsgelüste zu wahren,
18836
überhaupt um nichts bekümmern. Aber Tony? Ich mag nicht ausdenken, wie
18837
traurig eine Verurteilung für sie wäre. Man muß hören, wie aus ihren
18838
lauten Protesten gegen Verleumdung und neidische Intrigen die Angst
18839
herausklingt ... die Angst, nach allem Malheur, das sie erduldet, auch
18840
dieser letzten, ehrenvollen Position, des würdigen Hausstandes ihrer
18841
Tochter noch verlustig zu gehen. Ach, paß auf, sie wird immer lauter
18842
Weinschenks Unschuld beteuern, je mehr sie zu Zweifeln daran gedrängt
18843
werden wird ... Aber er kann ja auch unschuldig sein, gewiß, ganz
18844
unschuldig sein ... Wir müssen es abwarten, Mutter, und ihn und Tony und
18845
Erika taktvoll behandeln. Aber mir ahnt nichts Gutes ...«
18849
Unter solchen Umständen kam diesmal das Weihnachtsfest heran, und der
18850
kleine Johann verfolgte mit Hilfe des Abreißkalenders, den Ida ihm
18851
angefertigt, und auf dessen letztem Blatte ein Tannenbaum gezeichnet
18852
war, pochenden Herzens das Nahen der unvergleichlichen Zeit.
18854
Die Vorzeichen mehrten sich ... Schon seit dem ersten Advent hing in
18855
Großmamas Eßsaal ein lebensgroßes, buntes Bild des Knecht Ruprecht an
18856
der Wand. Eines Morgens fand Hanno seine Bettdecke, die Bettvorlage und
18857
seine Kleider mit knisterndem Flittergold bestreut. Dann, wenige Tage
18858
später, nachmittags im Wohnzimmer, als Papa mit der Zeitung auf der
18859
Chaiselongue lag und Hanno gerade in Geroks »Palmblättern« das Gedicht
18860
von der Hexe zu Endor las, wurde wie alljährlich und doch auch diesmal
18861
ganz überraschenderweise ein »alter Mann« gemeldet, welcher »nach dem
18862
Kleinen frage«. Er wurde hereingebeten, dieser alte Mann, und kam
18863
schlürfenden Schrittes, in einem langen Pelze, dessen rauhe Seiten nach
18864
außen gekehrt, und der mit Flittergold und Schneeflocken besetzt war,
18865
ebensolcher Mütze, schwarzen Zügen im Gesicht und einem ungeheuren
18866
weißen Barte, der wie die übernatürlich dicken Augenbrauen mit
18867
glitzernder Lametta durchsetzt war. Er erklärte, wie jedes Jahr, mit
18868
eherner Stimme, daß =dieser= Sack -- auf seiner linken Schulter -- für
18869
gute Kinder, welche beten könnten, Äpfel und goldene Nüsse enthalte, daß
18870
aber andererseits =diese= Rute -- auf seiner rechten Schulter -- für die
18871
bösen Kinder bestimmt sei ... Es war Knecht Ruprecht. Das heißt,
18872
natürlich nicht so ganz und vollkommen der echte und im Grunde
18873
vielleicht bloß Barbier Wenzel in Papas gewendetem Pelz; aber soweit ein
18874
Knecht Ruprecht überhaupt möglich, war er dies, und Hanno sagte auch
18875
dieses Jahr wieder, aufrichtig erschüttert und nur ein- oder zweimal von
18876
einem nervösen und halb unbewußten Aufschluchzen unterbrochen, sein
18877
Vaterunser her, worauf er einen Griff in den Sack für die guten Kinder
18878
tun durfte, den der alte Mann dann überhaupt wieder mit sich zu nehmen
18881
Es setzten die Ferien ein, und der Augenblick ging ziemlich glücklich
18882
vorüber, da Papa das Zeugnis las, das auch in der Weihnachtszeit
18883
notwendig ausgestellt werden mußte ... Schon war der große Saal
18884
geheimnisvoll verschlossen, schon waren Marzipan und braune Kuchen auf
18885
den Tisch gekommen, schon war es Weihnacht draußen in der Stadt. Schnee
18886
fiel, es kam Frost, und in der scharfen, klaren Luft erklangen durch
18887
die Straßen die geläufigen oder wehmütigen Melodien der italienischen
18888
Drehorgelmänner, die mit ihren Sammetjacken und schwarzen Schnurrbärten
18889
zum Feste herbeigekommen waren. In den Schaufenstern prangten die
18890
Weihnachtsausstellungen. Um den hohen gotischen Brunnen auf dem
18891
Marktplatze waren die bunten Belustigungen des Weihnachtsmarktes
18892
aufgeschlagen. Und wo man ging, atmete man mit dem Duft der zum Kauf
18893
gebotenen Tannenbäume das Aroma des Festes ein.
18895
Dann endlich kam der Abend des dreiundzwanzigsten Dezembers heran und
18896
mit ihm die Bescherung im Saale zu Haus, in der Fischergrube, eine
18897
Bescherung im engsten Kreise, die nur ein Anfang, eine Eröffnung, ein
18898
Vorspiel war, denn den Heiligen Abend hielt die Konsulin fest in Besitz,
18899
und zwar für die ganze Familie, so daß am Spätnachmittage des
18900
Vierundzwanzigsten die gesamte Donnerstagstafelrunde, und dazu noch
18901
Jürgen Kröger aus Wismar, sowie Therese Weichbrodt mit Madame Kethelsen,
18902
im Landschaftszimmer zusammentrat.
18904
In schwerer, grau und schwarz gestreifter Seide, mit geröteten Wangen
18905
und erhitzten Augen, in einem zarten Duft von Patschuli, empfing die
18906
alte Dame die nach und nach eintretenden Gäste, und bei den wortlosen
18907
Umarmungen klirrten ihre goldenen Armbänder leise. Sie war in
18908
unaussprechlicher stummer und zitternder Erregung an diesem Abend. »Mein
18909
Gott, du fieberst ja, Mutter!« sagte der Senator, als er mit Gerda und
18910
Hanno eintraf ... »Alles kann doch ganz gemütlich vonstatten gehen.«
18911
Aber sie flüsterte, indem sie alle drei küßte: »Zu Jesu Ehren ... Und
18912
dann mein lieber seliger Jean ...«
18914
In der Tat, das weihevolle Programm, das der verstorbene Konsul für die
18915
Feierlichkeit festgesetzt hatte, mußte aufrechterhalten werden, und das
18916
Gefühl ihrer Verantwortung für den würdigen Verlauf des Abends, der von
18917
der Stimmung einer tiefen, ernsten und inbrünstigen Fröhlichkeit erfüllt
18918
sein mußte, trieb sie rastlos hin und her -- von der Säulenhalle, wo
18919
schon die Marien-Chorknaben sich versammelten, in den Eßsaal, wo
18920
Riekchen Severin letzte Hand an den Baum und die Geschenktafel legte,
18921
hinaus auf den Korridor, wo scheu und verlegen einige fremde alte
18922
Leutchen umherstanden, Hausarme, die ebenfalls an der Bescherung
18923
teilnehmen sollten, und wieder ins Landschaftszimmer, wo sie mit einem
18924
stummen Seitenblick jedes überflüssige Wort und Geräusch strafte. Es war
18925
so still, daß man die Klänge einer entfernten Drehorgel vernahm, die
18926
zart und klar wie die einer Spieluhr aus irgendeiner beschneiten Straße
18927
den Weg hierher fanden. Denn obgleich nun an zwanzig Menschen im Zimmer
18928
saßen und standen, war die Ruhe größer als in einer Kirche, und die
18929
Stimmung gemahnte, wie der Senator ganz vorsichtig seinem Onkel Justus
18930
zuflüsterte, ein wenig an die eines Leichenbegängnisses.
18932
Übrigens war kaum Gefahr vorhanden, diese Stimmung möchte durch einen
18933
Laut jugendlichen Übermutes zerrissen werden. Ein Blick hätte genügt, zu
18934
bemerken, daß fast alle Glieder der hier versammelten Familie in einem
18935
Alter standen, in welchem die Lebensäußerungen längst gesetzte Formen
18936
angenommen haben. Senator Thomas Buddenbrook, dessen Blässe den wachen,
18937
energischen und sogar humoristischen Ausdruck seines Gesichtes Lügen
18938
strafte; Gerda, seine Gattin, welche, unbeweglich in einem Sessel
18939
zurückgelehnt und das schöne, weiße Gesicht nach oben gewandt, ihre nahe
18940
beieinanderliegenden, bläulich umschatteten, seltsam schimmernden Augen
18941
von den flimmernden Glasprismen des Kronleuchters bannen ließ; seine
18942
Schwester, Frau Permaneder; Jürgen Kröger, sein Kousin, der stille,
18943
schlicht gekleidete Beamte; seine Kusinen Friederike, Henriette und
18944
Pfiffi, von denen die beiden ersteren noch magerer und länger geworden
18945
waren und die letztere noch kleiner und beleibter erschien als früher,
18946
denen aber ein stereotyper Gesichtsausdruck durchaus gemeinsam war, ein
18947
spitziges und übelwollendes Lächeln, das gegen alle Personen und Dinge
18948
mit einer allgemeinen medisanten Skepsis gerichtet war, als sagten sie
18949
beständig: »Wirklich? Das möchten wir denn doch fürs erste noch
18950
bezweifeln« ...; schließlich die arme, aschgraue Klothilde, deren
18951
Gedanken wohl direkt auf das Abendessen gerichtet waren: -- sie alle
18952
hatten die Vierzig überschritten, während die Hausherrin mit ihrem
18953
Bruder Justus und seiner Frau gleich der kleinen Therese Weichbrodt
18954
schon ziemlich weit über die Sechzig hinaus war, und die alte Konsulin
18955
Buddenbrook, geborene Stüwing, sowie die gänzlich taube Madame
18956
Kethelsen, sich schon in den Siebzigern befanden.
18958
In der Blüte ihrer Jugend stand eigentlich nur Erika Weinschenk; aber
18959
wenn ihre hellblauen Augen -- die Augen Herrn Grünlichs -- zu ihrem
18960
Manne, dem Direktor, hinüberglitten, dessen geschorener, an den Schläfen
18961
ergrauter Kopf mit dem schmalen, in die Mundwinkel hineingewachsenen
18962
Schnurrbart sich dort neben dem Sofa von der idyllischen
18963
Tapetenlandschaft abhob, so konnte man bemerken, daß ihr voller Busen
18964
sich in lautlosem aber schwerem Atemzuge hob ... Ängstliche und wirre
18965
Gedanken an Usancen, Buchführung, Zeugen, Staatsanwalt, Verteidiger und
18966
Richter mochten sie bedrängen, ja, es war wohl keiner im Zimmer, dem
18967
diese unweihnachtlichen Gedanken nicht im Sinne gelegen hätten. Der
18968
angeklagte Zustand von Frau Permaneders Schwiegersohn, das Bewußtsein
18969
der gesamten Familie von der Gegenwart eines Mitgliedes, das eines
18970
Verbrechens gegen die Gesetze, die bürgerliche Ordnung und die
18971
geschäftliche Ehrenhaftigkeit geziehen und vielleicht der Schande und
18972
dem Gefängnis verfallen war, gab der Versammlung ein vollständig
18973
fremdes, ungeheuerliches Gepräge. Ein Weihnachtsabend der Familie
18974
Buddenbrook mit einem Angeklagten in ihrer Mitte! Frau Permaneder lehnte
18975
sich mit strengerer Majestät in ihren Sessel zurück, das Lächeln der
18976
Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße ward um noch eine Nüance
18979
Und die Kinder? Der ein wenig spärliche Nachwuchs? War auch er für das
18980
leis Schauerliche dieses so ganz neuen und ungekannten Umstandes
18981
empfänglich? Was die kleine Elisabeth betraf, so war es unmöglich, über
18982
ihren Gemütszustand zu urteilen. In einem Kleidchen, an dessen
18983
reichlicher Garnitur mit Atlasschleifen man Frau Permaneders Geschmack
18984
erkannte, saß das Kind auf dem Arm seiner Bonne, hielt seine Daumen in
18985
die winzigen Fäuste geklemmt, sog an seiner Zunge, blickte mit etwas
18986
hervortretenden Augen starr vor sich hin und ließ dann und wann einen
18987
kurzen, knarrenden Laut vernehmen, worauf das Mädchen es ein wenig
18988
schaukeln ließ. Hanno aber saß still auf seinem Schemel zu den Füßen
18989
seiner Mutter und blickte gerade wie sie zu einem Prisma des
18990
Kronleuchters empor ...
18992
Christian fehlte! Wo war Christian? Erst jetzt im letzten Augenblick
18993
bemerkte man, daß er noch nicht anwesend sei. Die Bewegungen der
18994
Konsulin, die eigentümliche Manipulation, mit der sie vom Mundwinkel zur
18995
Frisur hinaufzustreichen pflegte, als brächte sie ein hinabgefallenes
18996
Haar an seine Stelle zurück, wurden noch fieberhafter ... Sie
18997
instruierte eilig Mamsell Severin, und die Jungfer begab sich an den
18998
Chorknaben vorbei durch die Säulenhalle, zwischen den Hausarmen hin über
18999
den Korridor und pochte an Herrn Buddenbrooks Tür.
19001
Gleich darauf erschien Christian. Er kam mit seinen mageren, krummen
19002
Beinen, die seit dem Gelenkrheumatismus etwas lahmten, ganz gemächlich
19003
ins Landschaftszimmer, indem er sich mit der Hand die kahle Stirne rieb.
19005
»Donnerwetter, Kinder«, sagte er, »das hätte ich beinahe vergessen!«
19007
»Du hättest es ...« wiederholte seine Mutter und erstarrte ...
19009
»Ja, beinah vergessen, daß heut Weihnacht ist ... Ich saß und las ... in
19010
einem Buch, einem Reisebuch über Südamerika ... Du lieber Gott, ich habe
19011
schon andere Weihnachten gehabt ...« fügte er hinzu und war soeben im
19012
Begriff, mit der Erzählung von einem Heiligen Abend anzufangen, den er
19013
zu London in einem Tingeltangel fünfter Ordnung verlebt, als plötzlich
19014
die im Zimmer herrschende Kirchenstille auf ihn zu wirken begann, so daß
19015
er mit krausgezogener Nase und auf den Zehenspitzen zu seinem Platze
19018
»Tochter Zion, freue dich!« sangen die Chorknaben, und sie, die eben
19019
noch da draußen so hörbare Allotria getrieben, daß der Senator sich
19020
einen Augenblick an die Tür hatte stellen müssen, um ihnen Respekt
19021
einzuflößen, -- sie sangen nun ganz wunderschön. Diese hellen Stimmen,
19022
die sich, getragen von den tieferen Organen, rein, jubelnd und
19023
lobpreisend aufschwangen, zogen aller Herzen mit sich empor, ließen das
19024
Lächeln der alten Jungfern milder werden und machten, daß die alten
19025
Leute in sich hineinsahen und ihr Leben überdachten, während die, welche
19026
mitten im Leben standen, ein Weilchen ihrer Sorgen vergaßen.
19028
Hanno ließ sein Knie los, das er bislang umschlungen gehalten hatte. Er
19029
sah ganz blaß aus, spielte mit den Fransen seines Schemels und scheuerte
19030
seine Zunge an einem Zahn, mit halbgeöffnetem Munde und einem
19031
Gesichtsausdruck, als fröre ihn. Dann und wann empfand er das Bedürfnis,
19032
tief aufzuatmen, denn jetzt, da der Gesang, dieser glockenreine
19033
_a-cappella_-Gesang die Luft erfüllte, zog sein Herz sich in einem fast
19034
schmerzhaften Glück zusammen. Weihnachten ... Durch die Spalten der
19035
hohen, weißlackierten, noch fest geschlossenen Flügeltür drang der
19036
Tannenduft und erweckte mit seiner süßen Würze die Vorstellung der
19037
Wunder dort drinnen im Saale, die man jedes Jahr aufs neue mit pochenden
19038
Pulsen als eine unfaßbare, unirdische Pracht erharrte ... Was würde dort
19039
drinnen für ihn sein? Das, was er sich gewünscht hatte, natürlich, denn
19040
das bekam man ohne Frage, gesetzt, daß es einem nicht als eine
19041
Unmöglichkeit zuvor schon ausgeredet worden war. Das Theater würde ihm
19042
gleich in die Augen springen und ihm den Weg zu seinem Platze weisen
19043
müssen, das ersehnte Puppentheater, das dem Wunschzettel für Großmama
19044
stark unterstrichen zu Häupten gestanden hatte, und das seit dem
19045
»Fidelio« beinahe sein einziger Gedanke gewesen war.
19047
Ja, als Entschädigung und Belohnung für einen Besuch bei Herrn Brecht
19048
hatte Hanno kürzlich zum ersten Male das Theater besucht, das
19049
Stadttheater, wo er im ersten Range an der Seite seiner Mutter atemlos
19050
den Klängen und Vorgängen des »Fidelio« hatte folgen dürfen. Seitdem
19051
träumte er nichts als Opernszenen, und eine Leidenschaft für die Bühne
19052
erfüllte ihn, die ihn kaum schlafen ließ. Mit unaussprechlichem Neide
19053
betrachtete er auf der Straße die Leute, die, wie ja auch sein Onkel
19054
Christian, als Theaterhabitués bekannt waren, Konsul Döhlmann, Makler
19055
Gosch ... War das Glück ertragbar, wie sie fast jeden Abend dort
19056
anwesend sein zu dürfen? Könnte er nur einmal in der Woche vor Beginn
19057
der Aufführung einen Blick in den Saal tun, das Stimmen der Instrumente
19058
hören und ein wenig den geschlossenen Vorhang ansehen! Denn er liebte
19059
alles im Theater: den Gasgeruch, die Sitze, die Musiker, den Vorhang ...
19061
Wird sein Puppentheater groß sein? Groß und breit? Wie wird der Vorhang
19062
aussehen? Man muß baldmöglichst ein kleines Loch hineinschneiden, denn
19063
auch im Vorhang des Stadttheaters war ein Guckloch ... Ob Großmama oder
19064
Mamsell Severin -- denn Großmama konnte nicht alles besorgen -- die
19065
nötigen Dekorationen zum »Fidelio« gefunden hatte? Gleich morgen wird er
19066
sich irgendwo einschließen und ganz allein eine Vorstellung geben ...
19067
Und schon ließ er seine Figuren im Geiste singen; denn die Musik hatte
19068
sich ihm mit dem Theater sofort aufs engste verbunden ...
19070
»Jauchze laut, Jerusalem!« schlossen die Chorknaben, und die Stimmen,
19071
die fugenartig nebeneinander hergegangen waren, fanden sich in der
19072
letzten Silbe friedlich und freudig zusammen. Der klare Akkord
19073
verhallte, und tiefe Stille legte sich über Säulenhalle und
19074
Landschaftszimmer. Die Mitglieder der Familie blickten unter dem Drucke
19075
der Pause vor sich nieder; nur Direktor Weinschenks Augen schweiften
19076
keck und unbefangen umher, und Frau Permaneder ließ ihr trocknes
19077
Räuspern vernehmen, das ununterdrückbar war. Die Konsulin aber schritt
19078
langsam zum Tische und setzte sich inmitten ihrer Angehörigen auf das
19079
Sofa, das nun nicht mehr wie in alter Zeit unabhängig und abgesondert
19080
vom Tische dastand. Sie rückte die Lampe zurecht und zog die große Bibel
19081
heran, deren altersbleiche Goldschnittfläche ungeheuerlich breit war.
19082
Dann schob sie die Brille auf die Nase, öffnete die beiden ledernen
19083
Spangen, mit denen das kolossale Buch geschlossen war, schlug dort auf,
19084
wo das Zeichen lag, daß das dicke, rauhe, gelbliche Papier mit dem
19085
übergroßen Druck zum Vorschein kam, nahm einen Schluck Zuckerwasser und
19086
begann, das Weihnachtskapitel zu lesen.
19088
Sie las die altvertrauten Worte langsam und mit einfacher, zu Herzen
19089
gehender Betonung, mit einer Stimme, die sich klar, bewegt und heiter
19090
von der andächtigen Stille abhob. »Und den Menschen ein Wohlgefallen!«
19091
sagte sie. Kaum aber schwieg sie, so erklang in der Säulenhalle
19092
dreistimmig das »Stille Nacht, heilige Nacht«, in das die Familie im
19093
Landschaftszimmer einstimmte. Man ging ein wenig vorsichtig zu Werke
19094
dabei, denn die meisten der Anwesenden waren unmusikalisch, und hie und
19095
da vernahm man in dem Ensemble einen tiefen und ganz ungehörigen Ton ...
19096
Aber das beeinträchtigte nicht die Wirkung dieses Liedes ... Frau
19097
Permaneder sang es mit bebenden Lippen, denn am süßesten und
19098
schmerzlichsten rührt es an dessen Herz, der ein bewegtes Leben hinter
19099
sich hat und im kurzen Frieden der Feierstunde Rückblick hält ... Madame
19100
Kethelsen weinte still und bitterlich, obgleich sie von allem fast
19103
Und dann erhob sich die Konsulin. Sie ergriff die Hand ihres Enkels
19104
Johann und die ihrer Urenkelin Elisabeth und schritt durch das Zimmer.
19105
Die alten Herrschaften schlossen sich an, die jüngeren folgten, in der
19106
Säulenhalle gesellten sich die Dienstboten und die Hausarmen hinzu, und
19107
während alles einmütig »O Tannebaum« anstimmte und Onkel Christian vorn
19108
die Kinder zum Lachen brachte, indem er beim Marschieren die Beine hob
19109
wie ein Hampelmann und albernerweise »O Tantebaum« sang, zog man mit
19110
geblendeten Augen und ein Lächeln auf dem Gesicht durch die
19111
weitgeöffnete hohe Flügeltür direkt in den Himmel hinein.
19113
Der ganze Saal, erfüllt von dem Dufte angesengter Tannenzweige,
19114
leuchtete und glitzerte von unzähligen kleinen Flammen, und das
19115
Himmelblau der Tapete mit ihren weißen Götterstatuen ließ den großen
19116
Raum noch heller erscheinen. Die Flämmchen der Kerzen, die dort hinten
19117
zwischen den dunkelrot verhängten Fenstern den gewaltigen Tannenbaum
19118
bedeckten, welcher, geschmückt mit Silberflittern und großen, weißen
19119
Lilien, einen schimmernden Engel an seiner Spitze und ein plastisches
19120
Krippenarrangement zu seinen Füßen, fast bis zur Decke emporragte,
19121
flimmerten in der allgemeinen Lichtflut wie ferne Sterne. Denn auf der
19122
weißgedeckten Tafel, die sich lang und breit, mit den Geschenken
19123
beladen, von den Fenstern fast bis zur Türe zog, setzte sich eine Reihe
19124
kleinerer, mit Konfekt behängter Bäume fort, die ebenfalls von
19125
brennenden Wachslichtchen erstrahlten. Und es brannten die Gasarme, die
19126
aus den Wänden hervorkamen, und es brannten die dicken Kerzen auf den
19127
vergoldeten Kandelabern in allen vier Winkeln. Große Gegenstände,
19128
Geschenke, die auf der Tafel nicht Platz hatten, standen nebeneinander
19129
auf dem Fußboden. Kleinere Tische, ebenfalls weiß gedeckt, mit Gaben
19130
belegt und mit brennenden Bäumchen geschmückt, befanden sich zu den
19131
Seiten der beiden Türen: Das waren die Bescherungen der Dienstboten und
19134
Singend, geblendet und dem altvertrauten Raume ganz entfremdet umschritt
19135
man einmal den Saal, defilierte an der Krippe vorbei, in der ein
19136
wächsernes Jesuskind das Kreuzeszeichen zu machen schien, und blieb
19137
dann, nachdem man Blick für die einzelnen Gegenstände bekommen hatte,
19138
verstummend an seinem Platze stehen.
19140
Hanno war vollständig verwirrt. Bald nach dem Eintritt hatten seine
19141
fieberhaft suchenden Augen das Theater erblickt ... ein Theater, das,
19142
wie es dort oben auf dem Tische prangte, von so extremer Größe und
19143
Breite erschien, wie er es sich vorzustellen niemals erkühnt hatte. Aber
19144
sein Platz hatte gewechselt, er befand sich an einer der vorjährigen
19145
entgegengesetzten Stelle, und dies bewirkte, daß Hanno in seiner
19146
Verblüffung ernstlich daran zweifelte, ob dies fabelhafte Theater für
19147
ihn bestimmt sei. Hinzu kam, daß zu den Füßen der Bühne, auf dem Boden,
19148
etwas Großes, Fremdes aufgestellt war, etwas, was nicht auf seinem
19149
Wunschzettel gestanden hatte, ein Möbel, ein kommodenartiger Gegenstand
19150
... war er für ihn?
19152
»Komm her, Kind, und sieh dir dies an«, sagte die Konsulin und öffnete
19153
den Deckel. »Ich weiß, du spielst gern Choräle ... Herr Pfühl wird dir
19154
die nötigen Anweisungen geben ... Man muß immer treten ... manchmal
19155
schwächer und manchmal stärker ... und dann die Hände nicht aufheben,
19156
sondern immer nur so _peu à peu_ die Finger wechseln ...«
19158
Es war ein Harmonium, ein kleines, hübsches Harmonium, braun poliert,
19159
mit Metallgriffen an beiden Seiten, bunten Tretbälgen und einem
19160
zierlichen Drehsessel. Hanno griff einen Akkord ... ein sanfter
19161
Orgelklang löste sich los und ließ die Umstehenden von ihren Geschenken
19162
aufblicken ... Hanno umarmte seine Großmutter, die ihn zärtlich an sich
19163
preßte und ihn dann verließ, um die Danksagungen der anderen
19166
Er wandte sich dem Theater zu. Das Harmonium war ein überwältigender
19167
Traum, aber er hatte doch fürs erste noch keine Zeit, sich näher damit
19168
zu beschäftigen. Es war der Überfluß des Glückes, in dem man, undankbar
19169
gegen das Einzelne, alles nur flüchtig berührt, um erst einmal das Ganze
19170
übersehen zu lernen ... Oh, ein Souffleurkasten war da, ein
19171
muschelförmiger Souffleurkasten, hinter dem breit und majestätisch in
19172
Rot und Gold der Vorhang emporrollte. Auf der Bühne war die Dekoration
19173
des letzten Fidelio-Aktes aufgestellt. Die armen Gefangenen falteten die
19174
Hände. Don Pizarro, mit gewaltig gepufften Ärmeln, verharrte irgendwo in
19175
fürchterlicher Attitüde. Und von hinten nahte im Geschwindschritt und
19176
ganz in schwarzem Sammet der Minister, um alles zum Besten zu kehren. Es
19177
war wie im Stadttheater und beinahe noch schöner. In Hannos Ohren
19178
widerhallte der Jubelchor, das Finale, und er setzte sich vor das
19179
Harmonium, um ein Stückchen daraus, das er behalten, zum Erklingen zu
19180
bringen ... Aber er stand wieder auf, um das Buch zur Hand zu nehmen,
19181
das erwünschte Buch der griechischen Mythologie, das ganz rot gebunden
19182
war und eine goldene Pallas Athene auf dem Deckel trug. Er aß von seinem
19183
Teller mit Konfekt, Marzipan und Braunen Kuchen, musterte die kleineren
19184
Dinge, die Schreibutensilien und Schulhefte und vergaß einen Augenblick
19185
alles übrige über einem Federhalter, an dem sich irgendwo ein winziges
19186
Glaskörnchen befand, das man nur vors Auge zu halten brauchte, um wie
19187
durch Zauberspiel eine weite Schweizerlandschaft vor sich zu sehen ...
19189
Jetzt gingen Mamsell Severin und das Folgmädchen mit Tee und Biskuits
19190
umher, und während Hanno eintauchte, fand er ein wenig Muße, von seinem
19191
Platze aufzusehen. Man stand an der Tafel oder ging daran hin und her,
19192
plauderte und lachte, indem man einander die Geschenke zeigte und die
19193
des anderen bewunderte. Es gab da Gegenstände aus allen Stoffen: aus
19194
Porzellan, aus Nickel, aus Silber, aus Gold, aus Holz, Seide und Tuch.
19195
Große mit Mandeln und Suckade symmetrisch besetzte Braune Kuchen lagen
19196
abwechselnd mit massiven Marzipanbroten, die innen naß waren vor
19197
Frische, in langer Reihe auf dem Tische. Diejenigen Geschenke, die Frau
19198
Permaneder angefertigt oder dekoriert hatte, ein Arbeitsbeutel, ein
19199
Untersatz für Blattpflanzen, ein Fußkissen, waren mit großen
19200
Atlasschleifen geziert.
19202
Dann und wann besuchte man den kleinen Johann, legte den Arm um seinen
19203
Matrosenkragen und nahm seine Geschenke mit der ironisch übertriebenen
19204
Bewunderung in Augenschein, mit der man die Herrlichkeiten der Kinder zu
19205
bestaunen pflegt. Nur Onkel Christian wußte nichts von diesem
19206
Erwachsenenhochmut, und seine Freude an dem Puppentheater, als er,
19207
einen Brillantring am Finger, den er von seiner Mutter beschert bekommen
19208
hatte, an Hannos Platz vorüberschlenderte, unterschied sich gar nicht
19209
von der seines Neffen.
19211
»Donnerwetter, das ist drollig!« sagte er, indem er den Vorhang auf- und
19212
niederzog und einen Schritt zurücktrat, um das szenische Bild zu
19213
betrachten. »Hast du dir das gewünscht? -- So, das hast du dir also
19214
gewünscht«, sagte er plötzlich, nachdem er eine Weile mit sonderbarem
19215
Ernst und voll unruhiger Gedanken seine Augen hatte wandern lassen.
19216
»Warum? Wie kommst du auf den Gedanken? Bist du schon mal im Theater
19217
gewesen?... Im Fidelio? Ja, das wird gut gegeben ... Und nun willst du
19218
das nachmachen, wie? nachahmen, selbst Opern aufführen?... Hat es
19219
solchen Eindruck auf dich gemacht?... Hör' mal, Kind, laß dir raten,
19220
hänge deine Gedanken nur nicht zu sehr an solche Sachen ... Theater ...
19221
und sowas ... Das taugt nichts, glaube deinem Onkel. Ich habe mich auch
19222
immer viel zu sehr für diese Dinge interessiert, und darum ist auch
19223
nicht viel aus mir geworden. Ich habe große Fehler begangen, mußt du
19226
Er hielt das seinem Neffen ernst und eindringlich vor, während Hanno
19227
neugierig zu ihm aufsah. Dann jedoch, nach einer Pause, während welcher
19228
in Betrachtung des Theaters sein knochiges und verfallenes Gesicht sich
19229
aufhellte, ließ er plötzlich eine Figur sich auf der Bühne vorwärts
19230
bewegen und sang mit hohl krächzender und tremolierender Stimme: »Ha,
19231
welch gräßliches Verbrechen!« worauf er den Sessel des Harmoniums vor
19232
das Theater schob, sich setzte und eine Oper aufzuführen begann, indem
19233
er, singend und gestikulierend, abwechselnd die Bewegungen des
19234
Kapellmeisters und der agierenden Personen vollführte. Hinter seinem
19235
Rücken versammelten sich mehrere Familienglieder, lachten, schüttelten
19236
den Kopf und amüsierten sich. Hanno sah ihm mit aufrichtigem Vergnügen
19237
zu. Nach einer Weile aber, ganz überraschend, brach Christian ab. Er
19238
verstummte, ein unruhiger Ernst überflog sein Gesicht, er strich mit der
19239
Hand über seinen Schädel und an seiner linken Seite hinab und wandte
19240
sich dann mit krauser Nase und sorgenvoller Miene zum Publikum.
19242
»Ja, seht ihr, nun ist es wieder aus«, sagte er; »nun kommt wieder die
19243
Strafe. Es rächt sich immer gleich, wenn ich mir mal einen Spaß erlaube.
19244
Es ist kein Schmerz, wißt ihr, es ist eine Qual ... eine unbestimmte
19245
Qual, weil hier alle Nerven zu kurz sind. Sie sind ganz einfach alle zu
19248
Aber die Verwandten nahmen diese Klagen ebensowenig ernst wie seine
19249
Späße und antworteten kaum. Sie zerstreuten sich gleichgültig, und so
19250
saß denn Christian noch eine Zeitlang stumm vor dem Theater, betrachtete
19251
es mit schnellem und gedankenvollem Blinzeln und erhob sich dann.
19253
»Na, Kind, amüsiere dich damit«, sagte er, indem er über Hannos Haar
19254
strich. »Aber nicht zu viel ... und vergiß deine ernsten Arbeiten nicht
19255
darüber, hörst du? Ich habe viele Fehler gemacht ... Jetzt will ich aber
19256
in den Klub ... Ich gehe ein bißchen in den Klub!« rief er den
19257
Erwachsenen zu. »Da feiern sie auch Weihnachten heut. Auf Wiedersehn.«
19258
Und mit steifen, krummen Beinen ging er durch die Säulenhalle von
19261
Alle hatten heute früher als sonst zu Mittag gegessen und sich daher mit
19262
Tee und Biskuits ausgiebig bedient. Aber man war kaum damit fertig, als
19263
große Kristallschüsseln mit einem gelben, körnigen Brei zum Imbiß
19264
herumgereicht wurden. Es war Mandelcreme, ein Gemisch aus Eiern,
19265
geriebenen Mandeln und Rosenwasser, das ganz wundervoll schmeckte, das
19266
aber, nahm man ein Löffelchen zuviel, die furchtbarsten Magenbeschwerden
19267
verursachte. Dennoch, und obgleich die Konsulin bat, für das Abendbrot
19268
»ein kleines Loch offen zu lassen«, tat man sich keinen Zwang an. Was
19269
Klothilde betraf, so vollführte sie Wunderdinge. Still und dankbar
19270
löffelte sie die Mandelcreme, als wäre es Buchweizengrütze. Zur
19271
Erfrischung gab es auch Weingelee in Gläsern, wozu englischer Plumkake
19272
gegessen wurde. Nach und nach zog man sich ins Landschaftszimmer hinüber
19273
und gruppierte sich mit den Tellern um den Tisch.
19275
Hanno blieb allein im Saale zurück, denn die kleine Elisabeth Weinschenk
19276
war nach Hause gebracht worden, während er dieses Jahr zum ersten Male
19277
zum Abendessen in der Mengstraße bleiben durfte, die Dienstmädchen und
19278
die Hausarmen hatten sich mit ihren Geschenken zurückgezogen, und Ida
19279
Jungmann plauderte in der Säulenhalle mit Riekchen Severin, obgleich
19280
sie, als Erzieherin, der Jungfer gegenüber gewöhnlich eine strenge
19281
gesellschaftliche Distanz innehielt. Die Lichte des großen Baumes waren
19282
herabgebrannt und ausgelöscht, so daß die Krippe nun im Dunkel lag; aber
19283
einzelne Kerzen an den kleinen Bäumen auf der Tafel brannten noch, und
19284
hie und da geriet ein Zweig in den Bereich eines Flämmchens, sengte
19285
knisternd an und verstärkte den Duft, der im Saale herrschte. Jeder
19286
Lufthauch, der die Bäume berührte, ließ die Stücke Flittergoldes, die
19287
daran befestigt waren, mit einem zart metallischen Geräusch erschauern.
19288
Es war nun wieder still genug, die leisen Drehorgelklänge zu vernehmen,
19289
die von einer fernen Straße durch den kalten Abend daherkamen.
19291
Hanno genoß die weihnachtlichen Düfte und Laute mit Hingebung. Er las,
19292
den Kopf in die Hand gestützt, in seinem Mythologiebuch, aß mechanisch
19293
und weil es zur Sache gehörte, Konfekt, Marzipan, Mandelcreme und
19294
Plumkake, und die ängstliche Beklommenheit, die ein überfüllter Magen
19295
verursacht, vermischte sich mit der süßen Erregung des Abends zu einer
19296
wehmütigen Glückseligkeit. Er las von den Kämpfen, die Zeus zu bestehen
19297
hatte, um zur Herrschaft zu gelangen, und horchte dann und wann einen
19298
Augenblick ins Wohnzimmer hinüber, wo man Tante Klothildens Zukunft
19299
eingehend besprach.
19301
Klothilde war weitaus die Glücklichste von allen an diesem Abend und
19302
nahm die Gratulationen und Neckereien, die ihr von allen Seiten zuteil
19303
wurden, mit einem Lächeln entgegen, das ihr aschgraues Gesicht
19304
verklärte; ihre Stimme brach sich beim Sprechen vor freudiger Bewegung.
19305
-- Sie war in das »Johanniskloster« aufgenommen worden. Der Senator
19306
hatte ihr die Aufnahme unter der Hand im Verwaltungsrat erwirkt,
19307
obgleich gewisse Herren heimlich über Nepotismus gemurrt hatten. Man
19308
unterhielt sich über diese dankenswerte Institution, die den adeligen
19309
Damenklöstern in Mecklenburg, Dobberthien und Ribnitz entsprach und die
19310
würdige Altersversorgung mittelloser Mädchen aus verdienter und
19311
alteingesessener Familie bezweckte. Der armen Klothilde war nun zu einer
19312
kleinen, aber sicheren Rente verholfen, die sich mit den Jahren
19313
steigern würde, und für ihr Alter, wenn sie in die höchste Klasse
19314
aufgerückt sein würde, sogar zu einer friedlichen und reinlichen Wohnung
19315
im Kloster selbst ...
19317
Der kleine Johann verweilte ein wenig bei den Erwachsenen, aber er
19318
kehrte bald in den Saal zurück, der nun, da er weniger licht erstrahlte
19319
und mit seiner Herrlichkeit keine so verblüffte Scheu mehr hervorrief
19320
wie anfangs, einen Reiz von neuer Art ausübte. Es war ein ganz seltsames
19321
Vergnügen, wie auf einer halbdunklen Bühne nach Schluß der Vorstellung
19322
darin umherzustreifen und ein wenig hinter die Kulissen zu sehen: die
19323
Lilien des großen Tannenbaumes mit ihren goldnen Staubfäden aus der Nähe
19324
zu betrachten, die Tier- und Menschenfiguren des Krippenaufbaus in die
19325
Hand zu nehmen, die Kerze ausfindig zu machen, die den transparenten
19326
Stern über Bethlehems Stall hatte leuchten lassen, und das lang
19327
herabhängende Tafeltuch zu lüften, um der Menge von Kartons und
19328
Packpapieren gewahr zu werden, die unter dem Tisch aufgestapelt waren.
19330
Auch gestaltete sich die Unterhaltung im Landschaftszimmer immer weniger
19331
anziehend. Mit unentrinnbarer Notwendigkeit war allmählich die eine,
19332
unheimliche Angelegenheit Gegenstand des Gespräches geworden, über die
19333
man bislang dem festlichen Abend zu Ehren geschwiegen, die aber fast
19334
keinen Augenblick aufgehört hatte, alle Gemüter zu beschäftigen:
19335
Direktor Weinschenks Prozeß. Hugo Weinschenk selbst hielt Vortrag
19336
darüber, mit einer gewissen wilden Munterkeit in Miene und Bewegungen.
19337
Er berichtete über Einzelheiten der nun durch das Fest unterbrochenen
19338
Zeugenvernehmung, tadelte lebhaft die allzu bemerkbare Voreingenommenheit
19339
des Präsidenten Doktor Philander und kritisierte mit souveränem Spott
19340
den höhnischen Ton, den der Staatsanwalt Doktor Hagenström gegen ihn und
19341
die Entlastungszeugen anzuwenden für passend erachte. Übrigens habe
19342
Breslauer verschiedene belastende Aussagen sehr witzig entkräftet und
19343
ihn aufs bestimmteste versichert, daß an eine Verurteilung vorläufig gar
19344
nicht zu denken sei. -- Der Senator warf hie und da aus Höflichkeit eine
19345
Frage ein, und Frau Permaneder, die mit emporgezogenen Schultern auf dem
19346
Sofa saß, murmelte manchmal einen furchtbaren Fluch gegen Moritz
19347
Hagenström. Die übrigen aber schwiegen. Sie schwiegen so tief, daß auch
19348
der Direktor allmählich verstummte; und während drüben im Saale dem
19349
kleinen Hanno die Zeit schnell wie im Himmelreiche verging, lagerte im
19350
Landschaftszimmer eine schwere, beklommene, ängstliche Stille, die noch
19351
fortherrschte, als um halb 9 Uhr Christian aus dem Klub, von der
19352
Weihnachtsfeier der Junggesellen und Suitiers zurückkehrte.
19354
Ein erkalteter Zigarrenstummel stak zwischen seinen Lippen, und seine
19355
hageren Wangen waren gerötet. Er kam durch den Saal und sagte, als er
19356
ins Landschaftszimmer trat: »Kinder, der Saal ist doch wunderhübsch!
19357
Weinschenk, wir hätten heute eigentlich Breslauer mitbringen sollen; so
19358
was hat er sicher noch gar nicht gesehen.«
19360
Ein stiller, strafender Seitenblick traf ihn aus den Augen der Konsulin.
19361
Er erwiderte ihn mit unbefangener und verständnislos fragender Miene. --
19362
Um neun Uhr ging man zu Tische.
19364
Wie alljährlich an diesem Abend war in der Säulenhalle gedeckt worden.
19365
Die Konsulin sprach mit herzlichem Ausdruck das hergebrachte Tischgebet:
19367
»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast
19368
Und segne, was du uns bescheret hast.«
19370
woran sie, wie an diesem Abend ebenfalls üblich, eine kleine, mahnende
19371
Ansprache schloß, die hauptsächlich aufforderte, aller derer zu
19372
gedenken, die es an diesem heiligen Abend nicht so gut hätten, wie die
19373
Familie Buddenbrook ... Und als dies erledigt war, setzte man sich mit
19374
gutem Gewissen zu einer nachhaltigen Mahlzeit nieder, die alsbald mit
19375
Karpfen in aufgelöster Butter und mit altem Rheinwein ihren Anfang nahm.
19377
Der Senator schob ein paar Schuppen des Fisches in sein Portemonnaie,
19378
damit während des ganzen Jahres das Geld nicht darin ausgehe; Christian
19379
aber bemerkte trübe, das helfe ja doch nichts, und Konsul Kröger
19380
entschlug sich solcher Vorsichtsmaßregeln, da er ja keine
19381
Kursschwankungen mehr zu fürchten habe und mit seinen anderthalb
19382
Schillingen längst im Hafen sei. Der alte Herr saß möglichst weit
19383
entfernt von seiner Frau, mit der er seit Jahr und Tag beinahe kein Wort
19384
mehr sprach, weil sie nicht aufhörte, dem enterbten Jakob, der in
19385
London, Paris oder Amerika -- nur sie wußte das bestimmt -- sein
19386
entwurzeltes Abenteurerleben führte, heimlich Geld zufließen zu lassen.
19387
Er runzelte finster die Stirn, als beim zweiten Gange sich das Gespräch
19388
den abwesenden Familienmitgliedern zuwandte und als er sah, wie die
19389
schwache Mutter sich die Augen trocknete. Man erwähnte die in Frankfurt
19390
und die in Hamburg, man gedachte auch ohne Übelwollen des Pastors
19391
Tiburtius in Riga, und der Senator stieß in aller Stille mit seiner
19392
Schwester Tony auf die Gesundheit der Herren Grünlich und Permaneder an,
19393
die in gewissem Sinne doch auch dazu gehörten ...
19395
Der Puter, gefüllt mit einem Brei von Maronen, Rosinen und Äpfeln fand
19396
das allgemeine Lob. Vergleiche mit denen früherer Jahre wurden
19397
angestellt, und es ergab sich, daß dieser seit langer Zeit der größte
19398
war. Es gab gebratene Kartoffeln, zweierlei Gemüse und zweierlei Kompott
19399
dazu, und die kreisenden Schüsseln enthielten Portionen, als ob es sich
19400
bei jeder einzelnen von ihnen nicht um eine Beigabe und Zutat, sondern
19401
um das Hauptgericht handelte, an dem alle sich sättigen sollten. Es
19402
wurde alter Rotwein von der Firma Möllendorpf getrunken.
19404
Der kleine Johann saß zwischen seinen Eltern und verstaute mit Mühe ein
19405
weißes Stück Brustfleisch nebst Farce in seinem Magen. Er konnte nicht
19406
mehr soviel essen wie Tante Thilda, sondern fühlte sich müde und nicht
19407
sehr wohl; er war nur stolz darauf, daß er mit den Erwachsenen tafeln
19408
durfte, daß auch auf =seiner= kunstvoll gefalteten Serviette eins von
19409
diesen köstlichen, mit Mohn bestreuten Milchbrötchen gelegen hatte, daß
19410
auch vor =ihm= drei Weingläser standen, während er sonst aus dem kleinen
19411
goldenen Becher, dem Patengeschenk Onkel Krögers, zu trinken pflegte ...
19412
Aber als dann, während Onkel Justus einen ölgelben, griechischen Wein in
19413
die kleinsten Gläser zu schenken begann, die Eisbaisers erschienen --
19414
rote, weiße und braune -- wurde auch sein Appetit wieder rege. Er
19415
verzehrte, obgleich es ihm fast unerträglich weh an den Zähnen tat, ein
19416
rotes, dann die Hälfte eines weißen, mußte schließlich doch auch von den
19417
braunen, mit Schokoladeeis gefüllten, ein Stück probieren, knusperte
19418
Waffeln dazu, nippte an dem süßen Wein und hörte auf Onkel Christian,
19419
der ins Reden gekommen war.
19421
Er erzählte von der Weihnachtsfeier im Klub, die sehr fidel gewesen sei.
19422
»Du lieber Gott!« sagte er in jenem Tone, in dem er von Johnny
19423
Thunderstorm zu sprechen pflegte. »Die Kerls tranken Schwedischen Punsch
19426
»Pfui«, bemerkte die Konsulin kurz und schlug die Augen nieder.
19428
Aber er beachtete das nicht. Seine Augen begannen zu wandern, und
19429
Gedanken und Erinnerungen waren so lebendig in ihm, daß sie wie Schatten
19430
über sein hageres Gesicht huschten.
19432
»Weiß jemand von euch«, fragte er, »wie es ist, wenn man zu viel
19433
Schwedenpunsch getrunken hat? Ich meine nicht die Betrunkenheit, sondern
19434
das, was am nächsten Tage kommt, die Folgen ... sie sind sonderbar und
19435
widerlich ... ja, sonderbar und widerlich zu gleicher Zeit.«
19437
»Grund genug, sie genau zu beschreiben«, sagte der Senator.
19439
»_Assez_, Christian, dies interessiert uns durchaus nicht«, sagte die
19442
Aber er überhörte es. Es war seine Eigentümlichkeit, daß in solchen
19443
Augenblicken keine Einrede zu ihm drang. Er schwieg eine Weile, und dann
19444
plötzlich schien das, was ihn bewegte, zur Mitteilung reif zu sein.
19446
»Du gehst umher und fühlst dich übel«, sagte er und wandte sich mit
19447
krauser Nase an seinen Bruder. »Kopfschmerzen und unordentliche
19448
Eingeweide ... nun ja, das gibt es auch bei anderen Gelegenheiten. Aber
19449
du fühlst dich =schmutzig= --« und Christian rieb mit gänzlich
19450
verzerrtem Gesicht seine Hände -- »du fühlst dich schmutzig und
19451
ungewaschen am ganzen Körper. Du wäschst deine Hände, aber es nützt
19452
nichts, sie fühlen sich feucht und unsauber an, und deine Nägel haben
19453
etwas Fettiges ... Du badest dich, aber es hilft nichts, dein ganzer
19454
Körper scheint dir klebrig und unrein. Dein ganzer Körper ärgert dich,
19455
reizt dich, du bist dir selbst zum Ekel ... Kennst du es, Thomas, kennst
19458
»Ja, ja!« sagte der Senator mit abwehrender Handbewegung. Aber mit der
19459
seltsamen Taktlosigkeit, die mit den Jahren immer mehr an Christian
19460
hervortrat und ihn nicht daran denken ließ, daß diese Auseinandersetzung
19461
von der ganzen Tafelrunde peinlich empfunden wurde, daß sie in dieser
19462
Umgebung und an diesem Abend nicht am Platze war, fuhr er fort, den
19463
üblen Zustand nach übermäßigem Genuß von Schwedischem Punsch zu
19464
schildern, bis er glaubte, ihn erschöpfend charakterisiert zu haben und
19465
allmählich verstummte.
19467
Bevor man zu Butter und Käse überging, ergriff die Konsulin noch einmal
19468
das Wort zu einer kleinen Ansprache an die Ihrigen. Wenn auch nicht
19469
alles, sagte sie, im Laufe der Jahre sich so gestaltet habe, wie man es
19470
kurzsichtig und unweise erwünscht habe, so bleibe doch immer noch
19471
übergenug des sichtbarlichen Segens übrig, um die Herzen mit Dank zu
19472
erfüllen. Gerade der Wechsel von Glück und strenger Heimsuchung zeige,
19473
daß Gott seine Hand niemals von der Familie gezogen, sondern daß er ihre
19474
Geschicke nach tiefen und weisen Absichten gelenkt habe und lenke, die
19475
ungeduldig ergründen zu wollen man sich nicht erkühnen dürfe. Und nun
19476
wolle man, mit hoffenden Herzen, einträchtig anstoßen auf das Wohl der
19477
Familie, auf ihre Zukunft, jene Zukunft, die da sein werde, wenn die
19478
Alten und Älteren unter den Anwesenden längst in kühler Erde ruhen
19479
würden ... auf die Kinder, denen das heutige Fest ja recht eigentlich
19482
Und da Direktor Weinschenks Töchterchen nicht mehr anwesend war, mußte
19483
der kleine Johann, während die Großen auch untereinander sich zutranken,
19484
allein einen Umzug um die Tafel halten, um mit allen, von der Großmutter
19485
bis zu Mamsell Severin hinab, anzustoßen. Als er zu seinem Vater kam,
19486
hob der Senator, indem er sein Glas dem des Kindes näherte, sanft Hannos
19487
Kinn empor, um ihm in die Augen zu sehen ... Er fand nicht seinen Blick;
19488
denn Hannos lange, goldbraune Wimpern hatten sich tief, tief, bis auf
19489
die zart bläuliche Umschattung seiner Augen gesenkt.
19491
Therese Weichbrodt aber ergriff seinen Kopf mit beiden Händen, küßte ihn
19492
mit leise knallendem Geräusch auf jede Wange und sagte mit einer
19493
Betonung, so herzlich, daß Gott ihr nicht widerstehen konnte: »Sei
19494
glöcklich, du gutes Kend!«
19496
-- Eine Stunde später lag Hanno in seinem Bett, das jetzt in dem
19497
Vorzimmer stand, welches man vom Korridor der zweiten Etage aus betrat,
19498
und an das zur Linken das Ankleidekabinett des Senators stieß. Er lag
19499
auf dem Rücken, aus Rücksicht auf seinen Magen, der sich mit all dem,
19500
was er im Laufe des Abends hatte in Empfang nehmen müssen, noch
19501
keineswegs ausgesöhnt hatte, und sah mit erregten Augen der guten Ida
19502
entgegen, die, schon in der Nachtjacke, aus ihrem Zimmer kam und mit
19503
einem Wasserglase vor sich in der Luft umrührende Kreisbewegungen
19504
beschrieb. Er trank das kohlensaure Natron rasch aus, schnitt eine
19505
Grimasse und ließ sich wieder zurückfallen.
19507
»Ich glaube, nun muß ich mich erst recht übergeben, Ida.«
19509
»Ach wo, Hannochen. Nur still auf dem Rücken liegen ... Aber siehst du
19510
wohl? Wer hat dir mehrmals zugewinkt? Und wer nicht folgen wollt', war
19513
»Ja, ja, vielleicht geht es auch gut ... Wann kommen die Sachen, Ida?«
19515
»Morgen früh, mein Jungchen.«
19517
»Daß sie hier hereingesetzt werden! Daß ich sie gleich habe!«
19519
»Schon gut, Hannochen, aber erst mal ausschlafen.« Und sie küßte ihn,
19520
löschte das Licht und ging.
19522
Er war allein, und während er still liegend sich der segenvollen Wirkung
19523
des Natrons überließ, entzündete sich vor seinen geschlossenen Augen der
19524
Glanz des Bescherungssaales aufs neue. Er sah sein Theater, sein
19525
Harmonium, sein Mythologiebuch und hörte irgendwo in der Ferne das
19526
»Jauchze laut, Jerusalem« der Chorknaben. Alles flimmerte. Ein mattes
19527
Fieber summte in seinem Kopfe, und sein Herz, das von dem revoltierenden
19528
Magen ein wenig beengt und beängstigt wurde, schlug langsam, stark und
19529
unregelmäßig. In einem Zustand von Unwohlsein, Erregtheit,
19530
Beklommenheit, Müdigkeit und Glück lag er lange und konnte nicht
19533
Morgen kam der dritte Weihnachtsabend an die Reihe, die Bescherung bei
19534
Therese Weichbrodt, und er freute sich darauf als auf ein kleines
19535
burleskes Spiel. Therese Weichbrodt hatte im vorigen Jahre ihr Pensionat
19536
gänzlich aufgegeben, so daß nun Madame Kethelsen das Stockwerk und sie
19537
selbst das Erdgeschoß des kleinen Hauses am Mühlenbrink allein bewohnte.
19538
Die Beschwerden nämlich, die ihr mißglückter und gebrechlicher kleiner
19539
Körper ihr verursachte, hatten mit den Jahren zugenommen, und in aller
19540
Sanftmut und christlichen Bereitwilligkeit nahm Sesemi Weichbrodt an,
19541
daß ihre Abberufung nahe bevorstehe. Daher hielt sie auch seit mehreren
19542
Jahren schon jedes Weihnachtsfest für ihr letztes und suchte der Feier,
19543
die sie in ihren kleinen, fürchterlich überheizten Stuben veranstaltete,
19544
so viel Glanz zu verleihen, wie in ihren schwachen Kräften stand. Da sie
19545
nicht viel zu kaufen vermochte, so verschenkte sie jedes Jahr einen
19546
neuen Teil ihrer bescheidenen Habseligkeiten und baute unter dem Baume
19547
auf, was sie nur entbehren konnte: Nippsachen, Briefbeschwerer,
19548
Nadelkissen, Glasvasen und Bruchstücke ihrer Bibliothek, alte Bücher in
19549
drolligen Formaten und Einbänden, das »Geheime Tagebuch von einem
19550
Beobachter Seiner Selbst«, Hebels Alemannische Gedichte, Krummachers
19551
Parabeln ... Hanno besaß schon von ihr eine Ausgabe der »_Pensées de
19552
Blaise Pascal_«, die so winzig war, daß man nicht ohne Vergrößerungsglas
19553
darin lesen konnte.
19555
»Bischof« gab es in unüberwindlichen Mengen und die mit Ingwer
19556
bereiteten braunen Kuchen Sesemis waren ungeheuer schmackhaft. Niemals
19557
aber, dank der bebenden Hingabe, mit der Fräulein Weichbrodt jedesmal
19558
ihr letztes Weihnachtsfest beging, niemals verfloß dieser Abend, ohne
19559
daß eine Überraschung, ein Malheur, irgendeine kleine Katastrophe sich
19560
ereignet hätte, die die Gäste zum Lachen brachte und die stumme
19561
Leidenschaftlichkeit der Wirtin noch erhöhte. Eine Kanne mit Bischof
19562
stürzte und überschwemmte alles mit der roten, süßen, würzigen
19563
Flüssigkeit ... Oder es fiel der geputzte Baum von seinen hölzernen
19564
Füßen, genau in dem Augenblick, wenn man feierlich das Bescherungszimmer
19565
betrat ... Im Einschlafen sah Hanno den Unglücksfall des vorigen Jahres
19566
vor Augen: Es war unmittelbar vor der Bescherung. Therese Weichbrodt
19567
hatte mit soviel Nachdruck, daß alle Vokale ihre Plätze gewechselt
19568
hatten, das Weihnachtskapitel verlesen und trat nun von ihren Gästen
19569
zurück zur Tür, um von hier aus eine kleine Ansprache zu halten. Sie
19570
stand auf der Schwelle, bucklig, winzig, die alten Hände vor ihrer
19571
Kinderbrust zusammengelegt; die grünseidnen Bänder ihrer Haube fielen
19572
auf ihre zerbrechlichen Schultern, und zu ihren Häupten, über der Tür,
19573
ließ ein mit Tannenzweigen umkränztes Transparent die Worte leuchten.
19574
»Ehre sei Gott in der Höhe!« Und Sesemi sprach von Gottes Güte, sie
19575
erwähnte, daß dies ihr letztes Weihnachtsfest sei und schloß damit, daß
19576
sie alle mit des Apostels Worten zur Fröhlichkeit aufforderte, wobei sie
19577
von oben bis unten erzitterte, so sehr nahm ihr ganzer kleiner Körper
19578
Anteil an dieser Mahnung. »Freuet euch!« sagte sie, indem sie den Kopf
19579
auf die Seite legte und ihn heftig schüttelte. »Und abermals sage ich:
19580
Freuet euch!« In diesem Augenblick aber ging über ihr mit einem
19581
puffenden, fauchenden und knisternden Geräusch das ganze Transparent
19582
in Flammen auf, so daß Mademoiselle Weichbrodt mit einem kleinen
19583
Schreckenslaut und einem Sprunge von ungeahnter und pittoresker
19584
Behendigkeit sich dem Funkenregen entziehen mußte, der auf sie
19587
Hanno erinnerte sich dieses Sprunges, den das alte Mädchen vollführt
19588
hatte, und während mehrerer Minuten lachte er ganz ergriffen, irritiert
19589
und nervös belustigt, leise und unterdrückt in sein Kissen hinein.
19594
Frau Permaneder ging die Breite Straße entlang, sie ging in großer Eile.
19595
Etwas Aufgelöstes lag in ihrer Haltung, und nur flüchtig war mit
19596
Schultern und Haupt die majestätische Würde angedeutet, die sonst auf
19597
der Straße ihre Gestalt umgab. Bedrängt, gehetzt und in höchster Eile,
19598
hatte sie gleichsam nur ein wenig davon zusammengerafft, wie ein
19599
geschlagener König den Rest seiner Truppen an sich zieht, um sich mit
19600
ihm in die Arme der Flucht zu werfen ...
19602
Ach, sie sah nicht gut aus! Ihre Oberlippe, diese etwas hervorstehende
19603
und gewölbte Oberlippe, die ehemals dazu beigetragen hatte, ihr Gesicht
19604
so hübsch zu machen, bebte jetzt, ihre Augen waren angstvoll vergrößert
19605
und blickten mit einem exaltierten Zwinkern, gleichsam vorwärts hastend,
19606
geradeaus ... ihre Frisur kam sichtlich zerzaust unter dem Kapotthut
19607
hervor, und ihr Antlitz zeigte jene mattgelbliche Färbung, die es
19608
annahm, wenn der Zustand ihres Magens sich verschlechterte.
19610
Ja, es stand schlecht um ihren Magen in dieser Zeit; an den Donnerstagen
19611
konnte die gesamte Familie die Verschlimmerung beobachten. Wie man die
19612
Klippe zu vermeiden suchte -- das Gespräch strandete an dem Prozeß Hugo
19613
Weinschenks, Frau Permaneder selbst führte es unwiderstehlich darauf zu;
19614
und dann begann sie zu fragen, Gott und alle Welt furchtbar erregt um
19615
Antwort anzugehen, wie es möglich sei, daß Staatsanwalt Moritz
19616
Hagenström nachts ruhig schlafen könne! Sie begriff es nicht, sie würde
19617
es niemals fassen ... und dabei wuchs ihre Aufregung bei jedem Worte.
19618
»Ich danke, ich esse nichts«, sagte sie und schob alles von sich, indem
19619
sie die Schultern erhob, den Kopf zurücklegte und sich einsam auf die
19620
Höhe ihrer Entrüstung zurückzog, um nichts als Bier zu sich zu nehmen,
19621
kaltes, bayerisches Bier, das sie seit der Zeit ihrer Münchener Ehe zu
19622
trinken gewöhnt war, in ihren leeren Magen hinabzugießen, dessen Nerven
19623
in Aufruhr waren, und der sich bitter rächte. Denn gegen Ende der
19624
Mahlzeit mußte sie sich erheben, in den Garten oder den Hof hinuntergehen
19625
und dort, gestützt auf Ida Jungmann oder Riekchen Severin, die
19626
fürchterlichsten Übelkeiten erdulden. Ihr Magen entledigte sich seines
19627
Inhaltes und fuhr dann fort, sich qualvoll zusammenzuziehen, um in
19628
diesem Krampfzustande minutenlang zu verharren; unfähig, noch etwas von
19629
sich zu geben, würgte und litt sie so lange Zeit ...
19631
Es war etwa 3 Uhr nachmittags, ein windiger, regnerischer Januartag. Als
19632
Frau Permaneder zur Ecke der Fischergrube gelangt war, bog sie ein und
19633
eilte die abschüssige Straße hinunter und in das Haus ihres Bruders.
19634
Nach hastigem Klopfen trat sie vom Flur aus in das Kontor, ließ ihren
19635
Blick über die Pulte hin zu dem Fensterplatz des Senators fliegen und
19636
machte eine so bittende Kopfbewegung, daß Thomas Buddenbrook
19637
unverzüglich die Feder beiseite legte und ihr entgegenging.
19639
»Nun?« fragte er, indem er eine Braue emporzog ...
19641
»Einen Augenblick, Thomas ... etwas Dringendes ... es duldet keinen
19644
Er öffnete ihr die gepolsterte Tür zu seinem Privatbüro, zog sie hinter
19645
sich zu, als sie beide eingetreten waren, und sah seine Schwester
19648
»Tom«, sagte sie mit wankender Stimme und rang die Hände in ihrer
19649
Pelzmuff, »du mußt es hergeben ... vorläufig auslegen ... du mußt sie,
19650
bitte, stellen, die Kaution ... Wir haben sie nicht ... Woher sollten
19651
wir jetzt fünfundzwanzigtausend Kurantmark nehmen?... Du wirst sie voll
19652
und ganz zurückbekommen ... ach, wohl nur zu bald ... du verstehst
19653
... es ist eingetreten, daß ... kurz, der Prozeß ist auf dem
19654
Punkte, daß Hagenström sofortige Verhaftung oder eine Kaution von
19655
fünfundzwanzigtausend Kurantmark beantragt hat. Und Weinschenk gibt dir
19656
sein Ehrenwort, an Ort und Stelle zu bleiben ...«
19658
»Ist es wirklich so weit gekommen«, sagte der Senator kopfschüttelnd.
19660
»Ja, dahin haben sie es gebracht, die Schurken, die Elenden ...!« Und
19661
mit einem Aufschluchzen ohnmächtigen Zornes sank Frau Permaneder in den
19662
mit Wachstuch überzogenen Sessel, der neben ihr stand. »Und sie werden
19663
es noch weiterbringen, Tom, sie werden es bis ans Ende führen ...«
19665
»Tony«, sagte er und setzte sich schräg vor den Mahagonischreibtisch,
19666
schlug ein Bein über das andere und stützte den Kopf in die Hand ...
19667
»Sprich aufrichtig, glaubst du noch an seine Unschuld?«
19669
Sie schluchzte ein paarmal und antwortete dann leise und verzweifelt:
19670
»Ach, nein, Tom ... Wie könnte ich das wohl? Gerade ich, die soviel
19671
Böses erleben mußte? Ich habe es von Anfang an nicht recht gekonnt,
19672
obgleich ich mich so ehrlich bemüht habe. Das Leben, weißt du, macht es
19673
einem so furchtbar schwer, an die Unschuld irgendeines Menschen zu
19674
glauben ... Ach nein, mich haben schon seit langem Zweifel an seinem
19675
guten Gewissen gequält, und Erika selbst ... sie ist irre an ihm
19676
geworden ... sie hat es mir mit Weinen gestanden ... irre an ihm
19677
geworden durch sein Betragen zu Hause. Wir haben natürlich geschwiegen
19678
... Seine Außenseite wurde immer rauher ... und dabei verlangte er immer
19679
strenger, daß Erika heiter sein und seine Sorgen zerstreuen sollte und
19680
zerschlug Geschirr, wenn sie ernst war. Du weißt nicht, wie es war, wenn
19681
er sich spät abends noch stundenlang mit seinen Akten einschloß ... und
19682
wenn man klopfte, so hörte man, wie er aufsprang und rief: `Wer ist da!
19687
»Aber möge er doch schuldig sein! Möge er sich doch vergangen haben!«
19688
begann Frau Permaneder aufs neue, und hierbei schwoll ihre Stimme an.
19689
»Er hat nicht für seine Tasche gearbeitet, sondern für die der
19690
Gesellschaft; und dann ... Herr du mein Gott, es gibt doch Rücksichten
19691
zu beobachten in diesem Leben, Tom! Er hat nun einmal in unsere Familie
19692
hineingeheiratet ... er gehört nun einmal zu uns ... Man kann einen von
19693
uns doch nicht ins Gefängnis sperren, grundgütiger Himmel!...«
19695
Er zuckte die Achseln.
19697
»Du zuckst die Achseln, Tom ... Du bist also willens, es zu dulden, es
19698
hinzunehmen, daß dieses Geschmeiß sich erfrecht, der Sache die Krone
19699
aufzusetzen? Man muß doch irgend etwas tun! Er darf doch nicht
19700
verurteilt werden!... Du bist doch des Bürgermeisters rechte Hand ...
19701
mein Gott, kann der Senat ihn denn nicht sofort begnadigen?... Ich will
19702
dir sagen ... eben, bevor ich zu dir kam, war ich im Begriffe, zu Cremer
19703
zu gehen und ihn auf alle Weise anzuflehen, er möge intervenieren, möge
19704
in die Sache eingreifen ... Er ist Polizeichef ...«
19706
»Oh, Kind, was für Torheiten.«
19708
»Torheiten, Tom? -- Und Erika? Und das Kind?« sagte sie und hob ihm
19709
flehend die Muff entgegen, in der ihre beiden Hände steckten. Dann
19710
schwieg sie einen Augenblick und ließ die Arme sinken; ihr Mund
19711
verbreiterte sich, ihr Kinn, das sich kraus zusammenzog, geriet in
19712
zitternde Bewegung, und während unter ihren gesenkten Lidern zwei große
19713
Tränen hervorquollen, fügte sie ganz leise hinzu: »Und ich ...?«
19715
»Oh, Tony, Courage!« sagte der Senator, und gerührt und ergriffen von
19716
ihrer Hilflosigkeit rückte er ihr nahe, um ihr tröstend das Haar
19717
zurückzustreichen. »Noch ist nicht aller Tage Abend. Noch ist er ja
19718
nicht verurteilt. Es kann ja alles gut gehen. Jetzt stelle ich erst
19719
einmal die Kaution, ich sage natürlich nicht nein dazu. Und dann ist
19720
Breslauer ja ein schlauer Mensch ...«
19722
Sie schüttelte weinend den Kopf.
19724
»Nein, Tom, es wird nicht gut gehen, ich glaube nicht daran. Sie werden
19725
ihn verurteilen und einstecken, und dann kommt eine schwere Zeit für
19726
Erika und das Kind und mich. Ihre Mitgift ist nicht mehr da, sie steckt
19727
in der Ausstattung, in den Möbeln und den Bildern ... und beim Verkaufe
19728
bekommt man kaum ein Viertel heraus ... Und das Gehalt haben wir immer
19729
verbraucht ... Weinschenk hat nichts zurückgelegt. Wir werden wieder zu
19730
Mutter ziehen, wenn sie es erlaubt, bis er wieder auf freiem Fuße ist
19731
... und dann wird es beinahe noch schlimmer, denn wohin dann mit ihm und
19732
uns?... Wir können einfach auf den Steinen sitzen«, sagte sie
19737
»Nun ja, das ist eine Redewendung ... eine bildliche ... Ach nein, es
19738
wird nicht gut gehen. Auf mich ist zu vieles herabgekommen ... ich weiß
19739
nicht, womit ich es verdient habe ... aber ich kann nicht mehr hoffen.
19740
Nun wird es Erika ergehen, wie es mir mit Grünlich und Permaneder
19741
ergangen ist ... Aber jetzt kannst du es sehen, jetzt kannst du es aus
19742
nächster Nähe beurteilen, wie es ist, wie es kommt, wie es über einen
19743
hereinbricht! Kann man nun etwas dafür? Tom, ich bitte dich, kann man
19744
nun etwas dafür!« wiederholte sie und nickte ihm trostlos fragend, mit
19745
großen, tränenvollen Augen zu. »Alles ist fehlgeschlagen und hat sich
19746
zum Unglück gewandt, was ich unternommen habe ... Und ich habe so gute
19747
Absichten gehabt, Gott weiß es!... Ich habe immer so innig gewünscht, es
19748
zu etwas zu bringen im Leben und ein bißchen Ehre einzulegen ... Nun
19749
bricht auch dies zusammen. So muß es enden ... Das Letzte ...«
19751
Und an seinen Arm gelehnt, den er besänftigend um sie gelegt hatte,
19752
weinte sie über ihr verfehltes Leben, in dem nun die letzten Hoffnungen
19757
Eine Woche später ward Direktor Hugo Weinschenk zu einer Gefängnisstrafe
19758
von drei Jahren und einem halben verurteilt und sofort in Haft genommen.
19760
Der Andrang zu der Sitzung, welche die Plaidoyers gebracht hatte, war
19761
sehr groß gewesen, und Rechtsanwalt Doktor Breslauer aus Berlin hatte
19762
geredet, wie man niemals einen Menschen hatte reden hören. Der Makler
19763
Sigismund Gosch ging wochenlang zischend vor Begeisterung über diese
19764
Ironie, dieses Pathos, diese Rührung umher, und Christian Buddenbrook,
19765
der ebenfalls zugegen gewesen war, stellte sich im Klub hinter einen
19766
Tisch, legte ein Paket Zeitungen als Akten vor sich hin und lieferte
19767
eine vollendete Kopie des Verteidigers. Übrigens erklärte er zu Hause,
19768
die Jurisprudenz sei der schönste Beruf, ja, das wäre ein Beruf für ihn
19769
gewesen ... Selbst Staatsanwalt Doktor Hagenström, der ja ein Schöngeist
19770
war, tat private Äußerungen, die dahin gingen, daß Breslauers Rede ihm
19771
einen wirklichen Genuß bereitet habe. Aber das Talent des berühmten
19772
Advokaten hatte nicht gehindert, daß die Juristen der Stadt ihm auf die
19773
Schulter geklopft und ihm in aller Bonhomie mitgeteilt hatten, sie
19774
ließen sich nichts weis machen ...
19776
Dann, nachdem die Verkäufe, die nach des Direktors Verschwinden
19777
notwendig wurden, beendet waren, begann man in der Stadt Hugo Weinschenk
19778
zu vergessen. Aber die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße
19779
bekannten nun Donnerstags an der Familientafel: sofort, beim ersten
19780
Anblicke dieses Mannes hätten sie es ihm an den Augen angesehen, daß mit
19781
ihm nicht alles in Ordnung sei, daß sein Charakter voller Makel sein
19782
müsse, und daß es kein gutes Ende mit ihm nehmen werde. Rücksichten, die
19783
nicht lieber außer acht gelassen zu haben sie jetzt bedauerten, hätten
19784
sie veranlaßt, über diese traurige Erkenntnis Stillschweigen zu
19795
Hinter den beiden Herren, dem alten Doktor Grabow und dem jungen Doktor
19796
Langhals, einem Angehörigen der Familie Langhals, der etwa seit einem
19797
Jahre in der Stadt praktizierte, trat Senator Buddenbrook aus dem
19798
Schlafzimmer der Konsulin in das Frühstückszimmer und schloß die Tür.
19800
»Darf ich Sie bitten, meine Herren ... auf einen Augenblick«, sagte er
19801
und führte sie die Treppe hinauf, über den Korridor und durch die
19802
Säulenhalle ins Landschaftszimmer, wo des feuchten und kalten
19803
Herbstwetters wegen schon geheizt war. »Meine Spannung wird Ihnen
19804
begreiflich sein ... nehmen Sie Platz! Beruhigen Sie mich, wenn es
19805
irgend möglich ist!«
19807
»Potztausend, mein lieber Senator!« antwortete Doktor Grabow, der sich,
19808
das Kinn in der Halsbinde, bequem zurückgelehnt hatte und die Hutkrempe
19809
mit beiden Händen gegen seinen Magen gestemmt hielt, während Doktor
19810
Langhals, ein untersetzter, brünetter Herr mit spitzgeschnittenem Bart,
19811
aufrecht stehendem Haar, schönen Augen und einem eitlen
19812
Gesichtsausdruck, seinen Zylinder neben sich auf den Teppich gestellt
19813
hatte und seine außerordentlich kleinen, schwarzbehaarten Hände
19814
betrachtete ... »Für irgendwelche ernstliche Beunruhigung ist natürlich
19815
fürs erste platterdings keine Ursache vorhanden; ich bitte Sie ... eine
19816
Patientin von der verhältnismäßigen Widerstandskraft unserer verehrten
19817
Frau Konsulin ... Meiner Treu, als gedienter Ratgeber kenne ich diese
19818
Widerstandskraft. Für ihre Jahre wirklich erstaunlich ... was ich Ihnen
19821
»Ja, eben, in ihren Jahren ...«, sagte der Senator unruhig und drehte an
19822
der langen Spitze seines Schnurrbartes.
19824
»Ich sage natürlich nicht, daß Ihre liebe Frau Mutter wird morgen wieder
19825
spazierengehen können«, fuhr Doktor Grabow sanftmütig fort. »Diesen
19826
Eindruck wird die Patientin nicht auf Sie gemacht haben, lieber Senator.
19827
Es ist ja nicht zu leugnen, daß der Katarrh seit vierundzwanzig Stunden
19828
eine ärgerliche Wendung genommen hat. Der Schüttelfrost gestern abend
19829
gefiel mir nicht recht, und heute gibt es da nun wahrhaftig ein bißchen
19830
Seitenstechen und Kurzluftigkeit. Etwas Fieber ist auch vorhanden -- oh,
19831
unbedeutend, aber es ist Fieber. Kurz, lieber Senator, man muß sich wohl
19832
mit der vertrakten Tatsache abfinden, daß die Lunge ein bißchen
19835
»Lungenentzündung also?« fragte der Senator und blickte von einem Arzte
19838
»Ja, -- _Pneumonia_«, sagte Doktor Langhals mit ernster und korrekter
19841
»Allerdings, eine kleine, rechtsseitige Lungenentzündung«, antwortete
19842
der Hausarzt, »die wir sehr sorgfältig zu lokalisieren trachten
19845
»Danach ist immerhin Grund zu ernster Besorgnis vorhanden?« Der Senator
19846
saß ganz still und sah dem Sprechenden unverwandt ins Gesicht.
19848
»Besorgnis? O ... wir müssen, wie gesagt, darum besorgt sein, die
19849
Erkrankung einzuschränken, den Husten zu mildern, dem Fieber zu Leibe zu
19850
gehen ... nun, das Chinin wird seine Schuldigkeit tun ... Und dann noch
19851
eins, lieber Senator ... Keine Schreckhaftigkeit den einzelnen Symptomen
19852
gegenüber, nicht wahr? Sollte sich die Atemnot ein wenig verstärken,
19853
sollte in der Nacht vielleicht etwas Delirium stattfinden, oder morgen
19854
ein bißchen Auswurf sich einstellen ... wissen Sie, so ein
19855
rotbräunlicher Auswurf, wenn auch Blut dabei ist ... Das ist alles
19856
durchaus logisch, durchaus zur Sache gehörig, durchaus normal. Bereiten
19857
Sie, bitte, auch unsere liebe, verehrte Madame Permaneder darauf vor,
19858
die ja die Pflege mit soviel Hingebung leitet ... _A propos_, wie geht
19859
es ihr? Ich habe ganz und gar zu fragen vergessen, wie es in den letzten
19860
Tagen mit ihrem Magen gewesen ist ...«
19862
»Wie gewöhnlich. Ich weiß nichts Neues. Die Sorge um ihr Befinden tritt
19863
ja jetzt naturgemäß etwas zurück ...«
19865
»Versteht sich. Übrigens ... mir kommt dabei ein Gedanke. Ihre Frau
19866
Schwester hat Ruhe nötig, besonders in der Nacht, und Mamsell Severin
19867
allein dürfte doch wohl nicht ausreichen ... wie wäre es mit einer
19868
Pflegerin, lieber Senator? Wir haben da unsere guten katholischen Grauen
19869
Schwestern, für die Sie immer so wohlwollend eintreten ... Die Schwester
19870
Oberin wird sich freuen, Ihnen dienen zu können.«
19872
»Sie halten das also für nötig?«
19874
»Ich bringe es in Vorschlag. Es ist so angenehm ... Die Schwestern sind
19875
unschätzbar. Sie wirken mit ihrer Erfahrenheit und Besonnenheit so
19876
beruhigend auf die Kranken ... gerade bei diesen Krankheiten, die, wie
19877
gesagt, mit einer Reihe von etwas unheimlichen Symptomen verbunden sind
19878
... Also, um es zu wiederholen: ruhig Blut, nicht wahr, mein lieber
19879
Senator? Übrigens werden wir ja sehen ... wir werden ja sehen ... Wir
19880
sprechen ja heute abend noch einmal vor ...«
19882
»Zuversichtlich«, sagte Doktor Langhals, nahm seinen Zylinder und erhob
19883
sich gleichzeitig mit seinem älteren Kollegen. Aber der Senator blieb
19884
noch sitzen, er war noch nicht fertig, hatte noch eine Frage im Sinne,
19885
wollte noch eine Probe machen ...
19887
»Meine Herren«, sagte er, »ein Wort noch ... Mein Bruder Christian ist
19888
nervös, kurz, verträgt nicht viel ... Raten Sie mir, ihm von der
19889
Erkrankung Mitteilung zu machen? Ihm vielleicht ... die Rückkehr
19892
»Ihr Bruder Christian ist nicht in der Stadt?«
19894
»Nein, in Hamburg. Vorübergehend. In Geschäften, soviel ich weiß ...«
19896
Doktor Grabow warf seinem Kollegen einen Blick zu; dann schüttelte er
19897
dem Senator lachend die Hand und sagte: »Also lassen wir ihn ruhig bei
19898
seinen Geschäften! Warum ihn unnütz erschrecken? Sollte irgendeine
19899
Wendung in dem Befinden eintreten, die seine Anwesenheit wünschenswert
19900
macht, sagen wir: um die Patientin zu beruhigen, ihre Stimmung zu heben
19901
... nun, so wird ja immer noch Zeit sein ... immer noch Zeit ...«
19903
Während die Herren über Säulenhalle und Korridor zurückgingen und auf
19904
dem Treppenabsatz ein Weilchen stehenblieben, sprachen sie über andere
19905
Dinge, über Politik, über die Erschütterungen und Umwälzungen des kaum
19906
beendeten Krieges ...
19908
»Nun, jetzt kommen gute Zeiten, wie, Herr Senator? Geld im Lande ... Und
19909
frische Stimmung weit und breit ...«
19911
Und der Senator stimmte dem halb und halb bei. Er bestätigte, daß der
19912
Ausbruch des Krieges den Verkehr in Getreide von Rußland zu großem
19913
Aufschwung gebracht habe und erwähnte der großen Dimensionen, die damals
19914
der Haferimport, zum Zwecke der Armeelieferung angenommen habe. Aber der
19915
Profit habe sich sehr ungleich verteilt ...
19917
Die Ärzte gingen, und Senator Buddenbrook wandte sich, um noch einmal in
19918
das Krankenzimmer zurückzukehren. Er überlegte, was Grabow gesagt hatte
19919
... Es hatte soviel Hinterhältiges darin gelegen ... Man hatte gefühlt,
19920
wie er sich vor einer entschiedenen Äußerung hütete. Das einzige klare
19921
Wort war »Lungenentzündung« gewesen, und dieses Wort wurde nicht
19922
tröstlicher dadurch, daß Doktor Langhals es in die Sprache der
19923
Wissenschaft übersetzt hatte. Lungenentzündung in den Jahren der
19924
Konsulin ... Schon, daß es zwei Ärzte waren, die kamen und gingen, gab
19925
der Sache einen beunruhigenden Aspekt. Grabow hatte das ganz leichthin
19926
und fast unmerklich arrangiert. Er gedenke, sich über kurz oder lang zur
19927
Ruhe zu setzen, hatte er gesagt, und da der junge Langhals berufen sei,
19928
seine Praxis zu übernehmen, so mache er -- Grabow -- sich ein Vergnügen
19929
daraus, ihn hie und da schon jetzt heranzuziehen und einzuführen ...
19931
Als der Senator in das halbdunkle Schlafzimmer trat, war seine Miene
19932
munter und seine Haltung energisch. Er war so gewöhnt daran, Sorge und
19933
Müdigkeit unter einem Ausdruck von überlegener Sicherheit zu verbergen,
19934
daß beim Öffnen der Tür diese Maske beinahe von selbst infolge eines
19935
ganz kurzen Willensaktes über sein Gesicht geglitten war.
19937
Frau Permaneder saß an dem Himmelbett, dessen Vorhänge zurückgeschlagen
19938
waren, und hielt die Hand ihrer Mutter, die, von Kissen gestützt, den
19939
Kopf dem Eintretenden zuwandte und ihm mit ihren hellblauen Augen
19940
forschend ins Gesicht sah. Es war ein Blick voll beherrschter Ruhe und
19941
von angespannter, unausweichlicher Eindringlichkeit, der, da er ein
19942
wenig von der Seite kam, beinahe etwas Lauerndes hatte. Abgesehen von
19943
der Blässe der Haut, die auf den Wangen ein paar Flecke von fieberiger
19944
Röte hervortreten ließ, zeigte dies Gesicht durchaus keine Mattigkeit
19945
und Schwäche. Die alte Dame war sehr aufmerksam bei der Sache,
19946
aufmerksamer noch als ihre Umgebung, denn am Ende war sie die zunächst
19947
Beteiligte. Sie mißtraute dieser Krankheit und war ganz und gar nicht
19948
gewillt, sich aufs Ohr zu legen und den Dingen nachgiebig ihren Lauf zu
19951
»Was haben sie gesagt, Thomas?« fragte sie mit so bestimmter und
19952
lebhafter Stimme, daß sich sofort ein heftiger Husten einstellte, den
19953
sie mit geschlossenen Lippen zurückzuhalten suchte, der aber hervorbrach
19954
und sie zwang, die Hand gegen ihre rechte Seite zu pressen.
19956
»Sie haben gesagt«, antwortete der Senator, als der Anfall vorüber war,
19957
und streichelte ihre Hand ... »Sie haben gesagt, daß unsere gute Mutter
19958
in ein paar Tagen wieder auf den Füßen sein wird. Daß du das noch nicht
19959
kannst, weißt du, das liegt daran, daß dieser dumme Husten natürlich die
19960
Lunge ein bißchen angegriffen hat ... es ist nicht gerade
19961
Lungenentzündung«, sagte er, da er sah, daß ihr Blick noch
19962
eindringlicher wurde ... »obgleich ja auch das noch nicht das Ende aller
19963
Dinge wäre, ach, da gibt es Schlimmeres! Kurz, die Lunge ist etwas
19964
gereizt, sagen die beiden, und damit mögen sie wohl recht haben ... Wo
19965
ist denn die Severin?«
19967
»Zur Apotheke«, sagte Frau Permaneder.
19969
»Seht ihr, die ist schon wieder in der Apotheke, und du, Tony, siehst
19970
aus, als wolltest du jeden Augenblick einschlafen. Nein, das geht nicht
19971
länger. Wenn es auch nur für ein paar Tage ist ... wir müssen eine
19972
Pflegerin hier haben, meint ihr nicht auch? Wartet, ich lasse jetzt
19973
gleich bei meiner Grauen-Schwester-Oberin anfragen, ob eine disponibel
19976
»Thomas«, sagte die Konsulin jetzt mit behutsamer Stimme, um den
19977
Hustenreiz nicht wieder zu entfesseln, »glaube mir, du erregst Anstoß
19978
mit deiner beständigen Protektion der Katholischen gegenüber den
19979
Schwarzen Protestantischen. Du hast den einen direkte Vorteile
19980
verschafft und tust nichts für die anderen. Ich versichere dich, Pastor
19981
Pringsheim hat sich neulich mit deutlichen Worten bei mir darüber
19984
»Ja, das nützt ihm gar nichts. Ich bin überzeugt, daß die Grauen
19985
Schwestern treuer, hingebender, aufopferungsfähiger sind als die
19986
Schwarzen. Diese Protestantinnen, das ist nicht das Wahre. Das will sich
19987
alles bei erster Gelegenheit verheiraten ... Kurzum, sie sind irdisch,
19988
egoistisch, ordinär ... Die Grauen sind degagierter, ja, ganz sicher,
19989
sie stehen dem Himmel näher. Und gerade, weil sie mir Dank schulden,
19990
sind sie vorzuziehen. Was ist Schwester Leandra uns nicht gewesen, als
19991
Hanno Zahnkrämpfe hatte! Ich will nur hoffen, daß sie frei ist ...«
19993
Und Schwester Leandra kam. Sie legte still ihre kleine Handtasche, ihren
19994
Umhang und die graue Haube ab, die sie über der weißen trug, und ging,
19995
während der Rosenkranz, der an ihrem Gürtel hing, leise klapperte, mit
19996
sanften und freundlichen Worten und Bewegungen an ihre Arbeit. Sie
19997
pflegte die verwöhnte und nicht immer geduldige Kranke Tag und Nacht und
19998
zog sich dann stumm und fast beschämt über die menschliche Schwäche, der
19999
sie unterlag, zurück, um sich von einer anderen Schwester ablösen zu
20000
lassen, zu Hause ein wenig zu schlafen und dann zurückzukehren.
20002
Denn die Konsulin verlangte beständigen Dienst an ihrem Bette. Je mehr
20003
sich ihr Zustand verschlimmerte, desto mehr wandte sich ihr ganzes
20004
Denken, ihr ganzes Interesse ihrer Krankheit zu, die sie mit Furcht und
20005
einem offenkundigen, naiven Haß beobachtete. Sie, die ehemalige
20006
Weltdame, mit ihrer stillen, natürlichen und dauerhaften Liebe zum
20007
Wohlleben und zum Leben überhaupt, hatte ihre letzten Jahre mit
20008
Frömmigkeit und Wohltätigkeit erfüllt ... warum? Vielleicht nicht nur
20009
aus Pietät gegen ihren verstorbenen Gatten, sondern auch aus dem
20010
unbewußten Triebe, den Himmel mit ihrer starken Vitalität zu versöhnen
20011
und ihn zu veranlassen, ihr dereinst trotz ihrer zähen Anhänglichkeit an
20012
das Leben einen sanften Tod zu vergönnen? Aber sie konnte nicht sanft
20013
sterben. Manches schmerzlichen Erlebnisses ungeachtet war ihre Gestalt
20014
vollständig ungebeugt und ihr Auge klar geblieben. Sie liebte es, gute
20015
Mahlzeiten zu halten, sich vornehm und reich zu kleiden, das
20016
Unerfreuliche, was um sie her bestand oder geschah, zu übersehen, zu
20017
vertuschen und wohlgefällig an dem hohen Ansehen teilzunehmen, das ihr
20018
ältester Sohn sich weit und breit verschafft hatte. Diese Krankheit,
20019
diese Lungenentzündung war in ihren aufrechten Körper eingebrochen, ohne
20020
daß irgendwelche seelische Vorarbeit ihr das Zerstörungswerk erleichtert
20021
hätte ... jene Minierarbeit des Leidens, die uns langsam und unter
20022
Schmerzen dem Leben selbst oder doch den Bedingungen entfremdet, unter
20023
denen wir es empfangen haben, und in uns die süße Sehnsucht nach einem
20024
Ende, nach anderen Bedingungen oder nach dem Frieden erweckt ... Nein,
20025
die alte Konsulin fühlte wohl, daß sie trotz der christlichen
20026
Lebensführung ihrer letzten Jahre nicht eigentlich bereit war, zu
20027
sterben, und der unbestimmte Gedanke, daß, sollte dies ihre letzte
20028
Krankheit sein, diese Krankheit ganz selbständig, in letzter Stunde und
20029
in gräßlicher Eile, mit Körperqualen ihren Widerstand zerbrechen und die
20030
Selbstaufgabe herbeiführen müsse, erfüllte sie mit Angst.
20032
Sie betete viel; aber fast noch mehr überwachte sie, sooft sie bei
20033
Besinnung war, ihren Zustand, fühlte selbst ihren Puls, maß ihr Fieber,
20034
bekämpfte ihren Husten ... Der Puls aber ging schlecht, das Fieber stieg
20035
desto höher, nachdem es ein wenig gefallen war und warf sie aus
20036
Schüttelfrösten in hitzige Delirien, der Husten, der mit inneren
20037
Schmerzen verbunden war und blutigen Auswurf zutage förderte, nahm zu,
20038
und Atemnot ängstigte sie. Das alles aber kam daher, daß jetzt nicht
20039
mehr nur ein Lappen der rechten Lunge, sondern die ganze rechte Lunge in
20040
Mitleidenschaft gezogen war, ja, daß, wenn nicht alles täuschte, auch
20041
schon an der linken Seite Spuren des Vorganges bemerkbar waren, den
20042
Doktor Langhals, indem er seine Fingernägel besah, »Hepatisation« nannte
20043
und über den Doktor Grabow sich lieber gar nicht weiter ausließ ... Das
20044
Fieber zehrte unablässig. Der Magen begann zu versagen. Unaufhaltsam,
20045
mit zäher Langsamkeit, schritt der Kräfteverfall vorwärts.
20047
Sie verfolgte ihn, nahm, wenn sie irgend dazu imstande war, eifrig die
20048
konzentrierte Nahrung, die man ihr bot, hielt sorglicher noch als ihre
20049
Pflegerinnen die Stunden des Medizinierens inne und war von all dem so
20050
in Anspruch genommen, daß sie beinahe nur noch mit den Ärzten sprach und
20051
wenigstens nur im Gespräche mit ihnen aufrichtiges Interesse an den Tag
20052
legte. Besuche, die anfänglich vorgelassen wurden, Freundinnen,
20053
Mitglieder des »Jerusalemsabend«, alte Damen aus der Gesellschaft und
20054
Pastorsgattinnen, empfing sie apathisch oder mit zerstreuter
20055
Herzlichkeit und entließ sie rasch. Ihre Angehörigen empfanden peinlich
20056
die Gleichgültigkeit, mit der die alte Dame ihnen begegnete; sie nahm
20057
sich wie eine Art Geringschätzung aus, die besagte: »Ihr könnt mir ja
20058
doch nicht helfen.« Selbst dem kleinen Hanno, der in einer erträglichen
20059
Stunde eingelassen wurde, strich sie nur flüchtig über die Wange und
20060
wandte sich dann ab. Es war, als wollte sie sagen: »Kinder, ihr seid
20061
alle liebe Leute, aber ich -- ich muß vielleicht sterben!« Die beiden
20062
Ärzte dagegen empfing sie mit lebhafter und interessierter Wärme, um
20063
eingehend mit ihnen zu konferieren ...
20065
Eines Tages erschienen die alten Damen Gerhardt, die Nachkommen Paul
20066
Gerhardts. Sie kamen mit ihren Mantillen, ihren tellerartigen Hüten und
20067
ihren Provianttaschen von Armenbesuchen, und man konnte ihnen nicht
20068
verwehren, ihre kranke Freundin zu sehen. Man ließ sie allein mit ihr,
20069
und Gott allein weiß, was sie zu ihr sprachen, während sie an ihrem
20070
Bette saßen. Als sie aber gingen, waren ihre Augen und Gesichtszüge noch
20071
klarer, noch milder und selig verschlossener als vorher, und drinnen lag
20072
die Konsulin mit ebensolchen Augen und ebensolchem Gesichtsausdruck, lag
20073
ganz still, ganz friedlich, friedlicher als jemals, ihr Atem ging selten
20074
und sanft, und sie fiel ersichtlich von Schwäche zu Schwäche. Frau
20075
Permaneder, die den Damen Gerhardt ein starkes Wort nachmurmelte,
20076
schickte sofort zu den Ärzten, und kaum erschienen die beiden Herren im
20077
Rahmen der Tür, als eine vollständige, eine verblüffende Veränderung mit
20078
der Konsulin vor sich ging. Sie erwachte, sie geriet in Bewegung, sie
20079
richtete sich beinahe auf. Der Anblick dieser Männer, dieser beiden
20080
notdürftig unterrichteten Mediziner gab sie mit einem Schlage der Erde
20081
wieder. Sie streckte ihnen die Hände entgegen, beide Hände, und fing an:
20082
»Seien Sie mir willkommen, meine Herren! Die Sachen stehen nun so, daß
20083
heute im Lauf des Tages ...«
20085
Aber es war längst der Tag gekommen, da die doppelseitige
20086
Lungenentzündung nicht mehr wegzuleugnen gewesen war.
20088
»Ja, mein lieber Herr Senator«, hatte Doktor Grabow gesagt und Thomas
20089
Buddenbrooks Hände genommen ... »Wir haben es nicht verhindern können,
20090
es ist nun doppelseitig, und das ist immer bedenklich, wie Sie so gut
20091
wissen wie ich, ich mache Ihnen kein X für ein U ... Es ist, ob der
20092
Patient nun zwanzig oder siebenzig Jahre alt ist, in jedem Falle eine
20093
Sache, die man ernst nehmen muß, und wenn Sie mich daher heute noch
20094
einmal fragten, ob Sie Ihrem Herrn Bruder Christian schreiben, ihm
20095
vielleicht ein kleines Telegramm schicken sollten, so würde ich nicht
20096
abraten, ich würde mich besinnen, Sie davon abzuhalten ... Wie geht es
20097
ihm übrigens? Ein spaßhafter Mann; ich habe ihn immer herzlich gern
20098
gehabt ... Um Gottes willen, ziehen Sie keine übertriebenen Folgerungen
20099
aus meinen Worten, lieber Senator! Nicht als ob nun eine unmittelbare
20100
Gefahr vorläge ... ach was, ich bin töricht, das Wort in den Mund zu
20101
nehmen! Aber unter diesen Verhältnissen, wissen Sie, muß man immer aus
20102
der Ferne mit unvorhersehbaren Zufälligkeiten rechnen ... Mit Ihrer
20103
verehrten Frau Mutter als Patientin sind wir ja ganz außerordentlich
20104
zufrieden. Sie hilft uns wacker, sie läßt uns nicht im Stich ... nein,
20105
ohne Kompliment, als Patientin ist sie unübertrefflich! Und darum
20106
hoffen, mein lieber Herr Senator, hoffen! Lassen Sie uns immer das Beste
20109
Aber es kommt ein Augenblick, von dem an die Hoffnung der Angehörigen
20110
etwas Künstliches und Unaufrichtiges ist. Schon hat sich eine
20111
Veränderung mit dem Kranken vollzogen, und etwas der Person Fremdes, die
20112
er im Leben darstellte, ist in seinem Benehmen. Gewisse, seltsame Worte
20113
kommen aus seinem Munde, auf die wir nicht zu antworten verstehen und
20114
die ihm gleichsam den Rückweg abschneiden und ihn dem Tode verpflichten.
20115
Und wäre er uns der Liebste, wir können nach all dem nicht mehr wollen,
20116
daß er aufstehe und wandle. Würde er es dennoch tun, so würde er Grauen
20117
um sich verbreiten wie einer, der dem Sarge entstiegen ...
20119
Gräßliche Merkmale der beginnenden Auflösung zeigten sich, während die
20120
Organe, von einem zähen Willen in Gang gehalten, noch arbeiteten. Da,
20121
seit die Konsulin sich mit einem Katarrh hatte zu Bette legen müssen,
20122
Wochen vergangen waren, so hatten sich durch das Liegen an ihrem Körper
20123
mehrere Wunden gebildet, die sich nicht mehr schlossen und in einen
20124
fürchterlichen Zustand übergingen. Sie schlief nicht mehr; erstens, weil
20125
Schmerz, Husten und Atemnot sie daran hinderten, dann aber, weil sie
20126
selbst sich gegen den Schlaf auflehnte und sich an das Wachsein
20127
klammerte. Nur für Minuten ging ihr Bewußtsein im Fieber unter; aber
20128
auch bei bewußten Sinnen sprach sie laut mit Personen, die längst
20129
gestorben waren. Eines Nachmittags in der Dämmerung sagte sie plötzlich
20130
mit lauter, etwas ängstlicher, aber inbrünstiger Stimme: »Ja, mein
20131
lieber Jean, ich komme!« Und die Unmittelbarkeit dieser Antwort war so
20132
täuschend, daß man nachträglich die Stimme des verstorbenen Konsuls zu
20133
hören glaubte, der sie gerufen hatte.
20135
Christian traf ein; er kam von Hamburg, woselbst er, wie er sagte,
20136
Geschäfte gehabt hatte, und verweilte übrigens nur kurze Zeit im
20137
Krankenzimmer; dann verließ er es, indem er sich über die Stirn strich,
20138
die Augen wandern ließ und sagte: »Das ist ja furchtbar ... Das ist ja
20139
furchtbar ... Ich kann es nun nicht mehr.«
20141
Auch Pastor Pringsheim erschien, streifte Schwester Leandra mit einem
20142
kalten Blick und betete mit modulierender Stimme am Bette der Konsulin.
20144
Und dann kam die kurze Besserung, das Aufflackern, ein Nachlassen des
20145
Fiebers, eine täuschende Rückkehr der Kräfte, ein Stillewerden der
20146
Schmerzen, ein paar klare und hoffnungsvolle Äußerungen, die den
20147
Umstehenden Tränen der Freude in die Augen treiben ...
20149
»Kinder, wir behalten sie, ihr sollt sehen, wir behalten sie trotz
20150
alledem!« sagte Thomas Buddenbrook. »Wir haben sie Weihnachten bei uns
20151
und erlauben nicht, daß sie sich dabei aufregt wie sonst ...«
20153
Aber schon in der nächstfolgenden Nacht, kurze Zeit nachdem Gerda und
20154
ihr Gatte zu Bette gegangen waren, wurden sie von seiten Frau
20155
Permaneders in die Mengstraße berufen, da die Kranke mit dem Tode
20156
kämpfe. Der Wind fuhr in den kalten Regen, der herniederging, und trieb
20157
ihn prasselnd gegen die Fensterscheiben.
20159
Als der Senator und seine Frau das Zimmer betraten, das von den Kerzen
20160
zweier Armleuchter erhellt war, die auf dem Tische brannten, waren die
20161
beiden Ärzte schon zugegen. Auch Christian war aus seinem Zimmer
20162
heruntergeholt worden und saß irgendwo, indem er dem Himmelbette den
20163
Rücken zuwandte und die Stirn, tief gebückt, in beide Hände stützte.
20164
Man erwartete den Bruder der Kranken, Konsul Justus Kröger, nach dem
20165
ebenfalls geschickt worden war. Frau Permaneder und Erika Weinschenk
20166
hielten sich leise schluchzend am Fußende des Bettes. Schwester Leandra
20167
und Mamsell Severin hatten nichts mehr zu tun und blickten betrübt in
20168
das Gesicht der Sterbenden.
20170
Die Konsulin lag, von mehreren Kissen gestützt, auf dem Rücken, und ihre
20171
beiden Hände, diese schönen, mattblau geäderten Hände, die nun so mager,
20172
so ganz abgezehrt waren, streichelten hastig und unaufhörlich, mit
20173
zitternder Eilfertigkeit die Steppdecke. Ihr Kopf, mit einer weißen
20174
Nachthaube bedeckt, wandte sich ohne Unterlaß, mit entsetzenerregender
20175
Taktmäßigkeit, von einer Seite zur anderen. Ihr Mund, dessen Lippen
20176
einwärts gezogen zu sein schienen, öffnete und schloß sich schnappend
20177
bei jedem qualvollen Atmungsversuch, und ihre eingesunkenen Augen irrten
20178
hilfesuchend umher, um hie und da mit einem erschütternden Ausdruck von
20179
Neid auf einer der anwesenden Personen haften zu bleiben, die
20180
angekleidet waren und atmen konnten, denen das Leben gehörte und die
20181
nichts weiter zu tun vermochten, als das Liebesopfer zu bringen, das
20182
darin bestand, den Blick auf dieses Bild gerichtet zu halten. Und die
20183
Nacht rückte vor, ohne daß eine Veränderung eingetreten wäre.
20185
»Wie lange kann es noch dauern?« fragte Thomas Buddenbrook leise und zog
20186
den alten Doktor Grabow in den Hintergrund des Zimmers, während Doktor
20187
Langhals gerade irgendeine Injektion an der Kranken vornahm. Auch Frau
20188
Permaneder, das Taschentuch am Munde, trat herzu.
20190
»Ganz unbestimmt, lieber Senator«, antwortete Doktor Grabow. »Ihre Frau
20191
Mutter kann in fünf Minuten erlöst sein, und sie kann noch stundenlang
20192
leben ... ich kann Ihnen nichts sagen. Es handelt sich um das, was man
20193
Stickfluß nennt ... ein Ödem ...«
20195
»Ich weiß es«, sagte Frau Permaneder und nickte in ihr Taschentuch,
20196
während die Tränen über ihre Wangen rannen. »Es kommt bei
20197
Lungenentzündungen oft vor ... Es hat sich dann so eine wässerige
20198
Flüssigkeit in den Lungenbläschen angesammelt, und wenn es schlimm wird,
20199
so kann man nicht mehr atmen ... Ja, ich weiß es ...«
20201
Die Hände vor sich gefaltet, blickte der Senator zum Himmelbette
20204
»Wie furchtbar sie leiden muß!« flüsterte er.
20206
»Nein!« sagte Doktor Grabow ebenso leise, aber mit ungeheurer Autorität
20207
und legte sein langes, mildes Gesicht in entschiedene Falten ... »Das
20208
täuscht, glauben Sie mir, liebster Freund, das täuscht! Das Bewußtsein
20209
ist sehr getrübt ... Es sind allergrößten Teiles Reflexbewegungen, was
20210
Sie da sehen ... Glauben Sie mir ...«
20212
Und Thomas antwortete: »Gott gebe es!« -- Aber jedes Kind hätte es an
20213
den Augen der Konsulin sehen können, daß sie ganz und gar bei Bewußtsein
20214
war und alles empfand ...
20216
Man nahm seine Plätze wieder ein ... Auch Konsul Kröger war eingetroffen
20217
und saß, über die Krücke seines Stockes gebeugt, mit geröteten Augen am
20220
Die Bewegungen der Kranken hatten zugenommen. Eine schreckliche Unruhe,
20221
eine unsägliche Angst und Not, ein unentrinnbares Verlassenheits- und
20222
Hilflosigkeitsgefühl ohne Grenzen mußte diesen, dem Tode ausgelieferten
20223
Körper vom Scheitel bis zur Sohle erfüllen. Ihre Augen, diese armen,
20224
flehenden, wehklagenden und suchenden Augen schlossen sich bei den
20225
röchelnden Drehungen des Kopfes manchmal mit brechendem Ausdruck oder
20226
erweiterten sich so sehr, daß die kleinen Adern des Augapfels blutrot
20227
hervortraten. Und keine Ohnmacht kam!
20229
Kurz nach drei Uhr sah man, wie Christian aufstand. »Ich kann es nun
20230
nicht mehr«, sagte er und ging, indem er sich auf die Möbelstücke
20231
stützte, die an seinem Wege standen, lahmend zur Tür hinaus. -- Übrigens
20232
waren Erika Weinschenk sowohl wie Mamsell Severin, eingelullt
20233
wahrscheinlich von den einförmigen Schmerzenslauten, auf ihren Stühlen
20234
eingeschlafen und blühten rosig im Schlummer.
20236
Um vier Uhr ward es schlimmer und schlimmer. Man stützte die Kranke und
20237
trocknete ihr den Schweiß von der Stirn. Die Atmung drohte gänzlich zu
20238
versagen, und die Ängste nahmen zu. »Etwas zu schlafen ...!« brachte sie
20239
hervor. »Ein Mittel ...!« Aber man war weit entfernt davon, ihr etwas zu
20242
Plötzlich begann sie wieder zu antworten, auf etwas, was die anderen
20243
nicht hörten, wie sie es schon einmal getan hatte. »Ja, Jean, nicht
20244
lange mehr!« ... Und gleich darauf: »Ja, liebe Klara, ich komme!...«
20246
Und dann begann der Kampf aufs neue ... War es noch ein Kampf mit dem
20247
Tode? Nein, sie rang jetzt mit dem Leben um den Tod. »Ich will
20248
gerne ...«, keuchte sie ... »ich kann nicht ... Was zu schlafen!...
20249
Meine Herren, aus Barmherzigkeit! was zu schlafen ...!«
20251
Dieses »aus Barmherzigkeit« machte, daß Frau Permaneder laut aufweinte
20252
und Thomas leise stöhnte, indem er einen Augenblick seinen Kopf mit den
20253
Händen erfaßte. Aber die Ärzte kannten ihre Pflicht. Es galt unter allen
20254
Umständen, dieses Leben den Angehörigen so lange wie nur irgend möglich
20255
zu erhalten, während ein Betäubungsmittel sofort ein widerstandsloses
20256
Aufgeben des Geistes bewirkt haben würde. Ärzte waren nicht auf der
20257
Welt, den Tod herbeizuführen, sondern das Leben um jeden Preis zu
20258
konservieren. Dafür sprachen außerdem gewisse religiöse und moralische
20259
Gründe, von denen sie auf der Universität sehr wohl gehört hatten, wenn
20260
sie ihnen im Augenblick auch nicht gegenwärtig waren ... Sie stärkten im
20261
Gegenteil mit verschiedenen Mitteln das Herz und brachten durch
20262
Brechreiz mehrere Male eine momentane Erleichterung hervor.
20264
Um fünf Uhr konnte der Kampf nicht mehr furchtbarer werden. Die
20265
Konsulin, im Krampfe aufgerichtet und mit weit geöffneten Augen, stieß
20266
mit den Armen um sich, als griffe sie nach einem Haltepunkt oder nach
20267
Händen, die sich ihr entgegenstreckten, und antwortete nun unaufhörlich
20268
in die Luft hinein nach allen Seiten auf Rufe, die nur sie vernahm, und
20269
die immer zahlreicher und dringlicher zu werden schienen. Es war, als ob
20270
nicht nur ihr verstorbener Gatte und ihre Tochter, sondern auch ihre
20271
Eltern, Schwiegereltern und mehrere andere, ihr im Tode vorangegangene
20272
Anverwandte irgendwo anwesend waren, und sie nannte Vornamen, von denen
20273
niemand im Zimmer sofort hätte sagen können, welche Verstorbenen damit
20274
gemeint seien. »Ja!« rief sie und wandte sich nach verschiedenen
20275
Richtungen ... »Jetzt komme ich ... Sofort ... Diesen Augenblick noch
20276
... So ... Ich kann nicht ... Ein Mittel, meine Herren ...«
20278
Um halb sechs Uhr trat ein Augenblick der Ruhe ein. Und dann, ganz
20279
plötzlich, ging über ihre gealterten und vom Leiden zerrissenen Züge ein
20280
Zucken, eine jähe, entsetzte Freude, eine tiefe, schauernde, furchtsame
20281
Zärtlichkeit, blitzschnell breitete sie die Arme aus, und mit einer so
20282
stoßartigen und unvermittelten Schnelligkeit, daß man fühlte: zwischen
20283
dem, was sie gehört, und ihrer Antwort lag nicht ein Augenblick -- rief
20284
sie laut mit dem Ausdruck des unbedingtesten Gehorsams und einer
20285
grenzenlosen angst- und liebevollen Gefügigkeit und Hingebung: »Hier bin
20286
ich!« ... und verschied.
20288
Alle waren zusammengeschrocken. Was war das gewesen? Wer hatte gerufen,
20289
daß sie sofort gefolgt war?
20291
Jemand zog den Fenstervorhang zurück und löschte die Kerzen, während
20292
Doktor Grabow mit mildem Gesicht der Toten die Augen schloß.
20294
Alle fröstelten in dem fahlen Herbstmorgen, der nun das Zimmer erfüllte.
20295
Schwester Leandra verkleidete den Toilettenspiegel mit einem Tuche.
20300
Durch die offene Tür sah man im Sterbezimmer Frau Permaneder im Gebete
20301
liegen. Sie befand sich allein und kniete, ihre Trauergewänder um sich
20302
her auf dem Boden ausgebreitet, in der Nähe des Bettes, an einem Stuhle,
20303
indem sie die fest gefalteten Hände auf dem Sitze ruhen ließ und
20304
gebeugten Hauptes murmelte ... Sie hörte sehr wohl, daß ihr Bruder und
20305
ihre Schwägerin das Frühstückszimmer betraten, in dessen Mitte sie
20306
unwillkürlich stehen blieben, um das Ende der Andacht zu erwarten; aber
20307
sie beeilte sich deswegen nicht sonderlich, ließ zum Schlusse ihr
20308
trockenes Räuspern ertönen, nahm mit langsamer Feierlichkeit ihr Kleid
20309
zusammen, erhob sich und ging ihren Verwandten ohne eine Spur von
20310
Verwirrung in vollkommen würdiger Haltung entgegen.
20312
»Thomas«, sagte sie nicht ohne Härte, »was die Severin betrifft, so
20313
scheint es mir, daß die selige Mutter eine Natter an ihrem Busen genährt
20318
»Ich bin voll Ärger über sie. Man könnte die Fassung verlieren und sich
20319
vergessen ... Hat dies Weib ein Recht, einem den Schmerz dieser Tage in
20320
so ordinärer Weise zu vergällen?«
20322
»Aber was ist es denn?«
20324
»Erstens einmal ist sie von einer empörenden Habsucht. Sie geht an den
20325
Schrank, nimmt Mutters seidene Kleider heraus, packt sie über den Arm
20326
und will sich zurückziehen. `Riekchen´, sage ich, `wohin damit?´ -- `Das
20327
hat Frau Konsul mir versprochen!´ -- `Liebe Severin!´ sage ich und gebe
20328
ihr in aller Zurückhaltung das Voreilige ihrer Handlungsweise zu
20329
bedenken. Meinst du, daß es etwas nützt? Sie nimmt nicht nur die
20330
seidenen Kleider, sie nimmt auch noch ein Paket Wäsche und geht. Ich
20331
kann mich doch nicht mit ihr prügeln, nicht wahr?... Und nicht sie
20332
allein ... auch die Mädchen ... Waschkörbe voll Kleider und Leinenzeug
20333
werden aus dem Hause geschafft ... Das Personal teilt sich unter meinen
20334
Augen in die Sachen, denn die Severin hat die Schlüssel zu den
20335
Schränken. `Fräulein Severin!´ sage ich, `ich wünsche die Schlüssel.´
20336
Was antwortet sie mir? Sie erklärt mir mit deutlichen und gewöhnlichen
20337
Worten, ich hätte ihr nichts zu sagen, sie stände nicht bei mir in
20338
Dienst, ich hätte sie nicht engagiert, sie werde die Schlüssel behalten,
20341
»Hast du die Schlüssel zum Silberzeug? -- Gut. Laß dem übrigen seinen
20342
Lauf. Dergleichen ist unvermeidlich, wenn ein Haushalt aufgelöst wird,
20343
in dem zuletzt sowieso schon ein bißchen lax regiert wurde. Ich will
20344
jetzt keinen Lärm machen. Das Weißzeug ist alt und defekt ... Übrigens
20345
werden wir ja sehen, was noch da ist. Hast du die Verzeichnisse? Auf dem
20346
Tische? Gut. Wir werden ja gleich sehen.«
20348
Und sie traten in das Schlafzimmer, um ein Weilchen still nebeneinander
20349
an dem Bette stehenzubleiben, nachdem Frau Antonie das weiße Tuch vom
20350
Gesicht der Toten genommen hatte. Die Konsulin war schon in dem seidenen
20351
Gewand, in welchem sie heute nachmittag im Saale droben aufgebahrt
20352
werden sollte; es war achtundzwanzig Stunden nach ihrem letzten
20353
Atemzuge. Mund und Wangen waren, da die künstlichen Zähne fehlten,
20354
greisenhaft eingefallen, und das Kinn schob sich schroff und eckig
20355
aufwärts. Alle drei bemühten sich schmerzlich, während sie auf diese
20356
unerbittlich tief und fest geschlossenen Augenlider blickten, in diesem
20357
Antlitz das ihrer Mutter wiederzuerkennen. Aber unter der Haube, die die
20358
alte Dame Sonntags getragen, saß wie im Leben das rötlichbraune,
20359
glattgescheitelte Toupet, über das die Damen Buddenbrook aus der Breiten
20360
Straße sich sooft lustig gemacht hatten ... Blumen lagen verstreut auf
20363
»Es sind schon die prachtvollsten Kränze gekommen«, sagte Frau
20364
Permaneder leise. »Von allen Familien ... ach, einfach von aller Welt!
20365
Ich habe alles auf den Korridor hinaufschaffen lassen; ihr müßt es euch
20366
später ansehen, Gerda und Tom. Es ist traurigschön. Atlasschleifen von
20369
»Wie weit ist es mit dem Saal?« fragte der Senator.
20371
»Bald fertig, Tom. Fast bereit. Tapezierer Jacobs hat sich alle Mühe
20372
gegeben. Auch der ...«, und sie schluckte einen Augenblick ... »auch der
20373
Sarg ist vorhin gekommen. Aber ihr müßt nun ablegen, ihr Lieben«, fuhr
20374
sie fort und zog behutsam das weiße Tuch an seinen Platz zurück. »Hier
20375
ist es kalt, aber im Frühstückszimmer ist ein bißchen geheizt ... Laß
20376
dir helfen, Gerda; mit einem so prachtvollen Umhang muß man vorsichtig
20377
umgehen ... Darf ich dir einen Kuß geben? Du weißt, ich liebe dich, wenn
20378
du mich auch immer verabscheut hast ... Nein, ich verderbe dir nicht die
20379
Frisur, wenn ich dir den Hut abnehme ... Dein schönes Haar! Solches Haar
20380
hat Mutter auch in ihrer Jugend gehabt. Sie war ja niemals so herrlich
20381
wie du, aber es hat doch eine Zeit gegeben, und ich war schon auf der
20382
Welt, wo sie eine wirklich schöne Erscheinung gewesen ist. Und nun ...
20383
Ist es nicht wahr, was euer Grobleben immer sagt: Wir müssen alle zu
20384
Moder werden --? Ein so einfacher Mann er ist ... Ja, Tom, das sind die
20385
hauptsächlichsten Verzeichnisse.«
20387
Sie waren ins Nebenzimmer zurückgekehrt und setzten sich an den runden
20388
Tisch, während der Senator die Papiere zur Hand nahm, auf welchen die
20389
Gegenstände verzeichnet standen, die unter die nächsten Erben verteilt
20390
werden sollten ... Frau Permaneder ließ das Gesicht ihres Bruders nicht
20391
aus den Augen, sie beobachtete es mit erregtem und gespanntem Ausdruck.
20392
Es gab etwas, eine schwere unabwendbare Frage, auf die ihr ganzes
20393
Denken ängstlich gerichtet war, und die in der nächsten Stunde zur
20394
Sprache kommen mußte ...
20396
»Ich denke«, fing der Senator an, »wir halten den üblichen Grundsatz
20397
fest, daß Geschenke zurückgehen, so daß also ...«
20399
Seine Frau unterbrach ihn.
20401
»Verzeih, Thomas, mir scheint ... Christian ... wo ist er denn?«
20403
»Ja, mein Gott, Christian!« rief Frau Permaneder. »Wir vergessen ihn
20406
»Richtig«, sagte der Senator und ließ die Papiere sinken. »Wird er denn
20409
Und Frau Permaneder ging zum Glockenzug. Aber in demselben Augenblick
20410
öffnete schon Christian selbst die Tür und trat ein. Er kam ziemlich
20411
rasch ins Zimmer, schloß die Tür nicht ganz geräuschlos und blieb mit
20412
zusammengezogenen Brauen stehen, indem er seine kleinen, runden,
20413
tiefliegenden Augen ohne jemanden anzublicken von einer Seite zur
20414
anderen wandern ließ und seinen Mund unter dem buschigen, rötlichen
20415
Schnurrbart in unruhiger Bewegung öffnete und schloß ... Er schien sich
20416
in einer Art trotziger und gereizter Stimmung zu befinden.
20418
»Ich höre, daß ihr da seid«, sagte er kurz. »Wenn über die Sachen
20419
gesprochen werden soll, so muß ich doch benachrichtigt werden.«
20421
»Wir waren im Begriffe«, antwortete der Senator gleichgültig. »Nimm nur
20424
Dabei aber blieben seine Augen auf den weißen Knöpfen haften, mit denen
20425
Christians Hemd geschlossen war. Er selbst war in tadelloser
20426
Trauerkleidung, und auf seinem Hemdeinsatz, welcher, am Kragen von der
20427
breiten, schwarzen Schleife abgeschlossen, blendend weiß aus der
20428
Umrahmung des schwarzen Tuchrockes hervortrat, saßen statt der goldenen,
20429
die er zu tragen pflegte, schwarze Knöpfe. Christian bemerkte den Blick,
20430
denn während er einen Stuhl herbeizog und sich setzte, berührte er mit
20431
der Hand seine Brust und sagte: »Ich weiß, daß ich weiße Knöpfe trage.
20432
Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir schwarze zu kaufen, oder vielmehr,
20433
ich habe es unterlassen. Ich habe mir in den letzten Jahren oft fünf
20434
Schillinge für Zahnpulver leihen und mit einem Streichholz zu Bette
20435
gehen müssen ... ich weiß nicht, ob ich so ausschließlich schuld daran
20436
bin. Übrigens sind schwarze Knöpfe in der Welt ja nicht die Hauptsache.
20437
Ich liebe die Äußerlichkeiten nicht. Ich habe nie Wert darauf gelegt.«
20439
Gerda betrachtete ihn, während er sprach, und lachte nun leise. Der
20440
Senator bemerkte: »Die letzte Behauptung kannst du wohl auf die Dauer
20441
nicht vertreten, mein Lieber.«
20443
»So? Vielleicht weißt du es besser, Thomas. Ich sage nur dies, daß ich
20444
auf solche Sachen kein Gewicht lege. Ich habe zuviel von der Welt
20445
gesehen, habe unter zu verschiedenen Menschen mit zu verschiedenen
20446
Sitten gelebt, als daß ich ... Übrigens bin ich ein erwachsener Mensch«,
20447
sagte er plötzlich laut, »ich bin dreiundvierzig Jahre alt, ich bin mein
20448
eigener Herr und darf jedem verwehren, sich in meine Angelegenheiten zu
20451
»Mir scheint, du hast etwas auf dem Herzen, mein Freund«, sagte der
20452
Senator erstaunt. »Was die Knöpfe betrifft, so habe ich ja, wenn mich
20453
nicht alles täuscht, noch kein Wort darüber verloren. Regle deine
20454
Trauertoilette ganz nach Geschmack; nur glaube nicht, daß du mit deiner
20455
billigen Vorurteilslosigkeit Eindruck auf mich machst ...«
20457
»Ich will gar keinen Eindruck auf dich machen ...«
20459
»Tom ... Christian ...«, sagte Frau Permaneder. »Wir wollen doch keinen
20460
gereizten Ton anschlagen ... heute ... und hier, wo nebenan ... Fahr'
20461
fort, Thomas. Geschenke gehen also zurück? Das ist nicht mehr als
20464
Und Thomas fuhr fort. Er fing mit den größeren Gegenständen an und
20465
schrieb sich diejenigen zu, die er für sein Haus gebrauchen konnte: die
20466
Kandelaber des Eßsaales, die große geschnitzte Truhe, die auf der Diele
20467
stand. Frau Permaneder war mit außerordentlichem Eifer bei der Sache und
20468
hatte, sobald der künftige Besitzer irgendeines Dinges nur ein wenig
20469
zweifelhaft war, eine unvergleichliche Art zu sagen: »Nun, ich bin
20470
bereit, es zu übernehmen« ... mit einer Miene, als verpflichte sie sich
20471
mit ihrer Opferwilligkeit die ganze Welt zu Danke. Sie erhielt für sich,
20472
ihre Tochter und ihre Enkelin weitaus den größten Teil des
20475
Christian hatte einige Möbelstücke, eine Empire-Stutzuhr und sogar das
20476
Harmonium bekommen, und er zeigte sich zufrieden damit. Als aber die
20477
Verteilung sich dem Silber- und Weißzeug, sowie dem verschiedenen
20478
Speiseservice zuwandte, begann er zu dem Erstaunen aller einen Eifer
20479
merken zu lassen, der sich fast wie Habsucht ausnahm.
20481
»Und ich? Und ich?« fragte er ... »Ich bitte doch, mich nicht ganz und
20482
gar zu vergessen ...«
20484
»Wer vergißt dich denn? Ich habe dir ja ... sieh doch her, ich habe dir
20485
ja schon ein ganzes Teeservice mit silbernem Tablett zugeschrieben. Für
20486
das Sonntagsservice mit der Vergoldung haben doch wohl nur wir
20487
Verwendung, und ...«
20489
»Das alltägliche mit Zwiebelmuster bin ich bereit zu übernehmen«, sagte
20492
»Und ich?!« rief Christian mit jener Entrüstung, die ihn zuweilen
20493
befallen konnte, seine Wangen noch hagerer erscheinen ließ und ihm so
20494
seltsam zu Gesichte stand ... »Ich möchte doch an dem Eßgeschirr
20495
beteiligt werden! Wie viele Löffeln und Gabeln bekomme ich denn? Ich
20496
sehe, ich bekomme beinahe nichts!...«
20498
»Aber Bester, was willst du denn mit den Sachen anfangen! Du wirst ja
20499
gar keine Verwendung dafür haben! Ich begreife nicht ... Es ist doch
20500
besser, solche Dinge bleiben im Familiengebrauch ...«
20502
»Und wenn es auch nur als Andenken an Mutter wäre«, sagte Christian
20505
»Lieber Freund«, erwiderte der Senator ziemlich ungeduldig ... »ich bin
20506
nicht aufgelegt, zu scherzen ... aber deinen Worten nach zu urteilen,
20507
scheint es, als wolltest du dir als Andenken an Mutter eine
20508
Suppenterrine auf die Kommode stellen? Ich bitte, doch nicht anzunehmen,
20509
daß wir dich übervorteilen wollen. Was du an Effekten weniger erhältst,
20510
wird dir natürlich demnächst in anderer Form ersetzt werden. Es ist mit
20511
dem Weißzeug ebenso ...«
20513
»Ich wünsche kein Geld, ich wünsche Wäsche und Eßgeschirr.«
20515
»Aber wozu denn, um alles in der Welt?«
20517
Jetzt aber gab Christian eine Antwort, die bewirkte, daß Gerda
20518
Buddenbrook sich ihm eilig zuwandte und ihn mit einem rätselhaften
20519
Ausdruck in ihren Augen musterte, der Senator sehr rasch das Pincenez
20520
von der Nase nahm und ihm starr ins Gesicht blickte, und Frau Permaneder
20521
sogar die Hände faltete. Er sagte nämlich: »Na, mit einem Worte, ich
20522
denke, mich über kurz oder lang zu verheiraten.«
20524
Er tat diesen Ausspruch ziemlich leise und schnell, mit einer kurzen
20525
Handbewegung, als würfe er seinem Bruder über den Tisch hin etwas zu,
20526
worauf er sich zurücklehnte und mit einer mürrischen, gleichsam
20527
beleidigten und merkwürdig zerstreuten Miene seine Augen haltlos
20528
umherschweifen ließ. Eine längere Pause trat ein. Endlich sagte der
20529
Senator: »Man muß gestehen, Christian, diese Pläne kommen etwas spät ...
20530
gesetzt natürlich, daß es reelle und ausführbare Pläne sind, nicht von
20531
der Art derer, die du aus Unüberlegtheit früher schon einmal der seligen
20532
Mutter vorgelegt hast ...«
20534
»Meine Absichten sind dieselben geblieben«, sagte Christian, immer ohne
20535
jemanden anzusehen und immer mit dem gleichen Gesichtsausdruck.
20537
»Das ist doch wohl unmöglich. Du hättest Mutters Tod abgewartet, um ...«
20539
»Ich habe diese Rücksicht genommen, ja. Du scheinst der Ansicht
20540
zuzuneigen, Thomas, daß du allein alles Takt- und Feingefühl der Welt in
20543
»Ich weiß nicht, was dich zu dieser Redensart berechtigt. Übrigens muß
20544
ich den Umfang deiner Rücksichtnahme bewundern. Am Tage nach Mutters
20545
Tode machst du Miene, den Ungehorsam gegen sie zu proklamieren ...«
20547
»Weil das Gespräch darauf kam. Und dann ist die Hauptsache die, daß
20548
Mutter sich über meinen Schritt nicht mehr alterieren kann. Das kann sie
20549
heute so wenig wie in einem Jahre ... Herr Gott, Thomas, Mutter hatte
20550
doch nicht unbedingt recht, sondern nur von ihrem Standpunkt aus, auf
20551
den ich Rücksicht genommen habe, solange sie lebte. Sie war eine alte
20552
Frau, eine Frau aus einer anderen Zeit, mit einer anderen
20553
Anschauungsweise ...«
20555
»Nun, so bemerke ich dir, daß diese Anschauungsweise in dem Punkte, der
20556
hier in Frage kommt, durchaus auch die meine ist.«
20558
»Darum kann ich mich nicht kümmern.«
20560
»Du =wirst= dich darum kümmern, mein Freund.«
20562
Christian sah ihn an.
20564
»Nein --!« rief er. »Ich kann es nicht! Wenn ich dir sage, daß ich es
20565
nicht kann?!... Ich muß wissen, was ich zu tun habe. Ich bin ein
20566
erwachsener Mensch ...«
20568
»Ach, das mit dem `erwachsenen Menschen´ ist etwas sehr Äußerliches bei
20569
dir! Du weißt durchaus nicht, was du zu tun hast ...«
20571
»Doch!... Ich handle erstens als Ehrenmann ... Du bedenkst ja nicht, wie
20572
die Sache liegt, Thomas! Hier sitzen Tony und Gerda ... wir können nicht
20573
ausführlich darüber reden. Aber ich habe dir doch gesagt, daß ich
20574
Verpflichtungen habe! Das letzte Kind, die kleine Gisela ...«
20576
»Ich weiß von keiner kleinen Gisela und will von keiner wissen! Ich bin
20577
überzeugt, daß man dich belügt. Jedenfalls aber hast du einer Person
20578
gegenüber, wie der, die du im Sinne hast, keine andere Verpflichtung als
20579
die gesetzliche, die du wie bisher weitererfüllen magst ...«
20581
»Person, Thomas? Person? Du täuschst dich über sie! Aline ...«
20583
»Schweig!« rief Senator Buddenbrook mit Donnerstimme. Die beiden Brüder
20584
starrten einander jetzt über den Tisch hinweg ins Gesicht, Thomas blaß
20585
und zitternd vor Zorn, Christian, indem er seine kleinen, runden,
20586
tiefliegenden Augen, deren Lider sich plötzlich entzündet hatten,
20587
gewaltsam aufriß und auch seinen Mund in Entrüstung geöffnet hielt, so
20588
daß seine hageren Wangen ganz ausgehöhlt erschienen. Ein Stückchen unter
20589
den Augen zeigten sich ein paar rote Flecken ... Gerda blickte mit
20590
ziemlich spöttischer Miene von einem zum anderen, und Tony rang die
20591
Hände und sagte flehend: »Aber Tom ... Aber Christian ... Und Mutter
20594
»Du bist so sehr jeden Schamgefühles bar«, fuhr der Senator fort, »daß
20595
du es über dich gewinnst ... nein, daß es dich gar keine Überwindung
20596
kostet, an dieser Stelle und unter diesen Umständen diesen Namen zu
20597
nennen! Dein Mangel an Takt ist abnorm, er ist krankhaft ...«
20599
»Ich begreife nicht, warum ich Alines Namen nicht nennen soll!«
20600
Christian war so außerordentlich erregt, daß Gerda ihn mit wachsender
20601
Aufmerksamkeit betrachtete. »Ich nenne ihn gerade, wie du hörst, Thomas,
20602
ich gedenke, sie zu heiraten -- denn ich sehne mich nach einem Heim,
20603
nach Ruhe und Frieden -- und ich verbitte mir, hörst du, das ist das
20604
Wort, das ich gebrauche, ich =verbitte= mir jede Einmischung von deiner
20605
Seite! Ich bin frei, ich bin mein eigener Herr ...«
20607
»Ein Narr bist du! Der Tag der Testamentseröffnung wird dich lehren, wie
20608
weit du dein eigener Herr bist! Es ist dafür gesorgt, verstehst du mich,
20609
daß du nicht Mutters Erbe verlotterst, wie du bereits dreißigtausend
20610
Kurantmark im voraus verlottert hast. Ich werde den Rest deines
20611
Vermögens verwalten, und du wirst nie mehr als ein Monatsgeld in die
20612
Hände bekommen, das schwöre ich dir ...«
20614
»Nun, du selbst wirst wohl am besten wissen, wer Mutter zu dieser
20615
Maßregel veranlaßt hat. Aber wundern muß ich mich doch, daß Mutter mit
20616
dem Amte nicht jemanden betraut hat, der mir nähersteht und mir
20617
brüderlicher zugetan ist als du ...« Christian war nun ganz und gar
20618
außer sich; er fing an, Dinge zu sagen, wie er sie noch niemals hatte
20619
laut werden lassen. Er hatte sich über den Tisch gebeugt, pochte
20620
unaufhörlich mit der Spitze des gekrümmten Zeigefingers auf die Platte
20621
und starrte mit gesträubtem Schnurrbart und geröteten Augen zu seinem
20622
Bruder empor, der seinerseits aufrecht, bleich und mit halb gesenkten
20623
Lidern auf ihn hinabblickte.
20625
»Dein Herz ist so voll von Kälte und Übelwollen und Mißachtung gegen
20626
mich«, fuhr Christian fort, und seine Stimme war zugleich hohl und
20627
krächzend ... »Solange ich denken kann, hast du eine solche Kälte auf
20628
mich ausströmen lassen, daß mich in deiner Gegenwart beständig gefroren
20629
hat ... ja, das mag ein sonderbarer Ausdruck sein, aber wenn ich es doch
20630
so empfinde?... Du weisest mich ab ... Du weisest mich ab, wenn du mich
20631
nur ansiehst, und auch das tust du beinahe nie. Und was gibt dir das
20632
Recht dazu? Du bist doch auch ein Mensch und hast deine Schwächen! Du
20633
bist unseren Eltern immer der bessere Sohn gewesen, aber wenn du ihnen
20634
wirklich so viel näherstehst als ich, so solltest du dir doch auch ein
20635
wenig von ihrer christlichen Denkungsart aneignen, und wenn dir schon
20636
alle geschwisterliche Liebe fremd ist, so sollte man doch eine Spur von
20637
christlicher Liebe von dir erwarten dürfen. Aber du bist so lieblos, daß
20638
du mich nicht einmal besucht ... nicht ein einziges Mal im Krankenhause
20639
besucht hast, als ich in Hamburg mit Gelenkrheumatismus daniederlag ...«
20641
»Ich habe Ernsteres zu bedenken als deine Krankheiten. Übrigens ist
20642
meine eigene Gesundheit ...«
20644
»Nein, Thomas, deine Gesundheit ist prächtig! Du säßest hier nicht als
20645
der, der du bist, wenn sie nicht im Verhältnis zu meiner ganz
20646
ausgezeichnet wäre ...«
20648
»Ich bin vielleicht kränker als du.«
20650
»Du wärest ... Nein, das ist stark! Tony! Gerda! Er sagt, er sei kränker
20651
als ich! Was! Hast =du= vielleicht in Hamburg mit Gelenkrheumatismus auf
20652
dem Tode gelegen?! Hast =du= nach jeder kleinsten Unregelmäßigkeit eine
20653
Qual in deinem Körper auszuhalten, die ganz unbeschreiblich ist?! Sind
20654
vielleicht an =deiner= linken Seite alle Nerven zu kurz?! Autoritäten
20655
haben mich versichert, daß es bei mir der Fall ist! Passieren =dir=
20656
vielleicht solche Dinge, daß, wenn du in der Dämmerung in dein Zimmer
20657
kommst, du auf deinem Sofa einen Mann sitzen siehst, der dir zunickt und
20658
dabei überhaupt gar nicht vorhanden ist?!...«
20660
»Christian!« stieß Frau Permaneder entsetzt hervor. »Was sprichst du!...
20661
Mein Gott, worüber streitet ihr euch eigentlich? Ihr tut, als sei es
20662
eine Ehre, der Kränkere zu sein! Wenn es =da=rauf ankäme, so hätten
20663
leider Gerda und ich auch noch ein Wörtchen mitzureden!... Und Mutter
20664
liegt nebenan ...!«
20666
»Und du begreifst nicht, Mensch«, rief Thomas Buddenbrook
20667
leidenschaftlich, »daß alle diese Widrigkeiten Folgen und Ausgeburten
20668
deiner Laster sind, deines Nichtstuns, deiner Selbstbeobachtung?!
20669
Arbeite! Höre auf, deine Zustände zu hegen und zu pflegen und darüber zu
20670
reden!... Wenn du verrückt wirst -- und ich sage dir ausdrücklich, daß
20671
das nicht unmöglich ist -- ich werde nicht imstande sein, eine Träne
20672
darüber zu vergießen, denn es wird deine Schuld sein, deine allein ...«
20674
»Nein, du wirst auch keine Träne vergießen, wenn ich sterbe.«
20676
»Du stirbst ja nicht«, sagte der Senator verächtlich.
20678
»Ich sterbe nicht? Gut, ich sterbe also nicht! Wir werden ja sehen, wer
20679
von uns beiden früher stirbt!... Arbeite! Wenn ich aber nicht kann? Wenn
20680
ich es nun aber auf die Dauer nicht kann, Herr Gott im Himmel?! Ich kann
20681
nicht lange Zeit dasselbe tun, ich werde elend davon! Wenn du es gekonnt
20682
hast und kannst, so freue dich doch, aber sitze nicht zu Gericht, denn
20683
ein Verdienst ist nicht dabei ... Gott gibt dem einen Kraft und dem
20684
anderen nicht ... Aber so bist du, Thomas«, fuhr er fort, indem er sich
20685
mit immer verzerrterem Gesicht über den Tisch beugte und immer heftiger
20686
auf die Platte pochte ... »Du bist selbstgerecht ... ach, warte nur, das
20687
ist es nicht, was ich sagen wollte und was ich gegen dich vorzubringen
20688
habe ... Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, und das, was ich
20689
werde sagen können, ist nur der tausendste ... ach, es ist nur der
20690
millionste Teil von dem, was ich gegen dich auf dem Herzen habe! Du hast
20691
dir einen Platz im Leben erobert, eine geehrte Stellung, und da stehst
20692
du nun und weisest kalt und mit Bewußtsein alles zurück, was dich einen
20693
Augenblick beirren und dein Gleichgewicht stören könnte, denn das
20694
Gleichgewicht, das ist dir das Wichtigste. Aber es ist nicht das
20695
Wichtigste, Thomas, es ist vor Gott nicht die Hauptsache! Du bist ein
20696
Egoist, ja, das bist du! Ich liebe dich noch, wenn du schiltst und
20697
auftrittst und einen niederdonnerst. Aber am schlimmsten ist dein
20698
Schweigen, am schlimmsten ist es, wenn du auf etwas, was man gesagt hat,
20699
plötzlich verstummst und dich zurückziehst und jede Verantwortung
20700
ablehnst, vornehm und intakt, und den anderen hilflos seiner Beschämung
20701
überläßt ... Du bist so ohne Mitleid und Liebe und Demut ... Ach!« rief
20702
er plötzlich, indem er beide Hände hinter seinen Kopf bewegte und sie
20703
dann weit vorwärts stieß, als wehrte er die ganze Welt von sich ab ...
20704
»Wie satt ich das alles habe, dies Taktgefühl und Feingefühl und
20705
Gleichgewicht, diese Haltung und Würde ... wie sterbenssatt!...« Und
20706
dieser letzte Ruf war in einem solchen Grade echt, er kam so sehr von
20707
Herzen und brach mit einem solchen Nachdruck von Widerwillen und
20708
Überdruß hervor, daß er tatsächlich etwas Niederschmetterndes hatte, ja,
20709
daß Thomas ein wenig zusammensank und eine Weile wortlos und mit müder
20710
Miene vor sich niederblickte.
20712
»Ich bin geworden wie ich bin«, sagte er endlich, und seine Stimme klang
20713
bewegt, »weil ich nicht werden wollte wie du. Wenn ich dich innerlich
20714
gemieden habe, so geschah es, weil ich mich vor dir hüten muß, weil dein
20715
Sein und Wesen eine Gefahr für mich ist ... ich spreche die Wahrheit.«
20717
Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann in kürzerem und befestigtem
20718
Tone fort: Ȇbrigens haben wir uns weit von unserem Gegenstande
20719
entfernt. Du hast mir eine Rede über meinen Charakter gehalten ... eine
20720
etwas verworrene Rede, die vielleicht einen Kern von Wahrheit enthielt.
20721
Aber es handelt sich jetzt nicht um mich, sondern um dich. Du trägst
20722
dich mit Heiratsgedanken, und ich möchte dich möglichst gründlich davon
20723
überzeugen, daß die Ausführung in der Weise, wie du sie planst,
20724
unmöglich ist. Erstens werden die Zinsen, die ich dir werde auszahlen
20725
können, von keiner sehr ermutigenden Höhe sein ...«
20727
»Aline hat manches zurückgelegt.«
20729
Der Senator schluckte hinunter und bezwang sich.
20731
»Hm ... zurückgelegt. Du gedenkst also Mutters Erbe mit den Ersparnissen
20732
dieser Dame zu vermischen ...«
20734
»Ja. Ich sehne mich nach einem Heim und nach jemandem, der Mitleid mit
20735
mir hat, wenn ich krank bin. Übrigens passen wir ganz gut zusammen. Wir
20736
sind beide ein bißchen verfahren ...«
20738
»Du gedenkst ferner, die vorhandenen Kinder zu adoptieren,
20739
beziehungsweise zu ... legitimieren?«
20743
»So daß also dein Vermögen nach deinem Tode an jene Leute überginge?« --
20744
Als der Senator dies sagte, legte Frau Permaneder ihre Hand auf seinen
20745
Arm und flüsterte beschwörend: »Thomas!... Mutter liegt nebenan!...«
20747
»Ja«, antwortete Christian, »das gehört sich doch so.«
20749
»Nun, du wirst das alles =nicht= tun!« rief der Senator und sprang auf.
20750
Auch Christian erhob sich, trat hinter seinen Stuhl, erfaßte ihn mit
20751
einer Hand, drückte das Kinn auf die Brust und sah seinen Bruder halb
20752
scheu und halb entrüstet an.
20754
»Du wirst es nicht tun ...«, wiederholte Thomas Buddenbrook beinahe
20755
sinnlos vor Zorn, blaß, bebend und mit zuckenden Bewegungen. »Solange
20756
ich über der Erde bin, geschieht dies nicht ... ich schwöre es dir!...
20757
Hüte dich ... nimm dich in acht ...! Es ist genug Geld durch Unglück,
20758
Torheit und Niedertracht verloren gegangen, als daß du dich unterstehen
20759
dürftest, ein Viertel von Mutters Vermögen diesem Frauenzimmer und ihren
20760
Bastarden in den Schoß zu werfen!... Und das, nachdem schon ein anderes
20761
Viertel von Tiburtius erschlichen worden!... Du hast der Familie genug
20762
der Blamage zugefügt, Mensch, als daß es noch nötig wäre, uns mit einer
20763
Kurtisane zu verschwägern und ihren Kindern unseren Namen zu geben. Ich
20764
verbiete es dir, hörst du? ich verbiete es dir!« rief er mit einer
20765
Stimme, daß das Zimmer erdröhnte und Frau Permaneder sich weinend in
20766
einen Winkel des Sofas drückte. »Und wage es nicht, gegen dies Verbot zu
20767
handeln, das rate ich dir! Ich habe dich bis jetzt bloß verachtet, ich
20768
habe über dich hinweggesehen ... aber forderst du mich heraus, läßt du
20769
es zum Äußersten kommen, so werden wir sehen, wer den kürzeren zieht!
20770
Ich sage dir, hüte dich! Ich kenne keine Rücksicht mehr! Ich lasse dich
20771
für kindisch erklären, ich lasse dich einsperren, ich mache dich
20772
zunichte! Zunichte! Verstehst du mich?!...«
20774
»Und ich sage dir ...«, fing Christian an ... Und nun ging das Ganze in
20775
einen Wortstreit über, einen abgerissenen, nichtigen, beklagenswerten
20776
Wortstreit ohne ein eigentliches Thema, ohne einen anderen Zweck als
20777
den, zu beleidigen, einander mit Worten bis aufs Blut zu verwunden.
20778
Christian kam auf den Charakter seines Bruders zurück und suchte aus
20779
alter Vergangenheit einzelne Züge, peinliche Anekdoten hervor, die
20780
Thomas' Egoismus belegen sollten und die Christian nicht hatte vergessen
20781
können, sondern mit sich umhergetragen und mit Bitterkeit durchtränkt
20782
hatte. Und der Senator antwortete ihm in übertriebenen Worten der
20783
Verachtung und der Drohung, die er zehn Minuten später bereute. Gerda
20784
hatte das Haupt leicht in die Hand gestützt und beobachtete die beiden
20785
mit verschleierten Augen und einem nicht bestimmbaren Gesichtsausdruck.
20786
Frau Permaneder wiederholte beständig in Verzweiflung: »Und Mutter liegt
20787
nebenan ... Und Mutter liegt nebenan ...«
20789
Christian, der sich schon während der letzten Repliken im Zimmer hin und
20790
her bewegt hatte, räumte endlich den Kampfplatz.
20792
»Es ist gut! Wir werden ja sehen!« rief er, und mit verwildertem
20793
Schnurrbart und roten Augen, den Rock offen, das Taschentuch in der
20794
herabhängenden Hand, hitzig und exaltiert, ging er zur Tür und ließ sie
20795
hinter sich ins Schloß fallen.
20797
In der plötzlichen Stille stand der Senator noch einen Augenblick
20798
aufrecht und sah dorthin, wo sein Bruder verschwunden war. Dann setzte
20799
er sich schweigend, nahm mit kurzen Bewegungen die Papiere wieder zur
20800
Hand und erledigte mit trockenen Worten, was noch zu erledigen war,
20801
worauf er sich zurücklehnte, die Spitzen seines Bartes durch die Finger
20802
gleiten ließ und in Gedanken versank.
20804
Frau Permaneders Herz pochte so voller Angst! Die Frage, die große Frage
20805
war nun nicht länger hinauszuschieben; sie mußte zur Sprache kommen, er
20806
mußte sie beantworten ... aber ach, war er jetzt in der Stimmung, Pietät
20807
und Milde walten zu lassen?
20809
»Und ... Tom --«, fing sie an, indem sie zuerst in ihren Schoß blickte
20810
und dann einen zagen Versuch machte, in seiner Miene zu lesen ... »Die
20811
Möbel ... Du hast natürlich schon alles in Erwägung gezogen ... Die
20812
Sachen, die uns gehören, ich meine Erika, der Kleinen und mir ... sie
20813
bleiben hier ... mit uns ... kurz ... das Haus, wie ist es damit?«
20814
fragte sie und rang heimlich die Hände.
20816
Der Senator antwortete nicht sogleich, sondern fuhr eine Weile fort, den
20817
Schnurrbart zu drehen und mit trüber Nachdenklichkeit in sich
20818
hineinzublicken. Dann atmete er auf und richtete sich empor.
20820
»Das Haus?« sagte er ... »Es gehört natürlich uns allen, dir, Christian
20821
und mir ... und komischerweise auch dem Pastor Tiburtius, denn der
20822
Anteil gehört zu Klaras Erbe. Ich allein habe nichts darüber zu
20823
entscheiden, sondern bedarf eurer Zustimmung. Aber das Gegebene ist
20824
selbstverständlich, so bald als möglich zu verkaufen«, schloß er
20825
achselzuckend. Dennoch ging etwas dabei über sein Gesicht, als erschräke
20826
er über seine eigenen Worte.
20828
Frau Permaneders Kopf sank tief herab; ihre Hände hörten auf, einander
20829
zu pressen und erschlafften plötzlich in allen Gliedern.
20831
»Unserer Zustimmung!« wiederholte sie nach einer Pause, traurig und
20832
sogar mit einiger Bitterkeit. »Lieber Gott, du weißt gut, Tom, daß du
20833
tun wirst, was du für richtig hältst, und daß wir anderen dir unsere
20834
Zustimmung nicht lange versagen können!... Aber wenn wir ein Wort
20835
einlegen ... dich bitten dürfen«, fuhr sie beinahe tonlos fort, und ihre
20836
Oberlippe begann zu beben ... »Das Haus! Mutters Haus! Unser Elternhaus!
20837
In dem wir so glücklich gewesen sind! Wir sollen es verkaufen ...!«
20839
Der Senator zuckte wieder die Achseln.
20841
»Du wirst mir glauben, Kind, daß alles, was du mir vorhalten kannst,
20842
mich ohnehin so sehr bewegt wie dich ... Aber Gegengründe sind das
20843
nicht, sondern Sentiments. Was zu tun ist, steht fest. Da haben wir dies
20844
große Grundstück ... was sollen wir jetzt damit beginnen? Seit langen
20845
Jahren, schon seit Vaters Tode, verfällt das ganze Rückgebäude. Im
20846
Billardsaal lebt eine freie Katzenfamilie, und tritt man näher, so läuft
20847
man Gefahr, durch den Fußboden zu brechen ... Ja, hätte ich nicht mein
20848
Haus in der Fischergrube! Aber ich habe es, und wohin damit? Soll ich
20849
vielleicht lieber =das= verkaufen? Urteile doch selbst ... an wen? Ich
20850
würde ungefähr die Hälfte des Geldes verlieren, das ich hineingesteckt.
20851
Ach Tony, wir haben Grundstücke genug, wir haben viel zuviel davon! Die
20852
Speicher und zwei große Häuser! Der Wert der Grundstücke steht ja kaum
20853
noch in einem Verhältnis zu dem beweglichen Kapital! Nein, verkaufen,
20856
Aber Frau Permaneder hörte nicht. Niedergebeugt und in sich gekehrt saß
20857
sie da und blickte mit feuchten Augen ins Leere.
20859
»Unser Haus!« murmelte sie ... »Ich weiß noch, wie wir es einweihten ...
20860
Wir waren nicht größer als =so= damals. Die ganze Familie war da. Und
20861
Onkel Hoffstede trug ein Gedicht vor ... Es liegt in der Mappe ... Ich
20862
weiß es auswendig ... Venus Anadyomene ... Das Landschaftszimmer! Der
20863
Eßsaal! Fremde Leute ...!«
20865
»Ja, Tony, so werden damals die auch gedacht haben, die das Haus
20866
verlassen mußten, als Großvater es kaufte. Sie hatten ihr Geld verloren
20867
und mußten davonziehen und sind gestorben und verdorben. Alles hat seine
20868
Zeit. Freuen wir uns und danken wir Gott, daß es mit uns noch nicht so
20869
weit ist, wie es damals mit Ratenkamps war, und daß wir noch unter
20870
günstigeren Umständen von hier Abschied nehmen als sie ...«
20872
Schluchzen, ein langsames, schmerzliches Aufschluchzen unterbrach ihn.
20873
Frau Permaneders Hingebung an ihren Kummer war so groß, daß sie nicht
20874
einmal daran dachte, die Tränen zu trocknen, die über ihre Wangen
20875
rannen. Sie saß vornüber gebeugt und zusammengesunken, und ein warmer
20876
Tropfen fiel auf ihre matt im Schoße ruhenden Hände hinab, ohne daß sie
20879
»Tom«, sagte sie und gewann ihrer Stimme, die die Tränen zu ersticken
20880
drohten, eine leise, rührende Festigkeit ab. »Du weißt nicht, wie mir
20881
zumute ist in dieser Stunde, du weißt es nicht. Es ist deiner Schwester
20882
nicht gut ergangen im Leben, es hat ihr übel mitgespielt. Alles ist auf
20883
mich herabgekommen, was sich nur ausdenken ließ ... ich weiß nicht,
20884
womit ich es verdient habe. Aber ich habe alles hingenommen, ohne zu
20885
verzagen, Tom, das mit Grünlich und das mit Permaneder und das mit
20886
Weinschenk. Denn immer, wenn Gott mein Leben wieder in Stücke gehen
20887
ließ, so war ich doch nicht ganz verloren. Ich wußte einen Ort, einen
20888
sicheren Hafen, sozusagen, wo ich zu Hause und geborgen war, wohin ich
20889
mich flüchten konnte, vor allem Ungemach des Lebens ... Auch jetzt noch,
20890
als doch alles zu Ende war, und als sie Weinschenk ins Gefängnis fuhren
20891
... `Mutter´, sagte ich, `dürfen wir zu dir ziehen?´ `Ja, Kinder, kommt´
20892
... Als wir klein waren und `Kriegen´ spielten, Tom, da gab es immer ein
20893
`Mal´, ein abgegrenztes Fleckchen, wohin man laufen konnte, wenn man in
20894
Not und Bedrängnis war, und wo man nicht abgeschlagen werden durfte,
20895
sondern in Frieden ausruhen konnte. Mutters Haus, dies Haus hier war
20896
mein `Mal´ im Leben, Tom ... Und nun ... und nun ... verkaufen ...«
20898
Sie lehnte sich zurück, verbarg ihr Gesicht im Schnupftuch und weinte
20901
Er zog eine ihrer Hände herunter und nahm sie in die seinen.
20903
»Ich weiß es ja, liebe Tony, ich weiß es ja alles! Aber wollen wir nun
20904
nicht ein wenig vernünftig sein? Die gute Mutter ist dahin ... wir rufen
20905
sie nicht zurück. Was nun? Es ist unsinnig geworden, dies Haus als totes
20906
Kapital zu behalten ... ich muß das wissen, nicht wahr. Sollen wir eine
20907
Mietskaserne daraus machen?... Der Gedanke ist dir schwer, daß fremde
20908
Leute hier wohnen sollen; aber da ist es doch besser, du siehst es
20909
nicht mit an, sondern nimmst dir und den Deinen ein kleines, hübsches
20910
Haus oder eine Etage irgendwo vorm Tore zum Beispiel ... Oder wäre es
20911
dir lieber, hier mit einer Anzahl von Mietsparteien zusammen zu
20912
hausen?... Und deine Familie hast du doch immer noch, Gerda und mich und
20913
Buddenbrooks in der Breiten Straße und Krögers und auch Mademoiselle
20914
Weichbrodt ... ohne von Klothilde zu reden, von der ich nicht weiß, ob
20915
ihr der Umgang mit uns genehm ist; seit sie Klosterdame geworden, ist
20916
sie ein wenig exklusiv ...«
20918
Sie stieß einen Seufzer aus, der halb ein Lachen war, wandte sich ab und
20919
drückte das Taschentuch fester gegen die Augen, schmollend wie ein Kind,
20920
das man mit einem Spaß seinem Leide abwendig zu machen sucht. Dann aber
20921
enthüllte sie mit Entschlossenheit ihr Gesicht und setzte sich zurecht,
20922
indem sie, wie immer, wenn es galt, Charakter und Würde zu zeigen, den
20923
Kopf zurücklegte und dennoch versuchte, das Kinn auf die Brust zu
20926
»Ja, Tom«, sagte sie, und ihre verweinten Augen zwinkerten mit ernstem
20927
und gefaßtem Ausdruck zum Fenster hinüber, »ich will auch verständig
20928
sein ... ich bin es schon. Du mußt verzeihen ... und du auch, Gerda ...
20929
daß ich geweint habe. Das kann einem ankommen ... es ist eine Schwäche.
20930
Aber es ist nur äußerlich, glaubt mir. Ihr wißt sehr wohl, daß ich im
20931
Grunde eine vom Leben gestählte Frau bin ... Ja, Tom, das mit dem toten
20932
Kapital leuchtet mir ein, so viel Verstand habe ich. Ich kann nur
20933
wiederholen, daß du tun mußt, was du für richtig hältst. Du mußt für uns
20934
denken und handeln, denn Gerda und ich sind Weiber, und Christian ...
20935
nun, Gott sei mit ihm!... Wir können dir nicht Widerpart halten, denn
20936
was wir vorbringen können, sind keine Gegengründe, sondern Sentiments,
20937
das liegt auf der Hand. An wen wirst du es wohl verkaufen, Tom? Meinst
20938
du, daß es bald vonstatten gehen wird?«
20940
»Ja, Kind, wenn ich das wüßte ... Immerhin ... ich habe schon heute
20941
morgen ein paar Worte mit Gosch, dem alten Makler Gosch, gewechselt; er
20942
schien nicht abgeneigt, die Sache in die Hand zu nehmen ...«
20944
»Das wäre gut, ja, das wäre sehr gut. Sigismund Gosch hat natürlich
20945
seine Schwächen ... Das mit seinen Übersetzungen aus dem Spanischen,
20946
wovon man erzählt -- ich kann nicht wissen, wie der Dichter heißt -- ist
20947
etwas sonderbar, das mußt du zugeben, Tom. Aber er war schon ein Freund
20948
vom Vater und ist ein grundehrlicher Mann. Und dann hat er Herz, dafür
20949
ist er bekannt. Er wird begreifen, daß es sich hier nicht um irgendeinen
20950
Kauf handelt, um irgendein beliebiges Haus ... Was denkst du, Tom, was
20951
wirst du verlangen? Hunderttausend Kurantmark sind doch das wenigste,
20954
»Hunderttausend Kurantmark sind doch das wenigste, Tom!« sagte sie noch,
20955
die Tür in der Hand, als ihr Bruder und seine Frau schon die Treppe
20956
hinunterstiegen. Dann, allein geblieben, stand sie inmitten des Zimmers
20957
still, und die hinabhängenden Hände vor sich gefaltet, derart, daß die
20958
Flächen nach unten gewandt waren, blickte sie mit großen, ratlosen Augen
20959
rund um sich her. Ihr mit einem Häubchen aus schwarzen Spitzen
20960
geschmückter Kopf, den sie unaufhörlich leise schüttelte, sank, von
20961
Gedanken beschwert, langsam tiefer und tiefer auf eine Schulter hinab.
20966
Der kleine Johann war gehalten, sich von der sterblichen Hülle seiner
20967
Großmutter zu verabschieden; sein Vater ordnete dies an, und er ließ
20968
keinen Laut des Widerspruches vernehmen, obgleich er sich fürchtete. Am
20969
Tage nach dem schweren Todeskampfe der Konsulin hatte der Senator, bei
20970
Tische und, wie es schien, geflissentlich in Gegenwart seines Sohnes,
20971
gegen seine Gattin mit ein paar harten Worten das Betragen Onkel
20972
Christians verurteilt, der, als es der Kranken am schlimmsten ging,
20973
davongeschlichen und zu Bette gegangen war. »Das sind die Nerven,
20974
Thomas«, hatte Gerda geantwortet; aber mit einem Blick auf Hanno, der
20975
dem Kinde keineswegs entgangen war, hatte er ihr in fast strengem Tone
20976
zurückgegeben, daß hier kein Wort der Entschuldigung am Platze sei. Die
20977
selige Mutter habe so sehr gelitten, daß man sich hätte schämen müssen,
20978
allzu schmerzlos dabei zu sitzen, und sich nicht feige dem bißchen
20979
Leiden entziehen, das der Anblick ihrer Kämpfe in einem hervorgerufen
20980
hätte. Hieraus hatte Hanno geschlossen, daß er es nicht wagen dürfe,
20981
gegen den Besuch am offenen Sarge etwas einzuwenden.
20983
Wie beim weihnachtlichen Einzuge war ihm der große Raum entfremdet, als
20984
er ihn am Tage vorm Begräbnisse zwischen Vater und Mutter von der
20985
Säulenhalle aus betrat. Geradeaus, weiß leuchtend gegen das dunkle Grün
20986
großer Topfgewächse, die, mit hohen, silbernen Armleuchtern abwechselnd,
20987
einen Halbkreis bildeten, stand auf schwarzem Postamente die Kopie von
20988
Thorwaldsens Segnendem Christus, die draußen auf dem Korridor ihren
20989
Platz gehabt hatte. Überall an den Wänden bewegte sich im Luftzuge
20990
schwarzer Flor und verhüllte das Himmelblau der Tapete sowohl wie das
20991
Lächeln der weißen Götterstatuen, die zugeschaut hatten, wenn man in
20992
diesem Saale wohlgemut tafelte. Und umgeben von seinen ganz in Schwarz
20993
gekleideten Anverwandten, den breiten Trauerflor um den Ärmel seines
20994
Matrosenanzuges, den Sinn umnebelt von den Düften, welche den Mengen von
20995
Blumengebinden und Kränzen entströmten, und mit denen sich, ganz leise
20996
und nur bei diesem oder jenem Atemzug bemerkbar, ein anderer fremder und
20997
doch auf seltsame Art vertrauter Duft vermengte, stand der kleine Johann
20998
zur Seite der Bahre und blickte auf die regungslose Gestalt, die vor ihm
20999
zwischen weißem Atlas streng und feierlich ausgestreckt lag ...
21001
Dies war nicht Großmama. Es war ihre Gesellschaftshaube mit den
21002
weißseidenen Bändern und ihr rotbrauner Scheitel darunter. Aber diese
21003
spitze Nase, diese nach innen gezogenen Lippen, dieses hervorgeschobene
21004
Kinn, diese gelben, durchsichtigen, gefalteten Hände, denen man Kälte
21005
und Steifheit ansah, gehörten nicht ihr. Dies war eine fremde, wächserne
21006
Puppe, die in dieser Weise aufzubauen und zu feiern, etwas Grauenhaftes
21007
hatte. Und er blickte zum Landschaftszimmer hinüber, als müßte dort im
21008
nächsten Augenblick die wirkliche Großmama erscheinen ... Aber sie kam
21009
nicht. Sie war tot. Der Tod hatte sie für immer mit dieser wächsernen
21010
Figur vertauscht, die ihre Lider und Lippen so unerbittlich, so unnahbar
21011
fest geschlossen hielt ...
21013
Er stand, auf dem linken Beine ruhend, das rechte Knie so gebogen, daß
21014
der Fuß leicht auf der Spitze balancierte, und hielt mit einer Hand den
21015
Schifferknoten auf seiner Brust umfaßt, während die andere schlaff
21016
hinabhing. Sein Kopf mit dem lockig in die Schläfen fallenden
21017
hellbraunen Haar war zur Seite geneigt, und unter zusammengezogenen
21018
Brauen blickten seine goldbraunen, von bläulichen Schatten umlagerten
21019
Augen blinzelnd, mit einem abgestoßenen und grüblerischen Ausdruck in
21020
das Antlitz der Leiche. Er atmete langsam und zögernd, denn bei jedem
21021
Atemzuge erwartete er den Duft, jenen fremden und doch so seltsam
21022
vertrauten Duft, den die Wolken von Blumengerüchen nicht immer zu
21023
übertäuben vermochten. Und wenn er kam, wenn er ihn verspürte, so zogen
21024
sich seine Brauen fester zusammen, und seine Lippen gerieten einen
21025
Augenblick in zitternde Bewegung ... Schließlich seufzte er; aber es
21026
klang so sehr wie ein tränenloses Schluchzen, daß Frau Permaneder sich
21027
zu ihm niederbeugte, ihn küßte und ihn fortführte.
21029
Und nachdem der Senator und seine Frau, zusammen mit Frau Permaneder und
21030
Erika Weinschenk, während langer Stunden im Landschaftszimmer die
21031
Kondolationen der Stadt entgegengenommen hatten, ward Elisabeth
21032
Buddenbrook, geborene Kröger, zur Erde bestattet. Auswärtige Verwandte
21033
waren aus Frankfurt und Hamburg dazu eingetroffen und hatten zum letzten
21034
Male gastliche Aufnahme im Mengstraßenhause gefunden. Und die Menge der
21035
Leidtragenden füllte Saal und Landschaftszimmer, Säulenhalle und
21036
Korridor, als bei brennenden Kerzen, in aufrechter Majestät zu Häupten
21037
des Sarges, das rasierte Antlitz, dessen Ausdruck zwischen düsterem
21038
Fanatismus und milder Verklärung wechselte, über der breiten, gefalteten
21039
Halskrause gegen Himmel gewandt und die Hände dicht unterm Kinn
21040
gefaltet, Pastor Pringsheim von St. Marien die Trauerrede hielt.
21042
Er lobpries in schwellenden und verhallenden Lauten die Eigenschaften
21043
der Dahingeschiedenen, ihre Vornehmheit und Demut, ihre Heiterkeit und
21044
Frömmigkeit, ihre Wohltätigkeit und Milde. Er erwähnte des
21045
»Jerusalemsabends« und der »Sonntagsschule«, er ließ das ganze lange,
21046
reiche und glückselige Erdenleben der Verewigten noch einmal im Glanz
21047
seiner Dialektik erstrahlen ... und da das Wort »Ende« ein Beiwort haben
21048
muß, so sprach er zuletzt von ihrem sanften Ende.
21050
Frau Permaneder wußte wohl, was sie in dieser Stunde sich selbst und der
21051
ganzen Versammlung an Würde und repräsentativer Haltung schuldete. Sie
21052
hatte, zusammen mit ihrer Tochter Erika und ihrer Enkelin Elisabeth, die
21053
sichtbarsten Ehrenplätze dicht beim Pastor, neben dem Kopfende des mit
21054
Kränzen bedeckten Sarges, in Besitz genommen, während Thomas, Gerda,
21055
Christian, Klothilde und der kleine Johann, sowie der alte Konsul
21056
Kröger, der auf einem Stuhle saß, gleich den Verwandten zweiten Grades
21057
es sich gefallen ließen, der Feier an minder ausgezeichneten Plätzen
21058
beizuwohnen. Hochaufgerichtet, mit ein wenig emporgezogenen Schultern,
21059
das schwarzgeränderte Batisttuch zwischen den zusammengelegten Händen,
21060
stand sie da, und ihr Stolz über die erste Rolle, die ihr bei dieser
21061
Feierlichkeit zufiel, war so groß, daß er manchmal den Schmerz
21062
vollständig zurückdrängte und in Vergessenheit geraten ließ. Ihre Augen,
21063
die sie in dem Bewußtsein, den beobachtenden Blicken der ganzen Stadt
21064
ausgesetzt zu sein, meistens gesenkt hielt, konnten es sich hie und da
21065
nicht versagen, über die Menge hinzuschweifen, in der sie auch Julchen
21066
Möllendorpf, geborene Hagenström, und ihren Gatten gewahrte ... Ja, sie
21067
hatten alle kommen müssen, die Möllendorpfs, Kistenmakers, Langhals und
21068
Oeverdiecks! Bevor Tony Buddenbrook ihr Elternhaus räumte, hatten sie
21069
sich noch einmal hier zusammenscharen müssen, um ihr, trotz Grünlich,
21070
trotz Permaneder und trotz Hugo Weinschenk, ihre mittrauernde
21071
Ehrerbietung zu erweisen ...!
21073
Und Pastor Pringsheim bohrte mit seiner Trauerrede in der Wunde herum,
21074
die der Tod geschlagen hatte, er führte mit Berechnung einem jeden vor
21075
Augen, was er verloren, er verstand es, Tränen auch dort
21076
hervorzupressen, wo von selbst keine geflossen wären, und dafür waren
21077
die Gerührten ihm dankbar. Als er den »Jerusalemsabend« zur Sprache
21078
brachte, begannen alle alten Freundinnen der Verstorbenen zu schluchzen,
21079
mit Ausnahme von Madame Kethelsen, die nichts vernahm und mit der
21080
verschlossenen Miene der Tauben geradeaus blickte, und der Schwestern
21081
Gerhardt, der Nachkommen Paul Gerhardts, die Hand in Hand mit klaren
21082
Augen in einem Winkel standen; denn sie waren fröhlich über den Tod
21083
ihrer Freundin, und beneideten sie nur deshalb nicht, weil Neid und
21084
Mißgunst ihren Herzen fremd war.
21086
Was Mademoiselle Weichbrodt betraf, so putzte sie unaufhörlich ihre Nase
21087
mit einem kurzen und energischen Akzent. Aber die Damen Buddenbrook aus
21088
der Breiten Straße weinten nicht; dies war nicht ihre Gewohnheit. Ihre
21089
Mienen, weniger spitz immerhin als gewöhnlich, drückten eine milde
21090
Genugtuung über die unparteiische Gerechtigkeit des Todes aus ...
21092
Dann, als Pastor Pringsheims letztes Amen verklungen, kamen mit ihren
21093
schwarzen Dreispitzen, leise und dennoch so schnell, daß die schwarzen
21094
Mäntel hinter ihnen sich bauschten, die vier Träger herein und legten
21095
Hand an den Sarg. Es waren vier Lakaiengesichter, die jedermann kannte,
21096
Lohndiener, die bei jedem Diner in den ersten Kreisen die schweren
21097
Schüsseln reichten und auf den Korridoren Möllendorpfschen Rotwein aus
21098
den Karaffen tranken. Aber auch bei jedem Begräbnis erster und zweiter
21099
Klasse waren sie unentbehrlich, und ihre Gewandtheit bei dieser Arbeit
21100
war groß. Sie wußten wohl, daß dieser Augenblick, da der Sarg, aus der
21101
Mitte der Verbliebenen heraus, von Fremden ergriffen und für immer
21102
davongeschleppt wird, durch Takt und Behendigkeit überwunden werden muß.
21103
Mit zwei oder drei hurtigen, geräuschlosen und kräftigen Bewegungen
21104
hatten sie die Last von der Bahre auf ihre Schultern gehoben, und kaum,
21105
daß jemand Zeit hatte, sich das Schreckliche des Augenblicks klar zu
21106
machen, so schwankte der blumenbedeckte Schrein schon ohne Verzögerung
21107
und dennoch gemessenen Tempos davon und verschwand durch die
21110
Die Damen drängten sich behutsam zum Händedruck um Frau Permaneder und
21111
ihre Tochter, wobei sie mit niedergeschlagenen Augen nicht mehr und
21112
nicht weniger murmelten, als was bei dieser Gelegenheit gemurmelt werden
21113
mußte, während die Herren sich anschickten, zu den Wagen
21114
hinunterzusteigen ...
21116
Und es kam, in langem, schwarzem Zuge, die lange, langsame Fahrt durch
21117
die grauen und feuchten Straßen, durchs Burgtor hinaus, die
21118
entblätterte, im kalten Sprühregen schauernde Allee entlang bis zum
21119
Friedhof, woselbst man, während hinter einem halbkahlen Gesträuch ein
21120
Trauermarsch erklang, zu Fuß dem Sarge über die aufgeweichten Wege
21121
folgte, bis dorthin, wo am Rande des Gehölzes das Buddenbrooksche
21122
Erbbegräbnis seine von dem großen Sandsteinkreuz gekrönte gotische
21123
Namensplatte emporragen ließ ... Der steinerne Deckel des Grabes, mit
21124
dem plastisch gearbeiteten Familienwappen geziert, lag neben der
21125
schwarzen, von feuchtem Grün umrahmten Gruft.
21127
Der Platz war dort unten dem neuen Ankömmling bereitet. Unter der
21128
Aufsicht des Senators war dort in den letzten Tagen ein wenig geräumt
21129
und Überreste alter Buddenbrooks waren beiseite geschafft worden. Nun
21130
schwebte, während die Musik verklang, der Sarg an den Stricken der
21131
Träger über der ausgemauerten Tiefe; mit einem leisen Gepolter glitt er
21132
hinab, und Pastor Pringsheim, welcher Pulswärmer angezogen hatte, begann
21133
aufs neue zu sprechen. Seine geschulte Stimme klang klar, beweglich und
21134
fromm über das offene Grab und die gebeugten oder wehmütig zur Seite
21135
gelegten Köpfe der anwesenden Herren hin in die kühle und stille
21136
Herbstluft hinein. Schließlich beugte er sich über die Gruft, redete die
21137
Tote mit ihrem vollständigen Namen an und segnete sie mit dem Zeichen
21138
des Kreuzes. Als er verstummte und alle Herren mit ihren schwarz
21139
bekleideten Händen den Zylinder vor das Gesicht hielten, um still zu
21140
beten, kam ein wenig Sonne hervor. Es regnete nicht mehr, und in das
21141
Geräusch der Tropfen, die vereinzelt von Bäumen und Sträuchern fielen,
21142
klang hie und da ein kurzes, feines und fragendes Vogelzwitschern
21145
Und dann machte sich ein jeder daran, den Söhnen und dem Bruder der
21146
Toten noch einmal die Hand zu drücken.
21148
Thomas Buddenbrook, den dicken und dunklen Stoff seines Überziehers mit
21149
feinen, silbernen Regentropfen betaut, stand zwischen seinem Bruder
21150
Christian und seinem Onkel Justus bei diesem Defilee. Er begann in
21151
letzter Zeit ein wenig stark zu werden -- das einzige Anzeichen des
21152
Alterns an seinem sorgfältig gepflegten Äußeren. Seine Wangen, über die
21153
der spitz ausgezogene Schnurrbart hinausragte, rundeten sich; aber sie
21154
waren weißlich, bleich, ohne Blut und Leben. Seine leicht geröteten
21155
Augen blickten jedem Herrn, dessen Hand er während eines Augenblicks in
21156
der seinen hielt, mit einer matten Höflichkeit ins Gesicht.
21161
Acht Tage später saß in Senator Buddenbrooks Privatkontor, auf dem
21162
Ledersessel zur Seite des Schreibtisches, ein kleiner, glattrasierter
21163
Greis mit tief in Stirn und Schläfen gestrichenem, schlohweißem Haar. In
21164
gebückter Haltung stützte er sich mit beiden Händen auf die weiße Krücke
21165
seines Stockes, ließ das spitz hervorspringende Kinn auf den Händen
21166
ruhen und hielt mit bösartig zusammengepreßten Lippen und abwärts
21167
gezogenen Mundwinkeln von unten herauf einen so abscheulichen und
21168
durchdringend tückischen Blick auf den Senator gerichtet, daß es
21169
unbegreiflich erschien, warum dieser die Gemeinschaft mit einem solchen
21170
Menschen nicht lieber mied. Aber Thomas Buddenbrook saß ohne merkliche
21171
Unruhe zurückgelehnt und sprach zu dieser hämischen und dämonischen
21172
Erscheinung wie zu einem harmlosen Bürger ... Zwischen dem Chef der
21173
Firma Johann Buddenbrook und dem Makler Sigismund Gosch ward über die
21174
Kaufsumme für das alte Haus in der Mengstraße beratschlagt.
21176
Das nahm eine lange Zeit in Anspruch, denn das Angebot von 28000 Talern
21177
Kurant, das Herr Gosch gemacht hatte, schien dem Senator zu niedrig,
21178
während der Makler sich zur Hölle verschwur, wenn dieser Summe auch nur
21179
einen Silbergroschen hinzuzufügen nicht eine Tat des Wahnwitzes wäre.
21180
Thomas Buddenbrook sprach von der zentralen Lage und dem ungewöhnlichen
21181
Umfange des Grundstückes, aber Herr Gosch hielt mit zischender,
21182
gepreßter und verbissener Stimme, verzerrten Lippen und grauenerregenden
21183
Gesten einen Vortrag über das erdrückende Risiko, das er übernähme, eine
21184
Explikation, die in ihrer lebensvollen Eindringlichkeit beinahe ein
21185
Gedicht zu nennen war ... Ha! Wann, an wen, für wieviel er dieses Haus
21186
wohl wieder würde absetzen können? Wie oft im Rollen der Jahrhunderte
21187
denn eine Nachfrage nach einem solchen Grundstück laut würde? Ob sein
21188
hochverehrter Freund und Gönner ihm etwa versprechen könne, daß morgen
21189
mit dem Zuge von Büchen ein Nabob aus Indien eintreffen werde, um sich
21190
im Buddenbrookschen Hause einzurichten? Er -- Sigismund Gosch -- werde
21191
damit sitzenbleiben ... damit sitzenbleiben werde er, und dann sei er
21192
ein geschlagener, ein endgültig vernichteter Mensch, der nicht mehr die
21193
Zeit haben werde, sich zu erheben, denn seine Uhr sei abgelaufen, sein
21194
Grab sei geschaufelt, geschaufelt sei es ... Und da diese Wendung ihn
21195
fesselte, so fügte er noch etwas von schlotternden Lemuren und dumpf auf
21196
den Sargdeckel fallenden Erdschollen hinzu.
21198
Dennoch gab der Senator sich nicht zufrieden. Er sprach über die
21199
vortreffliche Teilbarkeit des Grundstückes, betonte die Verantwortung,
21200
die er seinen Geschwistern gegenüber trage, und beharrte bei dem Preise
21201
von 30000 Talern Kurant, um dann aufs neue mit einem Gemisch von
21202
Nervosität und Wohlgefallen eine wohlpointierte Entgegnung des Herrn
21203
Gosch anzuhören. Das dauerte wohl zwei Stunden lang, in deren Verlaufe
21204
Herr Gosch Gelegenheit hatte, alle Register seiner Charakterkunst zu
21205
ziehen. Er spielte gleichsam ein doppeltes Spiel, er spielte einen
21206
heuchelnden Bösewicht. »Schlagen Sie ein, Herr Senator, mein
21207
jugendlicher Gönner ... 84000 Kurantmark ... es ist das Angebot eines
21208
alten, ehrlichen Mannes!« sagte er mit süßer Stimme, indem er den Kopf
21209
auf die Seite legte, sein von Grimassen verwüstetes Gesicht zu einem
21210
Lächeln der treuherzigen Einfalt verzog und seine Hand, eine große,
21211
weiße Hand, mit langen und zitternden Fingern, von sich streckte. Aber
21212
das war Lüge und Verräterei! Ein Kind hätte diese heuchlerische Maske
21213
durchschauen müssen, unter welcher die tiefinnere Schurkenhaftigkeit
21214
dieses Menschen gräßlich hervorgrinste ...
21216
Endlich erklärte Thomas Buddenbrook, daß er sich eine Bedenkzeit
21217
erbitten und jedenfalls mit seinen Geschwistern Rücksprache nehmen
21218
müsse, bevor er die 28000 Taler akzeptiere, was wohl kaum jemals
21219
geschehen könne. Er brachte vorderhand das Gespräch auf ein neutrales
21220
Gebiet, erkundigte sich nach den geschäftlichen Erfolgen des Herrn
21221
Gosch, nach seinem persönlichen Wohlergehen ...
21223
Herrn Gosch ging es schlecht; mit einer schönen und großen Armbewegung
21224
wies er die Annahme zurück, er könne zu den Glücklichen gehören. Das
21225
beschwerliche Greisenalter nahte heran, es war da, wie gesagt, seine
21226
Grube war geschaufelt. Er konnte abends kaum noch sein Glas Grog zum
21227
Munde führen, ohne die Hälfte zu verschütten, so machte der Teufel
21228
seinen Arm zittern. Da nützte kein Fluchen ... Der Wille triumphierte
21229
nicht mehr ... Immerhin! Er hatte ein Leben hinter sich, ein nicht ganz
21230
armes Leben. Mit wachen Augen hatte er in die Welt gesehen. Revolutionen
21231
und Kriege waren vorübergebraust, und ihre Wogen waren auch durch sein
21232
Herz gegangen ... sozusagen. Ha, verdammt, das waren andere Zeiten
21233
gewesen, als er während jener historischen Bürgerschaftssitzung an der
21234
Seite von des Senators Vater, neben Konsul Johann Buddenbrook dem
21235
Ansturm des wütenden Pöbels getrotzt hatte! Der schrecklichste der
21236
Schrecken ... Nein, sein Leben war nicht arm gewesen, auch innerlich
21237
nicht so ganz. Verdammt, er hatte Kräfte verspürt, und wie die Kraft, so
21238
das Ideal -- sagt Feuerbach. Und auch jetzt noch, auch jetzt ... seine
21239
Seele war nicht verarmt, sein Herz war jung geblieben, es hatte nie
21240
aufgehört, würde nie aufhören, grandioser Erlebnisse fähig zu sein,
21241
seine Ideale warm und treu zu umschließen ... Er würde sie mit ins Grab
21242
nehmen, gewiß! Aber waren Ideale dazu da, erreicht und verwirklicht zu
21243
werden? Keineswegs! Die Sterne, die begehrt man nicht, aber die Hoffnung
21244
... oh, die Hoffnung, nicht die Erfüllung, die Hoffnung war das beste im
21245
Leben. _L'espérance toute trompeuse qu'elle est, sert au moins à nous
21246
mener à la fin de la vie par un chemin agréable._ Das hatte
21247
Larochefoucauld gesagt, und es war schön, nicht wahr?... Ja, sein
21248
hochverehrter Freund und Gönner brauchte dergleichen nicht zu wissen!
21249
Wen die Wogen des realen Lebens hoch auf ihre Schultern genommen hatten,
21250
daß das Glück seine Stirn umspielte, der brauchte solche Dinge nicht im
21251
Kopfe zu haben. Aber wer einsam tief unten im Dunkel träumte, der hatte
21252
dergleichen nötig!...
21254
»Sie sind glücklich«, sagte er plötzlich, indem er eine Hand auf des
21255
Senators Knie legte und mit schwimmendem Blick zu ihm emporsah. »... O
21256
doch! Versündigen Sie sich nicht, indem Sie das leugnen! Sie sind
21257
glücklich! Sie halten das Glück in den Armen! Sie sind ausgezogen und
21258
haben es sich mit starkem Arm erobert ... mit starker Hand!« verbesserte
21259
er sich, weil er die zu schnelle Wiederholung des Wortes »Arm« nicht
21260
ertragen konnte. Dann verstummte er, und ohne ein Wort von des Senators
21261
abwehrender und resignierter Antwort zu vernehmen, fuhr er fort, ihm mit
21262
einer dunklen Träumerei ins Gesicht zu blicken. Plötzlich richtete er
21265
»Aber wir plaudern«, sagte er, »und doch sind wir in Geschäften
21266
zusammengekommen. Die Zeit ist kostbar -- verlieren wir sie nicht mit
21267
Bedenken! Hören Sie mich an ... Weil =Sie= es sind ... verstehen Sie
21268
mich? Weil ...« Es sah aus, als wollte Herr Gosch aufs neue in ein
21269
schönes Sinnen versinken, aber er raffte sich auf und rief mit einer
21270
weiten, schwungvollen und enthusiastischen Geste: »Neunundzwanzigtausend
21271
Taler ... Siebenundachtzigtausend Mark Kurant für das Haus Ihrer Mutter!
21274
Und Senator Buddenbrook schlug ein.
21276
Frau Permaneder fand, wie zu erwarten stand, den Kaufpreis zum Lachen
21277
gering. Würde jemand, in Anbetracht der Erinnerungen, die sich für sie
21278
daran knüpften, eine Million für das Haus auf den Tisch gezählt haben,
21279
sie hätte dies als eine anständige Handlungsweise empfunden -- weiter
21280
nichts. Indessen gewöhnte sie sich rasch an die Zahl, die ihr Bruder ihr
21281
genannt hatte, besonders, da ihr Denken und Trachten von Zukunftsplänen
21282
in Anspruch genommen war.
21284
Sie freute sich von Herzen über die vielen guten Möbel, die ihr
21285
zugefallen waren, und obgleich fürs erste niemand daran dachte, sie aus
21286
ihrem Elternhause zu verjagen, betrieb sie das Auffinden und Mieten
21287
einer neuen Wohnung für sich und die Ihren mit vielem Eifer. Der
21288
Abschied würde schwer sein ... gewiß, der Gedanke daran trieb ihr die
21289
Tränen in die Augen. Aber andererseits hatte die Aussicht auf Neuerung
21290
und Veränderung doch ihren Reiz ... War es nicht fast wie eine neue,
21291
eine vierte Etablierung? Wieder besichtigte sie Wohnräume, wieder nahm
21292
sie Rücksprache mit dem Tapezierer Jacobs, wieder unterhandelte sie in
21293
den Läden über Portieren und Läuferstoffe ... Ihr Herz pochte,
21294
wahrhaftig, das Herz dieser alten, vom Leben gestählten Frau schlug
21297
So vergingen Wochen, vier, fünf und sechs Wochen. Der erste Schnee kam,
21298
der Winter war da, die Öfen prasselten, und Buddenbrooks überlegten
21299
traurig, wie diesmal das Weihnachtsfest vergehen werde ... Da plötzlich
21300
geschah etwas, etwas Dramatisches, etwas über alle Maßen Überraschendes;
21301
der Lauf der Dinge nahm eine Wendung, die das allgemeinste Interesse
21302
verdiente und auch erhielt; ein Ereignis trat ein ... es =schlug= ein,
21303
es machte, daß Frau Permaneder inmitten ihrer Geschäfte stille stand und
21306
»Thomas«, sagte sie, »bin ich verrückt? Phantasiert vielleicht Gosch? Es
21307
kann nicht möglich sein! Es ist zu absurd, zu undenkbar, zu ...« Sie
21308
verstummte und hielt ihre Schläfen mit beiden Händen erfaßt. Aber der
21309
Senator zuckte die Achseln.
21311
»Liebes Kind, noch ist nichts entschieden; aber der Gedanke, die
21312
Möglichkeit ist aufgetaucht, und bei einiger ruhigen Überlegung wirst du
21313
finden, daß an der Sache gar nichts Undenkbares ist. Ein bißchen
21314
frappierend ist es, gewiß. Ich trat auch einen Schritt zurück, als Gosch
21315
es mir sagte. Aber undenkbar? Was steht denn im Wege?...«
21317
»Ich überlebe es nicht«, sagte sie, setzte sich in einen Stuhl und blieb
21320
Was ging vor? -- Schon hatte sich ein Käufer für das Haus gefunden oder
21321
doch eine Person, die Interesse für den Fall an den Tag legte und
21322
bereits dem Wunsche Ausdruck gegeben hatte, das feilstehende Besitztum
21323
behufs weiterer Unterhandlungen einmal gründlich in Augenschein zu
21324
nehmen. Und diese Person war Herr Hermann Hagenström, Großhändler und
21325
Königlich Portugiesischer Konsul.
21327
Als das erste Gerücht Frau Permaneder erreicht hatte, war sie gelähmt
21328
gewesen, verblüfft, vor den Kopf geschlagen, ungläubig, unfähig, den
21329
Gedanken in seiner Tiefe zu erfassen. Nun aber, da die Frage mehr und
21330
mehr an Form und Gestalt gewann, da der Besuch Konsul Hagenströms in der
21331
Mengstraße ganz einfach schon vor der Türe stand, nun raffte sie sich
21332
zusammen, und es kam Leben in sie. Sie protestierte nicht, sie bäumte
21333
sich auf. Sie fand Worte, glühende und scharfschneidige Worte, und sie
21334
schwang sie wie Brandfackeln und Kriegsbeile.
21336
»Dies geschieht nicht, Thomas! So lange ich lebe, geschieht dies nicht!
21337
Wenn man seinen Hund verkauft, so sieht man danach, was für einen Herrn
21338
er bekommt. Und Mutters Haus! Unser Haus! Das Landschaftszimmer!...«
21340
»Aber ich frage dich ja, was denn eigentlich im Wege steht?«
21342
»Was im Wege steht? Grundgütiger Gott, was im Wege steht! Berge sollten
21343
ihm im Wege stehen, diesem dicken Menschen, Thomas! Berge! Aber er sieht
21344
sie nicht! Er kümmert sich nicht darum! Er hat kein Gefühl dafür! Ist er
21345
denn ein Vieh?... Seit Urzeiten sind Hagenströms unsere Widersacher ...
21346
Der alte Hinrich hat Großvater und Vater schikaniert, und wenn Hermann
21347
dir noch nichts Ernstliches hat antun können, wenn er dir noch keinen
21348
Knüppel zwischen die Beine geworfen hat, so geschah es, weil sich ihm
21349
noch keine Gelegenheit dazu bot ... Als wir Kinder waren, habe ich ihn
21350
auf offener Straße geohrfeigt, wozu ich meine Gründe hatte, und seine
21351
holdselige Schwester Julchen hat mich dafür beinahe zuschanden gekratzt.
21352
Das sind Kindereien ... gut! Aber sie haben voll Hohn und Freude
21353
zugesehen, wenn wir Unglück hatten, und meistens war ich diejenige, die
21354
ihnen dies Vergnügen verschaffte ... Gott hat es so gewollt ... Aber
21355
inwiefern der Konsul dir geschäftlich geschadet, und mit welcher
21356
Unverschämtheit er dich überflügelt hat, das mußt du selbst am besten
21357
wissen, Tom, darüber kann ich dich nicht belehren. Und als zu guter
21358
Letzt noch Erika eine gute Heirat machte, da hat es sie gewurmt, so
21359
lange, bis sie es fertig gebracht hatten, den Direktor aus der Welt zu
21360
schaffen und einzusperren, durch die Hand ihres Bruders, dieses Katers,
21361
dieses Satans von Staatsanwalt ... Und nun wollen sie sich erfrechen ...
21362
sie entblöden sich nicht ...«
21364
»Höre, Tony, erstens haben wir in der Sache ja ernstlich gar nicht mehr
21365
mitzureden, denn wir haben mit Gosch abgeschlossen, und es ist nun an
21366
ihm, das Geschäft zu machen mit wem er will. Ich gebe dir ja zu, daß
21367
eine gewisse Ironie des Schicksals darin läge ...«
21369
»Ironie des Schicksals? Ja, Tom, das ist nun =deine= Art, dich
21370
auszudrücken! Ich aber nenne es eine Schmach, einen Faustschlag mitten
21371
ins Gesicht, und das wäre es!... Bedenkst du denn nicht, was es
21372
bedeutet? So bedenke doch, was es bedeuten würde, Thomas! Es würde
21373
bedeuten: Buddenbrooks sind fertig, sie sind endgültig abgetan, sie
21374
ziehen ab, und Hagenströms rücken mit Kling und Klang an ihre Stelle ...
21375
Nie, Thomas, niemals wirke ich mit bei diesem Schauspiele! Niemals biete
21376
ich die Hand zu dieser Niederträchtigkeit! Mag er nur kommen, laß ihn
21377
nur sich unterstehen, hierher zu kommen, um das Haus zu besichtigen. Ich
21378
empfange ihn nicht, das glaube mir! Ich setze mich mit meiner Tochter
21379
und meiner Enkelin in ein Zimmer und drehe den Schlüssel um und verwehre
21380
ihm den Eintritt, das tue ich ...«
21382
»Du wirst das machen, wie du es für klug hältst, meine Liebe, und vorher
21383
überlegen, ob es nicht ratsam sein wird, den gesellschaftlichen Anstand
21384
aufmerksam zu wahren. Vermutlich glaubst du, daß Konsul Hagenström sich
21385
durch dein Benehmen tief getroffen fühlen würde? Nein, weit gefehlt,
21386
mein Kind. Er würde sich weder erfreuen noch erbosen darüber, sondern er
21387
würde erstaunt sein, kühl und gleichgültig erstaunt ... Die Sache ist
21388
die, daß du bei ihm dieselben Gefühle gegen dich und uns voraussetzest,
21389
die du gegen ihn hegst. Irrtum, Tony! Er haßt dich ja gar nicht. Warum
21390
sollte er dich hassen? Er haßt keinen Menschen. Er sitzt in Erfolg und
21391
Glück und ist voll Heiterkeit und Wohlwollen, glaube mir das eine. Ich
21392
habe dir schon mehr als zehnmal versichert, daß er dich auf der Straße
21393
in der liebenswürdigsten Weise grüßen würde, wenn du dich überwinden
21394
könntest, einmal nicht gar zu kriegerisch und hochmütig in die Luft zu
21395
blicken. Er wundert sich darüber, zwei Minuten lang empfindet er ein
21396
ruhevolles und etwas mokantes Erstaunen, unfähig, einen Mann, dem
21397
niemand etwas anhaben kann, aus dem Gleichgewicht zu bringen ... Was
21398
wirfst du ihm vor? Wenn er mich geschäftlich weit überflügelt hat und
21399
mir hie und da mit Erfolg in öffentlichen Angelegenheiten entgegentritt
21400
-- schön und gut, so muß er denn wohl ein tüchtigerer Kaufmann und ein
21401
besserer Politiker sein als ich ... Durchaus kein Grund, so sonderbar
21402
wütend zu lachen, wie du da tust! Um aber auf das Haus zurückzukommen,
21403
so hat ja das alte längst kaum noch eine tatsächliche Bedeutung für die
21404
Familie, sondern die ist allmählich ganz auf das meine übergegangen ...
21405
ich sage das, um dich für jeden Fall zu trösten. Andererseits ist es ja
21406
klar, wodurch Konsul Hagenström auf Kaufgedanken gebracht worden ist.
21407
Die Leute sind emporgekommen, ihre Familie wächst, sie sind mit
21408
Möllendorpfs verschwägert und an Geld und Ansehen den Ersten gleich.
21409
Aber es fehlt ihnen etwas, etwas Äußerliches, worauf sie bislang mit
21410
Überlegenheit und Vorurteilslosigkeit verzichtet haben ... Die
21411
historische Weihe, sozusagen das Legitime ... Sie scheinen jetzt Appetit
21412
danach bekommen zu haben, und sie verschaffen sich etwas davon, indem
21413
sie ein Haus beziehen wie dieses hier ... Paß auf, der Konsul wird hier
21414
alles möglichst konservieren, er wird nichts umbauen, er wird auch das
21415
`_Dominus providebit_´ über der Haustür stehen lassen, obgleich man
21416
billig sein und ihm zugestehen muß, daß nicht der Herr, sondern er ganz
21417
allein der Firma Strunck & Hagenström zu einem so erfreulichen
21418
Aufschwung verholfen hat ...«
21420
»Bravo, Tom! Ach, wie das wohltut, einmal von dir eine Bosheit über ihn
21421
zu hören! Das ist ja eigentlich alles, was ich will! Mein Gott, hätte
21422
ich deinen Kopf, wie wollte ich ihm zusetzen! Aber da stehst du nun ...«
21424
»Du siehst ja, daß mein Kopf mir tatsächlich wenig nützt.«
21426
»Aber da stehst du nun, sage ich, und sprichst über die Sache mit dieser
21427
unfaßlichen Gelassenheit und erklärst mir Hagenströms Handlungsweise ...
21428
Ach, rede wie du willst, du hast ein Herz im Leibe so gut wie ich, und
21429
ich glaube einfach nicht, daß es dich innerlich so ruhig läßt, wie du
21430
tust! Du antwortest mir auf meine Klagen ... vielleicht willst du dich
21431
selbst nur trösten ...«
21433
»Jetzt wirst du vorlaut, Tony. Wie ich `tue´, das gilt -- bitte ich mir
21434
aus! Alles übrige geht niemanden etwas an.«
21436
»Sage nur das eine, Tom, ich flehe dich an: Wäre es nicht ein
21445
»Eine Katzenkomödie zum Heulen?«
21449
-- Und Konsul Hagenström erschien in der Mengstraße, er erschien
21450
zusammen mit Herrn Gosch, der, seinen Jesuitenhut in der Hand, gebückt
21451
und verräterisch um sich blickend, an dem Folgmädchen vorbei, das die
21452
Karten überbracht hatte und die Glastür offen hielt, hinter dem Konsul
21453
ins Landschaftszimmer trat ...
21455
Hermann Hagenström, in einem fußlangen, dicken und schweren Pelze, der
21456
vorne offen stand und einen grüngelben, faserigen und durablen
21457
englischen Winteranzug sehen ließ, war eine großstädtische Figur, ein
21458
imposanter Börsentypus. Er war so außerordentlich fett, daß nicht nur
21459
sein Kinn, sondern sein ganzes Untergesicht doppelt war, was der
21460
kurzgehaltene, blonde Vollbart nicht verhüllte, ja, daß die geschorene
21461
Haut seiner Schädeldecke bei gewissen Bewegungen der Stirn und der
21462
Augenbrauen dicke Falten warf. Seine Nase lag platter als jemals auf der
21463
Oberlippe und atmete mühsam in den Schnurrbart hinein; dann und wann
21464
aber mußte der Mund ihr zu Hilfe kommen, indem er sich zu einem
21465
ergiebigen Atemzuge öffnete. Und das war noch immer mit einem gelinde
21466
schmatzenden Geräusch verbunden, hervorgerufen durch ein allmähliches
21467
Loslösen der Zunge vom Oberkiefer und vom Schlunde.
21469
Frau Permaneder verfärbte sich, als sie dieses altbekannte Geräusch
21470
vernahm. Eine Vision von Zitronensemmeln mit Trüffelwurst und von
21471
Straßburger Gänseleberpastete suchte sie heim dabei und hätte beinahe
21472
für einen Augenblick die steinerne Würde ihrer Haltung erschüttert ...
21473
Das Trauerhäubchen auf dem glattgescheitelten Haar, in einem
21474
vortrefflich sitzenden schwarzen Kleid, dessen Rock mit Volants bis oben
21475
hinauf besetzt war, saß sie mit gekreuzten Armen und etwas
21476
emporgezogenen Schultern auf dem Sofa und richtete noch beim Eintritt
21477
der beiden Herren eine gleichgültige und ruhevolle Bemerkung an ihren
21478
Bruder, den Senator, der es nicht hätte verantworten können, sie in
21479
dieser Stunde im Stiche zu lassen ... Sie blieb auch noch sitzen,
21480
während der Senator, der den Gästen bis zur Mitte des Zimmers
21481
entgegengeschritten war, eine herzliche Begrüßung mit dem Makler Gosch
21482
und eine korrekt höfliche mit dem Konsul tauschte, erhob sich dann auch
21483
ihrerseits, vollführte eine gemessene Verbeugung vor beiden zugleich und
21484
beteiligte sich dann ohne jedweden Übereifer mit Wort und Hand an den
21485
Aufforderungen ihres Bruders, gefälligst Platz zu nehmen. Übrigens hielt
21486
sie hierbei vor unberührter Gleichgültigkeit ihre Augen beinahe ganz
21489
Während man sich setzte und im Verlaufe der ersten darauf folgenden
21490
Minuten sprachen abwechselnd der Konsul und der Makler. Herr Gosch bat
21491
mit abstoßend falscher Demut, hinter der allen sichtbar die Tücke
21492
lauerte, gütigst die Störung zu entschuldigen, doch hege Herr Konsul
21493
Hagenström den Wunsch, einen Rundgang durch die Räumlichkeiten des
21494
Hauses zu tun, da er eventuell als Käufer darauf reflektiere ... Und
21495
dann wiederholte der Konsul mit einer Stimme, die Frau Permaneder
21496
wiederum an belegte Zitronensemmeln gemahnte, dasselbe noch einmal in
21497
anderen Worten. Ja, in der Tat, der Gedanke sei ihm gekommen, und er sei
21498
schnell zum Wunsche geworden, den er sich und den Seinen erfüllen zu
21499
können hoffe, gesetzt, daß nicht Herr Gosch ein gar zu gutes Geschäft
21500
dabei zu machen beabsichtige, ha, ha!... nun, er zweifle nicht, daß sich
21501
die Angelegenheit zur allseitigen Zufriedenheit werde ordnen lassen.
21503
Sein Gehaben war frei, sorglos, behaglich und weltmännisch, was seinen
21504
Eindruck auf Frau Permaneder nicht verfehlte, besonders da er aus
21505
Courtoisie sich mit seinen Worten fast immer an sie wandte. Er ließ sich
21506
sogar darauf ein, seinen Wunsch in beinahe entschuldigendem Ton
21507
ausführlich zu begründen. »Raum! Mehr Raum!« sagte er. »Mein Haus in der
21508
Sandstraße ... Sie glauben es nicht, gnädige Frau, und Sie, Herr Senator
21509
... es wird uns effektiv zu eng, wir können uns manchmal nicht mehr
21510
darin rühren. Ich rede nicht einmal von Gesellschaft ... bewahre. Es ist
21511
effektiv nur die Familie nötig, Huneus', Möllendorpfs, die Angehörigen
21512
meines Bruders Moritz ... und wir befinden uns effektiv wie die Heringe.
21513
Also warum -- nicht wahr?«
21515
Er sprach in dem Tone einer leichten Entrüstung, mit einem Ausdruck und
21516
mit Handbewegungen, welche besagten: Sie werden das einsehen ... ich
21517
brauche mir das nicht gefallen zu lassen ... ich wäre ja dumm ... da es
21518
doch, Gott sei Dank, am Nötigsten nicht fehlt, der Sache abzuhelfen ...
21520
»Nun habe ich warten wollen«, fuhr er fort, »ich habe warten wollen, bis
21521
Zerline und Bob ein Haus gebrauchen würden, um ihnen erst dann das meine
21522
abzutreten und mich nach etwas Größerem umzutun; aber ... Sie wissen«,
21523
unterbrach er sich, »daß meine Tochter Zerline und Bob, der Älteste
21524
meines Bruders, des Staatsanwaltes, seit langen Jahren verlobt sind ...
21525
Die Hochzeit soll nun nicht allzu lange mehr hinausgeschoben werden.
21526
Zwei Jahre höchstens noch ... Sie sind jung -- desto besser! Aber kurz
21527
und gut, warum soll ich auf sie warten und mir die günstige Gelegenheit
21528
entgehen lassen, die sich mir augenblicklich bietet? Es läge effektiv
21529
kein vernünftiger Sinn darin ...«
21531
Zustimmung herrschte im Zimmer, und die Unterhaltung blieb ein wenig bei
21532
dieser Familienangelegenheit, dieser bevorstehenden Verehelichung
21533
stehen; denn da vorteilhafte Heiraten zwischen Geschwisterkindern in der
21534
Stadt nichts Ungewöhnliches waren, so nahm niemand Anstoß daran. Man
21535
erkundigte sich nach den Plänen der jungen Herrschaften, Pläne, die
21536
sogar schon die Hochzeitsreise betrafen ... Sie gedachten an die Riviera
21537
zu gehen, nach Nizza usw. Sie hatten Lust dazu -- und warum also nicht,
21538
nicht wahr?... Auch der jüngeren Kinder wurde erwähnt, und der Konsul
21539
sprach mit Behagen und Wohlgefallen von ihnen, leichthin und mit
21540
Achselzucken. Er selbst besaß fünf Kinder und sein Bruder Moritz deren
21541
vier: Söhne und Töchter ... ja, danke sehr, sie waren alle wohlauf.
21542
Warum sollten sie übrigens nicht wohlauf sein -- nicht wahr? Kurzum, es
21543
ging ihnen gut. Und dann kam er wieder auf das Anwachsen der Familie und
21544
die Enge in seinem Hause zu sprechen ... »Ja, dies hier ist etwas
21545
anderes!« sagte er. »Das habe ich schon auf dem Wege hier herauf sehen
21546
können -- das Haus ist eine Perle, eine Perle ohne Frage, gesetzt, daß
21547
der Vergleich bei diesen Dimensionen haltbar ist, ha! ha!... Schon die
21548
Tapeten hier ... ich gestehe Ihnen, gnädige Frau, ich bewundere, während
21549
ich spreche, beständig die Tapeten. Ein scharmantes Zimmer effektiv!
21550
Wenn ich denke ... hier haben Sie bislang Ihr Leben verbringen
21553
»Mit einigen Unterbrechungen -- ja«, sprach Frau Permaneder mit jener
21554
besonderen Kehlkopfstimme, die ihr manchmal zu Gebote stand.
21556
»Unterbrechungen -- ja«, wiederholte der Konsul mit zuvorkommendem
21557
Lächeln. Dann warf er einen Blick auf Senator Buddenbrook und Herrn
21558
Gosch, und da die beiden Herren im Gespräche begriffen waren, rückte er
21559
seinen Sessel näher zu Frau Permaneders Sofasitz heran und beugte sich
21560
zu ihr, so daß nun das schwere Pusten seiner Nase dicht unter der ihren
21561
ertönte. Zu höflich, sich abzuwenden und sich seinem Atem zu entziehen,
21562
saß sie steif und möglichst hoch aufgerichtet und blickte mit gesenkten
21563
Lidern auf ihn nieder. Aber er bemerkte durchaus nicht das Gezwungene
21564
und Unangenehme ihrer Lage.
21566
»Wie ist es, gnädige Frau«, sagte er ... »Mir scheint, wir haben früher
21567
schon einmal Geschäfte miteinander gemacht? Damals handelte es sich
21568
freilich nur ... um was noch gleich? Leckereien, Zuckerwerk, wie?... Und
21569
jetzt um ein ganzes Haus ...«
21571
»Ich erinnere mich nicht«, sagte Frau Permaneder und steifte ihren Hals
21572
noch mehr, denn sein Gesicht war ihr unanständig und unerträglich
21575
»Sie erinnern sich nicht?«
21577
»Nein, ich weiß, ehrlich gesagt, nichts von Zuckerwerk. Mir schwebt
21578
etwas vor von Zitronensemmeln mit fetter Wurst belegt ... einem recht
21579
widerlichen Frühstücksbrot ... Ich weiß nicht, ob es mir oder Ihnen
21580
gehörte ... Wir waren Kinder damals ... Aber das mit dem Hause heute ist
21581
ja ganz und gar Sache des Herrn Gosch ...«
21583
Sie warf ihrem Bruder einen raschen, dankbaren Blick zu, denn er hatte
21584
ihre Not gesehen und kam ihr zu Hilfe, indem er sich die Frage erlaubte,
21585
ob es den Herren genehm sei, vorerst einmal den Gang durchs Haus zu
21586
unternehmen. Man war bereit dazu, man verabschiedete sich vorläufig von
21587
Frau Permaneder, denn man hoffte, später noch einmal das Vergnügen zu
21588
haben ... und dann führte der Senator die beiden Gäste durch den Eßsaal
21591
Er führte sie treppauf, treppab und zeigte ihnen die Zimmer der zweiten
21592
Etage sowie diejenigen, die am Korridor des ersten Stockwerks gelegen
21593
waren, und die Parterreräumlichkeiten, ja selbst Küche und Keller. Was
21594
die Büros betraf, so nahm man Abstand davon, einzutreten, da der
21595
Rundgang in die Arbeitszeit der Versicherungsbeamtenschaft fiel. Ein
21596
paar Bemerkungen über den neuen Direktor wurden gewechselt, den Konsul
21597
Hagenström zweimal hintereinander für einen grundehrlichen Mann
21598
erklärte, worauf der Senator verstummte.
21600
Sie gingen dann durch den kahlen, in halbgeschmolzenem Schnee liegenden
21601
Garten, taten einen Blick in das »Portal« und kehrten auf den vorderen
21602
Hof zurück, dorthin, wo die Waschküche lag, um sich von hier aus den
21603
schmalen gepflasterten Gang zwischen den Mauern entlang über den
21604
hinteren Hof, wo der Eichbaum stand, nach dem Rückgebäude zu begeben.
21605
Hier gab es nichts als vernachlässigte Altersschwäche. Zwischen den
21606
Pflastersteinen des Hofes wucherte Gras und Moos, die Treppen des Hauses
21607
waren in vollem Verfall, und die freie Katzenfamilie im Billardsaale
21608
konnte man nur flüchtig beunruhigen, indem man die Tür öffnete, ohne
21609
einzutreten, denn der Fußboden war hier nicht sicher.
21611
Konsul Hagenström war schweigsam und ersichtlich mit Erwägungen und
21612
Plänen beschäftigt. »Nun ja --«, sagte er beständig, gleichgültig
21613
abwehrend, und deutete damit an, daß, sollte er hier Herr werden, dies
21614
alles natürlich nicht so bleiben könne. Mit der gleichen Miene stand er
21615
auch ein Weilchen auf dem harten Lehmboden zu ebener Erde und blickte zu
21616
den öden Speicherböden empor. »Nun ja --«, wiederholte er, setzte das
21617
dicke und schadhafte Windetau, das hier, mit seinem verrosteten
21618
Eisenhaken am Ende, während langer Jahre regungslos inmitten des Raumes
21619
gehangen hatte, ein wenig in Pendelbewegung und wandte sich dann auf dem
21622
»Ja, nehmen Sie besten Dank für Ihre Bemühungen, Herr Senator; wir sind
21623
wohl zu Ende«, sagte er, und dann blieb er beinahe stumm, auf dem rasch
21624
zurückgelegten Wege zum Vordergebäude sowie auch später, als die beiden
21625
Gäste sich im Landschaftszimmer, ohne noch einmal Platz zu nehmen, bei
21626
Frau Permaneder empfohlen hatten und Thomas Buddenbrook sie die Treppe
21627
hinunter und über die Diele geleitete. Kaum aber war die Verabschiedung
21628
erledigt, und kaum wandte sich Konsul Hagenström, auf die Straße
21629
hinaustretend, seinem Begleiter, dem Makler, zu, als zu bemerken war,
21630
daß ein überaus lebhaftes Gespräch zwischen den beiden begann ...
21632
Der Senator kehrte ins Landschaftszimmer zurück, woselbst Frau
21633
Permaneder, ohne sich anzulehnen und mit strenger Miene, an ihrem
21634
Fensterplatze saß, mit zwei großen Holznadeln an einem schwarzwollenen
21635
Röckchen für ihre Enkelin, die kleine Elisabeth, strickte und hie und da
21636
einen Blick seitwärts in den »Spion« warf. Thomas ging eine Weile, die
21637
Hände in den Hosentaschen, schweigend auf und nieder.
21639
»Ja, ich habe ihn nun dem Makler überlassen«, sagte er dann; »man muß
21640
abwarten, was daraus wird. Ich denke, er wird das Ganze kaufen, hier
21641
vorne wohnen und das hintere Terrain anderweitig verwerten ...«
21643
Sie sah ihn nicht an, sie veränderte auch nicht die aufrechte Haltung
21644
ihres Oberkörpers und hörte nicht auf, zu stricken; im Gegenteile, die
21645
Schnelligkeit, mit der die Nadeln sich in ihren Händen umeinander
21646
bewegten, nahm merklich zu.
21648
»O gewiß, er wird es kaufen, er wird das Ganze kaufen«, sagte sie, und
21649
es war die Kehlkopfstimme, deren sie sich bediente. »Warum sollte er es
21650
nicht kaufen, nicht wahr? Es läge effektiv kein vernünftiger Sinn
21653
Und mit emporgezogenen Brauen blickte sie durch das Pincenez, das sie
21654
jetzt bei Handarbeiten gebrauchen mußte, aber durchaus nicht richtig
21655
aufzusetzen verstand, steif und fest auf ihre Nadeln, die mit
21656
verwirrender Geschwindigkeit und leisem Geklapper umeinanderwirbelten.
21660
Weihnachten kam, das erste Weihnachtsfest ohne die Konsulin. Der Abend
21661
des vierundzwanzigsten Dezembers wurde im Hause des Senators begangen,
21662
ohne die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße und ohne die alten
21663
Krögers; denn wie es nun mit den regelmäßigen »Kindertagen« ein Ende
21664
hatte, so war Thomas Buddenbrook auch nicht geneigt, alle Teilnehmer an
21665
den Weihnachtsabenden der Konsulin nun seinerseits zu versammeln und zu
21666
beschenken. Nur Frau Permaneder mit Erika Weinschenk und der kleinen
21667
Elisabeth, Christian, Klothilde, die Klosterdame und Mademoiselle
21668
Weichbrodt waren gebeten, welch letztere ja nicht abließ, am
21669
fünfundzwanzigsten in ihren heißen Stübchen die übliche, mit
21670
Unglücksfällen verbundene Bescherung abzuhalten.
21672
Es fehlte der Chor der »Hausarmen«, die in der Mengstraße Schuhzeug und
21673
wollene Sachen in Empfang genommen hatten, und es gab keinen
21674
Knabengesang. Man stimmte im Salon ganz einfach das »Stille Nacht,
21675
heilige Nacht« an, worauf Therese Weichbrodt aufs exakteste das
21676
Weihnachtskapitel verlas, an Stelle der Senatorin, die das nicht
21677
sonderlich liebte; und dann ging man, indem man mit halber Stimme die
21678
erste Strophe des »O Tannebaum« sang, durch die Zimmerflucht in den
21679
großen Saal hinüber.
21681
Es lag kein besonderer Grund vor zu freudigen Veranstaltungen. Die
21682
Gesichter waren nicht eben glückstrahlend und die Unterhaltung nicht
21683
eben heiter bewegt. Worüber sollte man plaudern? Es gab nicht viel
21684
Erfreuliches in der Welt. Man gedachte der seligen Mutter, sprach über
21685
den Hausverkauf, über die helle Etage, die Frau Permaneder vorm
21686
Holstentore in einem freundlichen Hause angesichts der Anlagen des
21687
»Lindenplatzes« gemietet hatte, und über das, was geschehen werde, wenn
21688
Hugo Weinschenk wieder auf freiem Fuße wäre ... Inzwischen spielte der
21689
kleine Johann auf dem Flügel einiges, was er mit Herrn Pfühl geübt
21690
hatte, und begleitete seiner Mutter, etwas fehlerhaft, aber mit schönem
21691
Klange, eine Sonate von Mozart. Er wurde belobt und geküßt, mußte dann
21692
aber von Ida Jungmann zur Ruhe gebracht werden, da er heute abend, noch
21693
infolge einer kaum überstandenen Darmaffektion, sehr blaß und matt
21696
Selbst Christian, welcher, da er nach jenem Zusammenstoße im
21697
Frühstückszimmer von Heiratsgedanken nichts mehr hatte verlautbaren
21698
lassen, mit seinem Bruder in dem alten, für ihn nicht sehr ehrenvollen
21699
Verhältnis fortlebte, war gänzlich ungesprächig und zu keinem Spaße
21700
aufgelegt. Er machte mit wandernden Augen einen kurzen Versuch, bei den
21701
Anwesenden ein wenig Verständnis für die »Qual« in seiner linken Seite
21702
zu erwecken und ging früh in den Klub, um erst zum Abendessen
21703
zurückzukehren, das in der hergebrachten Weise zusammengesetzt war ...
21704
Dann hatten Buddenbrooks diesen Weihnachtsabend hinter sich, und sie
21705
waren beinahe froh darüber.
21707
Zu Beginn des Jahres 72 ward der Hausstand der verstorbenen Konsulin
21708
aufgelöst. Die Dienstmädchen zogen davon, und Frau Permaneder lobte
21709
Gott, als auch Mamsell Severin, die ihr bislang im Wirtschaftswesen aufs
21710
unerträglichste die Autorität streitig gemacht hatte, sich mit den
21711
übernommenen Seidenkleidern und Wäschestücken verabschiedete. Dann
21712
standen Möbelwagen in der Mengstraße, und die Räumung des alten Hauses
21713
begann. Die große geschnitzte Truhe, die vergoldeten Kandelaber und die
21714
übrigen Dinge, die dem Senator und seiner Gattin zugefallen waren,
21715
wurden nun in die Fischergrube geschafft, Christian bezog mit den Seinen
21716
eine Garçonwohnung von drei Zimmern in der Nähe des Klubs, und die
21717
kleine Familie Permaneder-Weinschenk hielt ihren Einzug in dem hellen
21718
und nicht ohne Anspruch auf Vornehmheit eingerichteten Stockwerk am
21719
Lindenplatze. Es war eine hübsche kleine Wohnung, und an der Etagentür
21720
stand auf einem blanken Kupferschilde in zierlicher Schrift zu lesen:
21721
=A. Permaneder-Buddenbrook, Witwe=.
21723
Kaum aber stand das Haus in der Mengstraße leer, als auch schon eine
21724
Schar von Arbeitern am Platze erschien, die das Rückgebäude abzubrechen
21725
begannen, daß der alte Mörtelstaub die Luft verfinsterte ... Das
21726
Grundstück war nun endgültig in den Besitz Konsul Hagenströms
21727
übergegangen. Er hatte es gekauft, er schien seinen Ehrgeiz darein
21728
gesetzt zu haben, es zu kaufen, denn ein Angebot, das Herrn Sigismund
21729
Gosch von Bremen aus zugegangen war, hatte er unverzüglich überboten,
21730
und er begann nun, sein Eigentum in der ingeniösen Art zu verwerten, die
21731
man seit langer Zeit an ihm bewunderte. Schon im Frühjahr bezog er mit
21732
seiner Familie das Vorderhaus, indem er dort nach Möglichkeit alles beim
21733
alten beließ, vorbehaltlich kleiner gelegentlicher Renovierungen und
21734
abgesehen von einigen sofortigen, der Neuzeit entsprechenden Änderungen;
21735
zum Beispiel wurden alle Glockenzüge abgeschafft und das Haus durchaus
21736
mit elektrischen Klingeln versehen ... Schon aber war das Rückgebäude
21737
vom Boden verschwunden, und an seiner Statt stieg ein neues empor, ein
21738
schmucker und luftiger Bau, dessen Front der Bäckergrube zugekehrt war
21739
und der für Magazine und Läden hohe und weite Räume bot.
21741
Frau Permaneder hatte ihrem Bruder Thomas gegenüber wiederholt eidlich
21742
beteuert, daß fortan keine Macht der Erde sie werde bewegen können, ihr
21743
Elternhaus auch nur mit einem Blicke wiederzusehen. Allein es war
21744
unmöglich, dies innezuhalten, und hie und da führte ihr Weg sie
21745
notwendig an den rasch aufs vorteilhafteste vermieteten Läden und
21746
Schaufenstern des Rückgebäudes oder der ehrwürdigen Giebelfassade
21747
andererseits vorüber, wo nun unter dem »_Dominus providebit_« der Name
21748
Konsul Hermann Hagenströms zu lesen war. Dann aber begann Frau
21749
Permaneder-Buddenbrook auf offener Straße und angesichts noch so vieler
21750
Menschen einfach laut zu weinen. Sie legte den Kopf zurück, ähnlich
21751
einem Vogel, der zu singen anhebt, drückte das Schnupftuch gegen die
21752
Augen und stieß wiederholt einen Wehelaut hervor, dessen Ausdruck aus
21753
Protest und Klage gemischt war, worauf sie, ohne sich um irgendeinen
21754
Vorübergehenden noch um die Mahnungen ihrer Tochter zu bekümmern, sich
21755
ihren Tränen überließ.
21757
Es war noch ganz ihr unbedenkliches, erquickendes Kinderweinen, das ihr
21758
in allen Stürmen und Schiffbrüchen des Lebens treugeblieben war.
21768
Oftmals, wenn die trüben Stunden kamen, fragte sich Thomas Buddenbrook,
21769
was er eigentlich noch sei, was ihn eigentlich noch berechtige, sich
21770
auch nur ein wenig höher einzuschätzen als irgendeiner seiner einfach
21771
veranlagten, biderben und kleinbürgerlich beschränkten Mitbürger. Die
21772
phantasievolle Schwungkraft, der muntere Idealismus seiner Jugend war
21773
dahin. Im Spiele zu arbeiten und mit der Arbeit zu spielen, mit einem
21774
halb ernst, halb spaßhaft gemeinten Ehrgeiz nach Zielen zu streben,
21775
denen man nur einen Gleichniswert zuerkennt -- zu solchen
21776
heiter-skeptischen Kompromissen und geistreichen Halbheiten gehört viel
21777
Frische, Humor und guter Mut; aber Thomas Buddenbrook fühlte sich
21778
unaussprechlich müde und verdrossen.
21780
Was für ihn zu erreichen gewesen war, hatte er erreicht, und er wußte
21781
wohl, daß er den Höhepunkt seines Lebens, wenn überhaupt, wie er bei
21782
sich hinzufügte, bei einem so mittelmäßigen und niedrigen Leben von
21783
einem Höhepunkte die Rede sein konnte, längst überschritten hatte.
21785
Was das rein Geschäftliche betraf, so galt im allgemeinen sein Vermögen
21786
für stark reduziert und die Firma für im Rückgange begriffen. Dennoch
21787
war er, sein mütterliches Erbe, den Anteil am Mengstraßenhause und den
21788
Grundbesitz eingerechnet, ein Mann von mehr als sechsmalhunderttausend
21789
Mark Kurant. Das Betriebskapital aber lag brach seit langen Jahren, mit
21790
dem pfennigweisen Geschäftemachen, dessen sich der Senator zur Zeit der
21791
Pöppenrader Ernteangelegenheit angeklagt hatte, war es seit dem Schlage,
21792
den er damals empfangen, nicht besser, sondern schlimmer geworden, und
21793
jetzt, in einer Zeit, da alles sich frisch und siegesfroh regte, da seit
21794
dem Eintritt der Stadt in den Zollverband kleine Krämergeschäfte
21795
imstande waren, sich binnen weniger Jahre zu angesehenen Großhandlungen
21796
zu entwickeln, jetzt ruhte die Firma Johann Buddenbrook, ohne
21797
irgendeinen Vorteil aus den Errungenschaften der Zeit zu ziehen, und
21798
über den Gang der Geschäfte befragt, antwortete der Chef mit matt
21799
abwehrender Handbewegung: »Ach, dabei ist nicht viel Freude ...« Ein
21800
lebhafterer Konkurrent, der ein naher Freund der Hagenströms war, tat
21801
die Äußerung, daß Thomas Buddenbrook an der Börse eigentlich nur noch
21802
dekorativ wirke, und dieser Scherz, der auf das sorgfältig gepflegte
21803
Äußere des Senators anspielte, wurde von den Bürgern als eine unerhörte
21804
Leistung gewandter Dialektik bewundert und belacht.
21806
War aber der Senator im Fortwirken für das alte Firmenschild, dem er
21807
ehemals mit soviel Enthusiasmus gedient hatte, durch erlittenes
21808
Mißgeschick und innere Mattigkeit gelähmt, so waren seinem Emporstreben
21809
im städtischen Gemeinwesen äußere Grenzen gezogen, die unüberschreitbar
21810
waren. Seit Jahren, schon seit seiner Berufung in den Senat, hatte er
21811
auch hier erlangt, was für ihn zu erlangen war. Es gab nur noch
21812
Stellungen innezuhalten und Ämter zu bekleiden, aber nichts mehr zu
21813
erobern; es gab nur noch Gegenwart und kleinliche Wirklichkeit, aber
21814
keine Zukunft und keine ehrgeizigen Pläne mehr. Zwar hatte er seine
21815
Macht in der Stadt umfänglicher zu gestalten gewußt, als ein anderer an
21816
seiner Stelle das vermocht hätte, und seinen Feinden wurde es schwer, zu
21817
leugnen, daß er »des Bürgermeisters rechte Hand« sei. Bürgermeister aber
21818
konnte Thomas Buddenbrook nicht werden, denn er war Kaufmann und nicht
21819
Gelehrter, er hatte kein Gymnasium absolviert, war nicht Jurist und
21820
überhaupt nicht akademisch ausgebildet. Er aber, der von jeher seine
21821
Mußestunden mit historischer und literarischer Lektüre ausgefüllt hatte,
21822
der sich seiner gesamten Umgebung an Geist, Verstand und innerer wie
21823
äußerer Bildung überlegen fühlte, er verwand nicht den Ärger darüber,
21824
daß das Fehlen der ordnungsmäßigen Qualifikationen es ihm unmöglich
21825
machte, in dem kleinen Reich, in das er hineingeboren, die erste Stelle
21826
einzunehmen. »Wie dumm sind wir gewesen«, sagte er zu seinem Freunde und
21827
Bewunderer Stephan Kistenmaker -- aber mit dem »wir« meinte er nur sich
21828
allein --, »daß wir so früh ins Kontor gelaufen sind und nicht lieber
21829
die Schule beendigt haben!« Und Stephan Kistenmaker antwortete: »Ja, da
21830
hast du wahrhaftig recht!... Warum übrigens?«
21832
Der Senator arbeitete jetzt meistens allein an dem großen
21833
Mahagonischreibtisch in seinem Privatbüro; erstens, weil dort niemand es
21834
sah, wenn er den Kopf in die Hand stützte und mit geschlossenen Augen
21835
grübelte, hauptsächlich aber, weil die haarsträubende Pedanterie, mit
21836
der sein Sozius, Herr Friedrich Wilhelm Marcus, ihm gegenüber immer aufs
21837
neue seine Utensilien ordnete und seinen Schnurrbart strich, ihn von
21838
seinem Fensterplatz im Hauptkontor verjagt hatte.
21840
Die bedächtige Umständlichkeit des alten Herrn Marcus war im Laufe der
21841
Jahre zur vollständigen Manie und Wunderlichkeit geworden; was sie aber
21842
in letzter Zeit für Thomas Buddenbrook zu etwas unerträglich
21843
Aufreizendem und Beleidigendem machte, war der Umstand, daß er selbst zu
21844
seinem Entsetzen oftmals etwas Ähnliches an sich beobachten mußte. Ja,
21845
auch in ihm, der ehemals aller Kleinlichkeit so abhold gewesen war,
21846
hatte sich eine Art von Pedanterie entwickelt, wenn auch aus einer
21847
anderen Konstitution und einer anderen Gemütsverfassung heraus.
21849
In ihm war es leer, und er sah keinen anregenden Plan und keine
21850
fesselnde Arbeit, der er sich mit Freude und Befriedigung hätte hingeben
21851
können. Sein Tätigkeitstrieb aber, die Unfähigkeit seines Kopfes, zu
21852
ruhen, seine Aktivität, die stets etwas gründlich anderes gewesen war
21853
als die natürliche und durable Arbeitslust seiner Väter: etwas
21854
Künstliches nämlich, ein Drang seiner Nerven, ein Betäubungsmittel im
21855
Grunde, so gut wie die kleinen, scharfen russischen Zigaretten, die er
21856
beständig dazu rauchte ... sie hatte ihn nicht verlassen, er war ihrer
21857
weniger Herr als jemals, sie hatte überhandgenommen und wurde zur
21858
Marter, indem sie sich an eine Menge von Nichtigkeiten verzettelte. Er
21859
war gehetzt von fünfhundert nichtswürdigen Bagatellen, die zum großen
21860
Teil nur die Instandhaltung seines Hauses und seiner Toilette betrafen,
21861
die er aus Überdruß verschob, die sein Kopf nicht beieinander zu halten
21862
vermochte und mit denen er nicht in Ordnung kam, weil er
21863
unverhältnismäßig viel Nachdenken und Zeit daran verschwendete.
21865
Das, was man in der Stadt seine »Eitelkeit« nannte, hatte in einer Weise
21866
zugenommen, deren er selbst längst begonnen hatte sich zu schämen, ohne
21867
daß er imstande gewesen wäre, sich der Gewohnheiten zu entschlagen, die
21868
sich in dieser Beziehung entwickelt hatten. Von dem Augenblicke an, da
21869
er nach einer nicht unruhig aber in dumpfem und unerquicklichem Schlafe
21870
verbrachten Nacht im Schlafrock zu Herrn Wenzel, dem alten Barbier, ins
21871
Ankleidezimmer trat -- es war 9 Uhr, und er hatte sich früher viel
21872
zeitiger erhoben -- verbrauchte er volle anderthalb Stunden bei seinem
21873
Anzuge, bis er sich fertig und entschlossen fühlte, den Tag zu beginnen,
21874
indem er sich zum Tee ins erste Stockwerk hinunterbegab. Seine Toilette
21875
war so umständlich und dabei in der Reihenfolge ihrer Einzelheiten, von
21876
der kalten Dusche im Badezimmer bis zum Schluß, wenn das letzte
21877
Stäubchen vom Rocke entfernt war und die Bartenden zum letzten Male
21878
durch die Brennschere glitten, so fest und unabänderlich geregelt, daß
21879
die beständig wiederholte Abhaspelung dieser zahllosen kleinen
21880
Handgriffe und Arbeiten ihn jeden Augenblick zur Verzweiflung brachte.
21881
Dennoch hätte er es nicht vermocht, das Kabinett mit dem Bewußtsein zu
21882
verlassen, irgend etwas davon unterlassen oder nur flüchtig erledigt zu
21883
haben, aus Furcht, dieses Gefühls von Frische, Ruhe und Intaktheit
21884
verlustig zu gehen, das doch nach einer einzigen Stunde wieder verloren
21885
war und notdürftig erneuert werden mußte.
21887
Er sparte in allen Dingen, soweit das, ohne sich dem Gerede auszusetzen,
21888
tunlich war, -- nur nicht in betreff seiner Garderobe, die er durchaus
21889
bei dem elegantesten Schneider von Hamburg anfertigen ließ und für deren
21890
Erhaltung und Ergänzung er keine Kosten scheute. Eine Tür, die in ein
21891
anderes Zimmer zu führen schien, verschloß die geräumige Nische, die in
21892
eine Wand des Ankleidekabinetts eingemauert war, und in der an langen
21893
Reihen von Haken, über gebogene Holzleisten ausgespannt, die Jacketts,
21894
Smokings, Gehröcke, Fräcke für alle Jahreszeiten und in allen
21895
Gradabstufungen der gesellschaftlichen Feierlichkeit hingen, während auf
21896
mehreren Stühlen die Beinkleider, sorgfältig in die Falten gelegt,
21897
aufgestapelt waren. In der Kommode aber, mit dem gewaltigen
21898
Spiegelaufsatz, dessen Platte mit Kämmen, Bürsten und Präparaten für
21899
die Pflege des Haupthaares und Bartes bedeckt war, lagerte der Vorrat
21900
von verschiedenartiger Leibwäsche, die beständig gewechselt, gewaschen,
21901
verbraucht und ergänzt wurde ...
21903
In diesem Kabinett verbrachte er nicht nur am Morgen eine lange Zeit,
21904
sondern auch vor jedem Diner, jeder Senatssitzung, jeder öffentlichen
21905
Versammlung, kurz, immer, bevor es galt, sich unter Menschen zu zeigen
21906
und zu bewegen, ja selbst vor den alltäglichen Mahlzeiten zu Hause, bei
21907
denen außer ihm selbst nur seine Frau, der kleine Johann und Ida
21908
Jungmann zugegen waren. Und wenn er hinaustrat, so verschaffte die
21909
frische Wäsche an seinem Körper, die tadellose und diskrete Eleganz
21910
seines Anzuges, sein sorgfältig gewaschenes Gesicht, der Geruch der
21911
Brillantine in seinem Schnurrbart und der herb-kühle Geschmack des
21912
gebrauchten Mundwassers ihm das Befriedigungs- und Bereitschaftsgefühl,
21913
mit dem ein Schauspieler, der seine Maske in allen Einzelheiten
21914
vollendet hergestellt hat, sich zur Bühne begibt ... Wirklich! Thomas
21915
Buddenbrooks Dasein war kein anderes mehr als das eines Schauspielers,
21916
eines solchen aber, dessen ganzes Leben bis auf die geringste und
21917
alltäglichste Kleinigkeit zu einer einzigen Produktion geworden ist,
21918
einer Produktion, die mit Ausnahme einiger weniger und kurzer Stunden
21919
des Alleinseins und der Abspannung beständig alle Kräfte in Anspruch
21920
nimmt und verzehrt ... Der gänzliche Mangel eines aufrichtig feurigen
21921
Interesses, das ihn in Anspruch genommen hätte, die Verarmung und
21922
Verödung seines Inneren -- eine Verödung, so stark, daß sie sich fast
21923
unablässig als ein unbestimmt lastender Gram fühlbar machte -- verbunden
21924
mit einer unerbittlichen inneren Verpflichtung und zähen
21925
Entschlossenheit, um jeden Preis würdig zu repräsentieren, seine
21926
Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die »Dehors« zu
21927
wahren, hatte dies aus seinem Dasein gemacht, hatte es künstlich,
21928
bewußt, gezwungen gemacht und bewirkt, daß jedes Wort, jede Bewegung,
21929
jede geringste Aktion unter Menschen zu einer anstrengenden und
21930
aufreibenden Schauspielerei geworden war.
21932
Seltsame Einzelheiten traten dabei zutage, eigenartige Bedürfnisse, die
21933
er selbst mit Erstaunen und Widerwillen an sich wahrnahm. Im Gegensatze
21934
zu Leuten, die selbst keine Rolle spielen, sondern nur unbeachtet und
21935
den Blicken unzugänglich in aller Stille ihre Beobachtungen anstellen
21936
wollen, liebte er es nicht, das Tageslicht im Rücken zu haben, sich
21937
selbst im Schatten zu wissen und die Leute in heller Beleuchtung vor
21938
sich zu sehen; halb geblendet vielmehr das Licht in den Augen zu fühlen
21939
und die Leute, sein Publikum, die, auf die er als liebenswürdiger
21940
Gesellschafter oder als lebhafter Geschäftsmann und repräsentierender
21941
Firmenchef oder als öffentlicher Redner zu wirken hatte, als eine bloße
21942
Masse im Schatten vor sich zu sehen ... nur dies gab ihm das Gefühl der
21943
Separation und Sicherheit, jenen blinden Rausch des Sich-Produzierens,
21944
in dem er seine Erfolge erzielte. Ja, eben dieser rauschartige Zustand
21945
der Aktion war es, der ihm allgemach zu dem weitaus erträglichsten
21946
geworden war. Wenn er, das Weinglas zur Hand, am Tische stand und mit
21947
liebenswürdigem Mienenspiele, gefälligen Gesten und geschickt
21948
vorgebrachten Redewendungen, welche einschlugen und beifällige
21949
Heiterkeit entfesselten, einen Toast ausbrachte, so konnte er trotz
21950
seiner Blässe als der Thomas Buddenbrook von ehedem erscheinen; viel
21951
schwerer war es ihm, in untätigem Stillesitzen die Herrschaft über sich
21952
selbst zu bewahren. Dann stiegen Müdigkeit und Überdruß in ihm empor,
21953
trübten seine Augen und nahmen ihm die Gewalt über seine Gesichtsmuskeln
21954
und die Haltung seines Körpers. Nur =ein= Wunsch erfüllte ihn dann:
21955
dieser matten Verzweiflung nachzugeben, sich davonzustehlen und zu Hause
21956
seinen Kopf auf ein kühles Kissen zu legen.
21960
Frau Permaneder hatte in der Fischergrube zu Abend gegessen und zwar
21961
allein; denn ihre Tochter, die gleichfalls gebeten worden war, hatte
21962
nachmittags ihrem Gatten im Gefängnis einen Besuch gemacht und fühlte
21963
sich, wie stets in diesem Falle, ermüdet und unwohl, weshalb sie zu
21964
Hause geblieben war.
21966
Frau Antonie hatte bei Tische über Hugo Weinschenk gesprochen, dessen
21967
Gemütszustand äußerst traurig sein sollte, und dann war die Frage
21968
erörtert worden, wann man wohl, mit einiger Aussicht auf Erfolg, dem
21969
Senate ein Gnadengesuch werde einreichen können. Nun hatten sich die
21970
drei Verwandten im Wohnzimmer um den runden Mitteltisch unter der
21971
großen Gaslampe niedergelassen. Gerda Buddenbrook und ihre Schwägerin
21972
saßen, mit Handarbeiten beschäftigt, einander gegenüber. Die Senatorin
21973
hielt ihr schönes weißes Gesicht über eine Seidenstickerei gebeugt, daß
21974
ihr schweres Haar, vom Lichte beschienen, dunkel zu erglühen schien, und
21975
Frau Permaneder, den Klemmer gänzlich schief und zweckwidrig auf der
21976
Nase, befestigte mit sorglichen Fingern eine große, wunderbar rote
21977
Atlasschleife an einem winzigen gelben Körbchen. Das wurde ein
21978
Geburtstagsgeschenk für irgendeine Bekannte. Der Senator aber saß
21979
seitwärts vom Tische in einem breiten Polsterfauteuil mit schräger
21980
Rückenlehne und las mit gekreuzten Beinen die Zeitung, während er dann
21981
und wann den Rauch seiner russischen Zigarette einzog und ihn als einen
21982
hellgrauen Strom durch den Schnurrbart wieder ausatmete ...
21984
Es war ein warmer Sommer-Sonntagabend. Das hohe Fenster stand offen und
21985
ließ die laue, ein wenig feuchte Luft das Zimmer erfüllen. Vom Tische
21986
aus konnte man, über den grauen Giebeln der gegenüberliegenden Häuser,
21987
zwischen ganz langsam ziehenden Wolken die Sterne sehen. Drüben, in dem
21988
kleinen Blumenladen von Iwersen, war noch Licht. Weiter oben in der
21989
stillen Straße ward unter allerhand Mißgriffen eine Handharmonika
21990
gespielt, wahrscheinlich von einem Knechte des Fuhrmannes Dankwart. Dann
21991
und wann wurde es laut dort draußen. Ein Trupp von Matrosen zog vorüber,
21992
die singend, rauchend und Arm in Arm aus einer zweifelhaften
21993
Hafenwirtschaft kamen und sich in Feierstimmung nach einer noch
21994
zweifelhafteren umtaten. Ihre rauhen Stimmen und wiegenden Schritte
21995
verhallten in einer Querstraße.
21997
Der Senator legte die Zeitung neben sich auf den Tisch, schob sein
21998
Pincenez in die Westentasche und strich mit der Hand über Stirn und
22001
»Schwach, sehr schwach, diese `Anzeigen´!« sagte er. »Mir fällt jedesmal
22002
dabei ein, was Großvater von faden und konsistenzlosen Gerichten sagte:
22003
Es schmeckt, als ob man die Zunge zum Fenster hinaushängt ... In drei
22004
langweiligen Minuten ist man mit dem Ganzen fertig. Es steht einfach gar
22007
»Ja, Gott weiß es, das darfst du getrost wiederholen, Tom!« sagte Frau
22008
Permaneder, indem sie ihre Arbeit sinken ließ und an dem Klemmer vorbei
22009
auf ihren Bruder sah ... »Was soll auch wohl darin stehen? Ich habe es
22010
von jeher gesagt, schon als ganz junges, dummes Ding: Diese Städtischen
22011
Anzeigen sind ein klägliches Blättchen! Ich lese sie ja auch, gewiß,
22012
weil eben meistens nichts anderes zur Hand ist ... Aber daß der
22013
Großhändler Konsul so und so seine silberne Hochzeit zu feiern gedenkt,
22014
finde ich meinesteils nicht allzu erschütternd. Man sollte andere
22015
Blätter lesen, die Königsberger Hartungsche Zeitung oder die Rheinische
22016
Zeitung. Da würde man ...«
22018
Sie unterbrach sich. Sie hatte die Zeitung zur Hand genommen, hatte sie
22019
noch einmal entfaltet und, während sie sprach, ihre Augen geringschätzig
22020
über die Spalten gleiten lassen. Nun aber blieb ihr Blick an einer
22021
Stelle haften, einer kurzen Notiz von vier oder fünf Zeilen ... Sie
22022
verstummte, sie griff mit einer Hand nach ihrem Augenglas, las, während
22023
ihr Mund sich langsam öffnete, die Notiz zu Ende und stieß dann zwei
22024
Schreckensrufe aus, wobei sie beide Handflächen gegen die Wangen preßte
22025
und die Ellenbogen weit vom Körper entfernt hielt.
22027
»Unmöglich!... Es ist nicht möglich!... Nein, Gerda ... Tom ... Das
22028
konntest du übersehen!... Es ist entsetzlich ... Die arme Armgard! So
22029
mußte es für sie kommen ...«
22031
Gerda hatte den Kopf von ihrer Arbeit erhoben und Thomas sich erschreckt
22032
seiner Schwester zugewandt. Und heftig ergriffen, mit bebender
22033
Kehlstimme jedes Wort schicksalsschwer betonend, las Frau Permaneder
22034
laut diese Nachricht, die aus Rostock kam und dahinging, daß gestern
22035
nacht der Rittergutsbesitzer Ralf von Maiboom im Arbeitszimmer des
22036
Herrenhauses von Pöppenrade sich vermittels eines Revolverschusses
22037
entleibt habe. »Pekuniäre Bedrängnis scheint der Beweggrund zur Tat
22038
gewesen zu sein. Herr von Maiboom hinterläßt eine Frau mit drei
22039
Kindern.« So schloß sie, und dann ließ sie die Zeitung in den Schoß
22040
sinken, lehnte sich zurück und sah Bruder und Schwägerin schweigend und
22041
fassungslos mit klagenden Augen an.
22043
Thomas Buddenbrook hatte sich, schon während sie las, wieder von ihr
22044
abgekehrt und blickte an ihr vorbei, zwischen den Portieren hindurch, in
22045
das Dunkel des Salons hinüber.
22047
»Mit einem Revolver?« fragte er, nachdem wohl zwei Minuten lang Stille
22048
geherrscht hatte. -- Und wiederum nach einer Pause sprach er leise,
22049
langsam und spöttisch: »Ja, ja, so ein Rittersmann!...«
22051
Dann versank er aufs neue in Sinnen. Die Schnelligkeit, mit der er die
22052
eine Spitze seines Schnurrbartes zwischen den Fingern drehte, stand in
22053
sonderbarem Gegensatz zu der verschwommenen, starren und ziellosen
22054
Unbeweglichkeit seines Blickes.
22056
Er achtete nicht auf die Klagereden seiner Schwester und auf die
22057
Mutmaßungen, die sie in betreff des ferneren Lebens ihrer Freundin
22058
Armgard anstellte, noch bemerkte er, daß Gerda, ohne den Kopf ihm
22059
zuzuwenden, ihre nahe beieinanderliegenden braunen Augen, in deren
22060
Winkeln bläuliche Schatten lagerten, fest und spähend auf ihn gerichtet
22066
Niemals vermochte Thomas Buddenbrook mit dem Blicke matten Mißmutes, mit
22067
dem er den Rest seines eigenen Lebens erwartete, auch in die Zukunft des
22068
kleinen Johann zu sehen. Sein Familiensinn, dieses ererbte und
22069
anerzogene, rückwärts sowohl wie vorwärts gewandte, pietätvolle
22070
Interesse für die intime Historie seines Hauses hinderte ihn daran, und
22071
die liebevolle oder neugierige Erwartung, mit der seine Freundschaft und
22072
Bekanntschaft in der Stadt, seine Schwester und selbst die Damen
22073
Buddenbrook in der Breiten Straße seinen Sohn betrachteten, beeinflußte
22074
seine Gedanken. Er sagte sich mit Genugtuung, daß, wie aufgerieben und
22075
hoffnungslos auch immer er selbst für seine Person sich fühlte, er
22076
angesichts seines kleinen Erbfolgers stets belebender Zukunftsträume von
22077
Tüchtigkeit, praktischer und unbefangener Arbeit, Erfolg, Erwerb, Macht,
22078
Reichtum und Ehren fähig war ... ja, daß an dieser einen Stelle sein
22079
erkaltetes und künstliches Leben zu warmem und aufrichtigem Sorgen,
22080
Fürchten und Hoffen wurde.
22082
Wie, wenn er selbst noch dereinst auf seine alten Tage, von einem
22083
Ruhewinkel aus, den Wiederbeginn der alten Zeit, der Zeit von Hannos
22084
Urgroßvater, erblicken dürfte? War diese Hoffnung denn so gänzlich
22085
unmöglich? Er hatte die Musik als seine Feindin empfunden; aber hatte es
22086
denn in Wirklichkeit eine so ernste Bewandtnis damit? Zugegeben, daß die
22087
Liebe des Jungen zum freien Spiele ohne Noten von einer nicht ganz
22088
gewöhnlichen Veranlagung Zeugnis gab, -- im regelrechten Unterrichte bei
22089
Herrn Pfühl war er keineswegs außerordentlich weit vorgeschritten. Die
22090
Musik, das war keine Frage, war der Einfluß seiner Mutter, und kein
22091
Wunder, daß während der ersten Kinderjahre dieser Einfluß überwogen
22092
hatte. Aber die Zeit begann, da einem Vater Gelegenheit gegeben wird,
22093
auch seinerseits auf seinen Sohn zu wirken, ihn ein wenig auf seine
22094
Seite zu ziehen und mit männlichen Gegeneindrücken die bisherigen
22095
weiblichen Einflüsse zu neutralisieren. Und der Senator war
22096
entschlossen, keine solche Gelegenheit unbenutzt zu lassen.
22098
Hanno, nun elfjährig, war zu Ostern ebenso wie sein Freund, der kleine
22099
Graf Mölln, mit genauer Not und zwei Nachprüfungen, im Rechnen und in
22100
der Geographie, nach Quarta versetzt worden. Es stand fest, daß er die
22101
Realklassen besuchen sollte, denn daß er Kaufmann werden und dereinst
22102
die Firma übernehmen mußte, war selbstverständlich, und Fragen seines
22103
Vaters, ob er Lust zu seinem künftigen Berufe in sich verspüre,
22104
beantwortete er mit Ja ... einem einfachen, etwas scheuen Ja ohne
22105
Zusatz, das der Senator durch weitere drängende Fragen ein wenig
22106
lebhafter und ausführlicher zu machen suchte -- und zwar meistens
22109
Hätte Senator Buddenbrook zwei Söhne besessen, so hätte er den Jüngeren
22110
ohne Frage das Gymnasium absolvieren und studieren lassen. Aber die
22111
Firma verlangte einen Erben, und abgesehen hiervon glaubte er dem
22112
Kleinen eine Wohltat zu erweisen, wenn er ihn der unnötigen Mühen mit
22113
dem Griechischen überhob. Er war der Meinung, daß das Realpensum
22114
leichter zu bewältigen sei, und daß Hanno, mit seiner oft schwerfälligen
22115
Auffassung, seiner träumerischen Unaufmerksamkeit und seiner
22116
körperlichen Zartheit, die ihn allzuoft nötigte, die Schule zu
22117
versäumen, in den Realklassen ohne Überanstrengung schneller und
22118
ehrenvoller vorwärts kommen werde. Sollte der kleine Johann Buddenbrook
22119
einstmals das leisten, wozu er berufen war und was die Seinen von ihm
22120
erhofften, so mußte man vor allem darauf bedacht sein, seine nicht eben
22121
kräftige Konstitution durch Rücksichtnahme einerseits und durch
22122
rationelle Pflege und Abhärtung andererseits zu festigen und zu heben ...
22124
Mit seinem braunen Haar, das er jetzt seitwärts gescheitelt und schräg
22125
von seiner weißen Stirn zurückgebürstet trug, das aber dennoch danach
22126
strebte, sich in weichen Locken tief über die Schläfen zu schmiegen, mit
22127
seinen langen, braunen Wimpern und seinen goldbraunen Augen stach Johann
22128
Buddenbrook auf dem Schulhof und auf der Straße trotz seines
22129
Kopenhagener Matrosenanzuges stets ein wenig fremdartig unter den
22130
hellblonden und stahlblauäugigen, skandinavischen Typen seiner Kameraden
22131
hervor. Er war in letzter Zeit ziemlich stark gewachsen, aber seine
22132
Beine in den schwarzen Strümpfen und seine Arme in den dunkelblauen,
22133
bauschigen und gesteppten Ärmeln waren schmal und weich wie die eines
22134
Mädchens, und noch immer lagen, wie bei seiner Mutter, die bläulichen
22135
Schatten in den Winkeln seiner Augen, -- dieser Augen, die, besonders
22136
wenn sie seitwärts gerichtet waren, mit einem so zagen und ablehnenden
22137
Ausdruck dareinblickten, während sein Mund sich noch immer auf jene
22138
wehmütige Art geschlossen hielt, oder während Hanno nachdenklich die
22139
Zungenspitze an einem Zahne scheuerte, dem er mißtraute, mit
22140
leichtverzerrten Lippen und einer Miene, als fröre ihn ...
22142
Wie man von Doktor Langhals erfuhr, der jetzt die Praxis des alten
22143
Doktor Grabow gänzlich übernommen hatte und Hausarzt bei Buddenbrooks
22144
war, hatte Hannos unzulänglicher Kräftezustand sowie die Blässe seiner
22145
Haut ihren triftigen Grund, und dieser bestand darin, daß der Organismus
22146
des Kleinen leider die so wichtigen roten Blutkörperchen in nicht
22147
genügender Anzahl produzierte. Dieser Unzuträglichkeit zu steuern aber
22148
gab es ein Mittel, ein ganz vortreffliches Mittel, das Doktor Langhals
22149
in großen Mengen verordnete: Lebertran, guter, gelber, fetter,
22150
dickflüssiger Dorschlebertran, der aus einem Porzellanlöffel zweimal
22151
täglich zu nehmen war; und auf entschiedenen Befehl des Senators sorgte
22152
Ida Jungmann mit liebevoller Strenge dafür, daß dies pünktlich geschah.
22153
Anfangs zwar erbrach sich Hanno nach jedem Löffel, und sein Magen schien
22154
den guten Dorschlebertran nicht beherbergen zu können; aber er gewöhnte
22155
sich daran, und wenn man gleich nach dem Niederschlucken ein Stück
22156
Roggenbrot mit angehaltenem Atem im Munde zerkaute, so ward der Ekel ein
22159
Alle übrigen Beschwerden waren ja nur Folgeerscheinungen dieses Mangels
22160
an roten Blutkörperchen, »sekundäre Erscheinungen«, wie Doktor Langhals
22161
sagte, indem er seine Fingernägel besah. Allein auch diesen sekundären
22162
Erscheinungen mußte unnachsichtig zu Leibe gegangen werden. Um die Zähne
22163
zu behandeln, zu füllen und gegebenen Falles zu extrahieren, dazu wohnte
22164
Herr Brecht mit seinem Josephus in der Mühlenstraße; und um die
22165
Verdauung zu regulieren, gab es Rizinusöl auf der Welt, gutes, dickes,
22166
silberblankes Rizinusöl, welches, aus einem Eßlöffel genommen, wie ein
22167
schlüpfriger Molch durch die Kehle glitschte und das man drei Tage lang
22168
roch, schmeckte, im Schlunde spürte, wo man ging und stand ... Ach,
22169
warum war das alles doch so unüberwindlich widerlich? Ein einziges Mal
22170
-- Hanno hatte recht krank zu Bette gelegen, und sein Herz hatte sich
22171
besondere Unregelmäßigkeiten zuschulden kommen lassen -- war Doktor
22172
Langhals mit einer gewissen Nervosität zur Verschreibung eines Mittels
22173
geschritten, das dem kleinen Johann Freude gemacht und ihm so
22174
unvergleichlich wohlgetan hatte: und das waren Arsenikpillen gewesen.
22175
Hanno fragte in der Folge oftmals danach, von einem beinahe zärtlichen
22176
Bedürfnis nach diesen kleinen, süßen, beglückenden Pillen getrieben.
22177
Aber er erhielt sie nicht mehr.
22179
Lebertran und Rizinusöl waren gute Dinge, aber darin war Doktor Langhals
22180
vollständig mit dem Senator einig, daß sie allein nicht hinreichten, den
22181
kleinen Johann zu einem tüchtigen und wetterfesten Manne zu machen, wenn
22182
er selbst nicht das Seine dazu täte. Da waren zum Beispiel, geleitet von
22183
dem Turnlehrer Herrn Fritsche, die Turnspiele, die zur Sommerszeit
22184
allwöchentlich draußen auf dem »Burgfelde« veranstaltet wurden und der
22185
männlichen Jugend der Stadt Gelegenheit gaben, Mut, Kraft, Gewandtheit
22186
und Geistesgegenwart zu zeigen und zu pflegen. Aber zum Zorne seines
22187
Vaters legte Hanno nichts als Widerwillen, einen stummen, reservierten,
22188
beinahe hochmütigen Widerwillen gegen solche gesunde Unterhaltungen an
22189
den Tag ... Warum hatte er so gar keine Fühlung mit seinen Klassen- und
22190
Altersgenossen, mit denen er später zu leben und zu wirken haben würde?
22191
Warum hockte er beständig nur mit diesem kleinen, halb gewaschenen Kai
22192
zusammen, der ja ein gutes Kind, aber immerhin eine etwas zweifelhafte
22193
Existenz und kaum eine Freundschaft für die Zukunft war? Auf irgendeine
22194
Weise muß ein Knabe sich das Vertrauen und den Respekt seiner Umgebung,
22195
die mit ihm aufwächst und auf deren Schätzung er für sein ganzes Leben
22196
angewiesen ist, von Anfang an zu gewinnen wissen. Da waren die beiden
22197
Söhne des Konsuls Hagenström: vierzehn- und zwölfjährig, zwei
22198
Prachtkerle, dick, stark und übermütig, die in den Gehölzen der Umgegend
22199
regelrechte Faustduelle veranstalteten, die besten Turner der Schule
22200
waren, schwammen wie Seehunde, Zigarren rauchten und zu jeder Schandtat
22201
bereit waren. Sie waren gefürchtet, beliebt und respektiert. Ihre
22202
Cousins, die beiden Söhne des Staatsanwaltes Doktor Moritz Hagenström
22203
andererseits, von zarterer Konstitution und sanfteren Sitten, zeichneten
22204
sich auf geistigem Gebiete aus und waren Musterschüler, ehrgeizig,
22205
devot, still und bienenfleißig, bebend aufmerksam und beinahe verzehrt
22206
von der Begier, stets Primus zu sein und das Zeugnis Numero Eins zu
22207
erhalten. Sie erhielten es und genossen die Achtung ihrer dümmeren und
22208
fauleren Genossen. Was aber mochten, ganz abgesehen von seinen Lehrern,
22209
seine Mitschüler von Hanno halten, der ein höchst mittelmäßiger Schüler
22210
war und obendrein ein Weichling, welcher allem, wozu ein wenig Mut,
22211
Kraft, Gewandtheit und Munterkeit gehörte, scheu aus dem Wege zu gehen
22212
suchte? Und wenn Senator Buddenbrook, auf dem Wege zu seinem
22213
Ankleidezimmer, an dem »Altan« in der zweiten Etage vorüberging, so
22214
hörte er aus dem mittleren der drei dort oben gelegenen Zimmer, das
22215
Hannos war, seitdem er zu groß geworden, bei Ida Jungmann zu schlafen,
22216
die Töne des Harmoniums oder Kais halblaute und geheimnisvolle Stimme,
22217
die eine Geschichte erzählte ...
22219
Was Kai betraf, so mied er die »Turnspiele«, weil er die Disziplin und
22220
gesetzmäßige Ordnung verabscheute, die dabei beobachtet werden mußte.
22221
»Nein, Hanno«, sagte er, »ich gehe nicht hin. Du vielleicht? Hol's der
22222
Geier ... Alles, was einem Spaß dabei machen würde, das gilt nicht.«
22223
Solche Redewendungen wie »Hol's der Geier« hatte er von seinem Vater;
22224
Hanno aber antwortete: »Wenn Herr Fritsche =einen= Tag nach etwas
22225
anderem röche als nach Schweiß und Bier, so ließe sich über die Sache
22226
reden ... Ja, nun laß das nur, Kai, und erzähle weiter. Das mit dem
22227
Ringe, den du aus dem Sumpfe holtest, war noch lange nicht fertig ...«
22228
»Gut«, sagte Kai; »aber wenn ich winke, so mußt du spielen.« Und Kai
22229
fuhr fort zu erzählen.
22231
Durfte man ihm glauben, so war er vor einiger Zeit bei schwüler Nacht
22232
und in fremder, unkenntlicher Gegend einen schlüpfrigen und unermeßlich
22233
tiefen Abhang hinabgeglitten, an dessen Fuße er im fahlen und
22234
flackernden Schein von Irrlichtern ein schwarzes Sumpfgewässer gefunden
22235
hatte, aus dem mit hohl glucksendem Geräusch unaufhörlich silberblanke
22236
Blasen aufgestiegen waren. Eine aber davon, die, nahe dem Ufer,
22237
beständig wiedergekehrt war, sooft sie zersprungen, hatte die Form eines
22238
Ringes gehabt, und diese hatte er nach langen, gefahrvollen Bemühungen
22239
mit der Hand zu erhaschen verstanden, worauf sie nicht mehr zerplatzt
22240
war, sondern sich als glatter und fester Reif hatte an den Finger
22241
stecken lassen. Er aber, der mit Recht diesem Ringe ungewöhnliche
22242
Eigenschaften zugetraut hatte, war mit seiner Hilfe den steilen und
22243
schlüpfrigen Abhang wieder emporgelangt und hatte unweit davon in
22244
rötlichem Nebel ein schwarzes, totenstilles und ungeheuerlich bewachtes
22245
Schloß gefunden, in das er eingedrungen war und in dem er, immer mit
22246
Hilfe des Ringes, die dankenswertesten Entzauberungen und Erlösungen
22247
vorgenommen hatte ... In den seltsamsten Augenblicken aber griff Hanno
22248
auf seinem Harmonium süße Akkordfolgen ... Auch wurden, standen nicht
22249
unüberwindliche szenische Schwierigkeiten im Wege, diese Erzählungen mit
22250
Musikbegleitung auf dem Puppentheater dargestellt ... Zu den
22251
»Turnspielen« aber ging Hanno nur auf ausdrücklichen und strengen Befehl
22252
seines Vaters, und dann begleitete ihn der kleine Kai.
22254
Es war nicht anders mit dem Schlittschuhlaufen zur Winterszeit und mit
22255
dem Baden in der hölzernen Anstalt des Herrn Asmussen, unten am Fluß, im
22256
Sommer ... »Baden! Schwimmen!« hatte Doktor Langhals gesagt. »Der Junge
22257
muß baden und schwimmen!« Und der Senator war vollständig damit
22258
einverstanden gewesen. Was aber hauptsächlich Hanno veranlaßte, sich vom
22259
Baden sowohl wie vom Schlittschuhlaufen und von den »Turnspielen«,
22260
sobald es nur immer anging, fernzuhalten, war der Umstand, daß die
22261
beiden Söhne des Konsuls Hagenström, die sich an allen diesen Dingen
22262
ehrenvoll beteiligten, es auf ihn abgesehen hatten und, obgleich sie
22263
doch in dem Hause seiner Großmutter wohnten, keine Gelegenheit
22264
versäumten, ihn mit ihrer Stärke zu demütigen und zu quälen. Sie kniffen
22265
und verhöhnten ihn bei den »Turnspielen«, sie stießen ihn in den
22266
Schneekehricht auf der Eisbahn, sie kamen im Schwimmbassin mit
22267
bedrohlichen Lauten durch das Wasser auf ihn zu ... Hanno versuchte
22268
nicht zu entfliehen, was übrigens wenig nützlich gewesen wäre. Er stand
22269
da, mit seinen Mädchenarmen, bis zum Bauche in dem ziemlich trüben
22270
Wasser, auf dessen Oberfläche hie und da grüne Gebilde von Pflanzen,
22271
sogenanntes Gänsefutter, umhertrieben, und sah mit zusammengezogenen
22272
Brauen, einem finsteren Senkblick und leicht verzerrten Lippen den
22273
beiden entgegen, die, sicher ihrer Beute, mit langen, schäumenden
22274
Sprungschritten daherkamen. Sie hatten Muskeln an den Armen, die beiden
22275
Hagenströms, und damit umklammerten sie ihn und tauchten ihn, tauchten
22276
ihn recht lange, so daß er ziemlich viel von dem unreinlichen Wasser
22277
schluckte und lange nachher, sich hin und her wendend, nach Atem rang
22278
... Ein einziges Mal ward er ein wenig gerächt. Gerade als ihn nämlich
22279
eines Nachmittags die beiden Hagenströms unter die Wasserfläche hielten,
22280
stieß der eine von ihnen plötzlich einen Wut- und Schmerzensschrei aus
22281
und hob sein eines fleischiges Bein empor, von dem das Blut in großen
22282
Tropfen rann. Neben ihm aber kam Kai Graf Mölln zum Vorschein, welcher
22283
sich auf irgendeine Weise das Eintrittsgeld verschafft hatte,
22284
unversehens unter Wasser herbeigeschwommen war und den jungen Hagenström
22285
gebissen -- mit allen Zähnen ins Bein gebissen hatte, wie ein kleiner
22286
wütender Hund. Seine blauen Augen blitzten durch das rötlich-blonde
22287
Haar, das naß darüber hing ... Ach, es erging ihm schlecht für seine
22288
Tat, dem kleinen Grafen, und übel zugerichtet stieg er aus dem Bassin.
22289
Allein Konsul Hagenströms starker Sohn hinkte doch beträchtlich, als er
22290
nach Hause ging ...
22292
Nährende Mittel und körperliche Übungen aller Art -- das war die
22293
Grundlage von Senator Buddenbrooks sorgenden Bemühungen um seinen Sohn.
22294
Nicht minder aufmerksam aber trachtete er danach, ihn geistig zu
22295
beeinflussen und ihn mit lebendigen Eindrücken aus der praktischen Welt
22296
zu versehen, für die er bestimmt war.
22298
Er fing an, ihn ein wenig in das Bereich seiner zukünftigen Tätigkeit
22299
einzuführen, er nahm ihn mit sich auf Geschäftsgänge, zum Hafen hinunter
22300
und ließ ihn dabeistehen, wenn er am Kai mit den Löscharbeitern in einem
22301
Gemisch von Dänisch und Plattdeutsch plauderte, in den kleinen,
22302
finsteren Speicherkontoren mit den Geschäftsführern konferierte oder
22303
draußen den Männern einen Befehl erteilte, die mit hohlen und
22304
langgezogenen Rufen die Kornsäcke zu den Böden hinaufwanden ... Für
22305
Thomas Buddenbrook selbst war dieses Stück Welt am Hafen, zwischen
22306
Schiffen, Schuppen und Speichern, wo es nach Butter, Fischen, Wasser,
22307
Teer und geöltem Eisen roch, von klein auf der liebste und
22308
interessanteste Aufenthalt gewesen; und da Freude und Teilnahme daran
22309
sich bei seinem Sohne von selbst nicht äußerten, so mußte er darauf
22310
bedacht sein, sie zu wecken ... Wie hießen nun die Dampfer, die mit
22311
Kopenhagen verkehrten? Najaden ... Halmstadt ... Friederike Oeverdieck
22312
... »Nun, daß du wenigstens diese weißt, mein Junge, das ist schon
22313
=etwas=. Auch die anderen wirst du dir noch merken ... Ja, von den
22314
Leuten, die da die Säcke hinaufwinden, heißen manche wie du, mein
22315
Lieber, weil sie nach deinem Großvater getauft sind. Und unter ihren
22316
Kindern kommt häufig mein Name vor ... und auch der von Mama ... Man
22317
schenkt ihnen dann jährlich eine Kleinigkeit ... So, an diesem Speicher
22318
gehen wir vorüber und reden nicht mit den Männern; da haben wir nichts
22319
zu sagen; das ist ein Konkurrent ...«
22321
»Willst du mitkommen, Hanno?« sagte er ein andermal ... »Ein neues
22322
Schiff, das zu unserer Reederei gehört, läuft heute nachmittag vom
22323
Stapel. Ich taufe es ... Hast du Lust?«
22325
Und Hanno gab an, daß er Lust habe. Er ging mit und hörte die Taufrede
22326
seines Vaters, sah zu, wie er eine Champagnerflasche am Bug zerschellte
22327
und blickte mit fremden Augen dem Schiffe nach, welches die gänzlich mit
22328
grüner Seife beschmierte schiefe Ebene hinab und in das hoch
22329
aufschäumende Wasser glitt ...
22331
An gewissen Tagen des Jahres, am Palmsonntag, wenn die Konfirmationen
22332
stattfanden, oder am Neujahrstage, unternahm Senator Buddenbrook zu
22333
Wagen eine Tournee von Visiten in einer Reihe von Häusern, denen er
22334
gesellschaftlich verpflichtet war, und da seine Gattin es vorzog, sich
22335
bei solchen Gelegenheiten mit Nervosität und Migräne zu entschuldigen,
22336
so forderte er Hanno auf, ihn zu begleiten. Und Hanno hatte auch hierzu
22337
Lust. Er stieg zu seinem Vater in die Droschke und saß stumm an seiner
22338
Seite in den Empfangszimmern, indem er mit stillen Augen sein leichtes,
22339
taktsicheres und so verschiedenartiges, so sorgfältig abgetöntes
22340
Benehmen gegen die Leute beobachtete. Er sah zu, wie er dem
22341
Oberstleutnant und Bezirkskommandanten Herrn von Rinnlingen, welcher
22342
beim Abschied betonte, er wisse die Ehre dieses Besuches sehr wohl zu
22343
schätzen, mit liebenswürdiger Erschrockenheit einen Augenblick den Arm
22344
um die Schulter legte; wie er an anderer Stelle eine ähnliche Bemerkung
22345
ruhig und ernst entgegennahm und sie an einer dritten mit einem ironisch
22346
übertriebenen Gegenkompliment abwehrte ... Alles mit einer formalen
22347
Versiertheit des Wortes und der Gebärde, die er ersichtlich gern der
22348
Bewunderung seines Sohnes produzierte und von der er sich unterrichtende
22351
Aber der kleine Johann sah mehr, als er sehen sollte, und seine
22352
Augen, diese schüchternen, goldbraunen, bläulich umschatteten Augen
22353
beobachteten zu gut. Er sah nicht nur die sichere Liebenswürdigkeit,
22354
die sein Vater auf alle wirken ließ, er sah auch -- sah es mit einem
22355
seltsamen, quälenden Scharfblick --, wie furchtbar schwer sie zu
22356
=machen= war, wie sein Vater nach jeder Visite wortkarger und bleicher,
22357
mit geschlossenen Augen, deren Lider sich gerötet hatten, in der
22358
Wagenecke lehnte, und mit Entsetzen im Herzen erlebte er es, daß auf der
22359
Schwelle des nächsten Hauses eine Maske über ebendieses Gesicht glitt,
22360
immer aufs neue eine plötzliche Elastizität in die Bewegungen ebendieses
22361
ermüdeten Körpers kam ... Das Auftreten, Reden, Sichbenehmen, Wirken und
22362
Handeln unter Menschen stellte sich dem kleinen Johann nicht als ein
22363
naives, natürliches und halb unbewußtes Vertreten praktischer Interessen
22364
dar, die man mit anderen gemein hat und gegen andere durchsetzen will,
22365
sondern als eine Art von Selbstzweck, eine bewußte und künstliche
22366
Anstrengung, bei welcher, anstatt der aufrichtigen und einfachen inneren
22367
Beteiligung, eine furchtbar schwierige und aufreibende Virtuosität für
22368
Haltung und Rückgrat aufkommen mußte. Und bei dem Gedanken, man erwarte,
22369
daß auch er dereinst in öffentlichen Versammlungen auftreten und unter
22370
dem Druck aller Blicke mit Wort und Gebärde tätig sein sollte, schloß
22371
Hanno mit einem Schauder angstvollen Widerstrebens seine Augen ...
22373
Ach, das war die Wirkung nicht, die Thomas Buddenbrook von dem Einfluß
22374
seiner Persönlichkeit auf seinen Sohn erhoffte! Unbefangenheit vielmehr,
22375
Rücksichtslosigkeit und einen einfachen Sinn für das praktische Leben in
22376
ihm zu erwecken, auf nichts anderes waren all seine Gedanken gerichtet.
22378
»Du scheinst gern gut zu leben, mein Lieber«, sagte er, wenn Hanno eine
22379
zweite Portion Dessert oder eine halbe Tasse Kaffee nach dem Essen erbat
22380
... »Da mußt du ein tüchtiger Kaufmann werden und viel Geld verdienen!
22381
Willst du das?« Und der kleine Johann antwortete: »Ja.«
22383
Dann und wann, wenn die Familie beim Senator zu Tische gebeten war und
22384
Tante Antonie oder Onkel Christian nach alter Gewohnheit sich über die
22385
arme Tante Klothilde lustig zu machen und in der ihr eigenen
22386
langgedehnten und demütig-freundlichen Sprache mit ihr zu reden
22387
begannen, so konnte es geschehen, daß Hanno, unter der Einwirkung des
22388
unalltäglich schweren Rotweines, einen Augenblick auch seinerseits in
22389
diesen Ton geriet und sich mit irgendeiner Mokerie an Tante Klothilde
22390
wandte. Dann lachte Thomas Buddenbrook -- ein lautes, herzliches,
22391
ermunterndes, fast dankbares Lachen, wie ein Mensch, dem eine
22392
hocherfreuliche, heitere Genugtuung zuteil geworden ist, ja, er fing an,
22393
seinen Sohn zu unterstützen und selbst in die Neckerei einzustimmen: und
22394
doch hatte er sich eigentlich seit Jahr und Tag dieses Tones gegen die
22395
arme Verwandte begeben. Es war so billig, so gänzlich gefahrlos, seine
22396
Überlegenheit über die beschränkte, demütige, magere und immer hungrige
22397
Klothilde geltend zu machen, daß er es trotz aller Harmlosigkeit, die
22398
dabei herrschte, als gemein empfand. Mit Widerstreben empfand er es so,
22399
mit jenem verzweifelten Widerstreben, das er alltäglich im praktischen
22400
Leben seiner skrupulösen Natur entgegensetzen mußte, wenn er es wieder
22401
einmal nicht fassen, nicht darüber hinwegkommen konnte, wie es möglich
22402
sei, eine Situation zu erkennen, zu durchschauen und sie dennoch ohne
22403
Schamempfindung auszunutzen ... Aber die Situation ohne Schamgefühl
22404
auszunutzen, sagte er sich, das ist Lebenstüchtigkeit!
22406
Ach, wie froh, wie glücklich, wie hoffnungsvoll entzückt er über jedes
22407
geringste Anzeichen dieser Lebenstüchtigkeit war, das der kleine Johann
22413
Seit manchem Jahr hatten Buddenbrooks sich der weiteren sommerlichen
22414
Reisen entwöhnt, die ehemals üblich gewesen waren, und selbst als im
22415
vorigen Frühling die Senatorin dem Wunsche gefolgt war, ihren alten
22416
Vater in Amsterdam zu besuchen und nach so langer Zeit einmal wieder ein
22417
paar Duos mit ihm zu geigen, hatte ihr Gatte nur in ziemlich wortkarger
22418
Weise seine Einwilligung gegeben. Daß aber Gerda, der kleine Johann und
22419
Fräulein Jungmann alljährlich für die Dauer der Sommerferien ins Kurhaus
22420
von Travemünde übersiedelten, war hauptsächlich Hannos Gesundheit wegen
22421
die Regel geblieben ...
22423
Sommerferien an der See! Begriff wohl irgend jemand weit und breit, was
22424
für ein Glück das bedeutete? Nach dem schwerflüssigen und sorgenvollen
22425
Einerlei unzähliger Schultage vier Wochen lang eine friedliche und
22426
kummerlose Abgeschiedenheit, erfüllt von Tanggeruch und dem Rauschen der
22427
sanften Brandung ... Vier Wochen, eine Zeit, die an ihrem Beginne nicht
22428
zu übersehen und ermessen war, an deren Ende zu glauben unmöglich und
22429
von deren Ende zu sprechen eine lästerliche Roheit war. Niemals verstand
22430
es der kleine Johann, wie dieser oder jener Lehrer es über sich gewann,
22431
am Schlusse des Unterrichts Redewendungen laut werden zu lassen wie
22432
etwa: »Hier werden wir nach den Ferien fortfahren und zu dem und dem
22433
übergehen ...« Nach den Ferien! Er schien sich noch darauf zu freuen,
22434
dieser unbegreifliche Mann im blanken Kammgarnrock! Nach den Ferien! War
22435
das überhaupt ein Gedanke! So wundervoll weit in graue Ferne entrückt
22436
war alles, was jenseits dieser vier Wochen lag!
22438
In einem der beiden Schweizerhäuser, welche, durch einen schmalen
22439
Mittelbau verbunden, mit der »Konditorei« und dem Hauptgebäude des
22440
Kurhauses eine gerade Linie bildeten: welch ein Erwachen, am ersten
22441
Morgen, nachdem tags zuvor ein Vorzeigen des Zeugnisses wohl oder übel
22442
überstanden und die Fahrt in der bepackten Droschke zurückgelegt war!
22443
Ein unbestimmtes Glücksgefühl, das in seinem Körper emporstieg und sein
22444
Herz sich zusammenziehen ließ, schreckte ihn auf ... er öffnete die
22445
Augen und umfaßte mit einem gierigen und seligen Blick die
22446
altfränkischen Möbel des reinlichen kleinen Zimmers ... Eine Sekunde
22447
schlaftrunkener, wonniger Verwirrung -- und dann begriff er, daß er in
22448
Travemünde war, für vier unermeßliche Wochen in Travemünde! Er regte
22449
sich nicht; er lag still auf dem Rücken in dem schmalen gelbhölzernen
22450
Bette, dessen Linnen vor Alter außerordentlich dünn und weich waren,
22451
schloß hie und da aufs neue seine Augen und fühlte, wie seine Brust in
22452
tiefen, langsamen Atemzügen vor Glück und Unruhe erzitterte.
22454
Das Zimmer lag in dem gelblichen Tageslicht, das schon durch das
22455
gestreifte Rouleau hereinfiel, während doch ringsum noch alles still war
22456
und Ida Jungmann sowohl wie Mama noch schliefen. Nichts war zu vernehmen
22457
als das gleichmäßige und friedliche Geräusch, mit dem drunten der
22458
Hausknecht den Kies des Kurgartens harkte, und das Summen einer Fliege,
22459
die zwischen Rouleau und Fenster beharrlich gegen die Scheibe stürmte
22460
und deren Schatten man auf der gestreiften Leinwand in langen
22461
Zickzacklinien umherschießen sah ... Stille! Das einsame Geräusch der
22462
Harke und monotones Summen! Und dieser sanft belebte Friede erfüllte den
22463
kleinen Johann alsbald mit der köstlichen Empfindung jener ruhigen,
22464
wohlgepflegten und distinguierten Abgeschiedenheit des Bades, die er so
22465
über alles liebte. Nein, Gott sei gepriesen, hierher kam keiner der
22466
blanken Kammgarnröcke, die auf Erden Regeldetrie und Grammatik
22467
vertraten, hierher nicht, denn es war ziemlich kostspielig hier
22470
Ein Anfall von Freude machte, daß er aus dem Bette sprang und auf
22471
nackten Füßen zum Fenster lief. Er zog das Rouleau empor, öffnete den
22472
einen Flügel, indem er den weißlackierten Haken löste, und blickte der
22473
Fliege nach, die über die Kieswege und Rosenbeete des Kurgartens hin
22474
davonflog. Der Musiktempel, im Halbkreise von Buchsbaum umwachsen, stand
22475
noch leer und still den Hotelgebäuden gegenüber. Das »Leuchtenfeld«, das
22476
seinen Namen nach dem Leuchtturm trug, der irgendwo zur Rechten
22477
aufragte, dehnte sich unter dem weißlich bezogenen Himmel aus, bis sein
22478
kurzes, von kahlen Erdflecken unterbrochenes Gras in hohe und harte
22479
Strandgewächse und dann in Sand überging, dort, wo man die Reihen der
22480
kleinen hölzernen Privatpavillons und der Sitzkörbe unterschied, die auf
22481
die See hinausblickten. Sie lag da, die See, in Frieden und Morgenlicht,
22482
in flaschengrünen und blauen, glatten und gekrausten Streifen, und ein
22483
Dampfer kam zwischen den rotgemalten Tonnen, die ihm das Fahrwasser
22484
bezeichneten, von Kopenhagen daher, ohne daß man zu wissen brauchte, ob
22485
er »Najaden« oder »Friederike Oeverdieck« hieß. Und Hanno Buddenbrook
22486
zog wieder tief und mit stiller Seligkeit den würzigen Atem ein, den die
22487
See zu ihm herübersandte, und grüßte sie zärtlich mit den Augen, mit
22488
einem stummen, dankbaren und liebevollen Gruße.
22490
Und dann begann der Tag, der erste dieser armseligen achtundzwanzig
22491
Tage, die anfangs wie eine ewige Seligkeit erschienen und, waren die
22492
ersten vorüber, so verzweifelt schnell zerrannen ... Es wurde auf dem
22493
Balkon oder unter dem großen Kastanienbaum gefrühstückt, der drunten vor
22494
dem Kinderspielplatze stand, dort, wo die große Schaukel hing -- und
22495
alles, der Geruch, den das eilig gewaschene Tischtuch ausströmte, wenn
22496
der Kellner es ausbreitete, die Servietten aus Seidenpapier, das
22497
fremdartige Brot, der Umstand, daß man die Eier nicht wie zu Hause mit
22498
knöchernen, sondern mit gewöhnlichen Teelöffeln und aus metallenen
22499
Bechern aß -- alles entzückte den kleinen Johann.
22501
Und was folgte, war alles frei und leicht geordnet, ein wunderbar
22502
müßiges und pflegsames Wohlleben, das ungestört und kummerlos verging:
22503
der Vormittag am Strande, während droben die Kurkapelle ihr
22504
Morgenprogramm erledigte, dieses Liegen und Ruhen zu Füßen des
22505
Sitzkorbes, dieses zärtliche und träumerische Spielen mit dem weichen
22506
Sande, der nicht beschmutzt, dieses mühe- und schmerzlose Schweifen und
22507
Sichverlieren der Augen über die grüne und blaue Unendlichkeit hin, von
22508
welcher, frei und ohne Hindernis, mit sanftem Sausen ein starker,
22509
frisch, wild und herrlich duftender Hauch daherkam, der die Ohren
22510
umhüllte und einen angenehmen Schwindel hervorrief, eine gedämpfte
22511
Betäubung, in der das Bewußtsein von Zeit und Raum und allem Begrenzten
22512
still selig unterging ... Das Baden dann, das hier eine erfreulichere
22513
Sache war als in Herrn Asmussens Anstalt, denn es gab hier kein
22514
»Gänsefutter«, das hellgrüne, kristallklare Wasser schäumte weithin,
22515
wenn man es aufrührte, statt eines schleimigen Bretterbodens
22516
schmeichelte der weich gewellte Sandboden den Sohlen, und Konsul
22517
Hagenströms Söhne waren weit, sehr weit, in Norwegen oder Tirol. Der
22518
Konsul liebte es, im Sommer eine ausgedehntere Erholungsreise zu
22519
unternehmen -- und warum also nicht, nicht wahr ... Ein Spaziergang, zur
22520
Erwärmung, den Strand entlang, bis zum »Mövenstein« oder zum
22521
»Seetempel«, ein Imbiß, am Sitzkorbe eingenommen -- und die Stunde
22522
näherte sich, da man hinauf in die Zimmer ging, um vor der Toilette zur
22523
Table d'hote eine kleine Stunde zu ruhen. Die Table d'hote war lustig,
22524
das Bad stand in Flor, viele Leute, Familien, die den Buddenbrooks
22525
befreundet waren, sowohl wie Hamburger und sogar englische und russische
22526
Herrschaften füllten den großen Saal des Kurhauses, an einem feierlichen
22527
Tischchen kredenzte ein schwarz gekleideter Herr die Suppe aus einer
22528
silberblanken Terrine, es gab vier Gänge, die schmackhafter, würziger
22529
und jedenfalls auf irgendeine festlichere Weise zubereitet waren als zu
22530
Hause, und an vielen Stellen der langen Tafeln ward Champagner
22531
getrunken. Oftmals kamen einzelne Herren aus der Stadt, die sich von
22532
ihren Geschäften nicht während der ganzen Woche fesseln ließen, die sich
22533
amüsieren und nach dem Essen die Roulette ein wenig in Bewegung setzen
22534
wollten: Konsul Peter Döhlmann, der seine Tochter zu Hause gelassen
22535
hatte und mit schallender Stimme auf Plattdeutsch so ungenierte
22536
Geschichten erzählte, daß die Hamburger Damen vor Lachen husteten und um
22537
einen Augenblick Pause baten; Senator Doktor Cremer, der alte
22538
Polizeichef; Onkel Christian und sein Schulfreund, Senator Gieseke, der
22539
ebenfalls ohne Familie war und alles für Christian Buddenbrook bezahlte
22540
... Später, wenn die Erwachsenen zu den Klängen der Musik unter dem
22541
Zeltdache der Konditorei den Kaffee tranken, saß Hanno auf einem Stuhle
22542
unermüdlich vor den Stufen des Tempels und lauschte ... Es war gesorgt
22543
für den Nachmittag. Es gab eine Schießbude im Kurgarten, und zur Rechten
22544
der Schweizerhäuser standen die Stallgebäude mit Pferden, Eseln und den
22545
Kühen, deren Milch man warm, schaumig und duftend zur Vesperstunde
22546
trank. Man konnte einen Spaziergang machen, in das Städtchen, die
22547
»Vorderreihe« entlang; man konnte von dort aus mit einem Boote zum
22548
»Priwal« übersetzen, an dessen Strande es Bernstein zu finden gab,
22549
konnte sich auf dem Kinderspielplatze an einer Krocketpartie beteiligen
22550
oder sich auf einer Bank des bewaldeten Hügels, der hinter den Hotels
22551
gelegen war und auf dem die große Table-d'hote-Glocke hing, von Ida
22552
Jungmann vorlesen lassen ... Und doch war das Klügste stets, zur See
22553
zurückzukehren und noch im Zwielicht, das Gesicht dem offenen Horizonte
22554
zugewandt, auf der Spitze des Bollwerks zu sitzen, den großen Schiffen,
22555
die vorüberglitten, mit dem Taschentuch zuzuwinken und zu horchen, wie
22556
die kleinen Wellen mit leisem Plaudern wider die Steinblöcke klatschten
22557
und die ganze Weite ringsum von diesem gelinden und großartigen Sausen
22558
erfüllt war, das dem kleinen Johann gütevoll zusprach und ihn beredete,
22559
in ungeheurer Zufriedenheit seine Augen zu schließen. Dann aber sagte
22560
Ida Jungmann: »Komm, Hannochen; müssen gehen; Abendbrotzeit; wirst dir
22561
den Tod holen, wenn du hier wirst schlafen wollen ...« Welch ein
22562
beruhigtes, befriedigtes und in wohltätiger Ordnung arbeitendes Herz er
22563
immer mitnahm vom Meere! Und wenn er sein Abendbrot mit Milch oder stark
22564
gemalztem Braunbier im Zimmer gegessen hatte, während seine Mutter
22565
später in der Glasveranda des Kurhauses in größerer Gesellschaft
22566
speiste, so senkte sich, kaum daß er wieder zwischen dem altersdünnen
22567
Linnen seines Bettes lag, zu den sanften und vollen Schlägen eben
22568
dieses befriedigten Herzens und den gedämpften Rhythmen des
22569
Abendkonzertes ganz ohne Schrecken und Fieber der Schlaf über ihn ...
22571
Am Sonntag erschien, gleich einigen anderen Herren, die während der
22572
Woche von ihren Geschäften in der Stadt zurückgehalten wurden, der
22573
Senator bei den Seinen und blieb bis zum Montagmorgen. Aber obgleich
22574
dann Eis und Champagner an der Table d'hote serviert ward, obgleich
22575
Eselritte und Segelpartien in die offene See hinaus veranstaltet wurden,
22576
liebte der kleine Johann diese Sonntage nicht sehr. Die Ruhe und
22577
Abgeschlossenheit des Bades war gestört. Eine Menge von Leuten aus der
22578
Stadt, die gar nicht hierher gehörten, »Eintagsfliegen aus dem guten
22579
Mittelstande«, wie Ida Jungmann sie mit wohlwollender Geringschätzung
22580
nannte, bevölkerte am Nachmittage Kurgarten und Strand, um Kaffee zu
22581
trinken, Musik zu hören, zu baden, und Hanno hätte am liebsten im
22582
geschlossenen Zimmer den Abfluß dieser festlich geputzten Störenfriede
22583
erwartet ... Nein, er war froh, wenn am Montag alles wieder ins
22584
alltägliche Geleise kam, wenn auch die Augen seines Vaters, diese Augen,
22585
denen er sechs Tage lang fern gewesen war und die, er hatte es wohl
22586
gefühlt, während des ganzen Sonntages wieder kritisch und forschend auf
22587
ihm geruht hatten, nicht mehr da waren ...
22589
Und vierzehn Tage waren vorbei, und Hanno sagte sich und beteuerte es
22590
jedem, der es hören wollte, daß jetzt noch eine Zeit komme, so lang wie
22591
die Michaelisferien. Allein das war ein trügerischer Trost, denn war die
22592
Höhe der Ferien erreicht, so ging es abwärts und gegen Ende, schnell, so
22593
fürchterlich schnell, daß er sich an jede Stunde hätte klammern mögen,
22594
um sie nicht vorüberzulassen, und jeden Seeluftatemzug verlangsamen, um
22595
das Glück nicht achtlos zu vergeuden.
22597
Aber die Zeit verging unaufhaltsam im Wechsel von Regen und
22598
Sonnenschein, See- und Landwind, stiller, brütender Wärme und lärmenden
22599
Gewittern, die nicht über das Wasser konnten und kein Ende nehmen zu
22600
wollen schienen. Es gab Tage, an denen der Nordostwind die Bucht mit
22601
schwarzgrüner Flut überfüllte, welche den Strand mit Tang, Muscheln und
22602
Quallen bedeckte und die Pavillons bedrohte. Dann war die trübe,
22603
zerwühlte See weit und breit mit Schaum bedeckt. Große, starke Wogen
22604
wälzten sich mit einer unerbittlichen und furchteinflößenden Ruhe heran,
22605
neigten sich majestätisch, indem sie eine dunkelgrüne, metallblanke
22606
Rundung bildeten, und stürzten tosend, krachend, zischend, donnernd über
22607
den Sand ... Es gab andere Tage, an denen der Westwind die See
22608
zurücktrieb, daß der zierlich gewellte Grund weit hinaus freilag und
22609
überall nackte Sandbänke sichtbar waren, während der Regen in Strömen
22610
herniederging, Himmel, Erde und Wasser ineinander verschwammen und der
22611
Stoßwind in den Regen fuhr und ihn gegen die Fensterscheiben trieb, daß
22612
nicht Tropfen, sondern Bäche daran hinunterflossen und sie
22613
undurchsichtig machten. Dann hielt Hanno sich meistens im Kursaale auf,
22614
am Pianino, das zwar bei den Reunions von Walzern und Schottischen ein
22615
wenig zerhämmert war und auf dem sich nicht so wohllautend phantasieren
22616
ließ wie zu Haus auf dem Flügel, aber mit dessen gedeckter und
22617
glucksender Klangart doch recht unterhaltende Wirkungen zu erzielen
22618
waren ... Und wieder kamen andere Tage, träumerische, blaue, ganz
22619
windstille und brütend warme, an denen die blauen Fliegen summend in der
22620
Sonne über dem »Leuchtenfeld« standen und die See stumm und spiegelnd,
22621
ohne Hauch und Regung lag. Und waren noch drei Tage übrig, so sagte sich
22622
Hanno und machte es jedem klar, daß jetzt noch eine Zeit komme, so lang
22623
wie die ganzen Pfingstferien. Aber so unanfechtbar diese Rechnung war,
22624
glaubte er doch selbst nicht daran, und seines Herzens hatte sich längst
22625
die Erkenntnis bemächtigt, daß der Mann im blanken Kammgarnrock dennoch
22626
recht gehabt, daß die vier Wochen dennoch ein Ende nahmen und daß man
22627
nun dennoch da fortfahren, wo man aufgehört, und zu dem und dem
22628
übergehen werde ...
22630
Die bepackte Droschke hielt vorm Kurhause, der Tag war da. Hanno hatte
22631
frühmorgens der See und dem Strande sein Adieu gesagt; er sagte es nun
22632
den Kellnern, die ihre Trinkgelder entgegennahmen, dem Musiktempel, den
22633
Rosenbeeten und dieser ganzen Sommerszeit. Und dann, unter den
22634
Verbeugungen des Hotelpersonals, setzte sich der Wagen in Bewegung.
22636
Er passierte die Allee, die zum Städtchen führte, und fuhr die
22637
»Vorderreihe« entlang ... Hanno drückte den Kopf in die Wagenecke und
22638
sah, an Ida Jungmann vorbei, die frischäugig, weißhaarig und knochig ihm
22639
gegenüber auf dem Rückplatze saß, zum Fenster hinaus. Der Morgenhimmel
22640
war weißlich bedeckt, und die Trave warf kleine Wellen, die schnell vor
22641
dem Winde dahereilten. Dann und wann prickelten Regentropfen gegen die
22642
Scheiben. Am Ausgange der »Vorderreihe« saßen Leute vor ihren Haustüren
22643
und flickten Netze; barfüßige Kinder kamen herbeigelaufen und
22644
betrachteten neugierig den Wagen. =Die= blieben hier ...
22646
Als der Wagen die letzten Häuser zurückließ, beugte Hanno sich vor, um
22647
noch einmal den Leuchtturm zu sehen; dann lehnte er sich zurück und
22648
schloß die Augen. »Nächst's Jahr wieder, Hannochen«, sagte Ida Jungmann
22649
mit tiefer, tröstender Stimme; aber dieser Zuspruch hatte nur gefehlt,
22650
um sein Kinn in zitternde Bewegung zu setzen und die Tränen unter seinen
22651
langen Wimpern hervorquellen zu lassen.
22653
Sein Gesicht und seine Hände waren von der Seeluft gebräunt; aber wenn
22654
man mit diesem Badeaufenthalt den Zweck verfolgt hatte, ihn härter,
22655
energischer, frischer und widerstandsfähiger zu machen, so war man
22656
jämmerlich fehlgegangen; von dieser hoffnungslosen Wahrheit war er ganz
22657
erfüllt. Sein Herz war durch diese vier Wochen voll Meeresandacht und
22658
eingehegtem Frieden nur noch viel weicher, verwöhnter, träumerischer,
22659
empfindlicher geworden und nur noch viel unfähiger, bei dem Ausblick auf
22660
Herrn Tiedges Regeldetri tapfer zu bleiben und bei dem Gedanken an das
22661
Auswendiglernen der Geschichtszahlen und grammatischen Regeln, an das
22662
verzweifelt leichtsinnige Wegwerfen der Bücher und den tiefen Schlaf, um
22663
allem zu entgehen, an die Angst am Morgen und vor den Stunden, die
22664
Katastrophen, die feindlichen Hagenströms und die Anforderungen, die
22665
sein Vater an ihn stellte, nicht vollständig zu verzagen.
22667
Dann aber ermunterte die morgendliche Fahrt ihn ein wenig, die, zwischen
22668
dem Gezwitscher der Vögel, durch die wassererfüllten Geleise der
22669
Landstraße dahinging. Er dachte an Kai und das Wiedersehen mit ihm, an
22670
Herrn Pfühl, die Klavierstunden, den Flügel und sein Harmonium. Übrigens
22671
war morgen Sonntag, und der erste Schultag, übermorgen, war noch
22672
gefahrlos. Ach, er fühlte noch ein wenig Sand vom Strande in seinen
22673
Knöpfstiefeln ... er wollte den alten Grobleben bitten, ihn immer darin
22674
zu lassen ... Mochte es nur alles wieder beginnen, das mit den
22675
Kammgarnröcken und das mit Hagenströms und das andere. Er hatte, was er
22676
hatte. Er wollte sich der See und des Kurgartens erinnern, wenn alles
22677
wieder auf ihn einstürmte, und ein ganz kurzer Gedanke an das Geräusch,
22678
mit dem abends in der Stille die kleinen Wellen, weither, aus der in
22679
geheimnisvollem Schlummer liegenden Ferne kommend, gegen das Bollwerk
22680
geplanscht hatten, sollte ihn so getrost, so unberührbar gegen alle
22681
Widrigkeiten machen ...
22683
Dann kam die Fähre, es kam die Israelsdorfer Allee, der Jerusalemsberg,
22684
das Burgfeld, der Wagen erreichte das Burgtor, neben dem zur Rechten die
22685
Mauern des Gefängnisses aufragten, wo Onkel Weinschenk saß, er rollte
22686
die Burgstraße entlang und über den Koberg, ließ die Breite Straße
22687
zurück und fuhr bremsend die stark abfallende Fischergrube hinunter ...
22688
Da war die rote Fassade mit dem Erker und den weißen Karyatiden, und als
22689
sie von der mittagwarmen Straße in die Kühle des steinernen Flures
22690
traten, kam der Senator, die Feder in der Hand, aus dem Kontor heraus,
22691
um sie zu begrüßen ...
22693
Und langsam, langsam, mit heimlichen Tränen, lernte der kleine Johann
22694
wieder, die See zu missen, sich zu ängstigen und ungeheuerlich zu
22695
langweilen, stets der Hagenströms gewärtig zu sein und sich mit Kai,
22696
Herrn Pfühl und der Musik zu trösten.
22698
Die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße und Tante Klothilde
22699
richteten, sobald sie seiner ansichtig wurden, die Frage an ihn, wie
22700
nach den Ferien die Schule schmecke -- mit einem neckischen Blinzeln,
22701
das ein überlegenes Verständnis für seine Lage vorgab, und jenem
22702
sonderbaren Erwachsenen-Hochmut, der alles, was Kinder angeht, möglichst
22703
spaßhaft und oberflächlich behandelt; und Hanno hielt diesen Fragen
22706
Drei oder vier Tage nach der Rückkehr in die Stadt erschien der Hausarzt
22707
Doktor Langhals in der Fischergrube, um die Wirkungen des Bades
22708
festzustellen. Nachdem er eine längere Konferenz mit der Senatorin
22709
gehabt, ward Hanno vorgeführt, um sich, halb entkleidet, einer
22710
eingehenden Prüfung zu unterziehen -- seines _status praesens_, wie
22711
Doktor Langhals sagte, indem er seine Fingernägel besah. Er untersuchte
22712
Hannos spärliche Muskulatur, die Breite seiner Brust und die Funktion
22713
seines Herzens, ließ sich über alle seine Lebensäußerungen Bericht
22714
erstatten, nahm schließlich vermittels einer Nadelspritze einen
22715
Blutstropfen aus Hannos schmalem Arm, um zu Hause eine Analyse
22716
vorzunehmen, und schien im allgemeinen wieder nicht recht befriedigt.
22718
»Wir sind ziemlich braun geworden«, sagte er, indem er Hanno, der vor
22719
ihm stand, umarmte, die kleine schwarzbehaarte Hand auf seiner Schulter
22720
gruppierte und zur Senatorin und Fräulein Jungmann emporsah, »aber ein
22721
allzu betrübtes Gesicht machen wir immer noch.«
22723
»Er hat Heimweh nach der See«, bemerkte Gerda Buddenbrook.
22725
»So, so ... also dort bist du so gern!« fragte Doktor Langhals, indem er
22726
dem kleinen Johann mit seinen eitlen Augen ins Gesicht blickte ... Hanno
22727
verfärbte sich. Was bedeutete diese Frage, auf die Doktor Langhals
22728
ersichtlich eine Antwort erwartete? Eine wahnwitzige und phantastische
22729
Hoffnung, möglich gemacht durch die schwärmerische Überzeugung, daß
22730
allen Kammgarnmännern der Welt zum Trotz vor Gott nichts unmöglich sei,
22733
»Ja ...«, brachte er hervor, seine erweiterten Augen starr auf den
22734
Doktor gerichtet. Aber Doktor Langhals hatte gar nichts Besonderes bei
22735
seiner Frage im Sinne gehabt.
22737
»Nun, der Effekt der Bäder und der guten Luft wird schon noch nachkommen
22738
... schon noch nachkommen!« sagte er, indem er dem kleinen Johann auf
22739
die Schulter klopfte, ihn von sich schob und mit einem Kopfnicken gegen
22740
die Senatorin und Ida Jungmann -- dem überlegenen, wohlwollenden und
22741
ermunternden Kopfnicken des wissenden Arztes, an dessen Augen und Lippen
22742
man hängt -- sich erhob und die Konsultation beendete ...
22744
Das bereitwilligste Verständnis noch für seinen Schmerz um die See,
22745
diese Wunde, die so langsam vernarbte und, von der geringsten Härte des
22746
Alltages berührt, wieder zu brennen und zu bluten begann, fand Hanno bei
22747
Tante Antonie, die ihn mit ersichtlichem Vergnügen vom Travemünder Leben
22748
erzählen hörte und auf seine sehnsüchtigen Lobpreisungen lebhaften
22751
»Ja, Hanno«, sagte sie, »was wahr ist, bleibt ewig wahr, und Travemünde
22752
ist ein schöner Aufenthalt! Bis ich den Fuß ins Grab setze, weißt du,
22753
werde ich mich mit Freuden an die Sommerwochen erinnern, die ich dort
22754
als junges, dummes Ding einmal erlebte. Ich wohnte bei Leuten, die ich
22755
gern hatte und die mich auch wohl leiden konnten, wie es schien, denn
22756
ich war ein hübscher Springinsfeld damals -- jetzt kann ich altes Weib
22757
es ja aussprechen -- und fast immer guter Dinge. Es waren brave Leute,
22758
will ich dir sagen, bieder, gutherzig und gradsinnig und außerdem so
22759
gescheit, gelehrt und begeistert, wie ich später im Leben überhaupt
22760
keine mehr gefunden habe. Ja, es war ein außerordentlich anregender
22761
Verkehr mit ihnen. Ich habe da, was Anschauungen und Kenntnisse
22762
betrifft, weißt du, für mein ganzes Leben viel gelernt, und wenn nicht
22763
anderes dazwischen gekommen wäre, allerhand Ereignisse ... kurz, wie es
22764
im Leben so geht ... so hätte ich dummes Ding wohl noch manches
22765
profitiert. Willst du wissen, wie dumm ich damals war? Ich wollte die
22766
bunten Sterne aus den Quallen heraushaben. Ich trug eine ganze Menge
22767
Quallen im Taschentuche nach Hause und legte sie säuberlich auf den
22768
Balkon in die Sonne, damit sie verdunsteten ... Dann mußten die Sterne
22769
doch übrigbleiben! Ja, gut ... als ich nachsah, war da ein ziemlich
22770
großer nasser Fleck. Es roch nur ein bißchen nach faulem Seetang ...«
22775
Zu Beginn des Jahres 1873 ward dem Gnadengesuch Hugo Weinschenks vom
22776
Senate stattgegeben und der ehemalige Direktor ein halbes Jahr vor
22777
Ablauf der ihm zugemessenen Strafzeit auf freien Fuß gesetzt.
22779
Würde Frau Permaneder ehrlich gesprochen haben, so hätte sie zugeben
22780
müssen, daß dieses Ereignis sie gar nicht sehr freudig berührte und daß
22781
sie es lieber gesehen hätte, wenn alles nun auch bis ans Ende geblieben
22782
wäre, wie es einmal war. Sie lebte mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin
22783
friedlich am Lindenplatze, im Verkehr mit dem Hause in der Fischergrube
22784
und mit ihrer Pensionsfreundin Armgard von Maiboom, geb. von Schilling,
22785
die seit dem Ableben ihres Gatten in der Stadt wohnte. Sie wußte längst,
22786
daß sie außerhalb der Mauern ihrer Vaterstadt eigentlich nirgends am
22787
richtigen und würdigen Platze war und verspürte mit ihren Münchener
22788
Erinnerungen, ihrem beständig schwächer und reizbarer werdenden Magen
22789
und ihrem wachsenden Ruhebedürfnis durchaus keine Neigung, auf ihre
22790
alten Tage noch einmal in eine große Stadt des geeinten Vaterlandes oder
22791
gar ins Ausland überzusiedeln.
22793
»Liebes Kind«, sagte sie zu ihrer Tochter, »ich muß dich nun etwas
22794
fragen, etwas Ernstes!... Du liebst deinen Mann doch noch immer von
22795
ganzem Herzen? Du liebst ihn doch so, daß du ihm, wohin er sich jetzt
22796
auch wenden möge, mit eurem Kinde folgen willst, da seines Bleibens hier
22797
ja leider nicht ist?«
22799
Und da Frau Erika Weinschenk, geb. Grünlich, hierauf unter Tränen, die
22800
alles mögliche bedeuten konnten, genau so pflichtgemäß antwortete, wie
22801
Tony selbst einstmals unter ähnlichen Umständen in ihrer Villa bei
22802
Hamburg ihrem Vater geantwortet hatte, so fing man an, mit einer nahen
22803
Trennung zu rechnen ...
22805
Es war ein Tag, beinahe so schauerlich wie der, an dem Direktor
22806
Weinschenk in Haft genommen war, als Frau Permaneder ihren Schwiegersohn
22807
in einer geschlossenen Droschke vom Gefängnisse abholte. Sie brachte ihn
22808
in ihre Wohnung am Lindenplatze, und dort blieb er, nachdem er verwirrt
22809
und ratlos Frau und Kind begrüßt, in dem Zimmer, das man ihm eingeräumt,
22810
und rauchte von früh bis spät Zigarren, ohne es zu wagen, auf die Straße
22811
zu gehen, ja meistens ohne die Mahlzeiten mit den Seinen gemeinsam zu
22812
nehmen, ein ergrauter und vollständig kopfscheuer Mensch.
22814
Das Gefängnisleben hatte seiner körperlichen Gesundheit nichts anhaben
22815
können, denn Hugo Weinschenk war stets von durabler Konstitution
22816
gewesen; aber es stand doch äußerst traurig um ihn. Es war entsetzlich,
22817
zu sehen, wie dieser Mann -- der höchstwahrscheinlich nichts anderes
22818
begangen hatte, als was die meisten seiner Kollegen ringsum mit gutem
22819
Mut alle Tage begingen, und der, wäre er nicht ertappt worden, ohne
22820
Zweifel erhobenen Hauptes und unberührt heiteren Gewissens seinen Pfad
22821
gewandert wäre -- durch seinen bürgerlichen Fall, durch die Tatsache der
22822
gerichtlichen Verurteilung und diese drei Gefängnisjahre nun moralisch
22823
so vollkommen gebrochen war. Er hatte vor Gericht aus tiefster
22824
Überzeugung beteuert, und von Sachverständigen war es ihm bestätigt
22825
worden, daß das kecke Manöver, welches er seiner Gesellschaft und sich
22826
selbst zu Ehr' und Vorteil unternommen, in der Geschäftswelt als Usance
22827
gelte. Die Juristen aber, Herren, die nach seiner eigenen Meinung von
22828
diesen Dingen gar nichts verstanden, die unter ganz anderen Begriffen
22829
und in einer ganz anderen Weltanschauung lebten, hatten ihn wegen
22830
Betruges verurteilt, und dieser Spruch, dem die staatliche Macht zur
22831
Seite stand, hatte seine Selbstschätzung dermaßen zu erschüttern
22832
vermocht, daß er niemandem mehr ins Angesicht zu blicken wagte. Sein
22833
federnder Gang, die unternehmende Art, mit der er sich in der Taille
22834
seines Gehrockes gewiegt, mit den Fäusten balanciert und die Augen
22835
gerollt hatte, die ungemeine Frische, mit der er von der Höhe seiner
22836
Unwissenheit und Unbildung herab seine Fragen und Erzählungen zum besten
22837
gegeben hatte -- alles war dahin! Es war so sehr dahin, daß den Seinen
22838
vor so viel Gedrücktheit, Feigheit und dumpfer Würdelosigkeit graute.
22840
Nachdem Herr Hugo Weinschenk acht oder zehn Tage lang sich lediglich mit
22841
Rauchen beschäftigt hatte, fing er an, Zeitungen zu lesen und Briefe zu
22842
schreiben. Und dies hatte nach dem Verlaufe weiterer acht oder zehn Tage
22843
zur Folge, daß er in unbestimmten Wendungen erklärte, in London scheine
22844
sich ihm eine neue Position zu bieten, doch wolle er zunächst allein
22845
dorthin reisen, um die Sache persönlich zu regeln und erst, wenn alles
22846
in Richtigkeit sei, Frau und Kind zu sich rufen.
22848
Er fuhr, von Erika begleitet, in geschlossenem Wagen zum Bahnhof und
22849
reiste ab, ohne irgendeinen seiner übrigen Verwandten noch einmal
22852
Einige Tage später traf, noch aus Hamburg, ein an seine Gattin
22853
gerichtetes Schreiben ein, in welchem er zu wissen tat, er sei
22854
entschlossen, sich keinesfalls eher mit Frau und Kind zu vereinigen
22855
oder auch nur von sich hören zu lassen, als bis er ihnen eine
22856
angemessene Existenz werde bieten können. Und dies war Hugo Weinschenks
22857
letztes Lebenszeichen. Niemand vernahm seitdem das geringste von ihm.
22858
Obgleich später Frau Permaneder, versiert in solchen Dingen und voll
22859
umsichtiger Tatkraft wie sie war, mehrere Aufrufe nach ihrem
22860
Schwiegersohn ergehen ließ, um, wie sie mit wichtiger Miene erklärte,
22861
der Scheidungsklage wegen böswilligen Verlassens eine volle Begründung
22862
zu geben, war und blieb er verschollen, und so kam es, daß Erika
22863
Weinschenk mit der kleinen Elisabeth nach wie vor bei ihrer Mutter in
22864
der hellen Etage am »Lindenplatze« verblieb.
22869
Die Ehe, aus welcher der kleine Johann hervorgegangen war, hatte, als
22870
Gesprächsgegenstand genommen, in der Stadt niemals an Reiz verloren. So
22871
gewiß wie jedem der beiden Gatten etwas Extravagantes und Rätselhaftes
22872
eigen war, so gewiß trug diese Ehe selbst den Charakter des
22873
Ungewöhnlichen und Fragwürdigen. Hier ein wenig hinters Licht zu kommen
22874
und, abgesehen von den dürftigen, äußeren Tatsachen, dem Verhältnis ein
22875
wenig auf den Grund zu gehen, schien eine schwierige, aber lohnende
22876
Aufgabe ... Und in Wohn- und Schlafstuben, in Klubs und Kasinos, ja
22877
selbst an der Börse sprachen die Leute über Gerda und Thomas Buddenbrook
22878
desto mehr, je weniger sie von ihnen wußten.
22880
Wie hatten diese beiden sich gefunden, und wie standen sie zueinander?
22881
Man erinnerte sich der jähen Entschlossenheit, mit der vor achtzehn
22882
Jahren der damals dreißigjährige Thomas Buddenbrook zu Werke gegangen
22883
war. »Diese oder keine«, das war sein Wort gewesen, und es mußte sich
22884
mit Gerda wohl ähnlich verhalten haben, denn sie hatte in Amsterdam bis
22885
zu ihrem siebenundzwanzigsten Jahre Körbe ausgeteilt und diesen Bewerber
22886
alsbald erhört. Eine Liebesheirat also, dachten die Leute in ihrem
22887
Sinne; denn so schwer es ihnen wurde, mußten sie einräumen, daß Gerdas
22888
Dreihunderttausend doch wohl nur eine Rolle zweiten Ranges bei der
22889
Sache gespielt hatten. Allein von Liebe wiederum, von dem, was man unter
22890
Liebe verstand, war zwischen den beiden von Anbeginn höchst wenig zu
22891
spüren gewesen. Von Anbeginn vielmehr hatte man nichts als Höflichkeit
22892
in ihrem Umgang konstatiert, eine zwischen Gatten ganz außerordentliche,
22893
korrekte und respektvolle Höflichkeit, die aber unverständlicherweise
22894
nicht aus innerer Fernheit und Fremdheit, sondern aus einer sehr
22895
eigenartigen, stummen und tiefen gegenseitigen Vertrautheit und
22896
Kenntnis, einer beständigen gegenseitigen Rücksicht und Nachsicht
22897
hervorzugehen schien. Daran hatten die Jahre nicht das geringste
22898
geändert. Die Änderung, die sie hervorgebracht hatten, bestand nur
22899
darin, daß jetzt der Altersunterschied der beiden, so selten geringfügig
22900
er den Jahren nach war, anfing, in auffälliger Weise hervorzutreten ...
22902
Man sah die beiden an und fand, daß dies ein stark alternder, schon ein
22903
bißchen beleibter Mann, mit einer jungen Frau zur Seite, war. Man fand,
22904
daß Thomas Buddenbrook verfallen aussah -- ja, dies war trotz der
22905
nachgerade ein wenig komisch wirkenden Eitelkeit, mit der er sich
22906
zurechtstutzte, das einzig richtige Wort für ihn -- während Gerda sich
22907
in diesen achtzehn Jahren fast gar nicht verändert hatte. Sie erschien
22908
gleichsam konserviert in der nervösen Kälte, in der sie lebte und die
22909
sie ausströmte. Ihr dunkelrotes Haar hatte genau seine Farbe behalten,
22910
ihr schönes, weißes Gesicht genau sein Ebenmaß und die Gestalt ihre
22911
schlanke und hohe Vornehmheit. In den Winkeln ihrer etwas zu kleinen und
22912
etwas zu nahe beieinander liegenden braunen Augen lagerten immer noch
22913
die bläulichen Schatten ... Man traute diesen Augen nicht. Sie blickten
22914
seltsam, und was etwa in ihnen geschrieben stand, vermochten die Leute
22915
nicht zu entziffern. Diese Frau, deren Wesen so kühl, so eingezogen,
22916
verschlossen, reserviert und ablehnend war und die nur an ihre Musik ein
22917
wenig Lebenswärme zu verausgaben schien, erregte unbestimmte Verdächte.
22918
Die Leute holten ihr bißchen verstaubte Menschenkenntnis hervor, um sie
22919
gegen Senator Buddenbrooks Gattin anzuwenden. Stille Wasser waren oft
22920
tief. Mancher hatte es faustdick hinter den Ohren. Und da sie doch
22921
wünschten, sich die ganze Sache ein Stückchen näher zu bringen und
22922
überhaupt irgend etwas davon zu wissen und zu verstehen, so führte ihre
22923
bescheidene Phantasie sie zu der Annahme, es könne wohl nicht anders
22924
sein, als daß die schöne Gerda ihren alternden Mann nun ein wenig
22927
Sie gaben wohl acht, und es dauerte nicht lange, bis sie einig darüber
22928
waren, daß Gerda Buddenbrook in ihrem Verhältnis zu Herrn Leutnant von
22929
Throta gelinde gesagt die Grenzen des Sittsamen überschritt.
22931
Renee Maria von Throta, aus den Rheinlanden gebürtig, stand als
22932
Sekondeleutnant bei einem der Infanteriebataillone, die in der Stadt
22933
garnisonierten. Der rote Kragen nahm sich gut aus zu seinem schwarzen
22934
Haar, das seitwärts gescheitelt und rechts in einem hohen, dichten und
22935
gelockten Kamm von der weißen Stirn zurückgestrichen war. Aber obwohl er
22936
groß und stark von Gestalt erschien, rief seine ganze Erscheinung, seine
22937
Bewegungen sowohl wie seine Art zu sprechen und zu schweigen, einen
22938
äußerst unmilitärischen Eindruck hervor. Er liebte es, eine Hand
22939
zwischen die Knöpfe seines halb offenen Interimsrockes zu schieben oder
22940
dazusitzen, indem er die Wange gegen den Handrücken lehnte; seine
22941
Verbeugungen entbehrten jeglicher Strammheit, man hörte nicht einmal
22942
seine Absätze dabei zusammenschlagen, und er behandelte die Uniform an
22943
seinem muskulösen Körper genau so nachlässig und launisch wie einen
22944
Zivilanzug. Selbst sein schmales, schräg zu den Mundwinkeln
22945
hinablaufendes Jünglings-Schnurrbärtchen, dem nicht Spitze noch Schwung
22946
hätte gegeben werden können, trug dazu bei, diesen unmartialischen
22947
Gesamteindruck zu verstärken. Das merkwürdigste an ihm aber waren die
22948
Augen: große, außerordentlich glänzende und so schwarze Augen, daß sie
22949
wie unergründliche, glühende Tiefen erschienen, Augen, welche
22950
schwärmerisch, ernst und schimmernd auf Dingen und Gesichtern ruhten ...
22952
Ohne Zweifel war er wider Willen oder doch ohne Liebe zur Sache in die
22953
Armee eingetreten, denn trotz seiner Körperstärke war er untüchtig im
22954
Dienste und unbeliebt bei seinen Kameraden, deren Interessen und
22955
Vergnügungen -- die Interessen und Vergnügungen junger Offiziere, die
22956
vor kurzem von einem siegreichen Feldzuge zurückgekehrt waren -- er zu
22957
wenig teilte. Er galt für einen unangenehmen und extravaganten
22958
Sonderling unter ihnen, der einsame Spaziergänge machte, der weder
22959
Pferde noch Jagd, noch Spiel, noch Frauen liebte, und dessen ganzer Sinn
22960
der Musik zugewandt war, denn er spielte mehrere Instrumente und war,
22961
mit seinen glühenden Augen und seiner unmilitärischen, zugleich saloppen
22962
und schauspielerhaften Haltung, in allen Opern und Konzerten zu sehen,
22963
während er Klub und Kasino mißachtete.
22965
Wohl oder übel erledigte er die notwendigsten Visiten in den
22966
hervorragenden Familien; aber er lehnte beinahe alle Einladungen ab und
22967
verkehrte eigentlich nur im Hause Buddenbrook ... zuviel, wie die Leute
22968
meinten, zuviel, wie auch der Senator selber meinte ...
22970
Niemand ahnte, was in Thomas Buddenbrook vorging, niemand durfte es
22971
ahnen, und gerade dies: alle Welt über seinen Gram, seinen Haß, seine
22972
Ohnmacht in Unwissenheit zu erhalten, war so fürchterlich schwer! Die
22973
Leute fingen an, ihn ein wenig lächerlich zu finden, aber vielleicht
22974
hätten sie Mitleid verspürt und solche Gefühle unterdrückt, wenn sie im
22975
entferntesten vermutet hätten, mit welcher angstvollen Reizbarkeit er
22976
vor dem Lächerlichen auf der Hut war, wie er es längst von weitem hatte
22977
nahen sehen und es vorausempfunden hatte, bevor noch ihnen irgend etwas
22978
davon in den Sinn gekommen war. Auch seine Eitelkeit, diese vielfach
22979
bespöttelte »Eitelkeit«, war ja zum guten Teile aus dieser Sorge
22980
hervorgegangen. Er war der erste gewesen, der das beständig
22981
hervortretende Mißverhältnis zwischen seiner eigenen Erscheinung und
22982
Gerdas sonderbarer Unberührtheit, der die Jahre nichts anhatten, mit
22983
Argwohn ins Auge gefaßt hatte, und jetzt, seit Herr von Throta in sein
22984
Haus gekommen war, mußte er seine Besorgnis mit dem Rest seiner Kräfte
22985
bekämpfen und verstecken, mußte es, um nicht durch das Kundwerden dieser
22986
Besorgnis schon seinen Namen dem allgemeinen Lächeln preiszugeben.
22988
Gerda Buddenbrook und der junge, eigenartige Offizier hatten einander,
22989
wie sich versteht, auf dem Gebiete der Musik gefunden. Herr von Throta
22990
spielte Klavier, Geige, Bratsche, Violoncell und Flöte -- alles
22991
vortrefflich -- und oft ward dem Senator der kommende Besuch im voraus
22992
angekündigt, dadurch, daß Herr von Throtas Bursche, den Cellokasten auf
22993
dem Rücken schleppend, an den grünen Fenstervorsätzen des Privatkontors
22994
vorüberging und im Hause verschwand ... Dann saß Thomas Buddenbrook an
22995
seinem Schreibtisch und wartete, bis er auch ihn selbst, den Freund
22996
seiner Frau, in sein Haus eintreten sah, bis über ihm im Salon die
22997
Harmonien aufwogten, die unter Singen, Klagen und übermenschlichem
22998
Jubeln gleichsam mit krampfhaft ausgestreckten, gefalteten Händen
22999
emporrangen und nach allen irren und vagen Ekstasen in Schwäche und
23000
Schluchzen hinsanken in Nacht und Schweigen. Mochten sie doch rollen und
23001
brausen, weinen und jauchzen, einander aufschäumend umschlingen und sich
23002
so übernatürlich gebärden wie sie nur wollten! Das Schlimme, das
23003
eigentlich Qualvolle war die Lautlosigkeit, die ihnen folgte, die dann
23004
dort oben im Salon =so= lange, lange herrschte, und die zu tief und
23005
unbelebt war, um nicht Grauen zu erregen. Kein Schritt erschütterte die
23006
Decke, kein Stuhl ward gerückt; es war eine unlautere, hinterhältige,
23007
schweigende, =ver=schweigende Stille ... Dann saß Thomas Buddenbrook und
23008
ängstigte sich so sehr, daß er manchmal leise ächzte.
23010
Was fürchtete er? Wieder hatten die Leute Herrn von Throta in das Haus
23011
eintreten sehen, und mit ihren Augen gleichsam, so, wie es sich ihnen
23012
darstellte, sah er dies Bild: sich selbst, den alternden, abgenutzten
23013
und übellaunigen Mann unten im Kontor am Fenster sitzen, während droben
23014
seine schöne Frau mit ihrem Galan musizierte und nicht nur musizierte
23015
... Ja, so erschienen ihnen die Dinge, er wußte es. Und dennoch wußte er
23016
auch, daß das Wort »Galan« für Herrn von Throta eigentlich sehr wenig
23017
bezeichnend war. Ach, er wäre beinahe glücklich gewesen, wenn er ihn so
23018
hätte nennen und auffassen dürfen, ihn als einen windigen, unwissenden
23019
und ordinären Jungen hätte verstehen und verachten können, der seine
23020
normale Portion von Übermut in ein wenig Kunst ausströmen läßt und damit
23021
Frauenherzen gewinnt. Er ließ nichts unversucht, ihn zu einer solchen
23022
Figur zu stempeln. Er rief einzig und allein zu diesem Behufe die
23023
Instinkte seiner Väter in sich wach: das ablehnende Mißtrauen des
23024
seßhaften und sparsamen Kaufmannes gegenüber der abenteuerlustigen,
23025
leichtfertigen und geschäftlich unsicheren Kriegerkaste. In Gedanken
23026
sowohl wie in Gesprächen nannte er Herrn von Throta beständig mit
23027
geringschätziger Betonung »der Leutnant«; und dabei fühlte er allzu gut,
23028
daß dieser Titel nach allen am schlechtesten geeignet war, das Wesen
23029
dieses jungen Mannes auszudrücken ...
23031
Was fürchtete Thomas Buddenbrook? Nichts ... Nichts Nennbares. Ach,
23032
hätte er sich gegen etwas Handgreifliches, Einfaches und Brutales zur
23033
Wehr setzen dürfen! Er neidete den Leuten dort draußen die Schlichtheit
23034
des Bildes, das sie sich von der Sache machten; aber während er hier saß
23035
und, den Kopf in den Händen, qualvoll horchte, wußte er allzu wohl, daß
23036
»Betrug« und »Ehebruch« nicht Laute waren, um die singenden und
23037
abgründig stillen Dinge bei Namen zu nennen, die sich dort oben begaben.
23039
Manchmal, wenn er hinaus auf die grauen Giebel und die vorübergehenden
23040
Bürger blickte, wenn er seine Augen auf der vor ihm hängenden
23041
Gedenktafel, dem Jubiläumsgeschenk, den Porträts seiner Väter ruhen ließ
23042
und der Geschichte seines Hauses gedachte, so sagte er sich, daß all
23043
dies das Ende von allem sei, und daß nur dies, was jetzt vorgehe, noch
23044
gefehlt habe. Ja, es hatte nur gefehlt, daß seine Person zum Gespött
23045
werde und sein Name, sein Familienleben in das Geschrei der Leute komme,
23046
damit allem die Krone aufgesetzt würde ... Aber dieser Gedanke tat ihm
23047
fast wohl, weil er ihm einfach, faßlich und gesund, ausdenkbar und
23048
aussprechbar erschien im Vergleich mit dem Brüten über diesem
23049
schimpflichen Rätsel, diesem mysteriösen Skandal zu seinen Häupten ...
23051
Er ertrug es nicht länger, er schob den Sessel zurück, verließ das
23052
Kontor und stieg in das Haus hinauf. Wohin sollte er sich wenden? In den
23053
Salon, um Herrn von Throta unbefangen und ein wenig von oben herab zu
23054
begrüßen, ihn zum Abendessen zu bitten und, wie schon mehrere Male, eine
23055
abschlägige Antwort entgegenzunehmen? Denn es war das eigentlich
23056
Unerträgliche, daß der Leutnant ihn vollständig mied, fast alle
23057
offiziellen Einladungen ablehnte und nur an dem privaten und freien
23058
Verkehr mit der Senatorin festzuhalten beliebte ...
23060
Warten? Irgendwo, vielleicht im Rauchzimmer, warten, bis er fortginge,
23061
und dann vor Gerda treten und sich mit ihr aussprechen, sie zur Rede
23062
stellen? -- Man stellte Gerda nicht zur Rede, man sprach sich mit ihr
23063
nicht aus. Worüber? Das Bündnis mit ihr war auf Verständnis, Rücksicht
23064
und Schweigen gegründet. Es war nicht nötig, sich auch vor ihr noch
23065
lächerlich zu machen. Den Eifersüchtigen spielen, hieße den Leuten dort
23066
draußen recht geben, den Skandal proklamieren, ihn laut werden lassen
23067
... Empfand er Eifersucht? Auf wen? Auf was? Ach, weit entfernt! Etwas
23068
so Starkes weiß Handlungen hervorzubringen, falsche, törichte
23069
vielleicht, aber eingreifende und befreiende. Ach nein, nur ein wenig
23070
Angst empfand er, ein wenig quälende und jagende Angst vor dem
23073
Er ging in sein Ankleidekabinett hinauf, um sich die Stirn mit Eau de
23074
Cologne zu waschen, und stieg dann wieder zum ersten Stockwerk hinunter,
23075
entschlossen, das Schweigen im Salon um jeden Preis zu brechen. Aber als
23076
er den schwarzgoldenen Griff der weißen Tür schon erfaßt hielt, setzte
23077
mit einem stürmischen Aufbrausen die Musik wieder ein, und er wich
23080
Er ging über die Gesindetreppe ins Erdgeschoß hinab, über die Diele und
23081
den kalten Flur bis zum Garten, kehrte wieder zurück und machte sich auf
23082
der Diele mit dem ausgestopften Bären und auf dem Absatz der Haupttreppe
23083
mit dem Goldfischbassin zu schaffen, unfähig, irgendwo zur Ruhe zu
23084
kommen, horchend und lauernd, voll Scham und Gram, niedergedrückt und
23085
umhergetrieben von dieser Furcht vor dem heimlichen und vor dem
23086
öffentlichen Skandal ...
23088
Einstmals, in solcher Stunde, als er im zweiten Stockwerk an der Galerie
23089
lehnte und durch das lichte Treppenhaus hinunterblickte, wo alles
23090
schwieg, kam der kleine Johann aus seinem Zimmer, die Stufen des
23091
»Altans« herab und über den Korridor, um sich in irgendeiner
23092
Angelegenheit zu Ida Jungmann zu begeben. Er wollte, indem er mit dem
23093
Buche, das er trug, die Wand entlangstrich, mit gesenkten Augen und
23094
einem leisen Gruße an seinem Vater vorübergehen; aber der Senator redete
23097
»Nun, Hanno, was treibst du?«
23099
»Ich arbeite, Papa; ich will zu Ida, um ihr vorzuübersetzen ...«
23101
»Wie geht es? Was hast du auf?«
23103
Und immer mit gesenkten Wimpern, aber rasch und sichtlich angestrengt,
23104
mit einer korrekten, klaren und geistesgegenwärtigen Antwort
23105
aufzuwarten, erwiderte Hanno, nachdem er eilig hinuntergeschluckt hatte:
23106
»Wir haben eine Nepos-Präparation, eine kaufmännische Rechnung ins reine
23107
zu schreiben, französische Grammatik, die Flüsse von Nordamerika ...
23108
deutsche Aufsatzkorrektur ...«
23110
Er schwieg, unglücklich darüber, daß er zuletzt nicht »und« gesagt und
23111
die Stimme mit Entschiedenheit gesenkt hatte; denn nun wußte er nicht
23112
mehr zu nennen, und die ganze Antwort war wieder abrupt und
23113
ungeschlossen hervorgebracht. -- »Mehr nicht«, sagte er, so bestimmt er
23114
konnte, wenn auch ohne aufzublicken. Aber sein Vater schien nicht darauf
23115
zu achten. Er hielt Hannos freie Hand in seinen Händen und spielte
23116
damit, zerstreut und augenscheinlich ohne etwas von dem Gesagten
23117
aufgefangen zu haben, fingerte unbewußt und langsam an den zarten
23118
Gelenken und schwieg.
23120
Und dann, plötzlich, vernahm Hanno über sich etwas, was in gar keinem
23121
Zusammenhange mit dem eigentlichen Gespräche stand, eine leise,
23122
angstvoll bewegte und beinahe beschwörende Stimme, die er noch nie
23123
gehört, die Stimme seines Vaters dennoch, welche sagte: »Nun ist der
23124
Leutnant schon zwei Stunden bei Mama ... Hanno ...«
23126
Und siehe da, bei diesem Klange schlug der kleine Johann seine
23127
goldbraunen Augen auf und richtete sie so groß, klar und liebevoll wie
23128
noch niemals auf seines Vaters Gesicht, dieses Gesicht mit den geröteten
23129
Lidern unter den hellen Brauen und den weißen, ein wenig gedunsenen
23130
Wangen, die von den lang ausgezogenen Spitzen des Schnurrbartes starr
23131
überragt wurden. Gott weiß, wieviel er begriff. Das eine aber war
23132
sicher, und sie fühlten es beide, daß in diesen Sekunden, während ihre
23133
Blicke ineinander ruhten, jede Fremdheit und Kälte, jeder Zwang und
23134
jedes Mißverständnis zwischen ihnen dahinsank, daß Thomas Buddenbrook,
23135
wie hier, so überall, wo es sich nicht um Energie, Tüchtigkeit und
23136
helläugige Frische, sondern um Furcht und Leiden handelte, des
23137
Vertrauens und der Hingabe seines Sohnes gewiß sein konnte.
23139
Er achtete dessen nicht, er sträubte sich, dessen zu achten. Strenger
23140
als jemals zog er Hanno in dieser Zeit zu praktischen Vorübungen für
23141
sein künftiges, tätiges Leben heran, examinierte er seine
23142
Geisteskräfte, drang er in ihn nach entschlossenen Äußerungen der Lust
23143
zu dem Beruf, der seiner harrte, und brach in Zorn aus bei jedem Zeichen
23144
des Widerstrebens und der Mattigkeit ... Denn es war an dem, daß Thomas
23145
Buddenbrook, achtundvierzig Jahre alt, seine Tage mehr und mehr als
23146
gezählt betrachtete und mit seinem nahen Tode zu rechnen begann.
23148
Sein körperliches Befinden hatte sich verschlechtert. Appetit- und
23149
Schlaflosigkeit, Schwindel und jene Schüttelfröste, zu denen er immer
23150
geneigt hatte, zwangen ihn mehrere Male, Doktor Langhals zu Rate zu
23151
ziehen. Aber er gelangte nicht dazu, des Arztes Verordnungen zu
23152
befolgen. Seine Willenskraft, in Jahren voll geschäftiger und gehetzter
23153
Tatenlosigkeit angegriffen, reichte nicht aus dazu. Er hatte begonnen,
23154
am Morgen sehr lange zu schlafen, obgleich er jeden Abend den zornigen
23155
Entschluß faßte, sich früh zu erheben, um den anbefohlenen Spaziergang
23156
vorm Tee zu machen. In Wirklichkeit führte er dies zwei- oder dreimal
23157
aus ... und so ging es in all und jeder Sache. Die beständige Anspannung
23158
des Willens ohne Erfolg und Genugtuung zehrte an seiner Selbstachtung
23159
und stimmte ihn verzweifelt. Er war weit entfernt, sich den betäubenden
23160
Genuß der kleinen, scharfen, russischen Zigaretten zu versagen, die er,
23161
seit seiner Jugend schon, täglich in Massen rauchte. Er sagte dem Doktor
23162
Langhals ohne Umschweife in sein eitles Gesicht hinein: »Sehen Sie,
23163
Doktor, mir die Zigaretten zu verbieten, ist Ihre Pflicht ... eine sehr
23164
leichte und sehr angenehme Pflicht, wahrhaftig! Das Verbot innezuhalten,
23165
ist meine Sache! dabei dürfen Sie zusehen ... Nein, wir wollen zusammen
23166
an meiner Gesundheit arbeiten, aber die Rollen sind zu ungerecht
23167
verteilt, mir fällt ein zu großer Anteil an dieser Arbeit zu! Lachen Sie
23168
nicht ... Das ist kein Witz ... Man ist so fürchterlich allein ... Ich
23169
rauche. Darf ich bitten?«
23171
Und er präsentierte ihm sein Tula-Etui ...
23173
Alle seine Kräfte nahmen ab; was sich in ihm verstärkte, war allein die
23174
Überzeugung, daß dies alles nicht lange währen könne, und daß sein
23175
Hintritt nahe bevorstehe. Es kamen ihm seltsame und ahnungsvolle
23176
Vorstellungen. Einige Male befiel ihn bei Tische die Empfindung, daß er
23177
schon nicht mehr eigentlich mit den Seinen zusammensitze, sondern, in
23178
eine gewisse, verschwommene Ferne entrückt, zu ihnen hinüberblicke ...
23179
Ich werde sterben, sagte er sich, und er rief abermals Hanno zu sich und
23180
sprach auf ihn ein: »Ich kann früher dahingehen, als wir denken, mein
23181
Sohn. Du mußt dann am Platze sein! Auch ich bin früh berufen worden ...
23182
Begreife doch, daß deine Indifferenz mich quält! Bist du nun
23183
entschlossen?... Ja -- ja -- das ist keine Antwort, das ist wieder keine
23184
Antwort! Ob du mit Mut und Freudigkeit entschlossen bist, frage ich ...
23185
Glaubst du, daß du Geld genug hast und nichts wirst zu tun brauchen? Du
23186
hast nichts, du hast bitterwenig, du wirst gänzlich auf dich selbst
23187
gestellt sein! Wenn du leben willst, und sogar gut leben, so wirst du
23188
arbeiten müssen, schwer, hart, härter noch als ich ...«
23190
Aber es war nicht nur dies; es war nicht mehr allein die Sorge um die
23191
Zukunft seines Sohnes und seines Hauses, unter der er litt. Etwas
23192
anderes, Neues kam über ihn, bemächtigte sich seiner und trieb seine
23193
müden Gedanken vor sich her ... Sobald er nämlich sein zeitliches Ende
23194
nicht mehr als eine ferne, theoretische und unbeträchtliche
23195
Notwendigkeit, sondern als etwas ganz Nahes und Greifbares betrachtete,
23196
für das es unmittelbare Vorbereitungen zu treffen galt, begann er zu
23197
grübeln, in sich zu forschen, sein Verhältnis zum Tode und den
23198
unirdischen Fragen zu prüfen ... und bereits bei den ersten derartigen
23199
Versuchen ergab sich ihm als Resultat eine heillose Unreife und
23200
Unbereitschaft seines Geistes, zu sterben.
23202
Der Buchstabenglaube, das schwärmerische Bibelchristentum, das sein
23203
Vater mit einem sehr praktischen Geschäftssinn zu verbinden gewußt, und
23204
das später auch seine Mutter übernommen hatte, war ihm immer fremd
23205
gewesen. Seit Lebtag vielmehr hatte er den ersten und letzten Dingen die
23206
weltmännische Skepsis seines Großvaters entgegengebracht; zu tief aber,
23207
zu geistreich und zu metaphysisch bedürftig, um in der behaglichen
23208
Oberflächlichkeit des alten Johann Buddenbrook Genüge zu finden, hatte
23209
er sich die Fragen der Ewigkeit und Unsterblichkeit historisch
23210
beantwortet und sich gesagt, daß er in seinen Vorfahren gelebt habe und
23211
in seinen Nachfahren leben werde. Dies hatte nicht allein mit seinem
23212
Familiensinn, seinem Patrizierselbstbewußtsein, seiner geschichtlichen
23213
Pietät übereingestimmt, es hatte ihn auch in seiner Tätigkeit, seinem
23214
Ehrgeiz, seiner ganzen Lebensführung unterstützt und bekräftigt. Nun
23215
aber zeigte sich, daß es vor dem nahen und durchdringenden Auge des
23216
Todes dahinsank und zunichte ward, unfähig, auch nur eine Stunde der
23217
Beruhigung und Bereitschaft hervorzubringen.
23219
Obgleich Thomas Buddenbrook in seinem Leben hie und da mit einer kleinen
23220
Neigung zum Katholizismus gespielt hatte, war er doch ganz erfüllt von
23221
dem ernsten, tiefen, bis zur Selbstpeinigung strengen und unerbittlichen
23222
Verantwortlichkeitsgefühl des echten und leidenschaftlichen
23223
Protestanten. Nein, dem Höchsten und Letzten gegenüber gab es keinen
23224
Beistand von außen, keine Vermittlung, Absolution, Betäubung und
23225
Tröstung! Ganz einsam, selbständig und aus eigener Kraft mußte man in
23226
heißer und emsiger Arbeit, ehe es zu spät war, das Rätsel entwirren und
23227
sich klare Bereitschaft erringen, oder in Verzweiflung dahinfahren ...
23228
Und Thomas Buddenbrook wandte sich enttäuscht und hoffnungslos von
23229
seinem einzigen Sohne ab, in dem er stark und verjüngt fortzuleben
23230
gehofft hatte, und fing an, in Hast und Furcht nach der Wahrheit zu
23231
suchen, die es irgendwo für ihn geben mußte ...
23233
Es war der Hochsommer des Jahres vierundsiebenzig. Silberweiße,
23234
rundliche Wolken zogen am tiefblauen Himmel über die zierliche Symmetrie
23235
des Stadtgartens hin, in den Zweigen des Walnußbaumes zwitscherten die
23236
Vögel mit fragender Betonung, der Springbrunnen plätscherte inmitten des
23237
Kranzes von hohen, lilafarbenen Schwertlilien, der ihn umgab, und der
23238
Duft des Flieders vermischte sich leider mit dem Sirupgeruch, den ein
23239
warmer Luftzug von der nahen Zuckerbrennerei herübertrug. Zum Erstaunen
23240
des Personals verließ der Senator jetzt oftmals in voller Arbeitszeit
23241
das Kontor, um sich, die Hände auf dem Rücken, in seinem Garten zu
23242
ergehen, den Kies zu harken, den Schlamm vom Springbrunnen zu fischen
23243
oder einen Rosenzweig zu stützen ... Sein Gesicht, mit den hellen
23244
Brauen, von denen eine ein wenig emporgezogen war, schien ernst und
23245
aufmerksam bei diesen Beschäftigungen; aber seine Gedanken gingen weit
23246
fort im Dunklen, ihre eigenen, mühseligen Pfade.
23248
Manchmal setzte er sich, auf der Höhe der kleinen Terrasse, in den von
23249
Weinlaub gänzlich eingehüllten Pavillon und blickte, ohne etwas zu
23250
sehen, über den Garten hin auf die rote Rückwand seines Hauses. Die Luft
23251
war warm und süß, und es war, als ob die friedlichen Geräusche rings
23252
umher ihm besänftigend zusprächen und ihn einzulullen trachteten. Müde
23253
vom Ins-Leere-Starren, von Einsamkeit und Schweigen, schloß er dann und
23254
wann die Augen, um sich alsbald wieder aufzuraffen und hastig den
23255
Frieden von sich zu scheuchen. Ich muß denken, sagte er beinahe laut ...
23256
Ich muß alles ordnen, ehe es zu spät ist ...
23258
Hier aber war es, in diesem Pavillon, in dem kleinen Schaukelstuhl aus
23259
gelbem Rohr, wo er eines Tages vier volle Stunden lang mit wachsender
23260
Ergriffenheit in einem Buche las, das halb gesucht, halb zufällig in
23261
seine Hände geraten war ... Nach dem zweiten Frühstück, die Zigarette im
23262
Munde, hatte er es im Rauchzimmer, in einem tiefen Winkel des
23263
Bücherschrankes, hinter stattlichen Bänden versteckt, gefunden und sich
23264
erinnert, daß er es einst vor Jahr und Tag beim Buchhändler zu einem
23265
Gelegenheitspreise achtlos erstanden hatte: ein ziemlich umfangreiches,
23266
auf dünnem und gelblichem Papier schlecht gedrucktes und schlecht
23267
geheftetes Werk, der zweite Teil nur eines berühmten metaphysischen
23268
Systems ... Er hatte es mit sich in den Garten genommen und wandte nun,
23269
in tiefer Versunkenheit, Blatt um Blatt ...
23271
Eine ungekannte, große und dankbare Zufriedenheit erfüllte ihn. Er
23272
empfand die unvergleichliche Genugtuung, zu sehen, wie ein gewaltig
23273
überlegenes Gehirn sich des Lebens, dieses so starken, grausamen und
23274
höhnischen Lebens, bemächtigt, um es zu bezwingen und zu verurteilen ...
23275
die Genugtuung des Leidenden, der vor der Kälte und Härte des Lebens
23276
sein Leiden beständig schamvoll und bösen Gewissens versteckt hielt und
23277
plötzlich aus der Hand eines Großen und Weisen die grundsätzliche und
23278
feierliche Berechtigung erhält, an der Welt zu leiden -- dieser besten
23279
aller denkbaren Welten, von der mit spielendem Hohne bewiesen ward, daß
23280
sie die schlechteste aller denkbaren sei.
23282
Er begriff nicht alles; Prinzipien und Voraussetzungen blieben ihm
23283
unklar, und sein Sinn, in solcher Lektüre ungeübt, vermochte gewissen
23284
Gedankengängen nicht zu folgen. Aber gerade der Wechsel von Licht und
23285
Finsternis, von dumpfer Verständnislosigkeit, vagem Ahnen und
23286
plötzlicher Hellsicht hielt ihn in Atem, und die Stunden schwanden, ohne
23287
daß er vom Buche aufgeblickt oder auch nur seine Stellung im Stuhle
23290
Er hatte anfänglich manche Seite ungelesen gelassen und rasch
23291
vorwärtsschreitend, unbewußt und eilig nach der Hauptsache, nach dem
23292
eigentlich Wichtigen verlangend, sich nur diesen oder jenen Abschnitt zu
23293
eigen gemacht, der ihn fesselte. Dann aber stieß er auf ein umfängliches
23294
Kapitel, das er vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchlas, mit
23295
festgeschlossenen Lippen und zusammengezogenen Brauen, ernst, mit einem
23296
vollkommenen, beinahe erstorbenen, von keiner Regung des Lebens um ihn
23297
her beeinflußbaren Ernst in der Miene. Es trug aber dieses Kapitel den
23298
Titel: »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres
23299
Wesens an sich.« --
23301
Ihm fehlten wenige Zeilen, als um vier Uhr das Folgmädchen durch den
23302
Garten kam und ihn zu Tische bat. Er nickte, las die übrigen Sätze,
23303
schloß das Buch und blickte um sich ... Er fühlte sein ganzes Wesen auf
23304
ungeheuerliche Art geweitet und von einer schweren, dunklen Trunkenheit
23305
erfüllt; seinen Sinn umnebelt und vollständig berauscht von irgend etwas
23306
unsäglich Neuem, Lockendem und Verheißungsvollem, das an erste, hoffende
23307
Liebessehnsucht gemahnte. Aber als er mit kalten und unsicheren Händen
23308
das Buch in der Schublade des Gartentisches verwahrte, war sein
23309
glühender Kopf, in dem ein seltsamer Druck, eine beängstigende Spannung
23310
herrschte, als könnte irgend etwas darin zerspringen, nicht eines
23311
vollkommenen Gedankens fähig.
23313
Was war dies? fragte er sich, während er ins Haus ging, die Haupttreppe
23314
erstieg und sich im Eßzimmer zu den Seinen setzte ... Was ist mir
23315
geschehen? Was habe ich vernommen? Was ist zu mir gesprochen worden, zu
23316
mir, Thomas Buddenbrook, Ratsherr dieser Stadt, Chef der Getreidefirma
23317
Johann Buddenbrook ...? War dies für mich bestimmt? Kann ich es
23318
ertragen? Ich weiß nicht, was es war ... ich weiß nur, daß es zu viel,
23319
zu viel ist für mein Bürgerhirn ...
23321
In diesem Zustande eines schweren, dunklen, trunkenen und gedankenlosen
23322
Überwältigtseins verblieb er den ganzen Tag. Dann aber kam der Abend,
23323
und unfähig, seinen Kopf länger auf den Schultern zu halten, ging er
23324
frühzeitig zu Bette. Er schlief drei Stunden lang, tief, unerreichbar
23325
tief, wie noch niemals in seinem Leben. Dann erwachte er, so jäh, so
23326
köstlich erschrocken, wie man einsam erwacht, mit einer keimenden Liebe
23329
Er wußte sich allein in dem großen Schlafgemach, denn Gerda schlief
23330
jetzt in Ida Jungmanns Zimmer, die kürzlich, um näher beim kleinen
23331
Johann zu sein, eines der drei Altan-Zimmer bezogen hatte. Es herrschte
23332
dichte Nacht um ihn her, da die Vorhänge der beiden hohen Fenster fest
23333
geschlossen waren. In tiefer Stille und sacht lastender Schwüle lag er
23334
auf dem Rücken und blickte in das Dunkel empor.
23336
Und siehe da: plötzlich war es, wie wenn die Finsternis vor seinen Augen
23337
zerrisse, wie wenn die samtne Wand der Nacht sich klaffend teilte und
23338
eine unermeßlich tiefe, eine ewige Fernsicht von Licht enthüllte ...
23339
=Ich werde leben!= sagte Thomas Buddenbrook beinahe laut und fühlte, wie
23340
seine Brust dabei vor innerlichem Schluchzen erzitterte. Dies ist es,
23341
daß ich leben werde! Es wird leben ... und daß dieses Es nicht ich bin,
23342
das ist nur eine Täuschung, das war nur ein Irrtum, den der Tod
23343
berichtigen wird. So ist es, so ist es!... Warum? -- Und bei dieser
23344
Frage schlug die Nacht wieder vor seinen Augen zusammen. Er sah, er
23345
wußte und verstand wieder nicht das geringste mehr und ließ sich tiefer
23346
in die Kissen zurücksinken, gänzlich geblendet und ermattet von dem
23347
bißchen Wahrheit, das er soeben hatte erschauen dürfen.
23349
Und er lag stille und wartete inbrünstig, fühlte sich versucht, zu
23350
beten, daß es noch einmal kommen und ihn erhellen möge. Und es kam. Mit
23351
gefalteten Händen, ohne eine Regung zu wagen, lag er und durfte
23354
Was war der Tod? Die Antwort darauf erschien ihm nicht in armen und
23355
wichtigtuerischen Worten: er fühlte sie, er besaß sie zuinnerst. Der Tod
23356
war ein Glück, so tief, daß es nur in begnadeten Augenblicken, wie
23357
dieser, ganz zu ermessen war. Er war die Rückkunft von einem unsäglich
23358
peinlichen Irrgang, die Korrektur eines schweren Fehlers, die Befreiung
23359
von den widrigsten Banden und Schranken -- einen beklagenswerten
23360
Unglücksfall machte er wieder gut.
23362
Ende und Auflösung? Dreimal erbarmungswürdig jeder, der diese nichtigen
23363
Begriffe als Schrecknisse empfand! Was würde enden und was sich
23364
auflösen? Dieser sein Leib ... Diese seine Persönlichkeit und
23365
Individualität, dieses schwerfällige, störrische, fehlerhafte und
23366
hassenswerte =Hindernis, etwas anderes und Besseres zu sein=!
23368
War nicht jeder Mensch ein Mißgriff und Fehltritt? Geriet er nicht in
23369
eine peinvolle Haft, sowie er geboren ward? Gefängnis! Gefängnis!
23370
Schranken und Bande überall! Durch die Gitterfenster seiner
23371
Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der
23372
äußeren Umstände, bis der Tod kommt und ihn zu Heimkehr und Freiheit
23375
Individualität!... Ach, was man ist, kann und hat, scheint arm, grau,
23376
unzulänglich und langweilig; was man aber nicht ist, nicht kann und
23377
nicht hat, das eben ist es, worauf man mit jenem sehnsüchtigen Neide
23378
blickt, der zur Liebe wird, weil er sich fürchtet, zum Haß zu werden.
23380
Ich trage den Keim, den Ansatz, die Möglichkeit zu allen Befähigungen
23381
und Betätigungen der Welt in mir ... Wo könnte ich sein, wenn ich nicht
23382
hier wäre! Wer, was, wie könnte ich sein, wenn ich nicht ich wäre, wenn
23383
diese meine persönliche Erscheinung mich nicht abschlösse und mein
23384
Bewußtsein von dem aller derer trennte, die nicht ich sind! Organismus!
23385
Blinde, unbedachte, bedauerliche Eruption des drängenden Willens!
23386
Besser, wahrhaftig, dieser Wille webt frei in raum- und zeitloser Nacht,
23387
als daß er in einem Kerker schmachtet, der von dem zitternden und
23388
wankenden Flämmchen des Intellektes notdürftig erhellt wird!
23390
In meinem Sohne habe ich fortzuleben gehofft? In einer noch
23391
ängstlicheren, schwächeren, schwankenderen Persönlichkeit? Kindische,
23392
irregeführte Torheit! Was soll mir ein Sohn? Ich brauche keinen Sohn!...
23393
Wo ich sein werde, wenn ich tot bin? Aber es ist so leuchtend klar, so
23394
überwältigend einfach! In allen denen werde ich sein, die je und je Ich
23395
gesagt haben, sagen und sagen werden: =besonders aber in denen, die es
23396
voller, kräftiger, fröhlicher sagen= ...
23398
Irgendwo in der Welt wächst ein Knabe auf, gut ausgerüstet und
23399
wohlgelungen, begabt, seine Fähigkeiten zu entwickeln, gerade gewachsen
23400
und ungetrübt, rein, grausam und munter, einer von diesen Menschen,
23401
deren Anblick das Glück der Glücklichen erhöht und die Unglücklichen zur
23402
Verzweiflung treibt: -- Das ist mein Sohn. =Das bin ich=, bald ... bald
23403
... sobald der Tod mich von dem armseligen Wahne befreit, ich sei nicht
23404
sowohl er wie ich ...
23406
Habe ich je das Leben gehaßt, dies reine, grausame und starke Leben?
23407
Torheit und Mißverständnis! Nur mich habe ich gehaßt, dafür, daß ich es
23408
nicht ertragen konnte. Aber ich liebe euch ... ich liebe euch alle, ihr
23409
Glücklichen, und bald werde ich aufhören, durch eine enge Haft von euch
23410
ausgeschlossen zu sein; bald wird das in mir, was euch liebt, wird meine
23411
Liebe zu euch frei werden und bei und in euch sein ... bei und in euch
23414
Er weinte; preßte das Gesicht in die Kissen und weinte, durchbebt und
23415
wie im Rausche emporgehoben von einem Glück, dem keins in der Welt an
23416
schmerzlicher Süßigkeit zu vergleichen. Dies war es, dies alles, was ihn
23417
seit gestern nachmittag trunken und dunkel erfüllt, was sich inmitten
23418
der Nacht in seinem Herzen geregt und ihn geweckt hatte wie eine
23419
keimende Liebe. Und während er es nun begreifen und erkennen durfte --
23420
nicht in Worten und aufeinanderfolgenden Gedanken, sondern in
23421
plötzlichen, beseligenden Erhellungen seines Inneren --, war er schon
23422
frei, war er ganz eigentlich schon erlöst und aller natürlichen wie
23423
künstlichen Schranken und Bande entledigt. Die Mauern seiner Vaterstadt,
23424
in denen er sich mit Willen und Bewußtsein eingeschlossen, taten sich
23425
auf und erschlossen seinem Blicke die Welt, die ganze Welt, von der er
23426
in jungen Jahren dies und jenes Stückchen gesehen, und die der Tod ihm
23427
ganz und gar zu schenken versprach. Die trügerischen Erkenntnisformen
23428
des Raumes, der Zeit und also der Geschichte, die Sorge um ein
23429
rühmliches, historisches Fortbestehen in der Person von Nachkommen, die
23430
Furcht vor irgendeiner endlichen historischen Auflösung und Zersetzung,
23431
-- dies alles gab seinen Geist frei und hinderte ihn nicht mehr, die
23432
stete Ewigkeit zu begreifen. Nichts begann und nichts hörte auf. Es gab
23433
nur eine unendliche Gegenwart, und diejenige Kraft in ihm, die mit einer
23434
so schmerzlich süßen, drängenden und sehnsüchtigen Liebe das Leben
23435
liebte, und von der seine Person nur ein verfehlter Ausdruck war -- sie
23436
würde die Zugänge zu dieser Gegenwart immer zu finden wissen.
23438
Ich werde leben! flüsterte er in das Kissen, weinte und ... wußte im
23439
nächsten Augenblick nicht mehr, worüber. Sein Gehirn stand still, sein
23440
Wissen erlosch, und in ihm gab es plötzlich wieder nichts mehr als
23441
verstummende Finsternis. Aber es wird wiederkehren! versicherte er sich.
23442
Habe ich es nicht besessen?... Und während er fühlte, wie Betäubung und
23443
Schlaf ihn unwiderstehlich überschatteten, schwor er sich einen teuren
23444
Eid, dies ungeheure Glück niemals fahren zu lassen, sondern seine Kräfte
23445
zu sammeln und zu lernen, zu lesen und zu studieren, bis er sich fest
23446
und unveräußerlich die ganze Weltanschauung zu eigen gemacht haben
23447
würde, aus der dies alles hervorgegangen war.
23449
Allein das konnte nicht sein, und schon am nächsten Morgen, als er mit
23450
einem ganz kleinen Gefühl von Geniertheit über die geistigen
23451
Extravaganzen von gestern erwachte, ahnte er etwas von der
23452
Unausführbarkeit dieser schönen Vorsätze.
23454
Er stand spät auf und hatte sich sogleich an den Debatten einer
23455
Bürgerschaftssitzung zu beteiligen. Das öffentliche, geschäftliche,
23456
bürgerliche Leben in den giebeligen und winkeligen Straßen dieser
23457
mittelgroßen Handelsstadt nahm seinen Geist und seine Kräfte wieder in
23458
Besitz. Immer noch mit dem Vorsatz beschäftigt, die wunderbare Lektüre
23459
wieder aufzunehmen, fing er doch an, sich zu fragen, ob die Erlebnisse
23460
jener Nacht in Wahrheit und auf die Dauer etwas für ihn seien und ob
23461
sie, träte der Tod ihn an, praktisch standhalten würden. Seine
23462
bürgerlichen Instinkte regten sich dagegen. Auch seine Eitelkeit regte
23463
sich: die Furcht vor einer wunderlichen und lächerlichen Rolle. Standen
23464
ihm diese Dinge zu Gesicht? Ziemten sie ihm, ihm, Senator Thomas
23465
Buddenbrook, Chef der Firma Johann Buddenbrook?...
23467
Er gelangte niemals wieder dazu, einen Blick in das seltsame Buch zu
23468
werfen, das so viele Schätze barg, geschweige denn sich die übrigen
23469
Bände des großen Werkes zu verschaffen. Die nervöse Pedanterie, die sich
23470
mit den Jahren seiner bemächtigt, verzehrte seine Tage. Gehetzt von
23471
fünfhundert nichtswürdigen und alltäglichen Bagatellen, die in Ordnung
23472
zu halten und zu erledigen sein Kopf sich plagte, war er zu
23473
willensschwach, um eine vernünftige und ergiebige Einteilung seiner Zeit
23474
zu erreichen. Und zwei Wochen ungefähr nach jenem denkwürdigen
23475
Nachmittage war er so weit, daß er alles aufgab und dem Dienstmädchen
23476
befahl, ein Buch, das unordentlicherweise in der Schublade des
23477
Gartentisches umherliege, sofort hinaufzutragen und in den Bücherschrank
23480
So aber geschah es, daß Thomas Buddenbrook, der die Hände verlangend
23481
nach hohen und letzten Wahrheiten ausgestreckt hatte, matt zurücksank zu
23482
den Begriffen und Bildern, in deren gläubigem Gebrauch man seine
23483
Kindheit geübt hatte. Er ging umher und erinnerte sich des einigen und
23484
persönlichen Gottes, des Vaters der Menschenkinder, der einen
23485
persönlichen Teil seines Selbst auf die Erde entsandt hatte, damit er
23486
für uns leide und blute, der am Jüngsten Tage Gericht halten würde, und
23487
zu dessen Füßen die Gerechten im Laufe der dann ihren Anfang nehmenden
23488
Ewigkeit für die Kümmernisse dieses Jammertales entschädigt werden
23489
würden ... Dieser ganzen, ein wenig unklaren und ein wenig absurden
23490
Geschichte, die aber kein Verständnis, sondern nur gehorsamen Glauben
23491
beanspruchte, und die in feststehenden und kindlichen Worten zur Hand
23492
sein würde, wenn die letzten Ängste kamen ... Wirklich?
23494
Ach, auch hierin gelangte er nicht zum Frieden. Dieser Mann mit seiner
23495
nagenden Sorge um die Ehre seines Hauses, um seine Frau, seinen Sohn,
23496
seinen Namen, seine Familie, dieser abgenutzte Mann, der seinen Körper
23497
mit Mühe und Kunst elegant, korrekt und aufrecht erhielt, er plagte sich
23498
mehrere Tage mit der Frage, wie es nun eigentlich bestellt sei: ob nun
23499
eigentlich die Seele unmittelbar nach dem Tode in den Himmel gelange,
23500
oder ob die Seligkeit erst mit der Auferstehung des Fleisches beginne
23501
... Und wo blieb die Seele bis dahin? Hatte ihn jemals jemand in der
23502
Schule oder der Kirche darüber belehrt? Wie war es verantwortbar, den
23503
Menschen in einer solchen Unwissenheit zu lassen? -- Und er war darauf
23504
und daran, Pastor Pringsheim zu besuchen und ihn um Rat und Trost
23505
anzugehen, bis er es im letzten Augenblick aus Furcht vor der
23506
Lächerlichkeit unterließ.
23508
Endlich gab er alles auf und stellte alles Gott anheim. Da er aber mit
23509
der Ordnung seiner ewigen Angelegenheiten zu einem so unbefriedigenden
23510
Schluß gekommen war, so beschloß er, zum wenigsten einmal seine
23511
irdischen gewissenhaft zu bestellen, womit er einen lange gehegten
23512
Vorsatz zur Ausführung bringen würde.
23514
Eines Tages vernahm der kleine Johann nach dem Mittagessen, im
23515
Wohnzimmer, wo die Eltern ihren Kaffee tranken, wie sein Vater der Mama
23516
die Mitteilung machte, er erwarte heute den Rechtsanwalt Doktor Soundso,
23517
um mit ihm sein Testament zu machen, dessen Fixierung er nicht beständig
23518
ins Ungewisse hinausschieben dürfe. Später übte Hanno im Salon eine
23519
Stunde lang auf dem Flügel. Als er aber dann über den Korridor gehen
23520
wollte, traf er mit seinem Vater und einem Herrn in langem, schwarzem
23521
Überrock zusammen, welche die Haupttreppe heraufkamen.
23523
»Hanno!« sagte der Senator kurz. Und der kleine Johann blieb stehen,
23524
schluckte hinunter und antwortete leise und eilig: »Ja, Papa ...«
23526
»Ich habe mit diesem Herrn Wichtiges zu arbeiten«, fuhr sein Vater fort.
23527
»Du stellst dich, wenn ich bitten darf, vor diese Tür« -- er wies auf
23528
den Eingang zum Rauchzimmer -- »und gibst acht, daß niemand, hörst du?
23529
absolut niemand uns stört.«
23531
»Ja, Papa«, sagte der kleine Johann und stellte sich vor die Tür, die
23532
sich hinter den beiden Herren schloß.
23534
Er stand dort, hielt mit einer Hand den Schifferknoten auf seiner Brust
23535
erfaßt, scheuerte seine Zunge an einem Zahne, dem er mißtraute, und
23536
horchte auf die ernsten und gedämpften Stimmen, die aus dem Inneren des
23537
Zimmers zu ihm drangen. Sein Kopf mit dem lockig in die Schläfen
23538
fallenden hellbraunen Haar war zur Seite geneigt, und unter
23539
zusammengezogenen Brauen blickten seine goldbraunen, von bläulichen
23540
Schatten umlagerten Augen blinzelnd, mit einem abgestoßenen und
23541
grüblerischen Ausdruck zur Seite, einem Ausdruck, ganz ähnlich
23542
demjenigen, mit dem er an der Bahre seiner Großmutter den Blumengeruch
23543
und jenen anderen, fremden und doch so seltsam vertrauten Duft
23546
Ida Jungmann kam und sagte: »Hannochen, mein Jungchen, wo bleibst du,
23547
was wirst du hier herumzustehen haben!«
23549
Der bucklige Lehrling kam aus dem Kontor, eine Depesche in der Hand und
23550
fragte nach dem Senator.
23552
Und jedesmal streckte der kleine Johann seinen Arm in dem blauen mit
23553
einem Anker bestickten Matrosenärmel waagerecht vor der Tür aus,
23554
schüttelte den Kopf und sagte nach einem Augenblicke des Schweigens
23555
leise und fest: »Niemand darf hinein. -- Papa macht sein Testament.«
23560
Im Herbst sagte Doktor Langhals, indem er seine schönen Augen spielen
23561
ließ wie eine Frau: »Die Nerven, Herr Senator ... an allem sind bloß die
23562
Nerven schuld. Und hie und da läßt auch die Blutzirkulation ein wenig zu
23563
wünschen übrig. Darf ich mir einen Ratschlag erlauben? Sie sollten sich
23564
dieses Jahr noch ein bißchen ausspannen! Diese paar Seeluft-Sonntage im
23565
Sommer haben natürlich nicht viel vermocht ... Wir haben Ende September,
23566
Travemünde ist noch in Betrieb, es ist noch nicht vollständig
23567
entvölkert. Fahren Sie hin, Herr Senator, und setzen Sie sich noch ein
23568
wenig an den Strand. Vierzehn Tage oder drei Wochen reparieren schon
23571
Und Thomas Buddenbrook sagte Ja und Amen hierzu. Als aber die Seinen von
23572
dem Entschlusse erfuhren, erbot sich Christian, ihn zu begleiten.
23574
»Ich gehe mit, Thomas«, sagte er einfach. »Du hast wohl nichts dagegen.«
23575
Und obgleich der Senator eigentlich eine Menge dagegen hatte, sagte er
23576
abermals Ja und Amen.
23578
Die Sache war die, daß Christian jetzt mehr als jemals Herr seiner Zeit
23579
war, denn wegen schwankender Gesundheit hatte er sich genötigt gesehen,
23580
auch seine letzte kaufmännische Tätigkeit, die Champagner- und
23581
Kognakagentur, fahren zu lassen. Das Trugbild eines Mannes, der in der
23582
Dämmerung auf seinem Sofa saß und ihm zunickte, hatte sich
23583
erfreulicherweise nicht wiederholt. Aber mit der periodischen »Qual« in
23584
seiner linken Seite war es womöglich noch schlimmer geworden, und Hand
23585
in Hand mit ihr ging eine große Anzahl anderer Unzuträglichkeiten, die
23586
Christian sorgfältig beobachtete und mit krauser Nase schilderte, wo er
23587
ging und stand. Oftmals, wie schon früher, versagten beim Essen seine
23588
Schluckmuskeln, so daß er, den Bissen im Halse, dasaß und seine kleinen,
23589
runden, tiefliegenden Augen wandern ließ. Oftmals, wie schon früher,
23590
litt er an dem unbestimmten aber unbesiegbaren Furchtgefühl vor einer
23591
plötzlichen Lähmung seiner Zunge, seines Schlundes, seiner Extremitäten,
23592
ja sogar seines Denkvermögens. Zwar wurde nichts an ihm gelähmt; aber
23593
war nicht die Furcht davor beinahe noch schlimmer? Er erzählte
23594
ausführlich, wie er eines Tages, als er sich Tee bereitete, das
23595
brennende Zündholz statt über den Kochapparat über die offene
23596
Spiritusflasche gehalten habe, so daß beinahe nicht nur er selbst,
23597
sondern auch die übrigen Hausbewohner, ja, vielleicht auch die der
23598
Nachbarhäuser auf fürchterliche Weise umgekommen wären ... Dies ging zu
23599
weit. Was er aber mit besonderer Ausführlichkeit, Eindringlichkeit und
23600
Anstrengung, sich ganz verständlich zu machen, beschrieb, war eine
23601
scheußliche Anomalie, die er in letzter Zeit an sich wahrgenommen hatte
23602
und die darin bestand, daß er an gewissen Tagen, das heißt bei gewisser
23603
Witterung und Gemütsverfassung, kein offenes Fenster sehen konnte, ohne
23604
von dem gräßlichen und durch nichts gerechtfertigten Drange befallen zu
23605
werden, hinauszuspringen ... einem wilden und kaum unterdrückbaren
23606
Triebe, einer Art von unsinnigem und verzweifeltem Übermut! Eines
23607
Sonntages, als die Familie in der Fischergrube speiste, beschrieb er,
23608
wie er unter Aufbietung aller moralischen Kräfte auf Händen und Füßen
23609
habe zum offenen Fenster kriechen müssen, um es zu schließen ... Hier
23610
aber schrie alles auf, und niemand wollte ihm weiter zuhören.
23612
Diese und ähnliche Dinge konstatierte er mit einer gewissen
23613
schauerlichen Genugtuung. Was er aber nicht beobachtete und nicht
23614
feststellte, was ihm unbewußt blieb und sich darum beständig
23615
verschlimmerte, war der sonderbare Mangel an Taktgefühl, der ihm mit
23616
den Jahren immer mehr zu eigen geworden war. Es war schlimm, daß er im
23617
Familienkreise Anekdoten erzählte, so geartet, daß er sie höchstens im
23618
Klub hätte vorbringen dürfen. Aber es gab auch direkte Anzeichen dafür,
23619
daß sein Sinn für körperliche Schamhaftigkeit im Erlahmen begriffen war.
23620
In der Absicht, seiner Schwägerin Gerda, mit der er auf
23621
freundschaftlichem Fuße stand, zu zeigen, wie durabel gearbeitet seine
23622
englischen Socken seien, und wie mager er übrigens geworden sei, gewann
23623
er es über sich, vor ihren Augen sein weites, kariertes Beinkleid bis
23624
hoch über das Knie zurückzuziehen ... »Da sieh, wie mager ich werde ...
23625
Ist es nicht auffällig und sonderbar?« sagte er bekümmert, indem er mit
23626
krauser Nase auf sein knochiges und stark nach außen gekrümmtes Bein in
23627
der weißwollenen Unterhose zeigte, unter der sich das hagere Knie
23628
trübselig abzeichnete ...
23630
Er hatte, wie gesagt, jetzt jede kaufmännische Tätigkeit fahren lassen;
23631
aber diejenigen Stunden am Tage, die er nicht im »Klub« verbrachte,
23632
suchte er doch auf verschiedene Weise auszufüllen, und er liebte es,
23633
ausdrücklich hervorzuheben, daß er trotz aller Behinderungen niemals
23634
vollständig aufgehört habe zu arbeiten. Er erweiterte seine
23635
Sprachkenntnisse und hatte, der Wissenschaft halber und ohne praktischen
23636
Endzweck, kürzlich begonnen, Chinesisch zu lernen, worauf er vierzehn
23637
Tage lang viel Fleiß verwendet hatte. Zur Zeit war er damit beschäftigt,
23638
ein englisch-deutsches Lexikon, das ihm unzulänglich schien, zu
23639
»ergänzen«; aber, da eine kleine Luftveränderung ihm sowieso einmal
23640
wieder not tat und da es schließlich ja wünschenswert war, daß der
23641
Senator irgendwelche Begleitung hatte, so vermochte dies Geschäft jetzt
23642
nicht, ihn in der Stadt festzuhalten ...
23644
Die beiden Brüder fuhren an die See; sie fuhren, indes der Regen auf das
23645
Verdeck des Wagens trommelte, auf der Landstraße dahin, die nur eine
23646
Pfütze war, und sprachen beinahe kein Wort. Christian ließ seine Augen
23647
wandern, als horche er auf irgend etwas Verdächtiges; Thomas saß
23648
fröstelnd in seinen Mantel gehüllt, mit müde blickenden, geröteten
23649
Augen, und die langausgezogenen Spitzen seines Schnurrbartes überragten
23650
starr seine weißlichen Wangen. So fuhren sie nachmittags in den
23651
Kurgarten ein, in dessen verschwemmtem Kies die Räder knirschten. Der
23652
alte Makler Sigismund Gosch saß in der Glasveranda des Hauptgebäudes und
23653
trank Grog von Rum. Er stand auf, indem er durch die Zähne zischte, und
23654
dann setzten sie sich zu ihm, um, während die Koffer hinaufgetragen
23655
wurden, auch ihrerseits etwas Warmes zu genießen.
23657
Herr Gosch war ebenfalls noch Kurgast, gleich einigen wenigen Leuten,
23658
einer englischen Familie, einer ledigen Holländerin und einem ledigen
23659
Hamburger, die jetzt mutmaßlich ihr Schläfchen vor der Table d'hote
23660
hielten, denn es war überall totenstill, und nur der Regen planschte.
23661
Mochten sie schlafen. Herr Gosch schlief am Tage nicht. Er war froh,
23662
wenn er sich zur Nacht ein paar Stunden Bewußtlosigkeit erobern konnte.
23663
Es ging ihm nicht gut, er gebrauchte diese späte Luftkur gegen das
23664
Zittern, das Zittern in seinen Gliedmaßen ... verflucht! er konnte kaum
23665
noch das Grogglas halten, und -- teuflischer! -- er konnte nur selten
23666
noch schreiben, so daß es mit der Übersetzung von Lope de Vegas
23667
sämtlichen Dramen jämmerlich langsam vorwärts ging. Er war in sehr
23668
gedrückter Stimmung, und seine Gotteslästerungen waren ohne die rechte
23669
Freudigkeit. »Laß fahren dahin!« sagte er, und dies schien seine
23670
Lieblingsredensart geworden zu sein, denn er wiederholte sie beständig
23671
und oftmals ganz außer dem Zusammenhange.
23673
Und der Senator? Was war es mit ihm? Wie lange gedachten die Herren zu
23676
Ach, Doktor Langhals habe ihn der Nerven wegen hergeschickt, antwortete
23677
Thomas Buddenbrook. Er habe natürlich gehorcht, trotz dieses
23678
Hundewetters, denn was tue man nicht aus Furcht vor seinem Arzte! Er
23679
fühlte sich ja wirklich ein wenig miserabel. Sie würden eben bleiben,
23680
bis es ihm besser gehe ...
23682
»Ja, übrigens geht es auch mir sehr schlecht«, sagte Christian voll Neid
23683
und Erbitterung, daß Thomas nur von sich sprach; und er war im Begriffe,
23684
von dem nickenden Manne, der Spiritusflasche und dem offenen Fenster zu
23685
berichten, als sein Bruder aufbrach, um die Zimmer in Besitz zu nehmen.
23687
Der Regen ließ nicht nach. Er zerwühlte den Boden und tanzte in
23688
springenden Tropfen auf der See, die, vom Südwest überschauert, vom
23689
Strande zurückwich. Alles war in Grau gehüllt. Die Dampfer zogen wie
23690
Schatten und Geisterschiffe vorüber und verschwanden am verwischten
23693
Mit den fremden Gästen traf man nur beim Essen zusammen. Der Senator
23694
ging mit dem Makler Gosch in Gummimantel und Galoschen spazieren, indes
23695
Christian droben in der Konditorei mit der Büfettdame schwedischen
23698
Zwei- oder dreimal, an Nachmittagen, da es aussah, als ob die Sonne
23699
hervorkommen wollte, erschienen zur Table d'hote ein paar Bekannte aus
23700
der Stadt, die sich gern ein wenig unabhängig von ihren Angehörigen
23701
unterhielten: Senator Doktor Gieseke, Christians Schulkamerad, und
23702
Konsul Peter Döhlmann, der übrigens schlecht aussah, weil er sich durch
23703
maßlosen Gebrauch von Hunyadi-Janos-Wasser verdarb. Dann setzten sich
23704
die Herren in ihren Paletots unter das Zeltdach der Konditorei,
23705
gegenüber dem Musiktempel, in dem nicht mehr musiziert wurde, tranken
23706
ihren Kaffee und verdauten ihre fünf Gänge, indem sie in den
23707
herbstlichen Kurgarten hinausblickten und plauderten ...
23709
Die Ereignisse der Stadt, das letzte Hochwasser, das in viele Keller
23710
gedrungen, und bei dem man in den unteren Gruben mit Booten gefahren
23711
war, eine Feuersbrunst, ein Schuppenbrand am Hafen, eine Senatswahl
23712
wurden besprochen ... Alfred Lauritzen, in Firma Stürmann & Lauritzen,
23713
Kolonialwaren _en gros & en détail_, war vorige Woche gewählt worden,
23714
und Senator Buddenbrook war nicht einverstanden damit. Er saß in seinen
23715
Kragenmantel gehüllt, rauchte Zigaretten und warf nur an diesem Punkte
23716
des Gespräches ein paar Bemerkungen ein. Er habe Herrn Lauritzen seine
23717
Stimme nicht gegeben, sagte er, soviel sei sicher. Lauritzen sei ein
23718
ehrenfester Mensch und ein vortrefflicher Kaufmann, ohne Frage; aber er
23719
sei Mittelstand, guter Mittelstand, sein Vater habe noch eigenhändig den
23720
Dienstmädchen die sauren Heringe aus der Tonne geholt und eingewickelt
23721
... und jetzt habe man den Inhaber eines Detailgeschäftes im Senate.
23722
Sein, Thomas Buddenbrooks, Großvater habe sich mit seinem ältesten Sohne
23723
überworfen, weil dieser einen Laden erheiratet habe; so seien die Dinge
23724
damals gewesen. »Aber das Niveau sinkt, ja, das gesellschaftliche
23725
Niveau des Senates ist im Sinken begriffen, der Senat wird
23726
demokratisiert, lieber Gieseke, und das ist nicht gut. Kaufmännische
23727
Tüchtigkeit tut es doch nicht so ganz, meiner Meinung nach sollte man
23728
nicht aufhören, ein wenig mehr zu verlangen. Alfred Lauritzen mit seinen
23729
großen Füßen und seinem Bootsmannsgesicht im Ratssaal zu denken,
23730
beleidigt mich ... ich weiß nicht, was in mir. Es ist gegen alles
23731
Stilgefühl, kurzum, eine Geschmacklosigkeit.«
23733
Aber Senator Gieseke war etwas pikiert. Schließlich war er auch nur der
23734
Sohn eines Branddirektors ... Nein, dem Verdienste seine Krone. Dafür
23735
sei man Republikaner. Ȇbrigens sollten Sie nicht so viele Zigaretten
23736
rauchen, Buddenbrook, Sie haben ja gar nichts von der Seeluft.«
23738
»Ja, nun höre ich auf«, sagte Thomas Buddenbrook, warf das Mundstück
23739
fort und schloß die Augen.
23741
Träge, während der Regen, der unausbleiblich wieder einsetzte, die
23742
Aussicht verschleierte, glitt das Gespräch dahin. Man kam auf den
23743
letzten Skandal der Stadt, eine Wechselfälschung, auf Großkaufmann
23744
Kaßbaum, P. Philipp Kaßbaum & Co., der nun hinter Schloß und Riegel saß.
23745
Man ereiferte sich durchaus nicht; man nannte Herrn Kaßbaums Tat eine
23746
Dummheit, lachte kurz und zuckte die Achseln. Senator Doktor Gieseke
23747
erzählte, daß der Großkaufmann übrigens bei gutem Humor geblieben sei.
23748
An seinem neuen Aufenthaltsort habe er sogleich einen Toilette-Spiegel
23749
verlangt, der in seiner Zelle gefehlt habe. »Ich sitze hier ja nicht
23750
Jahre, sondern Jahren«, hatte er gesagt; »da muß ich doch einen Spiegel
23751
haben!« -- Er war, wie Christian Buddenbrook und Andreas Gieseke, ein
23752
Schüler des seligen Marcellus Stengel gewesen.
23754
Ohne die Miene zu verziehen, lachten die Herren wieder kurz durch die
23755
Nase. Sigismund Gosch bestellte Grog von Rum, mit einer Betonung, als
23756
wollte er ausdrücken: Was soll das schlechte Leben nützen?... Konsul
23757
Döhlmann sprach einer Flasche Aquavit zu, und Christian war wieder beim
23758
schwedischen Punsch angelangt, den Senator Gieseke für sich und ihn
23759
hatte kommen lassen. Es dauerte nicht lange, bis Thomas Buddenbrook
23760
wieder zu rauchen begann.
23762
Und immer in einem trägen, wegwerfenden und skeptisch fahrlässigen Ton,
23763
gleichgültig und schwer gesinnt vom Essen, vom Trinken und vom Regen,
23764
sprach man von Geschäften, den Geschäften jedes einzelnen; aber auch
23765
dies Thema belebte niemanden.
23767
»Ach, dabei ist nicht viel Freude«, sagte Thomas Buddenbrook mit
23768
schwerer Brust und legte angewidert den Kopf über die Stuhllehne zurück.
23770
»Nun, und Sie, Döhlmann?« erkundigte sich Senator Gieseke und gähnte ...
23771
»Sie haben sich gänzlich dem Aquavit ergeben, wie?«
23773
»Wovon soll der Schornstein rauchen«, sagte der Konsul. »Ich gucke alle
23774
paar Tage mal ins Kontor. Kurze Haare sind bald gekämmt.«
23776
»Und alles Wichtige haben ja doch Strunck & Hagenström in Händen«,
23777
bemerkte trübe der Makler Gosch, der seinen Ellenbogen weit vor sich hin
23778
auf den Tisch gestützt hatte und den bösartigen Greisenkopf in der Hand
23781
»Gegen einen Haufen Mist kann man nicht anstinken«, sagte Konsul
23782
Döhlmann mit einer so geflissentlich ordinären Aussprache, daß jedermann
23783
wie durch einen hoffnungslosen Zynismus trübe gestimmt werden mußte.
23784
»Na, und Sie, Buddenbrook, tun Sie noch was?«
23786
»Nein«, antwortete Christian; »ich kann es nun nicht mehr.« Und ohne
23787
Übergang, lediglich aus seinem Verständnis der herrschenden Stimmung
23788
heraus, und aus dem Bedürfnis, sie zu vertiefen, begann er plötzlich,
23789
den Hut schräg in die Stirn geschoben, von seinem Kontor in Valparaiso
23790
und von Johnny Thunderstorm zu sprechen ... »Ha, bei =der= Hitze. Du
23791
lieber Gott!... Arbeiten? _No, Sir_, wie Sie sehen, _Sir_!« Und dabei
23792
hatten sie dem Chef ihren Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen. Du
23793
lieber Gott!... Seine Mienen und Bewegungen drückten unübertrefflich
23794
eine zugleich frech herausfordernde und gutmütig verbummelte Trägheit
23795
aus. Sein Bruder rührte sich nicht.
23797
Herr Gosch versuchte, seinen Grog zum Munde zu führen, stellte ihn
23798
zischend auf den Tisch zurück und hieb sich selbst mit der Faust auf
23799
den widerspenstigen Arm, worauf er das Glas aufs neue an seine schmalen
23800
Lippen riß, mehreres verschüttete und den Rest in Wut auf einmal
23803
»Ach, Sie mit Ihrem Zittern, Gosch!« sagte Döhlmann. »Sie sollten sich's
23804
mal gehen lassen wie mir. Dies verfluchte Hunyadi-János ... Ich
23805
krepiere, wenn ich nicht täglich meinen Liter trinke, soweit bin ich,
23806
und wenn ich ihn trinke, so krepiere ich erst recht. Wissen Sie, wie es
23807
tut, wenn man niemals, nicht einen Tag, mit seinem Mittagessen fertig
23808
werden kann ... ich meine, wenn man es im Magen hat?...« Und er gab
23809
einige widerliche Einzelheiten seines Befindens zum besten, die
23810
Christian Buddenbrook mit schauerlichem Interesse und kraus gezogener
23811
Nase anhörte und mit einer kleinen eindringlichen Beschreibung seiner
23812
»Qual« beantwortete.
23814
Der Regen hatte sich wieder verstärkt. Dicht und senkrecht ging er
23815
hernieder, und sein Rauschen erfüllte unabänderlich, öde und
23816
hoffnungslos die Stille des Kurgartens.
23818
»Ja, das Leben ist faul«, sagte Senator Gieseke, der sehr viel getrunken
23821
»Ich mag gar nicht mehr auf der Welt sein«, sagte Christian.
23823
»Laß fahren dahin!« sagte Herr Gosch.
23825
»Da kommt Fiken Dahlbeck«, sagte Senator Gieseke.
23827
Dies war die Besitzerin des Kuhstalles, die mit einem Milcheimer
23828
vorüberging und den Herren zulächelte. Sie war an die vierzig, korpulent
23831
Senator Gieseke sah sie mit verwilderten Augen an.
23833
»Was für ein Busen!« sagte er; und hieran knüpfte Konsul Döhlmann einen
23834
übermäßig unflätigen Witz, der nur bewirkte, daß die Herren wieder kurz
23835
und wegwerfend durch die Nase lachten.
23837
Dann ward der aufwartende Kellner herangerufen.
23839
»Ich bin mit der Flasche fertig geworden, Schröder«, sagte Döhlmann.
23840
»Wir können auch ebensogut mal bezahlen. Einmal muß es ja sein ... Und
23841
Sie, Christian? Na, für Sie zahlt wohl Gieseke.«
23843
Hier aber belebte sich Senator Buddenbrook. Er hatte, in seinen
23844
Kragenmantel gehüllt, die Hände im Schoße und die Zigarette im
23845
Mundwinkel, fast ohne Teilnahme dagesessen; plötzlich aber richtete er
23846
sich auf und sagte scharf: »Hast du kein Geld bei dir, Christian? Dann
23847
erlaubst du, daß =ich= die Kleinigkeit auslege.«
23849
Man spannte die Regenschirme auf und trat unter dem Zeltdach hervor, um
23850
ein bißchen zu promenieren ...
23852
-- Hie und da besuchte Frau Permaneder ihren Bruder. Dann gingen die
23853
beiden zum »Mövenstein« oder zum »Seetempel« spazieren, wobei Tony
23854
Buddenbrook aus unbekannten Gründen jedesmal in eine begeisterte und
23855
unbestimmt aufrührerische Stimmung geriet. Sie betonte wiederholt die
23856
Freiheit und Gleichheit aller Menschen, verwarf kurzerhand jede
23857
Rangordnung der Stände, ließ harte Worte gegen Privilegien und Willkür
23858
fallen und verlangte ausdrücklich, daß dem Verdienste seine Krone werde.
23859
Und dann kam sie auf ihr Leben zu sprechen. Sie sprach gut, sie
23860
unterhielt ihren Bruder aufs beste. Dieses glückliche Geschöpf hatte,
23861
solange sie auf Erden wandelte, nichts, nicht das geringste
23862
hinunterzuschlucken und stumm zu verwinden gebraucht. Auf keine
23863
Schmeichelei und keine Beleidigung, die ihr das Leben gesagt, hatte sie
23864
geschwiegen. Alles, jedes Glück und jeden Kummer, hatte sie in einer
23865
Flut von banalen und kindisch wichtigen Worten, die ihrem
23866
Mitteilungsbedürfnis vollkommen genügten, wieder von sich gegeben. Ihr
23867
Magen war nicht ganz gesund, aber ihr Herz war leicht und frei -- sie
23868
wußte selbst nicht, wie sehr. Nichts Unausgesprochenes zehrte an ihr;
23869
kein stummes Erlebnis belastete sie. Und darum hatte sie auch gar nichts
23870
an ihrer Vergangenheit zu tragen. Sie wußte, daß sie bewegte und arge
23871
Schicksale gehabt, aber all das hatte ihr keinerlei Schwere und
23872
Müdigkeit hinterlassen, und im Grunde glaubte sie gar nicht daran.
23873
Allein, da es allseitig anerkannte Tatsache schien, so nutzte sie es
23874
aus, indem sie damit prahlte und mit gewaltig ernsthafter Miene darüber
23875
redete ... Sie geriet ins Schelten, sie rief voll ehrlicher Entrüstung
23876
die Personen bei Namen, die ihr Leben -- und folglich das der Familie
23877
Buddenbrook -- schädlich beeinflußt hatten und deren Zahl mit der Zeit
23878
recht stattlich geworden war. »Tränen-Trieschke!« rief sie. »Grünlich!
23879
Permaneder! Tiburtius! Weinschenk! Hagenströms! Der Staatsanwalt! Die
23880
Severin! Was für Filous, Thomas, Gott wird sie strafen dereinst, =den=
23881
Glauben bewahre ich mir!«
23883
Als sie hinauf zum »Seetempel« kamen, brach schon die Dämmerung herein;
23884
der Herbst war vorgeschritten. Sie standen in einer der nach der Bucht
23885
zu sich öffnenden Kammern, in denen es nach Holz roch, wie in den
23886
Kabinen der Badeanstalt, und deren roh gezimmerte Wände mit Inschriften,
23887
Initialen, Herzen, Versen bedeckt waren. Nebeneinander blickten sie über
23888
den feuchtgrünen Abhang und den schmalen, steinigen Strandstreifen
23889
hinweg auf die trübbewegte See hinaus.
23891
»Breite Wellen ...«, sagte Thomas Buddenbrook. »Wie sie daherkommen und
23892
zerschellen, daherkommen und zerschellen, eine nach der anderen, endlos,
23893
zwecklos, öde und irr. Und doch wirkt es beruhigend und tröstlich, wie
23894
das Einfache und Notwendige. Mehr und mehr habe ich die See lieben
23895
gelernt ... vielleicht zog ich ehemals das Gebirge nur vor, weil es in
23896
weiterer Ferne lag. Jetzt möchte ich nicht mehr dorthin. Ich glaube, daß
23897
ich mich fürchten und schämen würde. Es ist zu willkürlich, zu
23898
unregelmäßig, zu vielfach ... sicher, ich würde mich allzu unterlegen
23899
fühlen. Was für Menschen es wohl sind, die der Monotonie des Meeres den
23900
Vorzug geben? Mir scheint, es sind solche, die zu lange und tief in die
23901
Verwicklungen der innerlichen Dinge hineingesehen haben, um nicht
23902
wenigstens von den äußeren vor allem eins verlangen zu müssen:
23903
Einfachheit ... Es ist das wenigste, daß man tapfer umhersteigt im
23904
Gebirge, während man am Meere still im Sande ruht. Aber ich kenne den
23905
Blick, mit dem man dem einen, und jenen, mit dem man dem andern huldigt.
23906
Sichere, trotzige, glückliche Augen, die voll sind von Unternehmungslust,
23907
Festigkeit und Lebensmut, schweifen von Gipfel zu Gipfel; aber auf der
23908
Weite des Meeres, das mit diesem mystischen und lähmenden Fatalismus
23909
seine Wogen heranwälzt, träumt ein verschleierter, hoffnungsloser und
23910
wissender Blick, der irgendwo einstmals tief in traurige Wirrnisse sah
23911
... Gesundheit und Krankheit, das ist der Unterschied. Man klettert keck
23912
in die wundervolle Vielfachheit der zackigen, ragenden, zerklüfteten
23913
Erscheinungen hinein, um seine Lebenskraft zu erproben, von der noch
23914
nichts verausgabt wurde. Aber man ruht an der weiten Einfachheit der
23915
äußeren Dinge, müde wie man ist von der Wirrnis der inneren.«
23917
Frau Permaneder verstummte so eingeschüchtert und unangenehm berührt,
23918
wie harmlose Leute verstummen, wenn in Gesellschaft plötzlich etwas
23919
Gutes und Ernstes ausgesprochen wird. Dergleichen sagt man doch nicht!
23920
dachte sie, indem sie fest ins Weite sah, um seinen Augen nicht zu
23921
begegnen. Und um ihm in der Stille abzubitten, daß sie sich für ihn
23922
schämte, zog sie seinen Arm in den ihrigen.
23927
Es war Winter geworden, Weihnacht war vorüber, man schrieb Januar,
23928
Januar 1875. Der Schnee, der die Bürgersteige als eine festgetretene,
23929
mit Sand und Asche untermischte Masse bedeckte, lagerte zu beiden Seiten
23930
der Fahrdämme in hohen Haufen, die beständig grauer, zerklüfteter und
23931
poröser wurden, denn es waren Wärmegrade in der Luft. Das Pflaster war
23932
naß und schmutzig, und von den grauen Giebeln troff es. Aber darüber
23933
spannte sich der Himmel zartblau und makellos, und Milliarden von
23934
Lichtatomen schienen wie Kristalle in dem Azur zu flimmern und zu
23937
Im Zentrum der Stadt war es lebendig, denn es war Sonnabend und
23938
Markttag. Unter den Spitzbogen der Rathaus-Arkaden hatten die Fleischer
23939
ihre Stände und wogen mit blutigen Händen ihre Ware ab. Auf dem
23940
Marktplatze selbst aber, um den Brunnen herum, war Fischmarkt. Dort
23941
saßen, die Hände in halb enthaarten Pelzmüffen und die Füße an
23942
Kohlenbecken wärmend, beleibte Weiber, die ihre naßkalten Gefangenen
23943
hüteten und die umherwandernden Köchinnen und Hausfrauen mit breiten
23944
Worten zum Kaufe einluden. Es war keine Gefahr, betrogen zu werden. Man
23945
konnte sicher sein, etwas Frisches zu erhandeln, denn die Fische lebten
23946
fast alle noch, die fetten, muskulösen Fische ... Einige hatten es gut.
23947
Sie schwammen, in einiger Enge zwar, aber doch guten Mutes, in
23948
Wassereimern umher und hatten nichts auszustehen. Andere aber lagen mit
23949
fürchterlich glotzenden Augen und arbeitenden Kiemen, zählebig und
23950
qualvoll auf ihrem Brett und schlugen hart und verzweifelt mit dem
23951
Schwanze, bis man sie endlich packte und ein spitzes, blutiges Messer
23952
ihnen mit Knirschen die Kehle zerschnitt. Lange und dicke Aale wanden
23953
und schlängelten sich zu abenteuerlichen Figuren. In tiefen Bütten
23954
wimmelte es schwärzlich von Ostseekrabben. Manchmal zog ein starker Butt
23955
sich krampfhaft zusammen und schnellte sich in seiner tollen Angst weit
23956
vom Brette fort auf das schlüpfrige, von Abfällen verunreinigte
23957
Pflaster, so daß seine Besitzerin ihm nachlaufen und ihn unter harten
23958
Worten der Mißbilligung seiner Pflicht wieder zuführen mußte ...
23960
In der Breiten Straße herrschte um Mittag reger Verkehr. Schulkinder,
23961
die Ränzel auf dem Rücken, kamen daher, erfüllten die Luft mit Lachen
23962
und Geplapper und warfen einander mit dem halb zertauten Schnee. Junge
23963
Kaufmannslehrlinge aus guter Familie, mit dänischen Schiffermützen oder
23964
elegant nach englischer Mode gekleidet, Portefeuilles in den Händen,
23965
gingen nicht ohne Würde vorüber, stolz, dem Realgymnasium entronnen zu
23966
sein. Gesetzte, graubärtige und höchlichst verdiente Bürger stießen mit
23967
dem Gesichtsausdruck unerschütterlich nationalliberaler Gesinnung ihre
23968
Spazierstöcke vor sich her und blickten aufmerksam zu der
23969
Glasurziegelfassade des Rathauses hinüber, an dessen Portal die
23970
Doppelwache aufgezogen war. Denn der Senat war versammelt. Die beiden
23971
Infanteristen schritten in ihren Mänteln, das Gewehr auf der Schulter,
23972
die ihnen zugemessene Strecke ab, indem sie kaltblütig durch die kotige
23973
und halbflüssige Schneemasse am Boden stampften. Sie begegneten sich in
23974
der Mitte vorm Eingang, sahen sich an, wechselten ein Wort und gingen
23975
nach beiden Seiten wieder auseinander. Manchmal, wenn mit
23976
emporgeklapptem Paletotkragen und beide Hände in den Taschen, ein
23977
Offizier sich näherte, der den Spuren irgendeines Mamsellchens folgte
23978
und sich gleichzeitig von den jungen Damen aus großem Hause bewundern
23979
ließ, stellte sich jeder vor sein Schilderhaus, besah sich selbst von
23980
oben bis unten und präsentierte ... Es hatte noch gute Weile, bis sie
23981
den Senatoren beim Herauskommen zu salutieren haben würden. Die Sitzung
23982
dauerte erst drei Viertelstunden. Sie würden wohl vorher noch abgelöst
23985
Da aber, plötzlich, vernahm der eine der beiden Soldaten ein kurzes,
23986
diskretes Zischen im Innern des Gebäudes, und im selben Augenblick
23987
leuchtete im Portal der rote Frack des Ratsdieners Uhlefeldt auf,
23988
welcher mit Dreispitz und Galanteriedegen, in äußerster Geschäftigkeit
23989
zum Vorschein kam, ein leises »Achtung!« hervorstieß und sich eilfertig
23990
wieder zurückzog, während drinnen auf den hallenden Fliesen schon
23991
nahende Schritte sich hören ließen ...
23993
Die Infanteristen machten Front, sie zogen die Absätze zusammen,
23994
steiften das Genick, blähten die Brust, setzten das Gewehr bei Fuß und
23995
präsentierten es mit ein paar prompt zusammenklappenden Griffen.
23996
Zwischen ihnen hindurch schritt ziemlich geschwind, mit gelüftetem
23997
Zylinder, ein kaum mittelgroßer Herr, der eine seiner hellen Brauen ein
23998
wenig emporgezogen hielt, und dessen weißliche Wangen von den lang
23999
ausgezogenen Schnurrbartspitzen überragt wurden. Senator Thomas
24000
Buddenbrook verließ heute lange vor Schluß der Sitzung das Rathaus.
24002
Er bog rechts ab und schlug also nicht den Weg zu seinem Hause ein.
24003
Korrekt, tadellos sauber und elegant ging er mit dem etwas hüpfenden
24004
Schritte, der ihm eigen war, die Breite Straße entlang, indem er
24005
beständig nach allen Seiten zu grüßen hatte. Er trug weiße
24006
Glacéhandschuhe und hielt seinen Stock mit silberner Krücke unter dem
24007
linken Arm. Hinter den dicken Revers seines Pelzes sah man die weiße
24008
Frackkrawatte. Aber sein sorgfältig hergerichteter Kopf sah übernächtig
24009
aus. Verschiedene Leute bemerkten im Vorübergehen, daß ihm plötzlich die
24010
Tränen in die geröteten Augen stiegen, und daß er die Lippen auf eine
24011
ganz sonderbare, behutsame und verzerrte Weise geschlossen hielt.
24012
Manchmal schluckte er hinunter, als habe sein Mund sich mit Flüssigkeit
24013
gefüllt; und dann konnte man an den Bewegungen der Muskeln an Wangen und
24014
Schläfen beobachten, daß er die Kiefer zusammenbiß.
24016
»Was nun, Buddenbrook, du schwänzst die Sitzung? Das ist mal was Neues!«
24017
sagte am Anfang der Mühlenstraße jemand zu ihm, den er nicht hatte
24018
kommen sehen. Es war Stephan Kistenmaker, der plötzlich vor ihm stand,
24019
sein Freund und Bewunderer, der sich in öffentlichen Fragen jede seiner
24020
Meinungen zu eigen machte. Er besaß einen rundgeschnittenen,
24021
ergrauenden Vollbart, furchtbar dicke Augenbrauen und eine lange, poröse
24022
Nase. Vor ein paar Jahren hatte er sich, nachdem er ein gutes Stück Geld
24023
verdient, von dem Weingeschäft zurückgezogen, das nun sein Bruder Eduard
24024
auf eigene Hand weiterführte. Seitdem lebte er als Privatier; da er sich
24025
dieses Standes im Grunde aber ein wenig schämte, so tat er beständig,
24026
als habe er unüberwindlich viel zu tun. »Ich reibe mich auf!« sagte er
24027
und strich mit der Hand über seinen grauen, mit der Brennschere
24028
gewellten Scheitel. »Aber wozu ist der Mensch auf der Welt, als um sich
24029
aufzureiben?« Stundenlang stand er mit wichtigen Gebärden an der Börse,
24030
ohne dort das geringste zu suchen zu haben. Er bekleidete eine Menge von
24031
gleichgültigen Ämtern. Kürzlich hatte er sich zum Direktor der
24032
Städtischen Badeanstalt gemacht. Er fungierte emsig als Geschworener,
24033
als Makler, als Testamentsvollstrecker und wischte sich den Schweiß von
24036
»Es ist doch Sitzung, Buddenbrook«, wiederholte er, »und du gehst
24039
»Ach, du bist es«, sagte der Senator leise und mit widerwillig sich
24040
bewegenden Lippen ... »Ich kann minutenlang nichts sehen. Ich habe
24041
wahnsinnige Schmerzen.«
24045
»Zahnschmerzen. Seit gestern schon. Ich habe in der Nacht kein Auge
24046
zugetan ... Ich war noch nicht beim Arzt, weil ich heute vormittag im
24047
Geschäft zu tun hatte und dann die Sitzung nicht versäumen wollte. Nun
24048
konnte ich es doch nicht aushalten und bin auf dem Wege zu Brecht ...«
24050
»Wo sitzt es denn?«
24052
»Hier unten links ... Ein Backenzahn ... Er ist natürlich hohl ... Es
24053
ist unerträglich ... Adieu, Kistenmaker! Du begreifst, daß ich Eile
24056
»Ja, meinst du, daß ich =keine= habe? Fürchterlich viel zu tun ...
24057
Adieu! Gute Besserung übrigens! Laß ihn ausziehen! Immer gleich raus
24058
damit, das ist das beste ...«
24060
Thomas Buddenbrook ging weiter und biß die Kiefer zusammen, obgleich
24061
dies die Sache nur verschlimmerte. Es war ein wilder, brennender und
24062
bohrender Schmerz, eine boshafte Pein, die sich von einem kranken
24063
Backenzahn aus der ganzen linken Seite des Unterkiefers bemächtigt
24064
hatte. Die Entzündung pochte darin mit glühenden Hämmerchen und machte,
24065
daß ihm die Fieberhitze ins Gesicht und die Tränen in die Augen
24066
schossen. Die schlaflose Nacht hatte seine Nerven schrecklich
24067
angegriffen. Er hatte sich eben beim Sprechen zusammennehmen müssen,
24068
damit seine Stimme sich nicht breche.
24070
In der Mühlenstraße betrat er ein mit gelbbrauner Ölfarbe gestrichenes
24071
Haus und stieg zum ersten Stockwerk empor, woselbst an der Tür auf einem
24072
Messingschild »Zahnarzt Brecht« zu lesen war. Er sah das Dienstmädchen
24073
nicht, das ihm öffnete. Auf dem Korridor roch es warm nach Beefsteak und
24074
Blumenkohl. Dann plötzlich atmete er die scharfriechende Luft des
24075
Wartezimmers, in das man ihn nötigte. »Nehmen Sie Platz ... einen
24076
Momang!« schrie die Stimme eines alten Weibes. Es war Josephus, der im
24077
Hintergrunde des Raumes in seinem blanken Bauer saß und ihm mit kleinen,
24078
giftigen Augen schief und tückisch entgegenstarrte.
24080
Der Senator setzte sich an den runden Tisch und versuchte, die Witze in
24081
einem Band »Fliegender Blätter« auf sich wirken zu lassen, schlug dann
24082
aber das Buch mit Ekel zu, drückte das kühle Silber seiner Stockkrücke
24083
gegen die Wange, schloß seine brennenden Augen und stöhnte. Rings war
24084
alles still, und nur Josephus biß mit Knacken und Knirschen in das ihn
24085
umgebende Gitter. Herr Brecht war es sich schuldig, auch wenn er
24086
unbeschäftigt war, eine Weile warten zu lassen.
24088
Thomas Buddenbrook stand hastig auf und trank an einem Tischchen aus
24089
einer dort aufgestellten Karaffe ein Glas Wasser, das nach Chloroform
24090
roch und schmeckte. Dann öffnete er die Tür zum Korridor und rief mit
24091
gereizter Betonung hinaus, wenn nicht dringende Abhaltung vorhanden sei,
24092
möge Herr Brecht die Güte haben, sich ein wenig zu beeilen. Er habe
24095
Gleich darauf erschien der graumelierte Schnurrbart, die Hakennase und
24096
die kahle Stirn des Zahnarztes in der Tür zum Operationszimmer. »Bitte«,
24097
sagte er. »Bitte!« schrie auch Josephus. Der Senator folgte der
24098
Einladung ohne zu lachen. Ein schwerer Fall! dachte Herr Brecht und
24101
Sie gingen beide rasch durch das helle Zimmer zu dem großen,
24102
verstellbaren Stuhl mit Kopfpolster und grünplüschenen Armlehnen, der
24103
vor einem der beiden Fenster stand. Während er sich niederließ, erklärte
24104
Thomas Buddenbrook kurz, um was es sich handele, legte den Kopf zurück
24105
und schloß die Augen.
24107
Herr Brecht schrob ein wenig an dem Stuhle und machte sich dann mit
24108
einem Spiegelchen und einem Stahlstäbchen an dem Zahne zu schaffen.
24109
Seine Hand roch nach Mandelseife, sein Atem nach Beefsteak und
24112
»Wir müssen zur Extraktion schreiten«, sagte er nach einer Weile und
24115
»Schreiten Sie nur«, sagte der Senator und schloß die Lider noch fester.
24117
Nun trat eine Pause ein. Herr Brecht präparierte an einem Schranke
24118
irgend etwas und suchte Instrumente hervor. Dann näherte er sich dem
24119
Patienten aufs neue.
24121
»Ich werde ein bißchen pinseln«, sagte er. Und sogleich begann er,
24122
diesen Entschluß zur Tat zu machen, indem er das Zahnfleisch ausgiebig
24123
mit einer scharf riechenden Flüssigkeit bestrich. Hierauf bat er leise
24124
und herzlich, stille zu halten und den Mund sehr weit zu öffnen, und
24127
Thomas Buddenbrook hielt mit beiden Händen die Sammetarmpolster fest
24128
erfaßt. Er empfand kaum das Ansetzen und Zugreifen der Zange, bemerkte
24129
dann aber an dem Knirschen in seinem Munde sowie an dem wachsenden,
24130
immer schmerzhafter und wütender werdenden Druck, dem sein ganzer Kopf
24131
ausgesetzt war, daß alles auf dem besten Wege sei. Gott befohlen! dachte
24132
er. Nun muß es seinen Gang gehen. Dies wächst und wächst bis ins Maßlose
24133
und Unerträgliche, bis zur eigentlichen Katastrophe, bis zu einem
24134
wahnsinnigen, kreischenden, unmenschlichen Schmerz, der das ganze Gehirn
24135
zerreißt ... Dann ist es überstanden; ich muß es nun abwarten.
24137
Es dauerte drei oder vier Sekunden. Herrn Brechts bebende
24138
Kraftanstrengung teilte sich Thomas Buddenbrooks ganzem Körper mit, er
24139
wurde ein wenig auf seinem Sitze emporgezogen und hörte ein leise
24140
piependes Geräusch in der Kehle des Zahnarztes ... Plötzlich gab es
24141
einen furchtbaren Stoß, eine Erschütterung, als würde ihm das Genick
24142
gebrochen, begleitet von einem kurzen Knacken und Krachen. Er öffnete
24143
hastig die Augen ... Der Druck war fort, aber sein Kopf dröhnte, der
24144
Schmerz tobte heiß in dem entzündeten und mißhandelten Kiefer, und er
24145
fühlte deutlich, daß dies nicht das Bezweckte, nicht die wahre Lösung
24146
der Frage, sondern eine verfrühte Katastrophe sei, die die Sachlage nur
24147
verschlimmerte ... Herr Brecht war zurückgetreten. Er lehnte am
24148
Instrumentenschrank, sah aus wie der Tod und sagte: »Die Krone ... Ich
24151
Thomas Buddenbrook spie ein wenig Blut in die blaue Schale zu seiner
24152
Seite, denn das Zahnfleisch war verletzt. Dann fragte er halb bewußtlos:
24153
»Was dachten Sie sich? Was ist mit der Krone?«
24155
»Die Krone ist abgebrochen, Herr Senator ... Ich fürchtete es ... Der
24156
Zahn ist außerordentlich defekt ... Aber es war meine Pflicht, das
24157
Experiment zu wagen ...«
24161
»Überlassen Sie alles mir, Herr Senator ...«
24163
»Was muß geschehen?«
24165
»Die Wurzeln müssen entfernt werden. Vermittels des Hebels ... Es sind
24166
vier an der Zahl ...«
24168
»Vier? Also ist viermaliges Ansetzen und Ziehen nötig?«
24172
»Nun, für heute ist es genug!« sagte der Senator und wollte sich rasch
24173
erheben, blieb aber trotzdem sitzen und legte den Kopf zurück.
24175
»Lieber Herr, Sie dürfen nur Menschliches verlangen«, sagte er. »Ich
24176
stehe nicht auf den festesten Füßen ... Für diesmal bin ich jedenfalls
24177
fertig ... Wollen Sie die Güte haben, das Fenster da einen Augenblick zu
24180
Dies tat Herr Brecht und dann erwiderte er: »Es wäre mir vollkommen
24181
lieb, Herr Senator, wenn Sie morgen oder übermorgen zu einer beliebigen
24182
Stunde wieder vorsprechen möchten und wir die Operation bis dahin
24183
verschöben. Ich muß gestehen, ich selbst ... Ich werde mir jetzt
24184
erlauben, noch eine Spülung und eine Pinselung vorzunehmen, um den
24185
Schmerz vorläufig zu lindern ...«
24187
Er nahm die Spülung und die Pinselung vor, und dann ging der Senator,
24188
begleitet von dem bedauernden Achselzucken, an das der schneebleiche
24189
Herr Brecht seine letzten Kräfte verausgabte.
24191
»Einen Momang ... bitte!« schrie Josephus, als sie das Wartezimmer
24192
passierten, und er schrie es noch, als Thomas Buddenbrook schon die
24193
Treppe hinunterstieg.
24195
Vermittels des Hebels ... ja, ja, das war morgen. Was nun? Nach Hause
24196
und ruhen, zu schlafen versuchen. Der eigentliche Nervenschmerz schien
24197
betäubt; es war nur ein dunkles, schweres Brennen in seinem Munde. Nach
24198
Hause also ... Und er ging langsam durch die Straßen, mechanisch Grüße
24199
erwidernd, die ihm dargebracht wurden, mit sinnenden und ungewissen
24200
Augen, als dächte er darüber nach, wie ihm eigentlich zumute sei.
24202
Er gelangte zur Fischergrube und begann das linke Trottoir
24203
hinunterzugehen. Nach zwanzig Schritten befiel ihn eine Übelkeit. Ich
24204
werde dort drüben in die Schänke treten und einen Kognak trinken müssen,
24205
dachte er, und beschritt den Fahrdamm. Als er etwa die Mitte desselben
24206
erreicht hatte, geschah ihm folgendes. Es war genau, als würde sein
24207
Gehirn ergriffen und von einer unwiderstehlichen Kraft mit wachsender,
24208
fürchterlich wachsender Geschwindigkeit in großen, kleineren und immer
24209
kleineren konzentrischen Kreisen herumgeschwungen und schließlich mit
24210
einer unmäßigen, brutalen und erbarmungslosen Wucht gegen den
24211
steinharten Mittelpunkt dieser Kreise geschmettert ... Er vollführte
24212
eine halbe Drehung und schlug mit ausgestreckten Armen vornüber auf das
24215
Da die Straße stark abfiel, befand sich sein Oberkörper ziemlich viel
24216
tiefer als seine Füße. Er war aufs Gesicht gefallen, unter dem sofort
24217
eine Blutlache sich auszubreiten begann. Sein Hut rollte ein Stück des
24218
Fahrdammes hinunter. Sein Pelz war mit Kot und Schneewasser bespritzt.
24219
Seine Hände, in den weißen Glacéhandschuhen, lagen ausgestreckt in einer
24222
So lag er und so blieb er liegen, bis ein paar Leute herangekommen waren
24228
Frau Permaneder kam die Haupttreppe herauf, indem sie vorn mit der Hand
24229
ihr Kleid emporraffte und mit der anderen die große, braune Muff gegen
24230
ihre Wange drückte. Sie stürzte und stolperte mehr als daß sie ging, ihr
24231
Kapotthut war unordentlich aufgesetzt, ihre Wangen waren hitzig, und auf
24232
ihrer ein wenig vorgeschobenen Oberlippe standen kleine Schweißtropfen.
24233
Obgleich ihr niemand begegnete, sprach sie unaufhörlich im
24234
Vorwärtshasten, und aus ihrem Flüstern löste sich dann und wann mit
24235
plötzlichem Vorstoße ein Wort los, dem die Angst lauten Ton verlieh ...
24236
»Es ist nichts ...« sagte sie. »Es hat gar nichts zu bedeuten ... Der
24237
liebe Gott wird das nicht wollen ... Er weiß, was er tut; =den= Glauben
24238
bewahre ich mir ... Es hat ganz sicherlich nichts zu sagen ... Ach, du
24239
Herr, tagtäglich will ich beten ...« Sie plapperte einfach Unsinn vor
24240
Angst, stürzte die Treppe zur zweiten Etage hinauf und über den
24243
Die Tür zum Vorzimmer stand offen, und dort kam ihre Schwägerin ihr
24246
Gerda Buddenbrooks schönes, weißes Gesicht war in Grauen und Ekel ganz
24247
und gar verzogen, und ihre nahe beieinanderliegenden, braunen, von
24248
bläulichen Schatten umlagerten Augen blickten blinzelnd, zornig,
24249
verstört und angewidert. Als sie Frau Permaneder erkannte, winkte sie
24250
ihr rasch mit ausgestrecktem Arme und umarmte sie, indem sie den Kopf an
24251
ihrer Schulter verbarg.
24253
»Gerda, Gerda, was ist!« rief Frau Permaneder. »Was ist geschehen!...
24254
Was bedeutet dies!... Gestürzt, sagen sie? Bewußtlos?... Wie ist es mit
24255
ihm?... Der liebe Gott wird das Schlimmste nicht wollen ... Sage mir
24256
doch um aller Barmherzigkeit willen ...«
24258
Aber sie erhielt nicht sogleich eine Antwort, sondern fühlte nur, wie
24259
Gerdas ganze Gestalt sich in einem Schauer dehnte. Und dann vernahm sie
24260
an ihrer Schulter ein Flüstern ...
24262
»Wie er aussah«, verstand sie, »als sie ihn brachten! Sein ganzes Leben
24263
lang hat man nicht ein Staubfäserchen an ihm sehen dürfen ... Es ist ein
24264
Hohn und eine Niedertracht, daß das Letzte =so= kommen muß ...!«
24266
Gedämpftes Geräusch drang zu ihnen. Die Tür zum Ankleidekabinett hatte
24267
sich geöffnet, und Ida Jungmann stand in ihrem Rahmen, in weißer
24268
Schürze, eine Schüssel in den Händen. Ihre Augen waren gerötet. Sie
24269
erblickte Frau Permaneder und trat mit gesenktem Kopfe zurück, um den
24270
Weg freizugeben. Ihr Kinn zitterte in Falten.
24272
Die hohen, geblümten Fenstervorhänge bewegten sich im Luftzuge, als
24273
Tony, gefolgt von ihrer Schwägerin, ins Schlafzimmer trat. Der Geruch
24274
von Karbol, Äther und anderen Medikamenten wehte ihnen entgegen. In dem
24275
breiten Mahagonibett, unter der roten Steppdecke lag Thomas Buddenbrook
24276
ausgekleidet und im gestickten Nachthemd auf dem Rücken. Seine halb
24277
offenen Augen waren gebrochen und verdreht, unter dem zerzausten
24278
Schnurrbart bewegten seine Lippen sich lallend, und gurgelnde Laute
24279
drangen dann und wann aus seiner Kehle. Der junge Doktor Langhals beugte
24280
sich über ihn, nahm einen blutigen Verband von seinem Gesicht und
24281
tauchte einen neuen in ein Schälchen, das auf dem Nachttische stand.
24282
Dann horchte er an der Brust des Kranken und fühlte den Puls ... Auf dem
24283
Wäschepuff, zu Füßen des Bettes, saß der kleine Johann, drehte an seinem
24284
Schifferknoten und horchte mit grüblerischem Gesichtsausdruck hinter
24285
sich auf die Laute, die sein Vater ausstieß. Die besudelten
24286
Kleidungsstücke hingen irgendwo über einem Stuhle.
24288
Frau Permaneder kauerte sich zur Seite des Bettes nieder, ergriff die
24289
Hand ihres Bruders, die kalt und schwer war, und starrte in sein Gesicht
24290
... Sie begann zu begreifen, daß, wußte der liebe Gott nun, was er tat,
24291
oder nicht, er jedenfalls dennoch »das Schlimmste« wollte.
24293
»Tom!« jammerte sie. »Erkennst du mich nicht? Wie ist dir? Willst du von
24294
uns gehen? Du willst doch nicht von uns gehen?! Ach, es =darf= nicht
24297
Nichts erfolgte, was einer Antwort ähnlich gewesen wäre. Sie blickte
24298
hilfesuchend zu Doktor Langhals auf. Er stand da, hielt seine schönen
24299
Augen gesenkt und drückte in seiner Miene, nicht ohne einige
24300
Selbstgefälligkeit, den Willen des lieben Gottes aus ...
24302
Ida Jungmann kam wieder herein, um zu helfen, wo es zu helfen gab. Der
24303
alte Doktor Grabow erschien persönlich, drückte mit langem und mildem
24304
Gesichte allen die Hand, betrachtete kopfschüttelnd den Kranken und tat
24305
genau, was auch Doktor Langhals schon getan hatte ... Die Kunde hatte
24306
sich mit Windeseile in der ganzen Stadt verbreitet. Beständig schellte
24307
es drunten am Windfang, und Fragen nach dem Befinden des Senators
24308
drangen ins Schlafzimmer. Es war unverändert, unverändert ... jeder
24309
bekam die gleiche Antwort.
24311
Die beiden Ärzte hielten dafür, daß auf jeden Fall für die Nacht eine
24312
barmherzige Schwester herbeigeschafft werden müsse. Es wurde nach
24313
Schwester Leandra geschickt, und sie kam. Es war keine Spur von
24314
Überraschung und Schrecken in ihrem Gesicht, als sie eintrat. Sie legte
24315
auch diesmal still ihr Ledertäschchen, ihre Haube und ihren Umhang
24316
beiseite und ging mit sanften und freundlichen Bewegungen an ihre
24319
Der kleine Johann saß Stunde für Stunde auf seinem Puff, sah alles an
24320
und horchte auf die gurgelnden Laute. Er hätte sich eigentlich zum
24321
Privatunterricht im Rechnen begeben müssen, aber er begriff, daß dies
24322
Ereignisse waren, vor denen die Kammgarnröcke verstummen mußten. Auch
24323
seiner Schulaufgaben gedachte er nur kurz und mit Spott ... Manchmal,
24324
wenn Frau Permaneder zu ihm trat und ihn an sich preßte, vergoß er
24325
Tränen; aber meistens blinzelte er trockenen Auges mit einem
24326
abgestoßenen und grüblerischen Gesichtsausdruck darein, unregelmäßig und
24327
vorsichtig atmend, als erwarte er den Duft, den fremden und doch so
24328
seltsam vertrauten Duft ...
24330
Gegen vier Uhr faßte Frau Permaneder einen Entschluß. Sie veranlaßte den
24331
Doktor Langhals, ihr ins Nebenzimmer zu folgen, verschränkte die Arme
24332
und legte den Kopf zurück, wobei sie trotzdem versuchte, das Kinn auf
24333
die Brust zu drücken.
24335
»Herr Doktor«, sagte sie, »eines steht in Ihrer Macht, und darum bitte
24336
ich Sie! Schenken Sie mir reinen Wein ein, tun Sie es! Ich bin eine vom
24337
Leben gestählte Frau ... Ich habe gelernt, die Wahrheit zu ertragen,
24338
glauben Sie mir!... Wird mein Bruder morgen am Leben sein? Reden Sie
24341
Und Doktor Langhals wandte seine schönen Augen ab, besah seine
24342
Fingernägel und sprach von menschlicher Ohnmacht, sowie von der
24343
Unmöglichkeit, die Frage zu entscheiden, ob Frau Permaneders Herr Bruder
24344
die Nacht überleben werde oder in der nächsten Minute abberufen werden
24347
»Dann weiß ich, was ich zu tun habe«, sagte sie, ging hinaus und
24348
schickte zu Pastor Pringsheim.
24350
In halbem Ornat, ohne Halskrause, aber in langem Talar, erschien er,
24351
streifte Schwester Leandra mit einem kalten Blick und ließ sich am Bette
24352
auf den Stuhl nieder, den man ihm zuschob. Er bat den Kranken, ihn zu
24353
erkennen und ihm ein wenig Gehör zu schenken; da dieser Versuch aber
24354
fruchtlos blieb, so wandte er sich direkt an Gott, redete ihn in
24355
stilisiertem Fränkisch an und sprach zu ihm mit modulierender Stimme in
24356
bald dunklen, bald jäh akzentuierten Lauten, indes finsterer Fanatismus
24357
und milde Verklärung auf seinem Gesichte wechselten ... Während er das R
24358
auf eine eigenartig fette und gewandte Art am Gaumen rollte, gewann der
24359
kleine Johann die deutliche Vorstellung, daß er soeben Kaffee und
24360
Buttersemmeln zu sich genommen haben müsse.
24362
Er sagte, daß er und die hier Anwesenden nicht mehr um das Leben dieses
24363
Lieben und Teuren bäten, denn sie sähen, daß es des Herrn heiliger Wille
24364
sei, ihn zu sich zu nehmen. Nur um die Gnade einer sanften Erlösung
24365
flehten sie noch ... Und dann sprach er mit wirksamer Pointierung noch
24366
zwei in solchen Fällen übliche Gebete und erhob sich. Er drückte Gerda
24367
Buddenbrooks und Frau Permaneders Hand, nahm den Kopf des kleinen Johann
24368
zwischen beide Hände und blickte ihm eine Minute lang zitternd vor
24369
Wehmut und Innigkeit auf die gesenkten Wimpern, grüßte Fräulein
24370
Jungmann, streifte Schwester Leandra nochmals mit einem kalten Blick und
24371
hielt seinen Abgang.
24373
Als Doktor Langhals zurückkehrte, der ein wenig nach Hause gegangen war,
24374
fand er alles beim alten. Er nahm nur eine kurze Rücksprache mit der
24375
Pflegerin und empfahl sich wieder. Auch Doktor Grabow sprach noch einmal
24376
vor, sah mit mildem Gesicht nach dem Rechten und ging. Thomas
24377
Buddenbrook fuhr fort, gebrochenen Auges die Lippen zu bewegen und
24378
gurgelnde Laute auszustoßen. Die Dämmerung fiel ein. Draußen gab es ein
24379
wenig winterliches Abendrot, und es beschien durchs Fenster sanft die
24380
besudelten Kleidungsstücke, die irgendwo über einem Stuhle hingen.
24382
Um fünf Uhr ließ Frau Permaneder sich zu einer Unbedachtsamkeit
24383
hinreißen. Ihrer Schwägerin gegenüber am Bette sitzend, begann sie
24384
plötzlich, unter Anwendung ihrer Kehlkopfstimme sehr laut und mit
24385
gefalteten Händen, einen Gesang zu sprechen ... »Mach' End', o Herr«,
24386
sagte sie, und alles hörte ihr regungslos zu -- »mach' Ende mit aller
24387
seiner Not; stärk' seine Füß' und Hände und laß bis in den Tod ...« Aber
24388
sie betete so sehr aus Herzensgrund, daß sie sich immer nur mit dem
24389
Worte beschäftigte, welches sie gerade aussprach, und nicht erwog, daß
24390
sie die Strophe gar nicht zu Ende wisse und nach dem dritten Verse
24391
jämmerlich stecken bleiben müsse. Das tat sie, brach mit erhobener
24392
Stimme ab und ersetzte den Schluß durch die erhöhte Würde ihrer Haltung.
24393
Jedermann im Zimmer wartete und zog sich zusammen vor Geniertheit. Der
24394
kleine Johann räusperte sich so schwer, daß es wie Ächzen klang. Und
24395
dann war in der Stille nichts als das agonierende Gurgeln Thomas
24396
Buddenbrooks zu vernehmen.
24398
Es war eine Erlösung, als das Folgmädchen meldete, nebenan sei etwas
24399
Essen aufgetragen. Als man aber in Gerdas Schlafzimmer anfing, ein wenig
24400
Suppe zu genießen, erschien Schwester Leandra in der Tür und winkte
24403
Der Senator starb. Er schluchzte zwei- oder dreimal leise, verstummte
24404
und hörte auf, die Lippen zu bewegen. Das war die ganze Veränderung, die
24405
mit ihm vor sich ging; seine Augen waren schon vorher tot gewesen.
24407
Doktor Langhals, der wenige Minuten später zur Stelle war, setzte sein
24408
schwarzes Hörrohr auf die Brust der Leiche, horchte längere Zeit und
24409
sprach nach gewissenhafter Prüfung: »Ja, es ist zu Ende.«
24411
Und mit dem Ringfinger ihrer blassen, sanftmütigen Hand schloß Schwester
24412
Leandra behutsam dem Toten die Augenlider.
24414
Da warf sich Frau Permaneder an dem Bett in die Knie, drückte das
24415
Gesicht in die Steppdecke und weinte laut, gab sich rückhaltlos und ohne
24416
irgend etwas in sich zu dämpfen und zu unterdrücken, einem dieser
24417
erfrischenden Gefühlsausbrüche hin, die ihrer glücklichen Natur zu
24418
Gebote standen ... Mit gänzlich nassem Gesicht, aber gestärkt,
24419
erleichtert und vollkommen im seelischen Gleichgewicht, erhob sie sich
24420
und war sofort imstande, der Todesanzeigen zu gedenken, die unverzüglich
24421
und in höchster Eile hergestellt werden mußten, -- ein ungeheurer Posten
24422
vornehm gedruckter Todesanzeigen ...
24424
Christian betrat die Bildfläche. Es verhielt sich so mit ihm, daß er die
24425
Nachricht von dem Sturz des Senators im Klub erhalten hatte und auch
24426
sogleich aufgebrochen war. Aus Furcht jedoch vor irgendeinem gräßlichen
24427
Anblick hatte er einen weiten Spaziergang vors Tor unternommen, so daß
24428
niemand ihn hatte finden können. Nun stellte er sich dennoch ein und
24429
erfuhr schon auf der Diele, daß sein Bruder verschieden sei.
24431
»Ist doch wohl nicht möglich!« sagte er und ging lahmend und mit
24432
wandernden Augen die Treppen hinauf.
24434
Dann stand er, zwischen Schwester und Schwägerin, am Sterbebette. Er
24435
stand dort, mit seinem kahlen Schädel, seinen eingefallenen Wangen,
24436
seinem hängenden Schnurrbart und seiner ungeheuren, gehöckerten Nase,
24437
auf krummen und mageren Beinen, ein wenig geknickt, ein wenig
24438
fragezeichenartig, und seine kleinen, tiefliegenden Augen blickten in
24439
des Bruders Gesicht, das so schweigsam, kalt, ablehnend und einwandfrei,
24440
so sehr jedem menschlichen Urteil unzugänglich erschien ... Thomas'
24441
Mundwinkel waren mit beinahe verächtlichem Ausdruck nach unten gezogen.
24442
Er, dem Christian vorgeworfen hatte, daß er bei seinem Tode nicht weinen
24443
werde, er war seinerseits tot, er war ohne ein Wort zu sagen ganz
24444
einfach gestorben, hatte sich vornehm und intakt ins Schweigen
24445
zurückgezogen und überließ den andern mitleidlos der Beschämung, wie so
24446
oft im Leben! Hatte er nun gut oder schnöde gehandelt, indem er den
24447
Leiden Christians, seiner »Qual«, dem nickenden Manne, der
24448
Spiritusflasche, dem offenen Fenster, stets nur kalte Verachtung
24449
entgegengesetzt hatte? Diese Frage fiel dahin, sie war sinnlos geworden,
24450
da der Tod in eigensinniger und unberechenbarer Parteilichkeit ihn, ihn
24451
ausgezeichnet und gerechtfertigt, ihn angenommen und aufgenommen, ihn
24452
ehrwürdig gemacht und ihm befehlshaberisch das allgemeine, scheue
24453
Interesse verschafft hatte, während er Christian verschmähte und nur
24454
fortfahren würde, ihn mit fünfzig Mätzchen und Schikanen zu hänseln, vor
24455
denen niemand Respekt hatte. Nie hatte Thomas Buddenbrook seinem Bruder
24456
mehr imponiert, als zu dieser Stunde. Der Erfolg ist ausschlaggebend.
24457
Der anderen Achtung vor unseren Leiden verschafft uns nur der Tod, und
24458
auch die kläglichsten Leiden werden ehrwürdig durch ihn. Du hast recht
24459
bekommen, ich beuge mich, dachte Christian, und mit einer raschen,
24460
unbeholfenen Bewegung ließ er sich auf ein Knie nieder und küßte die
24461
kalte Hand auf der Steppdecke. Dann trat er zurück und begann mit
24462
schweifenden Augen im Zimmer umherzugehen.
24464
Andere Besucher, die alten Krögers, die Damen Buddenbrook aus der
24465
Breiten Straße, der alte Herr Marcus, stellten sich ein. Auch die arme
24466
Klothilde kam, stand mager und aschgrau am Bette und faltete apathischen
24467
Angesichts ihre mit Zwirnhandschuhen bekleideten Hände. »Ihr müßt nicht
24468
glauben, Tony und Gerda«, sagte sie unendlich gedehnt und klagend, »daß
24469
ich kalten Herzens bin, weil ich nicht weine. Ich habe keine Tränen
24470
mehr ...« Und jedermann glaubte ihr das aufs Wort, so hoffnungslos
24471
verstaubt und ausgedörrt wie sie dastand ...
24473
Schließlich räumten alle das Feld vor einer Frauensperson, einem
24474
unsympathischen alten Geschöpf mit kauendem, zahnlosem Munde, die
24475
angekommen war, um zusammen mit Schwester Leandra die Leiche zu waschen
24480
Zu vorgerückter Abendstunde noch saßen im Wohnzimmer Gerda Buddenbrook,
24481
Frau Permaneder, Christian und der kleine Johann unter der großen
24482
Gaslampe um den runden Mitteltisch und arbeiteten emsig. Es galt die
24483
Liste derjenigen Leute zusammenzustellen, die Todesanzeigen bekommen
24484
mußten, und die Adressen auf die Briefumschläge zu schreiben. Alle
24485
Federn knirschten. Dann und wann hatte jemand einen Einfall und setzte
24486
einen neuen Namen auf die Liste ... Auch Hanno mußte helfen, denn er
24487
schrieb reinlich, und die Zeit drängte.
24489
Es war still im Hause und auf der Straße. Selten wurden Schritte laut
24490
und verhallten. Die Gaslampe puffte leise, ein Name ward gemurmelt, das
24491
Papier knisterte. Zuweilen blickten alle einander an und erinnerten sich
24492
dessen, was geschehen war.
24494
Frau Permaneder kritzelte in höchster Geschäftigkeit. Aber wie
24495
ausgerechnet in jeder fünften Minute legte sie die Feder fort, erhob die
24496
zusammengelegten Hände bis zur Höhe des Mundes und brach in Klagerufe
24497
aus. »Ich fasse es nicht!« rief sie und deutete damit an, daß sie
24498
allmählich zu fassen beginne, was eigentlich vor sich gegangen war.
24499
»Aber es ist ja nun alles aus!« rief sie ganz unerwartet in heller
24500
Verzweiflung und schlang laut weinend die Arme um den Hals ihrer
24501
Schwägerin, worauf sie gestärkt ihre Tätigkeit wieder aufnahm.
24503
Mit Christian stand es ähnlich wie mit der armen Klothilde. Er hatte
24504
noch nicht eine Träne vergossen und schämte sich dessen ein wenig. Das
24505
Gefühl der Blamiertheit überwog in ihm jegliche andere Empfindung. Auch
24506
hatte die beständige Beschäftigung mit den eigenen Zuständen und
24507
Sonderbarkeiten ihn abgenutzt und stumpf gemacht. Hie und da richtete er
24508
sich auf, strich mit der Hand über seine kahle Stirn und sagte mit
24509
gepreßter Stimme: »Ja, es ist furchtbar traurig!« Er sagte dies zu sich
24510
selbst, hielt es sich gewaltsam vor und nötigte seine Augen, ein wenig
24511
feucht zu werden ...
24513
Plötzlich geschah etwas, was alle verstörte. Der kleine Johann geriet
24514
ins Lachen. Er war beim Schreiben auf einen Namen gestoßen, irgendeinen
24515
kuriosen Klang, dem er nicht widerstehen konnte. Er wiederholte ihn,
24516
schnob durch die Nase, beugte sich vornüber, zitterte, schluchzte und
24517
konnte nicht an sich halten. Anfangs konnte man glauben, daß er weine;
24518
aber es war nicht an dem. Die Erwachsenen sahen ihn ungläubig und
24519
fassungslos an. Dann schickte seine Mutter ihn schlafen ...
24524
An einem Zahne ... Senator Buddenbrook war an einem Zahne gestorben,
24525
hieß es in der Stadt. Aber, zum Donnerwetter, daran starb man doch
24526
nicht! Er hatte Schmerzen gehabt, Herr Brecht hatte ihm die Krone
24527
abgebrochen, und daraufhin war er auf der Straße einfach umgefallen. War
24528
dergleichen erhört?...
24530
Aber das war nun gleich, es war seine Angelegenheit. Was man zunächst in
24531
der Sache zu tun hatte, war dies, daß man Kränze schickte, große Kränze,
24532
teure Kränze, Kränze, mit denen man Ehre einlegen konnte, die in den
24533
Zeitungsartikeln erwähnt werden würden, und denen man ansah, daß sie von
24534
loyalen und zahlungsfähigen Leuten kamen. Sie wurden geschickt, sie
24535
strömten von allen Seiten herbei, von den Körperschaften sowohl wie von
24536
den Familien und Privatpersonen; Kränze aus Lorbeer, aus starkriechenden
24537
Blumen, aus Silber, mit schwarzen Schleifen und solchen in den Farben
24538
der Stadt, mit schwarzgedruckten Widmungen und solchen in goldenen
24539
Buchstaben. Und Palmenwedel, ungeheure Palmenwedel ...
24541
Alle Blumenhandlungen machten Geschäfte großen Stils, nicht zum
24542
wenigsten diejenige von Iwersen, gegenüber dem Buddenbrookschen Hause.
24543
Frau Iwersen schellte mehrmals des Tages am Windfang und brachte
24544
Arrangements in verschiedenen Gestalten, von Senator Soundso, von Konsul
24545
Soundso, von der und der Beamtenschaft ... Einmal fragte sie, ob sie
24546
nicht vielleicht ein wenig hinauf dürfe und den Senator sehen? Ja, das
24547
dürfe sie, wurde ihr geantwortet, und sie folgte dem Fräulein Jungmann
24548
über die Haupttreppe, indem sie stumme Blicke in das glänzende
24549
Treppenhaus hinaufgleiten ließ.
24551
Sie ging schwer, denn sie war guter Hoffnung wie gewöhnlich. Ihre
24552
Erscheinung im allgemeinen war mit den Jahren ein bißchen gemein
24553
geworden, aber die schmalgeschnittenen schwarzen Augen sowie die
24554
malaiischen Wangenknochen waren reizvoll, und man sah wohl, daß sie
24555
einstmals außerordentlich hübsch gewesen sein mußte. -- Sie wurde in den
24556
Salon eingelassen, denn dort lag Thomas Buddenbrook aufgebahrt.
24558
Er lag inmitten des weiten und lichten Gemaches, dessen Möbel
24559
fortgeschafft waren, in den weißseidenen Polstern des Sarges, in weiße
24560
Seide gekleidet und mit weißer Seide bedeckt, in einem strengen und
24561
betäubenden Duftgemisch von Tuberosen, Veilchen und hundert anderen
24562
Gewächsen. Zu seinen Häupten, in einem Halbkreise von silbernen
24563
Armleuchtern, auf umflorten Postamenten, stand Thorwaldsens Segnender
24564
Christus. Die Blumengebinde, die Kränze, Körbe und Sträuße, standen und
24565
lagen an den Wänden entlang, auf dem Fußboden und auf der Steppdecke;
24566
Palmenwedel lehnten an der Bahre und neigten sich über des Toten Füße.
24567
-- Sein Gesicht war stellenweise zerschunden, und besonders die Nase
24568
zeigte Quetschungen. Aber sein Haupthaar war wie im Leben frisiert, und
24569
der Schnurrbart, von dem alten Herrn Wenzel noch einmal mit der
24570
Brennschere ausgezogen, überragte lang und starr seine weißen Wangen.
24571
Sein Kopf war ein wenig zur Seite gewandt, und zwischen seinen
24572
zusammengefalteten Händen stak ein Elfenbeinkreuz.
24574
Frau Iwersen blieb beinahe an der Tür stehen und blickte von dort aus
24575
blinzelnd zur Bahre hinüber; erst als Frau Permaneder, ganz in Schwarz
24576
gehüllt und verschnupft vom Weinen, vom Wohnzimmer aus, zwischen den
24577
Portieren erschien und sie mit sanften Worten zum Nähertreten einlud,
24578
wagte sie sich ein Stückchen weiter auf der parkettierten Fußbodenfläche
24579
vorwärts. Sie stand, die Hände auf ihrem hervortretenden Leibe gefaltet,
24580
und blickte mit ihren schmalen, schwarzen Augen auf die Pflanzen, die
24581
Armleuchter, die Schleifen, all die weiße Seide und in Thomas
24582
Buddenbrooks Angesicht. Es wäre schwer gewesen, den Ausdruck ihrer
24583
bleichen und verwischten Wöchnerinnenzüge bei Namen zu nennen.
24584
Schließlich sagte sie »Ja ...«, schluchzte einmal -- ein einziges Mal --
24585
ganz kurz und undeutlich auf und wandte sich zum Gehen.
24587
Frau Permaneder liebte solche Besuche. Sie wich nicht aus dem Hause und
24588
überwachte mit unermüdlichem Eifer die Huldigungen, die man der
24589
sterblichen Hülle ihres Bruders darzubringen sich drängte. Unter
24590
Anwendung ihrer Kehlkopfstimme verlas sie viele Male die
24591
Zeitungsartikel, in denen, wie zur Zeit des Geschäftsjubiläums, seine
24592
Verdienste gefeiert, der unersetzliche Verlust seiner Persönlichkeit
24593
beklagt wurde. Sie war im Wohnzimmer zugegen bei allen Kondolenzvisiten,
24594
die Gerda im Salon entgegennahm; und die fanden kein Ende, ihre Zahl war
24595
Legion. Sie hielt mit verschiedenen Personen Konferenzen ab in betreff
24596
des Begräbnisses, das sich unsäglich vornehm gestalten mußte. Sie
24597
arrangierte Abschiedsszenen. Sie ließ das Kontorpersonal heraufkommen,
24598
damit es seinem Chef ein letztes Lebewohl sage. Und dann mußten die
24599
Speicherarbeiter kommen. Sie schoben sich auf ihren kolossalen Füßen
24600
über das Parkett, zogen mit ungeheurer Biederkeit ihre Mundwinkel
24601
abwärts und verbreiteten einen Geruch von Branntwein, Kautabak und
24602
körperlicher Arbeit. Sie sahen sich die prunkhafte Aufbahrung an, indem
24603
sie ihre Mützen drehten, wunderten sich zuerst und langweilten sich
24604
dann, bis einer den Mut hatte, wieder aufzubrechen, worauf ihm
24605
schlürfend die ganze Schar auf den Fersen folgte ... Frau Permaneder war
24606
entzückt. Sie behauptete, mehreren seien die Tränen in die harten Bärte
24607
geronnen. Das war einfach nicht wahr. Dergleichen war nicht vorgekommen.
24608
Aber wenn sie es doch so gesehen hatte und wenn es sie glücklich machte?
24610
Und der Tag der Beisetzung kam heran. Der Metallsarg war luftdicht
24611
verschlossen und mit Blumen bedeckt, die Kerzen auf den Armleuchtern
24612
brannten, das Haus füllte sich mit Menschen, und umgeben von den
24613
Leidtragenden, den einheimischen und auswärtigen, stand in aufrechter
24614
Majestät Pastor Pringsheim zu Häupten des Sarges, indem er seinen
24615
ausdrucksvollen Kopf auf der breiten Halskrause ruhen ließ, wie auf
24618
Ein hochgeschulter Lohndiener, ein behendes Mittelding zwischen
24619
Aufwärter und Festordner, hatte die äußere Leitung der Feierlichkeit
24620
übernommen. Er lief, den Zylinder in der Hand, auf leisen Sohlen die
24621
Haupttreppe hinunter und rief mit durchdringender Flüsterstimme über die
24622
Diele hin, die soeben von Steuerbeamten in Uniform und Kornträgern in
24623
Blusen, Kniehosen und Zylindern überflutet wurde: »Die Zimmer sind voll,
24624
aber auf dem Korridor ist noch ein wenig Platz ...«
24626
Dann verstummte alles; Pastor Pringsheim begann zu reden, und sein
24627
kunstvolles Organ erfüllte tönend und modulierend das ganze Haus.
24628
Während er aber dort oben neben der Christusfigur die Hände vorm Gesicht
24629
rang und sie segnend spreizte, hielt drunten vorm Hause unter dem weißen
24630
Winterhimmel die vierspännige Leichenkutsche, an die sich die übrigen
24631
Wagen in langer Folge die Straße hinab bis zum Flusse reihten. Der
24632
Haustür gegenüber aber stand, Gewehr bei Fuß, in zwei Reihen
24633
aufgestellt, eine Kompanie Soldaten, mit Leutnant von Throta an ihrer
24634
Front, welcher, den gezogenen Degen im Arm, mit seinen glühenden Augen
24635
zum Erker hinaufblickte ... Viele Leute reckten in den Fenstern ringsum
24636
und auf dem Pflaster die Hälse.
24638
Schließlich entstand Bewegung im Vestibül, des Leutnants leise
24639
hervorgestoßenes Kommandowort klang auf, die Soldaten präsentierten
24640
klappend, Herr von Throta senkte seinen Degen, der Sarg erschien. Von
24641
den vier Männern in schwarzen Mänteln und Dreispitzen getragen,
24642
schwankte er behutsam zur Haustür heraus, und der Wind führte den
24643
Blumenduft über die Köpfe der Neugierigen hin, indes er zugleich den
24644
schwarzen Federbusch auf dem Dache des Leichenwagens zerzauste, in den
24645
Mähnen aller Pferde spielte, die bis zum Flusse hinunter standen, und an
24646
den schwarzen Hutschleiern des Trauerkutschers und der Stallknechte
24647
zerrte. Einzelne, ganz seltene Schneeflocken kamen in großen, langsamen
24648
Bogenlinien vom Himmel herab.
24650
Die Pferde des Leichenwagens, ganz in Schwarz gehüllt, daß nur die
24651
unruhigen Augen sichtbar waren, setzten sich, von den vier schwarzen
24652
Knechten geführt, langsam in Bewegung, das Militär schloß sich an, und
24653
eine nach der anderen fuhren die übrigen Kutschen vor. Christian
24654
Buddenbrook stieg mit dem Pastor in die erste. Der kleine Johann folgte
24655
zusammen mit einem wohlgenährt aussehenden Verwandten aus Hamburg. Und
24656
langsam, langsam, lang ausgedehnt, betrübt und feierlich, wand sich
24657
Thomas Buddenbrooks Leichenzug dahin, während an allen Häusern der Wind
24658
mit den auf Halbmast gezogenen Fahnen klatschte ... Die Beamtenschaft
24659
und die Kornträger schritten zu Fuß.
24661
Als draußen, über die Wege des Friedhofes hin, der Sarg, gefolgt von der
24662
Schar der Leidtragenden, vorbei an Kreuzen, Statuen, Kapellen und
24663
nackten Trauerweiden, dem Buddenbrookschen Erbbegräbnis sich näherte,
24664
stand schon die Ehrenkompanie bereit und präsentierte aufs neue. Hinter
24665
einem Gebüsch erklang in gedämpften und schweren Rhythmen ein
24668
Und wieder war die große Grabplatte mit dem plastisch gearbeiteten
24669
Familienwappen beiseitegeschafft worden, und wieder umstanden am Saume
24670
des kahlen Gehölzes die Herren der Stadt den ausgemauerten Schlund, in
24671
den nun Thomas Buddenbrook zu seinen Eltern hinabgelassen ward. Sie
24672
standen da, die Herren von Verdienst und Vermögen, mit gesenkten oder
24673
wehmütig zur Seite geneigten Köpfen, und unter ihnen waren die
24674
Ratsherren an ihren weißen Handschuhen und Krawatten erkenntlich.
24675
Weithin aber drängten sich die Beamten, die Kornträger, die Kontoristen,
24676
die Speicherarbeiter.
24678
Die Musik verstummte, Pastor Pringsheim sprach. Und als seine
24679
Segenssprüche in der kühlen Luft verhallten, schickte sich alles an, dem
24680
Bruder und dem Sohne des Verblichenen noch einmal die Hand zu drücken.
24682
Es gab ein langwieriges Defilee. Christian Buddenbrook nahm alle
24683
Beileidsbezeugungen mit dem halb zerstreuten, halb verlegenen
24684
Gesichtsausdruck entgegen, der ihm bei Feierlichkeiten eigen war. Der
24685
kleine Johann stand in seiner dicken Seemannsjacke mit goldenen Knöpfen
24686
neben ihm, hielt seine bläulich umschatteten Augen zu Boden gesenkt,
24687
ohne irgend jemanden anzublicken, und neigte den Kopf mit einer
24688
empfindlichen Grimasse schräg rückwärts gegen den Wind.
24698
Man erinnert sich dieser oder jener Person, man denkt nach, wie es ihr
24699
gehen mag, und plötzlich fällt einem ein, daß sie nicht mehr auf den
24700
Trottoirs umherspaziert, daß ihre Stimme nicht mehr in dem allgemeinen
24701
Stimmenkonzert mitklingt, sondern daß sie einfach auf immer vom
24702
Schauplatz verschwunden ist und irgendwo draußen vorm Tore unter der
24705
Die Konsulin Buddenbrook, geborene Stüwing, die Witwe Onkel Gottholds,
24706
war tot. Auch ihr, die ehemals die Ursache so heftigen Zwists in der
24707
Familie gewesen war, hatte der Tod seine sühnende und verklärende Krone
24708
aufgesetzt, und ihre drei Töchter, Friederike, Henriette und Pfiffi,
24709
fühlten nun das Recht, den Kondolationen ihrer Verwandten eine
24710
beleidigte Miene entgegenzusetzen, als wollten sie sagen: »Da seht, eure
24711
Verfolgungen haben sie in die Grube gebracht!« ... Obgleich die Konsulin
24712
steinalt geworden war ...
24714
Auch Madame Kethelsen hatte den Frieden. Nachdem sie sich während der
24715
letzten Jahre mit der Gicht hatte plagen müssen, war sie sanft,
24716
einfältig und kindergläubig dahingegangen, beneidet von ihrer gelehrten
24717
Schwester, die immer noch hie und da gegen kleine rationalistische
24718
Anfechtungen zu kämpfen hatte und, obgleich sie beständig buckliger und
24719
winziger wurde, durch eine zähere Konstitution an diese schlechte Erde
24722
Konsul Peter Döhlmann war abgerufen worden. Er hatte sein ganzes
24723
Vermögen verfrühstückt, war schließlich dem Hunyadi-Janos erlegen und
24724
hinterließ seiner Tochter eine Rente von zweihundert Mark jährlich,
24725
indem er es der öffentlichen Pietät gegen den Namen Döhlmann anheimgab,
24726
sie durch Aufnahme in das Johanniskloster zu versorgen.
24728
Justus Kröger war ebenfalls abgeschieden, und das war schlimm; denn nun
24729
hinderte niemand mehr seine schwache Gattin, das letzte Silberzeug zu
24730
verkaufen, um dem entarteten Jakob Geld schicken zu können, der irgendwo
24731
draußen in der Welt sein Lotterleben führte ...
24733
Was Christian Buddenbrook betrifft, so hätte man ihn vergebens in der
24734
Stadt gesucht; er weilte nicht mehr in ihren Mauern. Ein knappes Jahr
24735
nach dem Tode seines Bruders, des Senators, war er nach Hamburg
24736
übergesiedelt, woselbst er sich mit einer Dame, der er längst schon
24737
nahegestanden, mit Fräulein Aline Puvogel, vor Gott und den Menschen
24738
vermählt hatte. Niemand hatte ihm wehren können. Sein mütterliches Erbe
24739
zwar, dessen Zinsen übrigens schon immer zur Hälfte nach Hamburg
24740
gewandert waren, wurde, soweit es noch nicht im voraus verbraucht war,
24741
von Herrn Stephan Kistenmaker verwaltet, der dazu durch seines toten
24742
Freundes Testament bestellt worden war; aber Christian war im übrigen
24743
Herr seines Willens ... Sobald seine Verehelichung ruchbar wurde,
24744
richtete Frau Permaneder an Frau Aline Buddenbrook zu Hamburg einen
24745
langen und außerordentlich feindseligen Brief, der mit der Anrede
24746
»Madame!« begann und in sorgfältig vergifteten Worten die Erklärung
24747
enthielt, daß Frau Permaneder weder die Adressatin noch ihre Kinder
24748
jemals als Verwandte anzuerkennen gesonnen sei.
24750
Herr Kistenmaker war Testamentsvollstrecker, Verwalter des
24751
Buddenbrookschen Vermögens und Vormund des kleinen Johann, und er hielt
24752
diese Ämter in Ehren. Sie verschafften ihm eine höchst wichtige
24753
Tätigkeit, sie berechtigten ihn, an der Börse mit allen Anzeichen der
24754
Überarbeitung sein Haupthaar zu streichen und zu versichern, daß er sich
24755
aufreibe ... nicht zu vergessen, daß er für seine Mühewaltung mit großer
24756
Pünktlichkeit zwei Prozent der Revenüen bezog. Im übrigen aber hatte er
24757
nicht viel Glück bei den Geschäften und zog sich sehr bald die
24758
Unzufriedenheit Gerda Buddenbrooks zu.
24760
Die Dinge lagen so, daß liquidiert werden, daß die Firma verschwinden
24761
sollte, und zwar binnen eines Jahres; dies war des Senators letztwillige
24762
Bestimmung. Frau Permaneder zeigte sich heftig bewegt hierüber. »Und
24763
Johann, und der kleine Johann, und Hanno?!« fragte sie ... Die Tatsache,
24764
daß ihr Bruder über seinen Sohn und einzigen Erben hinweggegangen war,
24765
daß er für ihn nicht hatte die Firma am Leben erhalten wollen,
24766
enttäuschte und schmerzte sie sehr. Manche Stunde weinte sie darüber,
24767
daß man sich des ehrwürdigen Firmenschildes, dieses durch vier
24768
Generationen überlieferten Kleinods, entäußern, daß man seine Geschichte
24769
abschließen sollte, während doch ein natürlicher Erbfolger vorhanden
24770
war. Aber dann tröstete sie sich damit, daß das Ende der Firma ja nicht
24771
geradezu dasjenige der Familie sei, und daß ihr Neffe eben ein junges
24772
und neues Werk werde beginnen müssen, um seinem hohen Berufe
24773
nachzukommen, der ja darin bestand, dem Namen seiner Väter Glanz und
24774
Klang zu erhalten und die Familie zu neuer Blüte zu bringen. Nicht
24775
umsonst besaß er soviel Ähnlichkeit mit seinem Urgroßvater ...
24777
Die Abwicklung der Geschäfte also begann unter der Leitung Herrn
24778
Kistenmakers und des alten Herrn Marcus und sie nahm einen
24779
außerordentlich kläglichen Verlauf. Die gegebene Frist war kurz, sie
24780
sollte mit buchstäblicher Genauigkeit innegehalten werden, die Zeit
24781
drängte. Die schwebenden Angelegenheiten wurden in übereilter und
24782
ungünstiger Weise erledigt. Ein überstürzter und unvorteilhafter Verkauf
24783
folgte dem anderen. Das Lager, die Speicher wurden mit großem Schaden zu
24784
Gelde gemacht. Und was Herrn Kistenmakers Übereifer nicht verdarb, das
24785
vollbrachte die Saumseligkeit des alten Herrn Marcus, von dem man sich
24786
in der Stadt erzählte, daß er zur Winterszeit, bevor er ausgehe, nicht
24787
nur seinen Paletot und Hut, sondern auch seinen Spazierstock sorgfältig
24788
am Ofen wärme, und der, bot sich einmal eine günstige Konjunktur,
24789
sicherlich die Gelegenheit vorübergehen ließ ... Kurzum, die Verluste
24790
häuften sich. Thomas Buddenbrook hatte auf dem Papiere ein Vermögen von
24791
sechsmalhundertundfünfzigtausend Mark hinterlassen; ein Jahr nach der
24792
Testamentseröffnung stellte sich heraus, daß mit dieser Summe im
24793
entferntesten nicht zu rechnen war ...
24795
Unbestimmte und übertriebene Gerüchte über die ungünstige Liquidation
24796
gingen um, und sie wurden genährt durch die Nachricht, daß Gerda
24797
Buddenbrook das große Haus zu verkaufen gedenke. Man erzählte sich
24798
Wunderdinge über das, was sie dazu nötigte, über das bedenkliche
24799
Zusammenschmelzen des Buddenbrookschen Vermögens, und so konnte es
24800
geschehen, daß allgemach in der Stadt eine Stimmung Platz zu greifen
24801
begann, die die verwitwete Senatorin anfangs mit Erstaunen und
24802
Befremdung, dann mit wachsendem Unwillen in ihrem Haushalt empfinden
24803
mußte ... Als sie eines Tages ihrer Schwägerin berichtete, daß mehrere
24804
Handwerker und Lieferanten in unanständiger Weise auf die Berichtigung
24805
größerer Rechnungen gedrungen hatten, blieb Frau Permaneder lange Zeit
24806
erstarrt und brach dann in ein fürchterliches Gelächter aus ... Gerda
24807
Buddenbrook war so indigniert, daß sie sogar etwas wie einen halben
24808
Entschluß laut werden ließ, mit dem kleinen Johann die Stadt zu
24809
verlassen, zu ihrem alten Vater nach Amsterdam zu ziehen und wieder Duos
24810
mit ihm zu geigen. Aber dies rief einen solchen Sturm des Entsetzens von
24811
seiten Frau Permaneders hervor, daß sie den Plan fürs erste fahren
24814
Wie zu erwarten stand, erstreckten sich Frau Permaneders Proteste auch
24815
auf den Verkauf des von ihrem Bruder erbauten Hauses. Sie jammerte laut
24816
über den üblen Eindruck, den dies hervorrufen könne, und klagte, daß es
24817
für den Namen der Familie eine neue Einbuße an Prestige bedeuten werde.
24818
Aber sie mußte doch einräumen, daß es unpraktisch gewesen wäre, das
24819
weitläufige und prächtige Haus, das Thomas Buddenbrooks kostspielige
24820
Liebhaberei gewesen war, fernerhin zu bewohnen und instand zu halten,
24821
und daß Gerdas Wunsch nach einer bequemen kleinen Villa, vorm Tore, im
24822
Grünen, seine Berechtigung hatte ...
24824
Herrn Gosch, dem Makler Sigismund Gosch, dämmerte ein erhabener Tag. Ein
24825
Erlebnis verklärte sein Greisenalter, das seinen Gliedern sogar für
24826
mehrere Stunden das Zittern nahm. Es geschah, daß er sich in Gerda
24827
Buddenbrooks Salon erblicken durfte, ihr gegenüber in einem Fauteuil,
24828
Aug' in Auge mit ihr über den Preis ihres Hauses verhandelnd. Das
24829
schlohweiße Haar von allen Seiten ins Gesicht gestrichen, starrte er ihr
24830
mit gräßlich vorgeschobenem Kinn von unten herauf ins Angesicht und
24831
erreichte es, vollkommen bucklig auszusehen. Seine Stimme zischte, aber
24832
er sprach kalt und geschäftlich, und nichts verriet die Erschütterung
24833
seiner Seele. Er machte sich anheischig, das Haus zu übernehmen, streckte
24834
die Hand aus und bot mit tückischem Lächeln fünfundachtzigtausend
24835
Mark. Das war annehmbar, denn ein Verlust war bei diesem Verkaufe
24836
unvermeidlich. Allein Herrn Kistenmakers Meinung mußte gehört werden,
24837
Gerda Buddenbrook mußte Herrn Gosch entlassen, ohne mit ihm abgeschlossen
24838
zu haben, und es zeigte sich, daß Herr Kistenmaker nicht gesonnen war,
24839
irgendwelche Eingriffe in seine Tätigkeit zu gestatten. Er mißachtete
24840
das Angebot des Herrn Gosch, er lachte darüber und schwor, daß man weit
24841
mehr bekommen werde. Und er beschwor dies so lange, bis er sich, um
24842
überhaupt einmal ein Ende zu machen, genötigt sah, das Haus für
24843
fünfundsiebenzigtausend Mark an einen alternden Junggesellen abzugeben,
24844
der, von weiten Reisen zurückkehrend, sich in der Stadt niederzulassen
24847
Herr Kistenmaker besorgte auch den Ankauf des neuen Hauses, einer
24848
angenehmen kleinen Villa, die vielleicht ein wenig zu teuer erstanden
24849
wurde, die aber, vorm Burgtore an einer alten Kastanienallee gelegen und
24850
von einem hübschen Zier- und Nutzgarten umgeben, den Wünschen Gerda
24851
Buddenbrooks entsprach ... Dorthin zog die Senatorin, im Herbst des
24852
Jahres sechsundsiebenzig, mit ihrem Sohne, ihren Dienstboten und einem
24853
Teile ihres Hausrates, während ein anderer Teil davon unter dem
24854
Wehklagen Frau Permaneders zurückgelassen werden und in den Besitz des
24855
alternden Junggesellen übergehen mußte.
24857
Nicht genug der Veränderungen! Mamsell Jungmann, Ida Jungmann, seit
24858
vierzig Jahren im Buddenbrookschen Hause, trat aus den Diensten der
24859
Familie und kehrte in ihre westpreußische Heimat zurück, um bei
24860
Verwandten den Feierabend ihres Lebens zu verbringen. Die Wahrheit zu
24861
sagen, so wurde sie von der Senatorin entlassen. Die gute Seele hatte,
24862
als die vorige Generation ihr entwachsen war, alsbald den kleinen Johann
24863
vorgefunden, den sie hegen und pflegen, dem sie Grimmsche Märchen
24864
vorlesen und die Geschichte des Onkels erzählen konnte, welcher am
24865
Schluckauf gestorben war. Nun aber war der kleine Johann eigentlich gar
24866
nicht mehr klein, er war ein fünfzehnjähriger Junge, dem sie trotz
24867
seiner Zartheit nicht mehr beträchtlich nützen konnte ... und zu seiner
24868
Mutter stand sie, lange schon, in einem ziemlich unangenehmen
24869
Verhältnis. Sie hatte diese Frau, die weit später in die Familie
24870
eingetreten war als sie, eigentlich niemals recht als zugehörig und
24871
vollwertig angesehen und begann andererseits in vorgerückten Jahren mit
24872
dem Dünkel einer alten Dienerin sich selbst übertriebene Befugnisse
24873
anzumaßen. Sie erregte Anstoß, indem sie ihre Person als allzu wichtig
24874
betrachtete, indem sie sich im Haushalte dieses oder jenes Übergriffes
24875
schuldig machte ... Die Lage ward unhaltbar, erregte Auftritte fanden
24876
statt, und obgleich Frau Permaneder mit der nämlichen Beredsamkeit für
24877
sie bat, mit der sie für die großen Wohnhäuser und die Möbel gebeten
24878
hatte, erhielt die alte Ida den Abschied.
24880
Sie weinte bitterlich, als die Stunde herankam, da sie dem kleinen
24881
Johann Lebewohl zu sagen hatte. Er umarmte sie, legte dann die Hände auf
24882
den Rücken, stützte sich auf sein eines Bein, indem er den anderen
24883
Fuß auf die Zehenspitzen stellte, und sah zu, wie sie davonging, mit
24884
demselben grüblerischen und nach innen gekehrten Blick, den seine
24885
goldbraunen, bläulich umschatteten Augen an der Leiche seiner
24886
Großmutter, beim Tode seines Vaters, bei der Auflösung der großen
24887
Haushalte und so manchem weniger äußerlichen Erlebnis ähnlicher Art
24888
angenommen hatten ... Der alten Ida Verabschiedung schloß sich in seiner
24889
Anschauung folgerichtig den anderen Vorgängen des Abbröckelns, des
24890
Endens, des Abschließens, der Zersetzung an, denen er beigewohnt hatte.
24891
Dergleichen befremdete ihn nicht mehr; es hatte ihn seltsamerweise
24892
niemals befremdet. Manchmal, wenn er seinen Kopf mit dem gelockten
24893
hellbraunen Haar und den immer ein wenig verzerrten Lippen erhob und die
24894
feinen Flügel seiner Nase sich empfindlich öffneten, war es, als
24895
schnuppere er behutsam in die Atmosphäre und Lebensluft, die ihn umgab,
24896
gewärtig, den Duft, den seltsam vertrauten Duft zu verspüren, den an der
24897
Bahre seiner Großmutter alle Blumengerüche nicht zu übertäuben vermocht
24900
Immer, wenn Frau Permaneder bei ihrer Schwägerin vorsprach, zog sie
24901
ihren Neffen an sich, um ihm von der Vergangenheit und jener Zukunft zu
24902
erzählen, welche Buddenbrooks, nächst der Gnade Gottes, ihm, dem kleinen
24903
Johann, zu verdanken haben sollten. Je unerquicklicher die Gegenwart
24904
sich darstellte, desto weniger konnte sie sich genug tun in
24905
Schilderungen, wie vornehm das Leben in den Häusern ihrer Eltern und
24906
Großeltern gewesen und wie Hannos Urgroßvater vierspännig über Land
24907
gefahren sei ... Eines Tages erlitt sie einen heftigen Anfall von
24908
Magenkrampf, infolge davon, daß Friederike, Henriette und Pfiffi
24909
Buddenbrook einstimmig behauptet hatten, Hagenströms seien die Creme der
24912
Über Christian lagen betrübende Nachrichten vor. Die Ehe schien sein
24913
Befinden nicht günstig beeinflußt zu haben. Unheimliche Wahnideen und
24914
Zwangsvorstellungen hatten sich bei ihm in verstärktem Maße wiederholt,
24915
und auf Veranlassung seiner Gattin und eines Arztes hatte er sich
24916
nunmehr in eine Anstalt begeben. Er war nicht gern dort, schrieb
24917
lamentierende Briefe an die Seinen und gab dem heftigen Wunsche
24918
Ausdruck, aus dieser Anstalt, in der man ihn sehr streng zu behandeln
24919
schien, wieder befreit zu werden. Aber man hielt ihn fest, und das war
24920
wohl das beste für ihn. Jedenfalls setzte es seine Gemahlin in den
24921
Stand, unbeschadet der praktischen und ideellen Vorteile, die sie der
24922
Heirat verdankte, ihr früheres unabhängiges Leben ohne Rücksicht und
24923
Behinderung fortzuführen.
24928
Das Werk der Weckuhr schnappte ein und rasselte pflichttreu und grausam.
24929
Es war ein heiseres und geborstenes Geräusch, ein Klappern mehr als ein
24930
Klingeln, denn sie war altgedient und abgenutzt; aber es dauerte lange,
24931
hoffnungslos lange, denn sie war gründlich aufgezogen.
24933
Hanno Buddenbrook erschrak zuinnerst. Wie jeden Morgen zogen sich bei
24934
dem jähen Einsetzen dieses zugleich boshaften und treuherzigen Lärmes,
24935
auf dem Nachttische, dicht neben seinem Ohre, vor Grimm, Klage und
24936
Verzweiflung seine Eingeweide zusammen. Äußerlich aber blieb er ganz
24937
ruhig, veränderte seine Lage im Bette nicht und riß nur rasch, aus
24938
irgendeinem verwischten Morgentraume gejagt, die Augen auf.
24940
Es war vollkommen finster in der winterkalten Stube; er unterschied
24941
keinen Gegenstand und konnte die Zeiger der Uhr nicht sehen. Aber er
24942
wußte, daß es sechs Uhr war, denn er hatte gestern abend den Wecker auf
24943
diese Stunde gestellt ... Gestern ... gestern ... Während er mit
24944
angespannten Nerven, um den Entschluß kämpfend, Licht zu machen und das
24945
Bett zu verlassen, regungslos auf dem Rücken lag, kehrte ihm nach und
24946
nach alles ins Bewußtsein zurück, was ihn gestern erfüllt hatte ...
24948
Es war Sonntag gewesen, und nachdem er sich mehrere Tage hintereinander
24949
von Herrn Brecht hatte malträtieren lassen müssen, hatte er zur
24950
Belohnung seine Mutter ins Stadttheater begleiten dürfen, um den
24951
»Lohengrin« zu hören. Die Freude auf diesen Abend hatte seit einer Woche
24952
schon sein Leben ausgemacht. Beklagenswert war nur, daß stets vor
24953
solcherlei Festen soviel des Widerwärtigen lagerte und bis zum letzten
24954
Augenblick die freie und freudige Aussicht darauf verdarb. Aber endlich
24955
war doch am Sonnabend die Schulzeit überstanden gewesen, und die
24956
Tretmaschine hatte zum letzten Male in seinem Munde mit schmerzhaftem
24957
Summen gebohrt ... Nun war alles beiseite geschafft und überwunden
24958
gewesen, denn die Schulaufgaben hatte er kurz entschlossen jenseits des
24959
Sonntagabends geschoben. Was hatte der Montag bedeutet? War es
24960
wahrscheinlich gewesen, daß er jemals anbrechen würde? Man glaubt an
24961
keinen Montag, wenn man am Sonntag abend den »Lohengrin« hören soll ...
24962
Er hatte am Montag frühzeitig aufstehen wollen und diese albernen Sachen
24963
erledigen -- damit genug! Nun war er frei umhergegangen, hatte die
24964
Freude seines Herzens gepflegt, am Flügel geträumt und alle Widrigkeiten
24967
Und dann war das Glück zur Wirklichkeit geworden. Es war über ihn
24968
gekommen mit seinen Weihen und Entzückungen, seinem heimlichen
24969
Erschauern und Erbeben, seinem plötzlichen innerlichen Schluchzen,
24970
seinem ganzen überschwänglichen und unersättlichen Rausche ... Freilich,
24971
die billigen Geigen des Orchesters hatten beim Vorspiel ein wenig
24972
versagt, und ein dicker, eingebildeter Mensch mit brotblondem Vollbarte
24973
war im Nachen ein wenig ruckweise herangeschwommen. Auch war in der
24974
Nachbarloge sein Vormund Herr Stephan Kistenmaker zugegen gewesen und
24975
hatte gemurrt, daß man den Jungen auf solche Weise zerstreue und von
24976
seinen Pflichten ablenke. Aber darüber hatte ihn die süße und verklärte
24977
Herrlichkeit, auf die er lauschte, hinweggehoben ...
24979
Und endlich war doch das Ende gekommen. Das singende, schimmernde Glück
24980
war verstummt und erloschen, mit fiebrigem Kopfe hatte er sich daheim in
24981
seinem Zimmer wiedergefunden und war gewahr worden, daß nur ein paar
24982
Stunden des Schlafes dort in seinem Bett ihn von grauem Alltag trennten.
24983
Da hatte ihn ein Anfall jener gänzlichen Verzagtheit überwältigt, die er
24984
so wohl kannte. Er hatte wieder empfunden, wie wehe die Schönheit tut,
24985
wie tief sie in Scham und sehnsüchtige Verzweiflung stürzt und doch auch
24986
den Mut und die Tauglichkeit zum gemeinen Leben verzehrt. So
24987
fürchterlich hoffnungslos und bergeschwer hatte es ihn niedergedrückt,
24988
daß er sich wieder einmal gesagt hatte, es müsse mehr sein als seine
24989
persönlichen Kümmernisse, was auf ihm laste, eine Bürde, die von
24990
Anbeginn seine Seele beschwert habe und sie irgendwann einmal ersticken
24993
Dann hatte er den Wecker gerichtet und geschlafen, so tief und tot, wie
24994
man schläft, wenn man niemals wieder erwachen möchte. Und nun war der
24995
Montag da, und es war sechs Uhr, und er hatte für keine Stunde
24998
Er richtete sich auf und entzündete die Kerze auf dem Nachttische. Da
24999
aber in der eiskalten Luft seine Arme und Schultern sofort heftig zu
25000
frieren begannen, ließ er sich rasch wieder zurücksinken und zog die
25003
Die Zeiger wiesen auf zehn Minuten nach sechs Uhr ... Ach, es war
25004
sinnlos, nun aufzustehen und zu arbeiten, es war zuviel, es gab beinahe
25005
für jede Stunde etwas zu lernen, es lohnte nicht, damit anzufangen, und
25006
der Zeitpunkt, den er sich festgesetzt, war sowieso überschritten ...
25007
War es denn so sicher, wie es ihm gestern erschienen war, daß er heute
25008
sowohl im Lateinischen wie in der Chemie an die Reihe kommen würde? Es
25009
war anzunehmen, ja, nach menschlicher Voraussicht war es wahrscheinlich.
25010
Was den Ovid betraf, so waren neulich die Namen ausgerufen worden, die
25011
mit den letzten Buchstaben des Alphabetes begannen, und mutmaßlich würde
25012
es heute mit A und B von vorn anfangen. Aber es war doch nicht unbedingt
25013
sicher, nicht ganz und gar zweifellos! Es kamen doch Abweichungen von
25014
der Regel vor! Was bewirkte nicht manchmal der Zufall, du lieber
25015
Gott!... Und während er sich mit diesen trügerischen und gewaltsamen
25016
Erwägungen beschäftigte, verschwammen seine Gedanken ineinander, und er
25017
entschlief aufs neue.
25019
Das kleine Schülerzimmer, kalt und kahl, mit seiner Sixtinischen Madonna
25020
als Kupferstich über dem Bette, seinem Ausziehtisch in der Mitte, seinem
25021
unordentlich vollgepfropften Bücherbord, einem steifbeinigen
25022
Mahagonipult, dem Harmonium und dem schmalen Waschtisch, lag stumm in
25023
dem wankenden Schein der Kerze. Eisblumen blühten am Fenster, dessen
25024
Rouleau nicht hinabgelassen war, damit das Tageslicht früher
25025
hereindringe. Und Hanno Buddenbrook schlief, die Wange in das Kissen
25026
geschmiegt. Er schlief mit getrennten Lippen und tief und fest gesenkten
25027
Wimpern, mit dem Ausdruck einer inbrünstigen und schmerzlichen Hingabe
25028
an den Schlaf, und sein weiches, hellbraunes Haar bedeckte gelockt seine
25029
Schläfen. Und langsam verlor das Flämmchen auf dem Nachttische seinen
25030
rotgelben Schein, da durch die Eiskruste der Fensterscheibe der matte
25031
Morgen starr und fahl ins Zimmer blickte.
25033
Als es sieben Uhr war, erwachte er wieder mit Schrecken. Nun war auch
25034
diese Frist abgelaufen. Aufstehen und den Tag auf sich nehmen -- es gab
25035
nichts, um das abzuwenden. Eine kurze Stunde nur noch bis zum
25036
Schulanfang ... Die Zeit drängte, von den Arbeiten nun ganz zu
25037
schweigen. Trotzdem blieb er noch liegen, voll von Erbitterung, Trauer
25038
und Anklage dieses brutalen Zwanges wegen, in frostigem Halbdunkel das
25039
warme Bett zu verlassen und sich hinaus unter strenge und übelwollende
25040
Menschen in Not und Gefahr zu begeben. Ach, noch zwei armselige Minuten,
25041
nicht wahr? fragte er sein Kopfkissen mit überquellender Zärtlichkeit.
25042
Und dann, in einem Anfall von Trotz, schenkte er sich fünf volle
25043
Minuten, um noch ein wenig die Augen zu schließen, von Zeit zu Zeit das
25044
eine zu öffnen und verzweiflungsvoll auf den Zeiger zu starren, der
25045
stumpfsinnig, unwissend und korrekt seines Weges vorwärts ging ...
25047
Zehn Minuten nach sieben Uhr riß er sich los und fing an, sich in
25048
höchster Hast im Zimmer hin und her zu bewegen. Die Kerze brannte fort,
25049
denn das Tageslicht allein genügte noch nicht. Als er eine Eisblume
25050
zerhauchte, sah er, daß draußen dichter Nebel herrschte.
25052
Ihn fror über alle Maßen. Der Frost schüttelte manchmal mit
25053
schmerzhaftem Schauder seinen ganzen Körper. Seine Fingerspitzen
25054
brannten und waren so geschwollen, daß mit der Nagelbürste nichts
25055
anzufangen war. Als er sich den Oberkörper wusch, ließ seine beinah
25056
erstorbene Hand den Schwamm zu Boden fallen, und er stand einen
25057
Augenblick starr und hilflos da, qualmend wie ein schwitzendes Pferd.
25059
Und endlich, mit gehetztem Atem und trüben Augen, stand er dennoch
25060
fertig am Ausziehtische, ergriff die Ledermappe und raffte die
25061
Geisteskräfte zusammen, welche die Verzweiflung ihm übrig ließ, um für
25062
die Stunden von heute die nötigen Bücher hineinzupacken. Er stand, sah
25063
angestrengt in die Luft, murmelte angstvoll: »Religion ... Lateinisch
25064
... Chemie ...« und stopfte die defekten und mit Tinte befleckten
25065
Pappbände zueinander ...
25067
Ja, er war nun schon ziemlich lang, der kleine Johann. Er war mehr als
25068
fünfzehnjährig und trug kein Kopenhagener Matrosenhabit mehr, sondern
25069
einen hellbraunen Jackettanzug mit blauer, weißgesprenkelter Krawatte.
25070
Auf seiner Weste war die lange und dünne goldene Uhrkette zu sehen, die
25071
von seinem Urgroßvater auf ihn gekommen war, und an dem vierten Finger
25072
seiner ein wenig zu breiten, aber zartgegliederten Rechten stak der alte
25073
Erbsiegelring mit grünem Stein, der nun ebenfalls ihm gehörte ... Er zog
25074
die dicke, wollige Winterjacke an, setzte den Hut auf, riß die Mappe an
25075
sich, löschte die Kerze und stürzte die Treppe hinunter ins Erdgeschoß,
25076
an dem ausgestopften Bären vorbei, zur Rechten ins Speisezimmer.
25078
Fräulein Clementine, die neue Jungfer seiner Mutter, ein mageres Mädchen
25079
mit Stirnlocken, spitzer Nase und kurzsichtigen Augen, war bereits zur
25080
Stelle und machte sich am Frühstückstische zu schaffen.
25082
»Wie spät ist es eigentlich?« fragte er zwischen den Zähnen, obgleich er
25083
es sehr genau wußte.
25085
»Viertel vor acht«, antwortete sie und wies mit ihrer dünnen, roten
25086
Hand, die aussah wie gichtisch, auf die Wanduhr. »Sie müssen wohl
25087
zusehen, daß Sie fortkommen, Hanno ...« Damit setzte sie die dampfende
25088
Tasse an seinen Platz und schob ihm Brotkorb und Butter, Salz und
25091
Er sagte nichts mehr, griff nach einer Semmel und begann im Stehen, den
25092
Hut auf dem Kopfe und die Mappe unterm Arm, den Kakao zu schlucken. Das
25093
heiße Getränk tat entsetzlich weh an einem Backenzahn, den gerade Herr
25094
Brecht in Behandlung gehabt hatte ... Er ließ die Hälfte stehen,
25095
verschmähte auch das Ei, ließ mit verzerrtem Munde einen leisen Laut
25096
vernehmen, den man als Adieu deuten mochte, und lief aus dem Hause.
25098
Es war zehn Minuten vor acht Uhr, als er den Vorgarten passierte, die
25099
kleine rote Villa zurückließ und nach rechts die winterliche Allee
25100
entlang zu hasten begann ... Zehn, neun, acht Minuten nur noch. Und der
25101
Weg war weit. Und man konnte vor Nebel kaum sehen, wie weit man gekommen
25102
war! Er zog ihn ein und stieß ihn wieder aus, diesen dicken, eiskalten
25103
Nebel, mit der ganzen Kraft seiner schmalen Brust, stemmte die Zunge
25104
gegen den Zahn, der vom Kakao noch brannte, und tat den Muskeln seiner
25105
Beine eine unsinnige Gewalt an. Er war in Schweiß gebadet und fühlte
25106
sich dennoch erfroren in jedem Gliede. In seinen Seiten fing es an zu
25107
stechen. Das bißchen Frühstück revoltierte in seinem Magen bei diesem
25108
Morgenspaziergang, ihm ward übel, und sein Herz war nur noch ein
25109
bebendes und haltlos flatterndes Ding, das ihm den Atem nahm.
25111
Das Burgtor, das Burgtor erst, und dabei war es vier Minuten vor acht!
25112
Während er sich in kalter Transpiration, in Schmerz, Übelkeit und Not
25113
durch die Straßen kämpfte, spähte er nach allen Seiten, ob nicht
25114
vielleicht noch andre Schüler zu sehen seien ... Nein, nein, es kam
25115
niemand mehr. Alle waren an Ort und Stelle, und da begann es auch schon
25116
acht Uhr zu schlagen! Die Glocken klangen durch den Nebel von allen
25117
Türmen, und diejenigen von Sankt Marien spielten zur Feier des
25118
Augenblicks sogar »Nun danket alle Gott« ... Sie spielten es
25119
grundfalsch, wie Hanno rasend vor Verzweiflung konstatierte, sie hatten
25120
keine Ahnung von Rhythmus und waren höchst mangelhaft gestimmt ... Aber
25121
das war nun das wenigste, das wenigste! Ja, er kam zu spät, es war wohl
25122
keine Frage mehr. Die Schuluhr war ein wenig im Rückstande, aber er kam
25123
dennoch zu spät, es war sicher. Er starrte den Leuten ins Gesicht, die
25124
an ihm vorübergingen. Sie begaben sich in ihre Kontore und an ihre
25125
Geschäfte, sie eilten gar nicht sehr, und nichts drohte ihnen. Manche
25126
erwiderten seinen neidischen und klagenden Blick, musterten seine
25127
aufgelöste Erscheinung und lächelten. Er war außer sich über dieses
25128
Lächeln. Was dachten sie sich und wie beurteilten diese Ungeängstigten
25129
die Sachlage? Es beruht auf Roheit, hätte er ihnen zuschreien mögen, Ihr
25130
Lächeln, meine Herrschaften! Sie könnten bedenken, daß es innig
25131
wünschenswert wäre, vor dem geschlossenen Hoftore tot umzufallen ...
25133
Das anhaltend gellende Klingeln, das Zeichen zum Beginne der
25134
Montagsandacht, schlug an sein Ohr, als er noch zwanzig Schritte von der
25135
langen, roten, von zwei gußeisernen Pforten unterbrochenen Mauer
25136
entfernt war, die den vorderen Schulhof von der Straße trennte. Ohne
25137
über irgendwelche Kräfte zum Ausschreiten und Laufen mehr zu verfügen,
25138
ließ er seinen Oberkörper einfach nach vorne fallen, wobei die Beine
25139
wohl oder übel das Hinstürzen verhindern mußten, indem sie sich
25140
stolpernd und schlotternd ebenfalls vorwärts bewegten, und gelangte so
25141
vor die erste Pforte, als das Klingeln schon verstummt war.
25143
Herr Schlemiel, der Kustos, ein untersetzter Mann mit rauhbärtigem
25144
Arbeitergesicht, war eben im Begriff, sie zu verschließen. »Na ...«
25145
sagte er und ließ den Schüler Buddenbrook hindurchschlüpfen ...
25146
Vielleicht, vielleicht war er gerettet. Es galt, sich ungesehen ins
25147
Klassenzimmer zu stehlen, dort heimlich das Ende der Andacht abzuwarten,
25148
die in der Turnhalle abgehalten wurde, und zu tun, als ob alles in
25149
Ordnung sei. Und mit Keuchen nach Luft ringend, aufgerieben und in
25150
kaltem Schweiße erstarrt, schleppte er sich über den mit roten Klinkern
25151
gepflasterten Hof und durch eine der hübschen, mit bunten Glasscheiben
25152
versehenen Klapptüren ins Innere ...
25154
Es war alles neu, reinlich und schön hier in der Anstalt. Der Zeit war
25155
ihr Recht geworden, und die grauen und altersmorschen Teile der
25156
ehemaligen Klosterschule, in denen noch die Väter der jetzigen
25157
Generation der Wissenschaft gepflogen hatten, waren der Erde
25158
gleichgemacht, um neue, luftige, prächtige Baulichkeiten an ihrer Stelle
25159
erstehen zu lassen. Der Stil des Ganzen war gewahrt worden, und über
25160
Korridoren und Kreuzgängen spannten sich feierlich die gotischen
25161
Gewölbe. Was aber die Beleuchtung und Heizung, was die Geräumigkeit und
25162
Helligkeit der Klassen, die Behaglichkeit der Lehrerzimmer, die
25163
praktische Einrichtung der Säle für Chemie-, Physik- und
25164
Zeichenunterricht betraf, so herrschte der vollste Komfort der
25167
Der erschöpfte Hanno Buddenbrook drückte sich an der Wand entlang und
25168
blickte um sich ... Nein, gepriesen sei Gott, es sah ihn niemand. Von
25169
fernen Korridoren hallte das Gewühl der Schüler- und Lehrermasse zu ihm
25170
her, die sich zur Turnhalle wälzte, um dort für die Arbeit der Woche
25171
eine kleine religiöse Stärkung zu sich zu nehmen. Hier vorn lag alles
25172
tot und still, und auch der Weg über die breite, mit Linoleum gedeckte
25173
Treppe war frei. Behutsam, auf den Zehenspitzen, verhaltenen Atems und
25174
angespannt lauschend, schlich er hinauf. Sein Klassenzimmer, die
25175
Realuntersekunda, war im ersten Stockwerk, der Treppe gegenüber gelegen;
25176
die Tür stand offen. Auf der obersten Stufe spähte er, vorgebeugt, den
25177
langen Wandelgang entlang, an dessen beiden Seiten sich die mit
25178
Porzellanschildern versehenen Eingänge zu den verschiedenen Klassen
25179
reihten, tat drei rasche, geräuschlose Schritte vorwärts und befand sich
25182
Es war leer. Die drei breiten Fenster waren noch verhangen, und die
25183
brennenden Gaslampen, die von der Decke niederhingen, kochten leise in
25184
der Stille. Grüne Schirme breiteten das Licht über die drei Kolonnen
25185
zweisitziger Pultbänke aus hellem Holze hin, denen dunkel, lehrhaft und
25186
reserviert, mit einer Wandtafel zu seinen Häupten, das Katheder
25187
gegenüber stand. Eine gelbe Holztäfelung bekleidete den unteren Teil der
25188
Wände, und darüber waren die nackten Kalkflächen mit ein paar Landkarten
25189
geschmückt. Eine zweite Tafel lehnte auf einer Staffelei zur Seite des
25192
Hanno ging zu seinem Platz, der sich ungefähr inmitten des Zimmers
25193
befand, schob die Mappe ins Fach, sank auf den harten Sitz, legte die
25194
Arme auf die schräge Platte und bettete seinen Kopf darauf. Ein
25195
unsägliches Wohlgefühl durchrieselte ihn. Diese kahle und harte Stube
25196
war häßlich und hassenswert, und auf seinem Herzen lastete der ganze
25197
drohende Vormittag mit tausend Gefahren. Aber er war doch fürs erste in
25198
Sicherheit, war körperlich geborgen und konnte die Dinge an sich
25199
herankommen lassen. Auch war die erste, die Religionsstunde bei Herrn
25200
Ballerstedt ziemlich harmloser Natur ... An dem Vibrieren des
25201
Papierzüngleins dort oben vor der kreisrunden Öffnung in der Wand sah
25202
man, wie die warme Luft hereinströmte, und auch die Gasflammen heizten
25203
den Raum. Ach, man konnte sich strecken und die starr-feuchten Glieder
25204
langsam sich lösen und auftauen lassen. Eine wohlige und ungesunde Hitze
25205
stieg in seinen Kopf hinauf, summte in seinen Ohren und verschleierte
25208
Plötzlich vernahm er hinter sich ein Geräusch, das ihn zusammenzucken
25209
und sich jäh herumwenden ließ ... Und siehe da, hinter der hintersten
25210
Bank kam der Oberkörper Kais, des Grafen Mölln, zum Vorschein. Er kroch
25211
hervor, der junge Herr, er arbeitete sich heraus, stellte sich auf die
25212
Füße, schlug leicht und schnell die Hände gegeneinander, um den Staub
25213
davon abzustreifen, und schritt strahlenden Angesichts auf Hanno
25216
»Ach, du bist es, Hanno!« sagte er. »Und ich zog mich =dort=hin zurück,
25217
weil ich dich für ein Stück Lehrkörper hielt, als du kamst!«
25219
Seine Stimme brach sich beim Sprechen, merklich im Wechseln begriffen,
25220
was bei seinem Freunde noch nicht der Fall war. Er war in gleichem Maße
25221
gewachsen wie dieser, aber sonst war er ganz und gar derselbe geblieben.
25222
Immer noch trug er einen Anzug von unbestimmter Farbe, an dem hie und da
25223
ein Knopf fehlte, und dessen Gesäß von einem großen Flicken gebildet
25224
ward. Immer noch waren seine Hände nicht ganz reinlich, aber schmal und
25225
außerordentlich edel gebildet, mit langen, schlanken Fingern und spitz
25226
zulaufenden Nägeln. Und immer noch fiel sein flüchtig in der Mitte
25227
gescheiteltes, rötlich gelbes Haar in eine alabasterweiße und makellose
25228
Stirn, unter welcher, tief und scharf zugleich, die hellblauen Augen
25229
blitzten ... Der Gegensatz zwischen seiner arg vernachlässigten Toilette
25230
und der Rassereinheit dieses zartknochigen Gesichts mit der ganz leicht
25231
gebogenen Nase und der ein wenig geschürzten Oberlippe sprang jetzt noch
25232
mehr in die Augen als ehemals.
25234
»Nein, Kai«, sagte Hanno mit verzogenem Munde und indem er eine Hand in
25235
der Gegend des Herzens umherbewegte, »wie kannst du mich dermaßen
25236
erschrecken! Warum bist du hier oben? Warum hast du dich versteckt? Bist
25237
du auch zu spät gekommen?«
25239
»Bewahre«, antwortete Kai. »Ich bin schon lange hier ... Am Montagmorgen
25240
kann man es ja nicht erwarten, endlich wieder in die Anstalt zu
25241
gelangen, wie du selbst am besten weißt, mein Lieber ... Nein, ich bin
25242
nur zum Spaß hier oben geblieben. Der tiefe Oberlehrer hatte die
25243
Aufsicht und achtete es nicht für Raub, das Volk zur Andacht
25244
hinunterzutreiben. Da machte ich es so, daß ich mich immer dicht hinter
25245
seinem Rücken hielt ... Wie er sich auch drehte und um sich lugte, der
25246
Mystiker, ich war immer dicht hinter seinem Rücken, bis er wegging, und
25247
so konnte ich oben bleiben ... Aber du«, sagte er mitleidig und setzte
25248
sich mit einer zärtlichen Bewegung neben Hanno auf die Bank ... »Du hast
25249
rennen müssen, wie? Armer! Du siehst ganz verhetzt aus. Das Haar klebt
25250
dir ja an den Schläfen ...« Und er nahm ein Lineal vom Tische und
25251
lockerte damit, ernst und sorgsam, das Haar des kleinen Johann. »Du hast
25252
also die Zeit verschlafen?... Übrigens sitze ich hier auf Adolf
25253
Todtenhaupts Platz«, unterbrach er sich und blickte um sich, »auf des
25254
Primus geweihtem Platze! Nun, für diesmal macht es wohl nichts ... Du
25255
hast also die Zeit verschlafen?«
25257
Hanno hatte sein Gesicht wieder auf die gekreuzten Arme gebettet. »Ich
25258
war ja im Theater gestern Abend«, sagte er nach einem schweren Seufzer.
25260
»Oh, richtig, das hatte ich vergessen!... War es so schön?«
25262
Kai bekam keine Antwort.
25264
»Du hast es doch gut«, fuhr er überredend fort, »das solltest du
25265
bedenken, Hanno. Sieh, ich bin noch nie im Theater gewesen, und es
25266
besteht auf lange Jahre hinaus nicht die geringste Aussicht, daß ich
25267
jemals hineinkomme ...«
25269
»Wenn nur der Katzenjammer nicht wäre«, sagte Hanno gepreßt.
25271
»Ja, den Zustand kenne ich ohnehin.« Und Kai bückte sich nach dem Hut
25272
und dem Überzieher seines Freundes, die neben der Bank auf dem Boden
25273
lagen, nahm die Sachen und trug sie leise auf den Korridor hinaus.
25275
»Dann hast du die Metamorphosenverse wohl nicht sehr genau im Kopfe?«
25276
fragte er, als er wieder hereinkam.
25278
»Nein«, sagte Hanno.
25280
»Oder bist du vielleicht auf das Geographie-Extemporale präpariert?«
25282
»Ich bin gar nichts und kann gar nichts«, sagte Hanno.
25284
»Also auch nicht Chemie und Englisch! _All right!_ Wir sind
25285
Herzensfreunde und Waffenbrüder!« Kai war sichtlich erleichtert. »Ich
25286
bin in genau derselben Lage«, erklärte er munter. »Ich habe am Sonnabend
25287
nicht gearbeitet, weil morgen Sonntag war, und am Sonntag nicht, aus
25288
Pietät ... Nein, Unsinn ... hauptsächlich, weil ich etwas Besseres zu
25289
arbeiten hatte, natürlich«, sagte er mit plötzlichem Ernst, indem eine
25290
leichte Röte sein Gesicht überflog. »Ja, heute kann es vergnüglich
25293
»Wenn ich noch einen Tadel bekomme«, sagte der kleine Johann, »so bleibe
25294
ich sitzen; und den bekomme ich sicher, wenn er mich im Lateinischen
25295
darannimmt. Der Buchstabe B ist an der Reihe, Kai, das ist nicht aus der
25296
Welt zu schaffen ...«
25298
»Warten wir's ab! Ha, Cäsar geht aus. Mir haben stets Gefahren im Rücken
25299
nur gedroht; wenn sie die Stirn des Cäsar werden sehen ...« Aber Kai kam
25300
mit seiner Deklamation nicht zu Ende. Es war ihm ebenfalls sehr schlecht
25301
zumute. Er ging zum Katheder, setzte sich darauf und fing an, sich mit
25302
finsterer Miene in dem Armstuhl zu schaukeln. Hanno Buddenbrook ließ
25303
seine Stirn noch immer auf den gekreuzten Armen ruhen. So saßen sie sich
25304
eine Weile schweigend gegenüber.
25306
Plötzlich klang irgendwo in weiter Ferne ein dumpfes Summen auf, das
25307
schnell zum Brausen ward und sich binnen einer halben Minute bedrohlich
25310
»Das Volk«, sagte Kai erbittert. »Herr, mein Gott, wie rasch sie fertig
25311
sind! Nicht einmal um zehn Minuten ist die Stunde kürzer geworden ...«
25313
Er stieg vom Katheder hinab und begab sich zur Tür, um sich unter die
25314
Hereinkommenden zu mischen. Was Hanno betraf, so erhob er nur einen
25315
Augenblick den Kopf, verzog den Mund und blieb einfach sitzen.
25317
Es kam heran, mit Schlürfen, Stampfen und einem Gewirr von männlichen
25318
Stimmen, Diskanten und sich überschlagenden Wechselorganen, flutete über
25319
die Treppen herauf, ergoß sich über den Korridor und strömte auch in
25320
dieses Zimmer, das plötzlich von Leben, Bewegung und Geräusch erfüllt
25321
ward. Sie kamen herein, die jungen Leute, die Kameraden Hannos und Kais,
25322
die Realuntersekundaner, etwa fünfundzwanzig an der Zahl, schlenderten,
25323
die Hände in den Hosentaschen oder mit den Armen schlenkernd an ihre
25324
Plätze und schlugen ihre Bibeln auf. Es waren da angenehme und
25325
konfiszierte Physiognomien, solche, die wohl und gesund, und andere, die
25326
bedenklich aussahen, lange, starke Schlingel, die demnächst Kaufleute
25327
werden oder gar zur See gehen wollten und sich um gar nichts mehr
25328
kümmerten, und kleine, über ihr Alter hinaus vorgeschrittene Streber,
25329
die in den Fächern brillierten, in denen es auswendig zu lernen galt.
25330
Adolf Todtenhaupt aber, der Primus, wußte alles; er war seiner Lebtage
25331
noch nicht eine Antwort schuldig geblieben. Das lag zum Teil an seinem
25332
stillen, leidenschaftlichen Fleiße, zum Teil daran, daß die Lehrer sich
25333
hüteten, ihn etwas zu fragen, was er vielleicht nicht hätte wissen
25334
können. Es hätte sie schmerzlich berührt und beschämt, es hätte sie in
25335
ihrem Glauben an menschliche Vollkommenheit erschüttert, ein Verstummen
25336
Adolf Todtenhaupts zu erleben ... Er besaß einen merkwürdig gebuckelten
25337
Schädel, dem das blonde Haar spiegelglatt angeklebt war, graue, schwarz
25338
umringte Augen und lange, braune Hände, die aus den zu kurzen Ärmeln
25339
seiner sauber gebürsteten Jacke hervorsahen. Er setzte sich neben Hanno
25340
Buddenbrook, lächelte sanft und ein wenig tückisch und bot dem Nachbar
25341
einen Guten Morgen, wobei er sich dem herrschenden Jargon anbequemte,
25342
der das Wort zu einem kecken und nachlässigen Laute verzerrte. Dann
25343
begann er, während um ihn her alles halblaut plauderte, sich
25344
präparierte, gähnte und lachte, stillschweigend in dem Klassenbuch zu
25345
arbeiten, indem er die Feder auf unvergleichlich korrekte Art mit
25346
schlank und gerade ausgestreckten Fingern handhabte.
25348
Nach Verlauf von zwei Minuten wurden draußen Schritte laut, die Inhaber
25349
der vorderen Bänke erhoben sich ohne Eile von ihren Plätzen, und weiter
25350
hinten folgte dieser und jener ihrem Beispiel, während andere sich in
25351
ihren Beschäftigungen nicht stören ließen und kaum Notiz davon nahmen,
25352
daß Herr Oberlehrer Ballerstedt ins Zimmer kam, seinen Hut an die Tür
25353
hängte und sich zum Katheder begab.
25355
Er war ein Vierziger von sympathischem Embonpoint, mit großer Glatze,
25356
rötlichgelbem, kurz gehaltenem Vollbart, rosigem Teint und einem
25357
Mischausdruck von Salbung und behaglicher Sinnlichkeit um die feuchten
25358
Lippen. Er nahm sein Notizbuch zur Hand und blätterte schweigend darin;
25359
da aber die Ruhe in der Klasse vieles zu wünschen übrig ließ, erhob er
25360
den Kopf, streckte den Arm auf der Pultplatte aus und bewegte, während
25361
sein Gesicht langsam so dunkelrot anschwoll, daß sein Bart hellgelb
25362
erschien, seine schwache und weiße Faust ein paarmal kraftlos auf und
25363
nieder, wobei seine Lippen eine halbe Minute lang krampfhaft und
25364
fruchtlos arbeiteten, um schließlich nichts hervorzubringen als ein
25365
kurzes, gepreßtes und ächzendes »Nun ...« Dann rang er noch eine Weile
25366
nach ferneren Ausdrücken des Tadels, wandte sich schließlich wieder
25367
seinem Notizbuch zu, schwoll ab und gab sich zufrieden. Dies war so
25368
Oberlehrer Ballerstedts Art und Weise.
25370
Er hatte ehemals Prediger werden wollen, war dann jedoch durch seine
25371
Neigung zum Stottern wie durch seinen Hang zu weltlichem Wohlleben
25372
bestimmt worden, sich lieber der Pädagogik zuzuwenden. Er war
25373
Junggeselle, besaß einiges Vermögen, trug einen kleinen Brillanten am
25374
Finger und war dem Essen und Trinken herzlich zugetan. Er war derjenige
25375
Oberlehrer, der nur dienstlich mit seinen Standesgenossen, im übrigen
25376
aber vorwiegend mit der unverheirateten kaufmännischen Lebewelt der
25377
Stadt, ja auch mit den Offizieren der Garnison verkehrte, täglich
25378
zweimal im ersten Gasthause speiste und Mitglied des »Klubs« war.
25379
Begegnete er größeren Schülern nachts um zwei oder drei Uhr irgendwo in
25380
der Stadt, so schwoll er an, brachte einen »Guten Morgen« zustande und
25381
ließ die Sache für beide Teile auf sich beruhen ... Hanno Buddenbrook
25382
hatte nichts von ihm zu befürchten und wurde fast nie von ihm gefragt.
25383
Der Oberlehrer hatte sich mit seinem Onkel Christian allzuoft in
25384
allzurein menschlicher Weise zusammengefunden, als daß es ihn hätte
25385
freuen können, mit dem Neffen in dienstliche Konflikte zu geraten ...
25387
»Nun ...« sagte er abermals, sah in der Klasse umher, bewegte wieder
25388
seine schwach geballte Faust mit dem kleinen Brillanten und blickte in
25389
sein Notizbuch. »Perlemann. Die Übersicht.«
25391
Irgendwo in der Klasse erhob sich Perlemann. Man merkte es kaum, daß er
25392
emporstieg. Es war einer von den Kleinen, Vorgeschrittenen. »Die
25393
Übersicht«, sagte er leise und artig, indem er mit ängstlichem Lächeln
25394
den Kopf vorstreckte. »Das Buch Hiob zerfällt in drei Teile. Erstens der
25395
Zustand Hiobs, ehe er in das Kreuz oder Züchtigung des Herrn geraten;
25396
Kapitel _I_, Vers eins bis sechs. Zweitens das Kreuz selbst und was sich
25397
dabei zugetragen; Kapitel ...«
25399
»Es war richtig, Perlemann«, unterbrach ihn Herr Ballerstedt, gerührt
25400
von soviel zager Willfährigkeit, und schrieb eine gute Note in sein
25401
Taschenbuch. »Heinricy, fahren Sie fort.«
25403
Heinricy war einer von den langen Schlingeln, die sich um gar nichts
25404
mehr kümmerten. Er schob das griffeste Messer, mit dem er sich
25405
beschäftigt hatte, in die Hosentasche, stand geräuschvoll auf, ließ die
25406
Unterlippe hängen und räusperte sich mit rauher und roher Männerstimme.
25407
Alle waren unzufrieden, daß nun er statt des sanften Perlemann an die
25408
Reihe kam. Die Schüler träumten und brüteten in der warmen Stube unter
25409
den leise sausenden Gasflammen im Halbschlafe vor sich hin. Alle waren
25410
müde vom Sonntag, und alle waren an dem kalten Nebelmorgen seufzend und
25411
mit klappernden Zähnen aus den warmen Betten gekrochen. Jedem wäre es
25412
lieb gewesen, wenn der kleine Perlemann die ganze Stunde lang
25413
weitergesäuselt hätte, während Heinricy nun sicherlich Streit machen
25416
»Ich habe gefehlt, als dies durchgenommen wurde«, sagte er mit grober
25419
Herr Ballerstedt schwoll an, er bewegte seine schwache Faust, arbeitete
25420
mit den Lippen und starrte dem jungen Heinricy mit emporgezogenen
25421
Augenbrauen ins Gesicht. Sein dunkelroter Kopf zitterte vor ringender
25422
Anstrengung, bis er schließlich ein »Nun ...« hervorzustoßen vermochte,
25423
womit der Bann gebrochen und das Spiel gewonnen war. »Von Ihnen ist nie
25424
eine Leistung zu erlangen«, fuhr er mit Leichtigkeit und Redegewandtheit
25425
fort, »und immer haben Sie eine Entschuldigung bei der Hand, Heinricy.
25426
Wenn Sie vorige Stunde krank waren, so hätten Sie sich doch in diesen
25427
Tagen sehr wohl über das durchgenommene Pensum unterrichten können, und
25428
wenn der erste Teil vom Zustande vor dem Kreuze und der zweite vom
25429
Kreuze selbst handelt, so könnten Sie sich am Ende an den Fingern
25430
abzählen, daß der dritte Teil den Zustand =nach= vorbesagtem Jammer
25431
betrifft. Aber es fehlt Ihnen an der rechten Hingebung, und Sie sind
25432
nicht allein ein schwacher Mensch, Sie sind auch immer bereit, ihre
25433
Schwäche zu beschönigen und zu verteidigen. Merken Sie sich aber, daß,
25434
solange dies der Fall, an eine Erhebung und Besserung nicht zu denken
25435
ist, Heinricy. Setzen Sie sich. Wasservogel, fahren Sie fort.«
25437
Heinricy, dickfellig und trotzig, setzte sich mit Scharren und Knarren,
25438
raunte seinem Nachbar eine Frechheit zu und zog sein griffestes Messer
25439
wieder hervor. Der Schüler Wasservogel stand auf, ein Junge mit
25440
entzündeten Augen, aufgestülpter Nase, abstehenden Ohren und zerkauten
25441
Fingernägeln. Er vollendete mit weichlicher Quetschstimme die
25442
»Übersicht« und fing an, von Hiob, dem Manne im Lande Uz, zu erzählen,
25443
und was sich mit ihm begeben. Er hatte das Alte Testament hinter dem
25444
Rücken seines Vordermannes aufgeschlagen, las darin mit dem Ausdruck
25445
vollendeter Unschuld und hingebender Nachdenklichkeit, starrte dann auf
25446
einen Punkt der Wand und sprach, indem er das Erschaute unter Stocken
25447
und quäkendem Husten in ein hilfloses, modernes Deutsch übersetzte ...
25448
Er hatte etwas äußerst Widerliches an sich, aber Herr Ballerstedt lobte
25449
ihn sehr für alle seine Bemühungen. Der Schüler Wasservogel hatte es
25450
insofern gut im Leben, als die meisten Lehrer ihn gern und über seine
25451
Verdienste lobten, um ihm, sich selbst und den anderen zu zeigen, daß
25452
sie sich durch seine Häßlichkeit keineswegs zur Ungerechtigkeit
25453
verführen ließen ...
25455
Und die Religionstunde nahm ihren Fortgang. Verschiedene junge Leute
25456
wurden noch aufgerufen, um sich über ihr Wissen um Hiob, den Mann im
25457
Lande Uz, auszuweisen, und Gottlieb Kaßbaum, Sohn des verunglückten
25458
Großkaufmanns Kaßbaum, erhielt trotz seiner zerrütteten
25459
Familienverhältnisse eine vorzügliche Note, weil er mit Genauigkeit
25460
feststellen konnte, daß Hiob an Vieh siebentausend Schafe, dreitausend
25461
Kamele, fünfhundert Joch Rinder, fünfhundert Esel und sehr viel Gesindes
25464
Dann durften die Bibeln aufgeschlagen werden, die meistens schon
25465
aufgeschlagen waren, und man fuhr mit Lesen fort. Kam eine Stelle, die
25466
Herrn Ballerstedt der Erläuterung bedürftig erschien, so schwoll er an,
25467
sagte »Nun ...« und hielt nach den üblichen Vorbereitungen einen kleinen
25468
mit allgemeinen moralischen Betrachtungen untermischten Vortrag über den
25469
fraglichen Punkt. Kein Mensch hörte ihm zu. Friede und Schläfrigkeit
25470
herrschten im Zimmer. Die Hitze war durch die beständig arbeitende
25471
Heizung und die Gaslampen schon ziemlich stark geworden und die Luft
25472
durch diese fünfundzwanzig atmenden und dünstenden Körper schon ziemlich
25473
verdorben. Die Wärme, das gelinde Sausen der Flammen und die monotone
25474
Stimme des Vorlesenden legten sich um die gelangweilten Gehirne und
25475
lullten sie in dumpfe Traumseligkeit. Kai Graf Mölln hatte außer seiner
25476
Bibel auch die »Unbegreiflichen Ereignisse und geheimnisvollen Taten«
25477
von Edgar Allan Poe vor sich aufgeschlagen und las darin, den Kopf in
25478
die aristokratische und nicht ganz saubere Hand gestützt. Hanno
25479
Buddenbrook saß zurückgelehnt und zusammengesunken und blickte mit
25480
schlaffem Munde und schwimmenden, heißen Augen auf das Buch Hiob, dessen
25481
Zeilen und Buchstaben zu einem schwärzlichen Gewimmel verschwammen.
25482
Manchmal, wenn er sich des Gralmotives oder des Ganges zum Münster
25483
erinnerte, senkte er langsam die Lider und fühlte ein innerliches
25484
Schluchzen. Und sein Herz betete, es möchte möglich sein, daß diese
25485
gefahrlose und friedevolle Morgenstunde niemals ein Ende nähme.
25487
Und dennoch kam es, wie es in der Ordnung der Dinge lag, und der schrill
25488
heulende Klang der Kustosglocke, der durch die Korridore gellte und
25489
hallte, riß die fünfundzwanzig Gehirne aus ihrem warmen Dämmern.
25491
»So weit!« sagte Herr Ballerstedt und ließ sich das Klassenbuch reichen,
25492
um darin mit seinem Namenszeichen zu bescheinigen, daß er diese Stunde
25493
seines Amtes gewaltet.
25495
Hanno Buddenbrook schloß seine Bibel und reckte sich zitternd und mit
25496
nervösem Gähnen; als er aber die Arme senkte und die Glieder abspannte,
25497
mußte er eilig und mühsam aufatmen, um sein Herz, das einen Augenblick
25498
schwach und wankend den Dienst versagte, ein wenig in Takt zu bringen.
25499
Jetzt kam das Lateinische ... Er warf einen hilfesuchenden Seitenblick
25500
zu Kai hinüber, der das Ende der Stunde gar nicht bemerkt zu haben
25501
schien und immer noch in Versunkenheit seiner Privatlektüre oblag, zog
25502
den in marmorierte Pappe gebundenen Ovid aus seiner Mappe und schlug die
25503
Verse auf, die für heute auswendig zu lernen waren ... Nein, es gab
25504
keine Hoffnung, diese schwarzen Zeilen, die sich, mit Bleistiftzeichen
25505
versehen, schnurgerade und zu fünfen numeriert aneinanderreihten und ihn
25506
so hoffnungslos dunkel und unbekannt anstarrten, sich jetzt noch ein
25507
wenig vertraut zu machen. Er verstand kaum ihren Sinn, geschweige denn
25508
hätte er eine einzige davon aus dem Kopfe hersagen können. Und von
25509
denjenigen, die sich daran schlossen und die für heute zu präparieren
25510
waren, enträtselte er nicht ein Sätzchen.
25512
»Was heißt denn `_deciderant, patula Jovis arbore, glandes_´?« wandte er
25513
sich mit verzweifelter Stimme an Adolf Todtenhaupt, der neben ihm im
25514
Klassenbuch arbeitete. »Das ist ja alles Unsinn! Nur um einen zu
25517
»Wie?« sagte Todtenhaupt und fuhr fort, zu schreiben ... »Die Eicheln
25518
vom Baum des Jupiter ... Das ist die Eiche ... Ja, ich weiß selbst nicht
25521
»Sage mir nur ein bißchen zu, Todtenhaupt, wenn ich darankomme!« bat
25522
Hanno und schob das Buch von sich. Dann, nachdem er mit düsterem Blick
25523
des Primus unachtsames und unverbindliches Nicken betrachtet hatte,
25524
schob er sich seitwärts aus der Bank hinaus und stand auf.
25526
Die Situation hatte sich verändert. Herr Ballerstedt hatte das Zimmer
25527
verlassen, und statt seiner stand jetzt am Katheder, ganz gerade und
25528
stramm, ein kleines, schwaches und ausgemergeltes Männchen mit dünnem
25529
weißen Bart, dessen rotes Hälschen aus einem engen Klappkragen
25530
hervorragte, und das mit dem einen seiner weißbehaarten Händchen seinen
25531
Zylinder, die Öffnung nach oben, vor sich hinhielt. Es führte bei den
25532
Schülern den Namen »die Spinne« und hieß in Wirklichkeit Professor
25533
Hückopp. Da ihm während dieser Pause auf dem Korridor die Aufsicht
25534
zuerteilt war, hatte es auch in den Klassenzimmern nach dem Rechten zu
25535
sehen ... »Die Lampen aus! Die Vorhänge auf! Die Fenster auf!« sagte es,
25536
indem es seinem Stimmchen soviel Kommandokraft wie möglich gab und mit
25537
unbeholfen energischer Geste seinen Arm in der Luft bewegte, als drehe
25538
es eine Kurbel ... »Und alles hinunter, hinaus in die frische Luft,
25539
potztausendnochmal dazu!«
25541
Die Lampen verloschen, die Vorhänge flogen empor, das fahle Tageslicht
25542
erfüllte das Zimmer, und die kalte Nebelluft stürzte durch die breiten
25543
Fenster herein, während die Untersekundaner sich an Professor Hückopp
25544
vorbei zum Ausgange schoben; nur der Primus durfte hier oben bleiben.
25546
Hanno und Kai trafen an der Tür zusammen und gingen nebeneinander die
25547
komfortable Treppe hinunter und drunten über die stilvollen Vorplätze.
25548
Sie schwiegen beide. Hanno sah jämmerlich elend aus und Kai war in
25549
Gedanken. Auf dem großen Hofe angelangt, begannen sie auf und nieder zu
25550
wandern, inmitten der Menge von Kameraden verschiedenen Alters, die sich
25551
auf den feuchtroten Fliesen geräuschvoll durcheinander bewegten.
25553
Ein noch jugendlicher Herr mit blondem Spitzbart führte hier unten die
25554
Aufsicht. Dies war der feine Oberlehrer. Er hieß Doktor Goldener und
25555
unterhielt ein Knabenpensionat, das von reichen und adeligen
25556
Gutsbesitzerssöhnen aus Holstein und Mecklenburg besucht war. Beeinflußt
25557
von den feudalen jungen Leuten, die seiner Hut empfohlen waren, pflegte
25558
er sein Äußeres in einer Weise, wie sie unter seinen Kollegen gänzlich
25559
ungebräuchlich war. Er trug buntseidene Krawatten, ein stutzerhaftes
25560
Röckchen, zartfarbene Beinkleider, die mit Strippen unter den Sohlen
25561
befestigt waren, und parfümierte Taschentücher mit farbigen Borten.
25562
Bescheidener Leute Kind wie er war, stand ihm solcher Prunk eigentlich
25563
gar nicht zu Gesicht, und seine großmächtigen Füße zum Beispiel nahmen
25564
sich in den spitz zulaufenden Knöpfstiefeln ziemlich lächerlich aus.
25565
Unbegreiflicherweise war er eitel auf seine plumpen und roten Hände, die
25566
er unaufhörlich aneinanderrieb, ineinanderschlang und liebevoll prüfend
25567
betrachtete. Er pflegte seinen Kopf schräg zurückgelehnt zu tragen und
25568
mit blinzelnden Augen, gekrauster Nase und halboffenem Munde beständig
25569
ein Gesicht zu schneiden, als sei er im Begriffe, zu sagen: »Was ist
25570
denn nun schon wieder los?« ... Dennoch war er zu vornehm, um nicht alle
25571
kleinen Unerlaubtheiten auf distinguierte Art zu übersehen, die sich
25572
etwa auf dem Hofe ereigneten. Er übersah, daß dieser oder jener Schüler
25573
ein Buch mit sich heruntergebracht hatte, um sich im letzten Augenblick
25574
ein wenig zu präparieren, übersah, daß seine Pensionäre Herrn Schlemiel,
25575
dem Kustos, Geld einhändigten, um sich Bäckereien holen zu lassen, daß
25576
hier eine kleine Kraftprobe zwischen zwei Tertianern in eine Prügelei
25577
ausartete, um die sich sofort ein Ring von Sachverständigen bildete,
25578
und daß dort hinten jemand, der auf irgendeine Weise eine
25579
unkameradschaftliche, feige oder unehrenhafte Gesinnung an den Tag
25580
gelegt hatte, von seinen Klassengenossen zwangsweise zur Pumpe befördert
25581
wurde, um zu seiner Schande mit Wasser begossen zu werden ...
25583
Es war ein wackeres und ein bißchen ungehobeltes Geschlecht, die laute
25584
Menge, in der Kai und Hanno hin und wider wanderten. Herangewachsen in
25585
der Luft eines kriegerisch siegreichen und verjüngten Vaterlandes,
25586
huldigte man Sitten von rauher Männlichkeit. Man redete in einem Jargon,
25587
der zugleich salopp und schneidig war und von technischen Ausdrücken
25588
wimmelte. Trink- und Rauchtüchtigkeit, Körperstärke und Turnertugend
25589
standen sehr hoch in der Schätzung, und die verächtlichsten Laster waren
25590
Weichlichkeit und Geckenhaftigkeit. Wer mit emporgeklapptem Rockkragen
25591
getroffen wurde, durfte der Pumpe gewärtig sein. Wer sich aber gar auf
25592
der Straße mit einem Spazierstock hatte sehen lassen, an dem wurde in
25593
der Turnhalle auf ebenso schimpfliche wie schmerzhafte Art eine
25594
öffentliche Züchtigung vollzogen ...
25596
Das, was Hanno und Kai miteinander sprachen, ging fremd und sonderbar in
25597
dem Stimmengewirr unter, das die kalte und feuchte Luft erfüllte. Diese
25598
Freundschaft war seit langem in der ganzen Schule bekannt. Die Lehrer
25599
duldeten sie mit Übelwollen, weil sie Unrat und Opposition dahinter
25600
vermuteten, und die Kameraden, außerstande, ihr Wesen zu enträtseln,
25601
hatten sich gewöhnt, sie mit einem gewissen scheuen Widerwillen gelten
25602
zu lassen und diese beiden Genossen als _outlaws_ und fremdartige
25603
Sonderlinge zu betrachten, die man sich selbst überlassen mußte ...
25604
Übrigens genoß Kai Graf Mölln eines gewissen Respekts wegen der Wildheit
25605
und zügellosen Unbotmäßigkeit, die man an ihm kannte. Was aber Hanno
25606
Buddenbrook betraf, so konnte selbst der große Heinricy, der doch alle
25607
Welt prügelte, sich nicht entschließen, wegen Geckenhaftigkeit und
25608
Feigheit Hand an ihn zu legen, aus unbestimmter Furcht vor der Weichheit
25609
seines Haares, vor der Zartheit seiner Glieder, vor seinem trüben,
25610
scheuen und kalten Blick ...
25612
»Ich habe Angst«, sagte Hanno zu Kai, indem er an der einen Seitenwand
25613
des Hofes stehenblieb, sich gegen die Mauer lehnte und mit fröstelndem
25614
Gähnen seine Jacke fester zusammenzog ... »Ich habe eine unsinnige
25615
Angst, Kai, sie tut mir überall weh im Körper. Ist nun Herr Mantelsack
25616
der Mann, vor dem man sich derartig fürchten dürfte? Sage selbst! Wenn
25617
diese widerliche Ovidstunde erst vorüber wäre! Wenn ich meinen Tadel im
25618
Klassenbuch hätte und sitzenbliebe und alles in Ordnung wäre! Ich
25619
fürchte mich nicht =davor=, ich fürchte mich vor dem Eklat, der damit
25622
Kai verfiel in Gedanken. »Dieser Roderich Usher ist die wundervollste
25623
Figur, die je erfunden worden ist!« sagte er schnell und unvermittelt.
25624
»Ich habe eben die ganze Stunde gelesen ... Wenn ich jemals eine so gute
25625
Geschichte schreiben könnte!«
25627
Die Sache war die, daß Kai sich mit Schreiben abgab. Dies war es auch,
25628
was er heute morgen gemeint hatte, als er sagte, er habe besseres zu
25629
tun, als Schularbeiten zu machen, und Hanno hatte ihn wohl verstanden.
25630
Aus der Neigung zum Geschichtenerzählen, die er als kleiner Junge an den
25631
Tag gelegt hatte, hatten sich schriftstellerische Versuche entwickelt,
25632
und kürzlich hatte er eine Dichtung vollendet, ein Märchen, ein
25633
rücksichtslos phantastisches Abenteuer, in dem alles in einem dunklen
25634
Schein erglühte, das unter Metallen und geheimnisvollen Gluten in den
25635
tiefsten und heiligsten Werkstätten der Erde und zugleich in denen der
25636
menschlichen Seele spielte, und in dem die Urgewalten der Natur und der
25637
Seele auf eine sonderbare Art vermischt, gewandt, gewandelt und
25638
geläutert wurden, -- geschrieben in einer innerlichen, deutsamen, ein
25639
wenig überschwenglichen und sehnsüchtigen Sprache von zarter
25640
Leidenschaftlichkeit ...
25642
Hanno kannte diese Geschichte wohl und liebte sie sehr; aber er war
25643
jetzt nicht aufgelegt, von Kais Arbeiten oder von Edgar Poe zu sprechen.
25644
Er gähnte wieder und seufzte dann, indem er gleichzeitig ein Motiv vor
25645
sich hinsang, das er kürzlich am Flügel erfunden hatte. Dies war so
25646
seine Gewohnheit. Er pflegte oft zu seufzen, tief aufzuatmen aus dem
25647
dringenden Bedürfnis, sein unzulänglich arbeitendes Herz in einen etwas
25648
munteren Gang zu bringen, und er hatte sich gewöhnt, das Ausatmen nach
25649
einem musikalischen Thema, irgendeinem Stück Melodie eigener oder
25650
fremder Erfindung, geschehen zu lassen ...
25652
»Siehe, da kommt der liebe Gott!« sagte Kai. »Er lustwandelt in seinem
25655
»Ein netter Garten«, sagte Hanno und geriet ins Lachen. Er lachte nervös
25656
und konnte nicht aufhören, hielt sein Taschentuch vor den Mund und
25657
blickte darüber hinweg auf den, welchen Kai als den »lieben Gott«
25660
Es war Direktor Doktor Wulicke, der Leiter der Schule, der auf dem Hofe
25661
erschienen war: ein außerordentlich langer Mann mit schwarzem
25662
Schlapphut, kurzem Vollbart, einem spitzen Bauche, viel zu kurzen
25663
Beinkleidern und trichterförmigen Manschetten, die stets sehr unsauber
25664
waren. Er ging mit einem Gesicht, das vor Zorn beinahe leidend aussah,
25665
schnell über die Steinfliesen, indem er mit ausgestrecktem Arme auf die
25666
Pumpe wies ... Das Wasser floß! Eine Anzahl Schüler liefen vor ihm her
25667
und überstürzten sich, dem Schaden dadurch abzuhelfen, daß sie die
25668
Leitung schlossen. Aber auch dann standen sie noch lange und
25669
betrachteten mit verstörten Gesichtern abwechselnd die Pumpe und den
25670
Direktor, der sich an den mit rotem Antlitz herbeigeeilten Doktor
25671
Goldener gewandt hatte und mit tiefer, dumpfer und bewegter Stimme auf
25672
ihn einsprach. Seine Rede war mit brummenden und unartikulierten
25673
Lippenlauten durchsetzt ...
25675
Dieser Direktor Wulicke war ein furchtbarer Mann. Er war der Nachfolger
25676
des jovialen und menschenfreundlichen alten Herrn, unter dessen
25677
Regierung Hannos Vater und Onkel studiert hatten, und der bald nach dem
25678
Jahre einundsiebzig gestorben war. Damals war Doktor Wulicke, bislang
25679
Professor an einem preußischen Gymnasium, berufen worden, und mit ihm
25680
war ein anderer, ein neuer Geist in die alte Schule eingezogen. Wo
25681
ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten
25682
hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da
25683
waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere zu
25684
höchster Würde gelangt, und der »kategorische Imperativ unseres
25685
Philosophen Kant« war das Banner, das Direktor Wulicke in jeder Festrede
25686
bedrohlich entfaltete. Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in
25687
dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, daß nicht allein
25688
die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um
25689
nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern
25690
gut angeschrieben zu stehen ... Bald nach dem Einzug des neuen Direktors
25691
war auch unter den vortrefflichsten hygienischen und ästhetischen
25692
Gesichtspunkten mit dem Umbau und der Neueinrichtung der Anstalt
25693
begonnen und alles aufs glücklichste fertiggestellt worden. Allein es
25694
blieb die Frage, ob nicht früher, als weniger Komfort der Neuzeit und
25695
ein bißchen mehr Gutmütigkeit, Gemüt, Heiterkeit, Wohlwollen und Behagen
25696
in diesen Räumen geherrscht hatte, die Schule ein sympathischeres und
25697
segenvolleres Institut gewesen war ...
25699
Was Direktor Wulicke persönlich betraf, so war er von der rätselhaften,
25700
zweideutigen, eigensinnigen und eifersüchtigen Schrecklichkeit des
25701
alttestamentlichen Gottes. Er war entsetzlich im Lächeln wie im Zorne.
25702
Die ungeheure Autorität, die in seinen Händen lag, machte ihn
25703
schauerlich launenhaft und unberechenbar. Er war imstande, etwas
25704
Scherzhaftes zu sagen und fürchterlich zu werden, wenn man lachte. Keine
25705
seiner zitternden Kreaturen wußte Rat, wie man sich ihm gegenüber zu
25706
benehmen habe. Es blieb nichts übrig, als ihn im Staub zu verehren und
25707
durch eine wahnsinnige Demut vielleicht zu verhüten, daß er einen nicht
25708
dahinraffe in seinem Grimm und nicht zermalme in seiner großen
25711
Der Name, den Kai ihm gegeben hatte, wurde nur von ihm selbst und Hanno
25712
Buddenbrook gebraucht, und sie hüteten sich, ihn vor den Kameraden laut
25713
werden zu lassen, aus Scheu vor dem starren und kalten Blick des
25714
Unverständnisses, den sie so wohl kannten ... Nein, es gab nicht einen
25715
Punkt, in dem diese beiden sich mit ihren Genossen verstanden. Es war
25716
ihnen sogar die Art von Opposition und Rache fremd, an der die anderen
25717
sich genügen ließen, und sie mißachteten die üblichen Spottnamen, weil
25718
ein Humor daraus sprach, der sie nicht berührte und sie nicht einmal zum
25719
Lächeln brachte. Es war so billig, so nüchtern und unwitzig, den dünnen
25720
Professor Hückopp »die Spinne« und Oberlehrer Ballerstedt »Kakadu« zu
25721
nennen, eine so armselige Schadloshaltung für den Zwang des
25722
Staatsdienstes! Nein, Kai Graf Mölln war ein wenig bissiger! Für seine
25723
und Hannos Person hatte er den Brauch eingeführt, von den Lehrern nur
25724
vermittels ihres richtigen bürgerlichen Namens unter Hinzufügung des
25725
Wortes »Herr« zu sprechen: »Herr Ballerstedt«, »Herr Mantelsack«, »Herr
25726
Hückopp« ... Das ergab gleichsam eine ablehnende und ironische Kälte,
25727
eine spöttische Distanz und Fremdheit ... Sie sprachen von dem
25728
»Lehrkörper« und amüsierten sich während ganzer Pausen damit, sich ein
25729
wirklich vorhandenes Geschöpf, eine Art Ungeheuer von widerlicher und
25730
phantastischer Gestaltung darunter vorzustellen. Und sie sprachen im
25731
allgemeinen von der »Anstalt« mit einer Betonung, als handele es sich um
25732
eine solche wie die, in der Hannos Onkel Christian sich aufhielt ...
25734
Durch den Anblick des lieben Gottes, der noch eine Weile alles in
25735
bleichen Schrecken versetzte, indem er mit fürchterlichem Brummen nach
25736
verschiedenen Richtungen auf das Butterbrotpapier zeigte, das hie und da
25737
auf den Fliesen lag, war Kai in vorzügliche Laune geraten. Er zog Hanno
25738
mit sich fort, zu einem der Tore, durch das die Lehrer, die zur zweiten
25739
Stunde eintrafen, den Hof beschritten, und fing an, sich ungeheuer tief
25740
vor den rotäugigen, blassen und dürftigen Seminaristen zu verbeugen, die
25741
vorübergingen, um sich zu ihren Sextanern und Septimanern auf die
25742
hinteren Höfe zu begeben. Er bückte sich übermäßig, ließ die Arme hängen
25743
und blickte von unten herauf hingebungsvoll zu den armen Gesellen
25744
empor. Als jedoch der greise Rechenlehrer, Herr Tietge, erschien,
25745
einige Bücher mit zitternder Hand auf dem Rücken haltend, auf unmögliche
25746
Art in sich hineinschielend, krumm, gelb und speiend, da sagte er mit
25747
klangvoller Stimme: »Guten Tag, du Leiche.« Worauf er klaren und
25748
scharfen Blickes irgendwo hin in die Luft sah .....
25750
Es schellte gellend in diesem Augenblick, und sofort begannen die
25751
Schüler von allen Seiten zu den Eingängen zusammenzuströmen. Aber Hanno
25752
hörte nicht auf zu lachen; er lachte noch auf der Treppe so sehr, daß
25753
seine Klassengenossen, die ihn und Kai umgaben, ihm kalt, befremdet und
25754
sogar ein wenig angewidert von soviel Albernheit ins Gesicht
25757
Es ward still in der Klasse, und alles stand einmütig auf, als
25758
Oberlehrer Doktor Mantelsack eintrat. Er war der Ordinarius, und es war
25759
Sitte, vor dem Ordinarius Respekt zu haben. Er zog die Tür hinter sich
25760
zu, indem er sich bückte, reckte den Hals, um zu sehen, ob alle standen,
25761
hing seinen Hut an den Nagel und ging dann rasch zum Katheder, wobei er
25762
seinen Kopf in schnellem Wechsel hob und senkte. Hier nahm er
25763
Aufstellung und sah ein wenig zum Fenster hinaus, indem er seinen
25764
ausgestreckten Zeigefinger, an dem ein großer Siegelring saß, zwischen
25765
Kragen und Hals hin und her bewegte. Er war ein mittelgroßer Mann mit
25766
dünnem, ergrautem Haar, einem krausen Jupiterbart und kurzsichtig
25767
hervortretenden saphirblauen Augen, die hinter den scharfen
25768
Brillengläsern glänzten. Er war gekleidet in einen offenen Gehrock aus
25769
grauem, weichem Stoff, den er in der Taillengegend mit seiner
25770
kurzfingerigen und runzeligen Hand sanft zu betasten liebte. Seine
25771
Beinkleider waren, wie bei allen Lehrern, bis auf den feinen Doktor
25772
Goldener, zu kurz und ließen die Schäfte von einem Paar außerordentlich
25773
breiter und marmorblank gewichster Stiefel sehen.
25775
Plötzlich wandte er den Kopf vom Fenster weg, stieß einen kleinen
25776
freundlichen Seufzer aus, indem er in die lautlose Klasse hineinblickte,
25777
sagte »Ja, ja!« und lächelte mehrere Schüler zutraulich an. Er war guter
25778
Laune, es war offenbar. Eine Bewegung der Erleichterung ging durch den
25779
Raum. Es kam so viel, es kam alles darauf an, ob Doktor Mantelsack guter
25780
Laune war oder nicht, denn man wußte, daß er sich seinen Stimmungen
25781
unbewußt und ohne die geringste Selbstkritik überließ. Er war von einer
25782
ganz ausnehmenden, grenzenlos naiven Ungerechtigkeit, und seine Gunst
25783
war hold und flatterhaft wie das Glück. Stets hatte er ein paar
25784
Lieblinge, zwei oder drei, die er »Du« und mit Vornamen nannte, und die
25785
es gut hatten wie im Paradiese. Sie konnten beinahe sagen, was sie
25786
wollten, und es war dennoch richtig; und nach der Stunde plauderte
25787
Doktor Mantelsack aufs menschlichste mit ihnen. Eines Tages jedoch,
25788
vielleicht nach den Ferien, Gott allein wußte, warum, war man gestürzt,
25789
vernichtet, abgeschafft, verworfen, und ein anderer wurde mit Vornamen
25790
genannt ... Diesen Glückseligen pflegte er die Fehler in den
25791
Extemporalien ganz leicht und zierlich anzustreichen, so daß ihre
25792
Arbeiten auch bei großer Mangelhaftigkeit einen reinlichen Aspekt
25793
behielten. In anderen Heften aber fuhr er mit breiter und zorniger Feder
25794
umher und überschwemmte sie mit Rot, so daß sie einen abschreckenden und
25795
verwahrlosten Eindruck machten. Und da er die Fehler nicht zählte,
25796
sondern die Zensuren je nach der Menge von roter Tinte erteilte, so
25797
gingen seine Günstlinge mit großem Vorteil aus der Sache hervor. Bei
25798
diesem Verfahren dachte er sich nicht das geringste, sondern fand es
25799
vollständig in der Ordnung und ahnte nichts von Parteilichkeit. Hätte
25800
jemand den traurigen Mut besessen, dagegen zu protestieren, so wäre er
25801
der Aussicht verlustig gegangen, jemals geduzt und mit Vornamen genannt
25802
zu werden. Und diese Hoffnung ließ niemand fahren ...
25804
Nun kreuzte Doktor Mantelsack im Stehen die Beine und blätterte in
25805
seinem Notizbuch. Hanno Buddenbrook saß vornüber gebeugt und rang unter
25806
dem Tische die Hände. Das B, der Buchstabe B war an der Reihe! Gleich
25807
würde sein Name ertönen, und er würde aufstehen und nicht eine Zeile
25808
wissen, und es würde einen Skandal geben, eine laute, schreckliche
25809
Katastrophe, so guter Laune der Ordinarius auch sein mochte ... Die
25810
Sekunden dehnten sich martervoll. »Buddenbrook« ... jetzt sagte er
25813
»Edgar!« sagte Doktor Mantelsack, schloß sein Notizbuch, indem er seinen
25814
Zeigefinger darin stecken ließ, und setzte sich aufs Katheder, als ob
25815
nun alles in bester Ordnung sei.
25817
Was? Wie war das? Edgar ... Das war Lüders, der dicke Lüders dort, am
25818
Fenster, der Buchstabe L, der nicht im entferntesten an der Reihe war!
25819
Nein, war es möglich? Doktor Mantelsack war so guter Laune, daß er
25820
einfach einen Liebling herausgriff und sich gar nicht darum kümmerte,
25821
wer heute ordnungsmäßig vorgenommen werden mußte ...
25823
Der dicke Lüders stand auf. Er hatte ein Mopsgesicht und braune
25824
apathische Augen. Obgleich er einen vorzüglichen Platz innehatte und mit
25825
Bequemlichkeit hätte ablesen können, war er auch hierzu zu träge. Er
25826
fühlte sich zu sicher im Paradiese und antwortete einfach: »Ich habe
25827
gestern wegen Kopfschmerzen nicht lernen können.«
25829
»Oh, du lässest mich im Stich, Edgar?« sagte Doktor Mantelsack betrübt
25830
... »Du willst mir die Verse vom goldenen Zeitalter nicht sprechen? Wie
25831
jammerschade, mein Freund! Hattest du Kopfschmerzen? Aber mich dünkt, du
25832
hättest mir das zu Beginn der Stunde sagen sollen, bevor ich dich
25833
aufrief ... Hattest du nicht schon neulich Kopfschmerzen gehabt? Du
25834
solltest etwas dagegen tun, Edgar, denn sonst ist die Gefahr nicht
25835
ausgeschlossen, daß du Rückschritte machst ... Timm, wollen Sie ihn
25838
Lüders setzte sich. In diesem Augenblick war er allgemein verhaßt. Man
25839
sah deutlich, daß des Ordinarius Laune beträchtlich gesunken war, und
25840
daß Lüders vielleicht schon in der nächsten Stunde würde mit Nachnamen
25841
genannt werden ... Timm stand auf, in einer der hintersten Bänke. Es war
25842
ein blonder Junge von ländlichem Äußeren, mit einer hellbraunen Jacke
25843
und kurzen, breiten Fingern. Er hielt seinen Mund mit eifrigem und
25844
törichtem Ausdruck trichterförmig geöffnet und rückte hastig sein
25845
offenes Buch zurecht, indem er angestrengt geradeaus blickte. Dann
25846
senkte er den Kopf und begann vorzulesen, langgezogen, stockend und
25847
monoton, wie ein Kind aus der Fibel: »_Aurea prima sata est aetas ..._«
25849
Es war klar, daß Doktor Mantelsack heute außerhalb jeder Ordnung fragte
25850
und sich gar nicht darum kümmerte, wer am längsten nicht examiniert
25851
worden war. Es war jetzt nicht mehr so drohend wahrscheinlich, daß Hanno
25852
aufgerufen wurde, es konnte nur noch durch einen unseligen Zufall
25853
geschehen. Er wechselte einen glücklichen Blick mit Kai und fing an,
25854
seine Glieder ein wenig abzuspannen und auszuruhen ...
25856
Plötzlich ward Timm in seiner Lektüre unterbrochen. Sei es nun, daß
25857
Doktor Mantelsack den Rezitierenden nicht recht verstand, oder daß er
25858
sich Bewegung zu machen wünschte: er verließ das Katheder, lustwandelte
25859
gemächlich durch die Klasse und stellte sich, seinen Ovid in der Hand,
25860
dicht neben Timm, der mit kurzen unsichtbaren Bewegungen sein Buch
25861
beiseitegeräumt hatte und nun vollkommen hilflos war. Er schnappte mit
25862
seinem trichterförmigen Munde, blickte den Ordinarius mit blauen,
25863
ehrlichen, verstörten Augen an und brachte nicht eine Silbe mehr
25866
»Nun, Timm«, sagte Doktor Mantelsack ... »Jetzt geht es auf einmal nicht
25869
Und Timm griff sich nach dem Kopf, rollte die Augen, atmete heftig und
25870
sagte schließlich mit einem irren Lächeln: »Ich bin so verwirrt, wenn
25871
Sie bei mir stehen, Herr Doktor.«
25873
Auch Doktor Mantelsack lächelte; er lächelte geschmeichelt und sagte:
25874
»Nun, sammeln Sie sich und fahren Sie fort.« Damit wandelte er zum
25877
Und Timm sammelte sich. Er zog sein Buch wieder vor sich hin, öffnete
25878
es, indem er, sichtlich nach Fassung ringend, im Zimmer umherblickte,
25879
senkte dann den Kopf und hatte sich wiedergefunden.
25881
»Ich bin befriedigt«, sagte der Ordinarius, als Timm geendet hatte. »Sie
25882
haben gut gelernt, das steht außer Zweifel. Nur entbehren Sie zu sehr
25883
des rhythmischen Gefühles, Timm. Über die Bindungen sind Sie sich klar,
25884
und dennoch haben Sie nicht eigentlich Hexameter gesprochen. Ich habe
25885
den Eindruck, als ob Sie das Ganze wie Prosa auswendig gelernt hätten
25886
... Aber wie gesagt, Sie sind fleißig gewesen, Sie haben Ihr Bestes
25887
getan, und wer immer strebend sich bemüht ... Sie können sich setzen.«
25889
Timm setzte sich stolz und strahlend, und Doktor Mantelsack schrieb eine
25890
wohl befriedigende Note hinter seinen Namen. Das Merkwürdige aber war,
25891
daß in diesem Augenblick nicht allein der Lehrer, sondern auch Timm
25892
selbst und seine sämtlichen Kameraden der aufrichtigen Ansicht waren,
25893
daß Timm wirklich und wahrhaftig ein guter und fleißiger Schüler sei,
25894
der seine gute Note vollauf verdient hatte. Auch Hanno Buddenbrook war
25895
außerstande, sich diesem Eindruck zu entziehen, obgleich er fühlte, wie
25896
etwas in ihm sich mit Widerwillen dagegen wehrte ... Wieder horchte er
25897
angespannt auf den Namen, der nun ertönen würde ...
25899
»Mumme!« sagte Doktor Mantelsack. »Noch einmal! _Aurea prima ...?_«
25901
Also Mumme! Gott sei gelobt, nun war Hanno wohl in Sicherheit! Zum
25902
drittenmal würden die Verse kaum rezitiert werden müssen, und bei der
25903
Neupräparation war der Buchstabe B erst kürzlich an der Reihe
25906
Mumme erhob sich. Er war ein langer, bleicher Mensch mit zitternden
25907
Händen und außerordentlich großen, runden Brillengläsern. Er war
25908
augenleidend und so kurzsichtig, daß es ihm unmöglich war, im Stehen aus
25909
einem vor ihm liegenden Buche zu lesen. Er mußte lernen, und er hatte
25910
gelernt. Da er aber herzlich unbegabt war und außerdem nicht geglaubt
25911
hatte, heute aufgerufen zu werden, so wußte er dennoch nur wenig und
25912
verstummte schon nach den ersten Worten. Doktor Mantelsack half ihm ein,
25913
er half ihm zum zweiten Male mit schärferer Stimme und zum dritten Male
25914
mit äußerst gereiztem Tone ein; als aber Mumme dann ganz und gar
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festsaß, wurde der Ordinarius von heftigem Zorne ergriffen.
25917
»Das ist vollständig ungenügend, Mumme! Setzen Sie sich hin! Sie sind
25918
eine traurige Figur, dessen können Sie versichert sein, Sie Kretin! Dumm
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=und= faul ist zuviel des Guten ...«
25921
Mumme versank. Er sah aus wie das Unglück, und es gab in diesem
25922
Augenblicke niemanden im Zimmer, der ihn nicht verachtet hätte. Abermals
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stieg ein Widerwille, eine Art von Brechreiz in Hanno Buddenbrook auf
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und schnürte ihm die Kehle zusammen. Gleichzeitig aber beobachtete er
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mit entsetzlicher Klarheit, was vor sich ging. Doktor Mantelsack malte
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heftig ein Zeichen von böser Bedeutung hinter Mummes Namen und sah sich
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dann mit finsteren Brauen in seinem Notizbuch um. Aus Zorn ging er zur
25928
Tagesordnung über, sah nach, wer eigentlich an der Reihe war, es war
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klar! Und als Hanno von dieser Erkenntnis gerade gänzlich überwältigt
25930
war, hörte er auch schon seinen Namen, hörte ihn wie in einem bösen
25933
»Buddenbrook!« -- Doktor Mantelsack hatte »Buddenbrook« gesagt, der
25934
Schall war noch in der Luft, und dennoch glaubte Hanno nicht daran. Ein
25935
Sausen war in seinen Ohren entstanden. Er blieb sitzen.
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»=Herr= Buddenbrook!« sagte Doktor Mantelsack und starrte ihn mit seinen
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saphirblauen, hervorquellenden Augen an, die hinter den scharfen
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Brillengläsern glänzten .... »Wollen Sie die Güte haben?«
25941
Gut, also es sollte so sein. So hatte es kommen müssen. Ganz anders, als
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er es sich gedacht hatte, aber nun war dennoch alles verloren. Er war
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nun gefaßt. Ob es wohl ein sehr großes Gebrüll geben würde? Er stand auf
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und war im Begriffe, eine unsinnige und lächerliche Entschuldigung
25945
vorzubringen, zu sagen, daß er »vergessen« habe, die Verse zu lernen,
25946
als er plötzlich gewahrte, daß sein Vordermann ihm das offene Buch
25949
Sein Vordermann, Hans Hermann Kilian, war ein Kleiner, Brauner, mit
25950
fettem Haar und breiten Schultern. Er wollte Offizier werden und war so
25951
beseelt von Kameradschaftlichkeit, daß er selbst Johann Buddenbrook, den
25952
er doch nicht leiden mochte, nicht im Stiche ließ. Er wies sogar mit dem
25953
Zeigefinger auf die Stelle, wo anzufangen war ...
25955
Und Hanno starrte dorthin und fing an zu lesen. Mit wankender Stimme und
25956
verzogenen Brauen und Lippen las er von dem goldenen Zeitalter, das
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zuerst entsprossen war und ohne Rächer, aus freiem Willen, ohne
25958
Gesetzesvorschrift, Treue und Recht gepflegt hatte. »Strafe und Furcht
25959
waren nicht vorhanden«, sagte er auf Lateinisch. »Es wurden weder
25960
drohende Worte auf angehefteter eherner Tafel gelesen, noch scheute die
25961
bittende Schar das Antlitz ihres Richters ...« Er las mit gequältem und
25962
angeekeltem Gesichtsausdruck, las mit Willen schlecht und
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unzusammenhängend, vernachlässigte absichtlich einzelne Bindungen, die
25964
in Kilians Buch mit Bleistift angegeben waren, sprach fehlerhafte Verse,
25965
stockte und arbeitete sich scheinbar nur mühsam vorwärts, immer
25966
gewärtig, daß der Ordinarius alles entdecken und sich auf ihn stürzen
25967
werde ... Der diebische Genuß, das offene Buch vor sich zu sehen,
25968
verursachte ein Prickeln in seiner Haut; aber er war voll Widerwillen
25969
und betrog mit Absicht so schlecht wie möglich, nur um den Betrug
25970
dadurch weniger gemein zu machen. Dann schwieg er, und es entstand eine
25971
Stille, in der er nicht aufzublicken wagte. Diese Stille war
25972
entsetzlich; er war überzeugt, daß Doktor Mantelsack alles gesehen habe,
25973
und seine Lippen waren ganz weiß. Schließlich aber seufzte der
25974
Ordinarius und sagte:
25976
»O Buddenbrook, _si tacuisses_! Sie entschuldigen wohl ausnahmsweise das
25977
klassische Du!... Wissen Sie, was Sie getan haben? Sie haben die
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Schönheit in den Staub gezogen, Sie haben sich benommen wie ein Vandale,
25979
wie ein Barbar, Sie sind ein amusisches Geschöpf, Buddenbrook, man sieht
25980
es Ihnen an der Nase an! Wenn ich mich frage, ob Sie die ganze Zeit
25981
gehustet oder erhabene Verse gesprochen haben, so neige ich mehr der
25982
ersteren Ansicht zu. Timm hat wenig rhythmisches Gefühl entwickelt, aber
25983
gegen Sie ist er ein Genie, ein Rhapsode ... Setzen Sie sich, Unseliger.
25984
Sie haben gelernt, gewiß, Sie haben gelernt. Ich kann Ihnen kein
25985
schlechtes Zeugnis geben. Sie haben sich wohl nach Kräften bemüht ...
25986
Hören Sie, erzählt man sich nicht, daß Sie musikalisch sind, daß Sie
25987
Klavier spielen? Wie ist das möglich?... Nun, es ist gut, setzen Sie
25988
sich, Sie mögen fleißig gewesen sein, es ist gut.«
25990
Er schrieb eine befriedigende Note in sein Taschenbuch, und Hanno
25991
Buddenbrook setzte sich. Wie es vorhin bei dem Rhapsoden Timm gewesen
25992
war, so war es auch jetzt. Er konnte nicht umhin, sich durch das Lob,
25993
das in Doktor Mantelsacks Worten enthalten gewesen war, aufrichtig
25994
getroffen zu fühlen. Er war in diesem Augenblick ernstlich der Meinung,
25995
daß er ein etwas unbegabter, aber fleißiger Schüler sei, der
25996
verhältnismäßig mit Ehren aus der Sache hervorgegangen war, und er
25997
empfand deutlich, daß seine sämtlichen Klassengenossen, Hans Hermann
25998
Kilian nicht ausgeschlossen, ebenderselben Anschauung huldigten. Wieder
25999
regte sich etwas wie Übelkeit in ihm; aber er war zu ermattet, um über
26000
die Vorgänge nachzudenken. Bleich und zitternd schloß er die Augen und
26001
versank in Lethargie ...
26003
Doktor Mantelsack aber setzte den Unterricht fort. Er ging zu den Versen
26004
über, die für heute neu zu präparieren waren, und rief Petersen auf.
26005
Petersen erhob sich, frisch, munter und zuversichtlich, in tapferer
26006
Attitüde, streitbar und bereit, den Strauß zu wagen. Und dennoch war ihm
26007
heute der Untergang bestimmt! Ja, die Stunde sollte nicht vorübergehen,
26008
ohne daß eine Katastrophe eintrat, weit schrecklicher als diejenige mit
26009
dem armen, kurzsichtigen Mumme ...
26011
Petersen übersetzte, indem er dann und wann einen Blick auf die andere
26012
Seite seines Buches warf, dorthin, wo er eigentlich gar nichts zu suchen
26013
hatte. Er trieb dies mit Geschick. Er tat, als störe ihn dort etwas,
26014
fuhr mit der Hand darüber hin und blies darauf, als gelte es, ein
26015
Staubfäserchen oder dergleichen zu entfernen, das ihn inkommodierte. Und
26016
doch erfolgte nun das Entsetzliche.
26018
Doktor Mantelsack nämlich vollführte plötzlich eine heftige Bewegung,
26019
die Petersen mit einer ebensolchen Bewegung beantwortete. Und in
26020
demselben Augenblick verließ der Ordinarius das Katheder, er stürzte
26021
sich förmlich kopfüber hinab und ging mit langen, unaufhaltsamen
26022
Schritten auf Petersen zu.
26024
»Sie haben einen Schlüssel im Buche, eine Übersetzung«, sagte er, als er
26027
»Einen Schlüssel ... ich ... nein ...«, stammelte Petersen. Es war ein
26028
hübscher Junge, mit einem blonden Haarwulst über der Stirn und
26029
außerordentlich schönen blauen Augen, die jetzt angstvoll flackerten.
26031
»Sie haben keinen Schlüssel im Buche?«
26033
»Nein ... Herr Oberlehrer ... Herr Doktor ... Einen Schlüssel?... Ich
26034
habe wahrhaftig keinen Schlüssel ... Sie befinden sich im Irrtum ... Sie
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haben mich in einem falschen Verdacht ...« Petersen redete, wie man
26036
eigentlich nicht zu reden pflegte. Die Angst bewirkte, daß er ordentlich
26037
gewählt sprach, in der Absicht, dadurch den Ordinarius zu erschüttern.
26038
»Ich betrüge nicht«, sagte er aus übergroßer Not. »Ich bin immer ehrlich
26039
gewesen ... mein Lebtag!«
26041
Aber Doktor Mantelsack war seiner traurigen Sache allzu sicher.
26043
»Geben Sie mir Ihr Buch«, sagte er kalt.
26045
Petersen klammerte sich an sein Buch, er hob es beschwörend mit beiden
26046
Händen empor und fuhr fort, mit halb gelähmter Zunge zu deklamieren:
26047
»Glauben Sie mir doch ... Herr Oberlehrer ... Herr Doktor ... Es ist
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nichts im Buche ... Ich habe keinen Schlüssel .... Ich habe nicht
26049
betrogen ... Ich bin immer ehrlich gewesen ...«
26051
»Geben Sie mir das Buch«, wiederholte der Ordinarius und stampfte mit
26054
Da erschlaffte Petersen, und sein Gesicht wurde ganz grau.
26056
»Gut«, sagte er und lieferte das Buch aus, »hier ist es. Ja, es ist ein
26057
Schlüssel darin! Sehen Sie selbst, da steckt er!... Aber ich habe ihn
26058
nicht gebraucht!« schrie er plötzlich in die Luft hinein.
26060
Allein Doktor Mantelsack überhörte diese unsinnige Lüge, die der
26061
Verzweiflung entsprang. Er zog den »Schlüssel« hervor, betrachtete ihn
26062
mit einem Gesicht, als hätte er stinkenden Unrat in der Hand, schob ihn
26063
in die Tasche und warf den Ovid verächtlich auf Petersens Platz zurück.
26064
»Das Klassenbuch«, sagte er dumpf.
26066
Adolf Todtenhaupt brachte dienstbeflissen das Klassenbuch herbei, und
26067
Petersen erhielt einen Tadel wegen versuchten Betruges, was ihn auf
26068
lange Zeit hinaus vernichtete und die Unmöglichkeit seiner Versetzung zu
26069
Ostern besiegelte. »Sie sind der Schandfleck der Klasse«, sagte Doktor
26070
Mantelsack noch und kehrte dann zum Katheder zurück.
26072
Petersen setzte sich und war gerichtet. Man sah deutlich, wie sein
26073
Nebenmann ein Stück von ihm wegrückte. Alle betrachteten ihn mit einem
26074
Gemisch von Ekel, Mitleid und Grauen. Er war gestürzt, einsam und
26075
vollkommen verlassen, darum, daß er ertappt worden war. Es gab nur
26076
=eine= Meinung über Petersen, und das war die, daß er wirklich »der
26077
Schandfleck der Klasse« sei. Man anerkannte und akzeptierte seinen Fall
26078
ebenso widerstandslos, wie man Timms und Buddenbrooks Erfolge und das
26079
Unglück des armen Mumme anerkannt und akzeptiert hatte ... Und er selbst
26082
Wer unter diesen fünfundzwanzig jungen Leuten von rechtschaffener
26083
Konstitution, stark und tüchtig für das Leben war, wie es ist, der nahm
26084
in diesem Augenblicke die Dinge völlig wie sie lagen, fühlte sich nicht
26085
durch sie beleidigt und fand, daß alles selbstverständlich und in der
26086
Ordnung sei. Aber es gab auch Augen, die sich in finsterer
26087
Nachdenklichkeit auf einen Punkt richteten ... Der kleine Johann starrte
26088
auf Hans Hermann Kilians breiten Rücken, und seine goldbraunen,
26089
bläulich umschatteten Augen waren ganz voll von Abscheu, Widerstand und
26090
Furcht ... Doktor Mantelsack aber fuhr fort zu unterrichten. Er rief
26091
einen anderen Schüler auf, irgendeinen, Adolf Todtenhaupt, weil er für
26092
heute ganz und gar die Lust verloren hatte, die Zweifelhaften zu prüfen.
26093
Und dann kam noch einer daran, der mäßig vorbereitet war und nicht
26094
einmal wußte, was »_patula Jovis arbore, glandes_« hieß, weshalb
26095
Buddenbrook es sagen mußte ... Er sagte es leise und ohne aufzublicken,
26096
weil Doktor Mantelsack ihn fragte, und erhielt ein Kopfnicken dafür.
26098
Und als es mit den Produktionen der Schüler zu Ende war, hatte die
26099
Stunde auch jedes Interesse verloren. Doktor Mantelsack ließ einen
26100
Hochbegabten auf eigene Faust weiter übersetzen und hörte ebensowenig zu
26101
wie die anderen vierundzwanzig, die anfingen, sich für die nächste
26102
Stunde zu präparieren. Dies war nun gleichgültig. Man konnte niemandem
26103
ein Zeugnis dafür geben, noch überhaupt den dienstlichen Eifer darnach
26104
beurteilen ... Auch war die Stunde nun gleich zu Ende. Sie war zu Ende;
26105
es schellte. So hatte es kommen sollen für Hanno. Sogar ein Kopfnicken
26108
»Nun«, sagte Kai, als sie inmitten der Kameraden über die gotischen
26109
Korridore ins Chemiezimmer gingen ... »Was sagst du jetzt, Hanno! Wenn
26110
sie die Stirn des Cäsar werden sehen ... Du hast ein unerhörtes Glück
26113
»Mir ist übel, Kai«, sagte der kleine Johann. »Ich will es gar nicht,
26114
das Glück, es macht mir übel ...«
26116
Und Kai wußte, daß er in Hannos Lage genau so empfunden haben würde.
26118
Das Chemiezimmer war ein Gewölbe mit amphitheatralisch aufsteigenden
26119
Bänken, einem langen Experimentiertisch und zwei Glasschränken voller
26120
Phiolen. Die Luft war in der Klasse zuletzt wieder sehr heiß und
26121
schlecht gewesen, aber hier war sie gesättigt mit Schwefelwasserstoff,
26122
mit dem soeben experimentiert worden war, und stank über alle Maßen. Kai
26123
riß das Fenster auf, stahl dann Adolf Todtenhaupts Reinschriftheft und
26124
begann in großer Eile das Pensum abzuschreiben, das heute vorzuweisen
26125
war. Hanno und mehrere andere Schüler taten dasselbe. Das nahm die
26126
ganze Pause in Anspruch, bis es schellte und Doktor Marotzke erschien.
26128
Dies war der tiefe Oberlehrer, wie Kai und Hanno ihn nannten. Es war ein
26129
mittelgroßer, brünetter Mann, mit außerordentlich gelbem Teint, zwei
26130
Wulsten an der Stirn, einem harten und schmierigen Bart und ebensolchem
26131
Haupthaar. Er sah beständig übernächtig und ungewaschen aus, was aber
26132
wohl auf Täuschung beruhte. Er unterrichtete in den Naturwissenschaften,
26133
aber sein Hauptgebiet war die Mathematik, und er galt für einen
26134
bedeutenden Denker in diesem Fache. Er liebte es, von den
26135
philosophischen Stellen der Bibel zu sprechen, und zuweilen, in guter
26136
und träumerischer Stimmung, ließ er sich vor Sekundanern und Primanern
26137
herab, seltsame Auslegungen geheimnisvoller Schriftstellen zu liefern
26138
... Außerdem aber war er Reserveoffizier, und zwar mit Begeisterung. Als
26139
Beamter, der zugleich Militär war, stand er bei Direktor Wulicke aufs
26140
beste angeschrieben. Er hielt von allen Lehrern am meisten auf
26141
Disziplin, musterte die Front der strammstehenden Schüler mit kritischem
26142
Blick und verlangte kurze und scharfe Antworten. Diese Mischung von
26143
Mystizismus und Schneidigkeit war ein wenig abstoßend ...
26145
Die Reinschriften wurden vorgezeigt, und Doktor Marotzke ging umher und
26146
tippte auf jedes Heft mit dem Finger, wobei gewisse Schüler, die nichts
26147
geschrieben hatten, ihm ganz andere Bücher oder alte Arbeiten vorlegten,
26148
ohne daß er dies bemerkte.
26150
Dann begann er den Unterricht; und wie soeben gelegentlich des Ovid, so
26151
hatten die fünfundzwanzig jungen Leute sich jetzt mit Rücksicht auf Bor,
26152
Chlor oder Strontium über ihren Diensteifer auszuweisen. Hans Hermann
26153
Kilian ward belobigt, weil er wußte, daß _BaSO4_ oder Schwerspat das
26154
gebräuchlichste Fälschungsmittel sei. Überhaupt war er der Beste, darum,
26155
weil er Offizier werden wollte. Hanno und Kai wußten gar nichts, und in
26156
Doktor Marotzkes Notizbuch erging es ihnen übel.
26158
Und als es mit dem Prüfen, Verhören und Zeugnisgeben zu Ende war, war
26159
auch das Interesse an der Chemiestunde allerseits so gut wie erschöpft.
26160
Doktor Marotzke fing an, ein paar Experimente zu machen, ein wenig zu
26161
knallen und farbige Dämpfe zu entwickeln, aber das war gleichsam nur,
26162
um den Rest der Stunde auszufüllen. Schließlich diktierte er das Pensum,
26163
das fürs nächste Mal zu lernen war. Dann klingelte es, und auch die
26164
dritte Stunde war vorüber.
26166
Alle waren vergnügt, bis auf Petersen, den es heute getroffen hatte,
26167
denn jetzt kam eine lustige Stunde, vor der sich keine Seele zu fürchten
26168
brauchte und die nichts als Unfug und Amüsement versprach. Es war das
26169
Englische bei dem Kandidaten Modersohn, einem jungen Philologen, der
26170
seit ein paar Wochen probeweise in der Anstalt wirkte oder, wie Kai Graf
26171
Mölln es ausdrückte, ein Gastspiel auf Engagement absolvierte. Aber er
26172
hatte wenig Aussicht, engagiert zu werden; es ging allzu fröhlich in
26173
seinen Stunden zu ...
26175
Einige blieben im Chemiesaale, und andere gingen ins Klassenzimmer
26176
hinauf; aber auf dem Hofe brauchte jetzt niemand zu frieren, denn droben
26177
auf dem Korridor hatte schon während der Pause Herr Modersohn die
26178
Aufsicht, und der wagte keinen hinunterzuschicken. Auch galt es,
26179
Vorbereitungen zu seinem Empfange zu treffen ...
26181
Es wurde nicht einmal ein wenig stiller in der Klasse, als es zur
26182
vierten Stunde schellte. Alles schwatzte und lachte, voll Freude auf den
26183
Tanz, der nun bevorstand. Graf Mölln, den Kopf in beide Hände gestützt,
26184
fuhr fort, sich mit Roderich Usher zu beschäftigen, und Hanno saß still
26185
und sah dem Spektakel zu. Einige ahmten Tierstimmen nach. Ein
26186
Hahnenschrei zerriß die Luft, und dort hinten saß Wasservogel und
26187
grunzte genau wie ein Schwein, ohne daß man sehen konnte, daß diese
26188
Laute aus seinem Innern kamen. An der Wandtafel prangte eine große
26189
Kreidezeichnung, eine schielende Fratze, die der Rhapsode Timm
26190
vollbracht hatte. Und als dann Herr Modersohn eintrat, konnte er trotz
26191
der heftigsten Anstrengungen die Tür nicht hinter sich schließen, weil
26192
ein dicker Tannenzapfen in der Spalte stak, der erst von Adolf
26193
Todtenhaupt entfernt werden mußte ...
26195
Der Kandidat Modersohn war ein kleiner, unansehnlicher Mann, der beim
26196
Gehen eine Schulter schräg voranschob, mit einem säuerlich verzogenen
26197
Gesicht und sehr dünnem schwarzen Bart. Er war in furchtbarer
26198
Verlegenheit. Immer zwinkerte er mit seinen blanken Augen, zog den Atem
26199
ein und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Aber er fand nicht
26200
die Worte, die nötig waren. Nach drei Schritten, die er von der Tür aus
26201
zurückgelegt, trat er auf eine Knallerbse, eine Knallerbse von seltener
26202
Qualität, die einen Lärm verursachte, als habe er auf Dynamit getreten.
26203
Er fuhr heftig zusammen, lächelte dann in seiner Not, tat, als sei
26204
nichts geschehen und stellte sich vor die mittlere Bankreihe, indem er
26205
sich nach seiner Gewohnheit, schief gebückt, mit einer Handfläche auf
26206
die vorderste Pultplatte stützte. Aber man kannte diese seine
26207
Lieblingsstellung, und darum hatte man diese Stelle des Tisches mit
26208
Tinte beschmiert, so daß Herr Modersohn sich nun seine ganze kleine,
26209
ungeschickte Hand besudelte. Er tat, als bemerke er es nicht, legte die
26210
nasse und geschwärzte Hand auf den Rücken, blinzelte und sagte mit
26211
weicher und schwacher Stimme: »Die Ordnung in der Klasse läßt zu
26214
Hanno Buddenbrook liebte ihn in diesem Augenblick und blickte
26215
unbeweglich in sein hilflos verzogenes Gesicht. Aber Wasservogels
26216
Grunzen ward immer lauter und natürlicher, und plötzlich prasselten eine
26217
Menge Erbsen gegen die Fensterscheibe, prallten ab und fielen rasselnd
26220
»Es hagelt«, sagte jemand laut und deutlich; und Herr Modersohn schien
26221
dies zu glauben, denn er zog sich ohne weiteres aufs Katheder zurück und
26222
verlangte nach dem Klassenbuche. Dies tat er nicht, um jemanden
26223
einzuschreiben; sondern, obgleich er bereits fünf oder sechs
26224
Unterrichtsstunden in dieser Klasse erteilt hatte, kannte er doch die
26225
Schüler bis auf einige wenige noch nicht und war genötigt, die Namen
26226
aufs Geratewohl aus dem schriftlichen Verzeichnis abzulesen.
26228
»Feddermann«, sagte er, »wollen Sie, bitte, das Gedicht aufsagen.«
26230
»Fehlt!« schrie eine Menge verschiedenartiger Stimmen. Und dabei saß
26231
Feddermann groß und breit an seinem Platze und schnellte mit
26232
unglaublicher Geschicklichkeit Erbsen durch die ganze Stube.
26234
Herr Modersohn blinzelte und buchstabierte sich einen neuen Namen
26237
»Wasservogel«, sagte er.
26239
»Verstorben!« rief Petersen, der vom Galgenhumor ergriffen worden war.
26240
Und unter Füßescharren, Gegrunz, Gekräh und Hohngelächter wiederholten
26241
alle, daß Wasservogel tot sei.
26243
Herr Modersohn blinzelte abermals, er blickte um sich, verzog säuerlich
26244
den Mund und sah dann wieder ins Klassenbuch, indem er mit seiner
26245
kleinen, ungeschickten Hand auf den Namen zeigte, den er nun aufrufen
26248
»Perlemann«, sagte er ohne viel Zuversicht.
26250
»Leider dem Wahnsinn verfallen«, sprach Kai Graf Mölln klar und fest;
26251
und unter wachsendem Hallo wurde auch dies bestätigt.
26253
Da stand Herr Modersohn auf und rief in den Lärm hinein: »Buddenbrook,
26254
Sie werden mir eine Strafarbeit anfertigen. Wiederholt sich Ihr Lachen,
26255
so werde ich Sie tadeln müssen.«
26257
Dann setzte er sich wieder. -- In der Tat, Buddenbrook hatte gelacht, er
26258
war über Kais Witz in ein leises und heftiges Lachen geraten, dem er
26259
nicht Einhalt gebieten konnte. Er fand ihn gut, und besonders das
26260
»Leider« erschütterte ihn mit Komik. Als aber Herr Modersohn ihn
26261
anherrschte, wurde er ruhig und blickte still und finster auf den
26262
Kandidaten. Er sah in diesem Augenblick alles an ihm, jedes jämmerliche
26263
Härchen seines Bartes, der überall die Haut durchscheinen ließ, und
26264
seine braunen, blanken, hoffnungslosen Augen; sah, daß er gleichsam zwei
26265
Paar Manschetten an seinen kleinen, ungeschickten Händen trug, weil
26266
seine Hemdärmel an den Gelenken ebenso lang und breit waren, wie die
26267
eigentlichen Manschetten, sah seine ganze armselige und verzweifelte
26268
Gestalt. Er sah auch in sein Inneres hinein. Hanno Buddenbrook war
26269
beinahe der einzige, den Herr Modersohn schon mit Namen kannte, und das
26270
benutzte er dazu, ihn beständig zur Ordnung zu rufen, ihm Strafarbeiten
26271
zu diktieren und ihn zu tyrannisieren. Er kannte den Schüler Buddenbrook
26272
nur deshalb, weil er sich durch stilles Verhalten von den anderen
26273
unterschieden hatte, und diese Sanftmut nützte er dazu aus, ihn
26274
unaufhörlich die Autorität fühlen zu lassen, die er den Lauten und
26275
Frechen gegenüber nicht geltend zu machen wagte. Selbst das Mitleid wird
26276
einem auf Erden durch die Gemeinheit unmöglich gemacht, dachte Hanno.
26277
Ich nehme nicht daran teil, Sie zu quälen und auszubeuten, Kandidat
26278
Modersohn, weil ich das brutal, häßlich und gewöhnlich finde, und wie
26279
antworten Sie mir? Aber so ist es, so ist es, so wird es immer und
26280
überall sich verhalten, dachte er, und Furcht und Übelkeit stiegen
26281
wieder in ihm auf. Und daß ich Sie obendrein so widerlich deutlich
26282
durchschauen muß!...
26284
Endlich fand sich einer, der weder tot noch wahnsinnig war und es
26285
übernehmen wollte, die englischen Verse aufzusagen. Es handelte sich um
26286
ein Gedicht, das »_The monkey_« hieß, ein kindisches Machwerk, das man
26287
diesen jungen Leuten, die sich großenteils aufs Meer, ins Geschäft, ins
26288
ernsthafte Lebensgetriebe sehnten, zugemutet hatte, auswendig zu lernen.
26290
»_Monkey, little merry fellow,
26291
Thou art nature's punchinello ..._«
26293
Es gab eine Menge Strophen, und der Schüler Kaßbaum las sie aus seinem
26294
Buche vor. Herrn Modersohn gegenüber brauchte man sich nicht den
26295
geringsten Zwang anzutun. Und der Lärm war immer noch ärger geworden.
26296
Alle Füße waren in Bewegung und scharrten den staubigen Boden. Der Hahn
26297
krähte, das Schwein grunzte, die Erbsen flogen. Die Zügellosigkeit
26298
berauschte die fünfundzwanzig. Die ungeordneten Instinkte ihrer
26299
sechzehn, siebzehn Jahre wurden wach. Blätter mit den obszönsten
26300
Bleistiftzeichnungen wurden emporgehoben, umhergeschickt und gierig
26303
Auf einmal verstummte alles. Der Rezitierende unterbrach sich. Herr
26304
Modersohn selbst richtete sich auf und lauschte. Etwas Liebliches
26305
geschah. Feine und glockenreine Klänge drangen aus dem Hintergrunde des
26306
Zimmers und flossen süß, sinnig und zärtlich in die plötzliche Stille.
26307
Es war eine Spieluhr, die jemand mitgebracht hatte, und die »Du, du
26308
liegst mir am Herzen« spielte, mitten in der englischen Stunde. Genau
26309
aber in dem Augenblick, da die zierliche Melodie verklang, vollzog sich
26310
etwas Fürchterliches ... es brach über alle Anwesenden herein, grausam,
26311
unerwartet, übergewaltig und lähmend.
26313
Ohne daß nämlich geklopft worden wäre, öffnete sich mit einem Ruck die
26314
Tür sperrangelweit, etwas Langes und Ungeheures kam herein, stieß einen
26315
brummenden Lippenlaut aus und stand mit einem einzigen Seitenschritt
26316
mitten vor den Bänken ... Es war der liebe Gott.
26318
Herr Modersohn war aschfahl geworden und zerrte den Armstuhl vom
26319
Katheder herunter, indem er ihn mit seinem Schnupftuche abwischte. Die
26320
Schüler waren emporgeschnellt wie ein Mann. Sie preßten die Arme an die
26321
Flanken, stellten sich auf die Zehenspitzen, beugten die Köpfe und
26322
bissen sich auf die Zungen vor rasender Devotion. Es herrschte tiefe
26323
Lautlosigkeit. Jemand seufzte vor Anstrengung, und dann war alles wieder
26326
Direktor Wulicke musterte eine Weile die salutierenden Kolonnen, worauf
26327
er die Arme mit den trichterförmigen schmutzigen Manschetten erhob und
26328
sie mit weitgespreizten Fingern senkte, wie jemand, der voll in die
26329
Tasten greift. »Setzt euch«, sagte er dabei mit seinem Kontrabaßorgan.
26330
Er duzte jedermann.
26332
Die Schüler versanken. Herr Modersohn zog mit zitternden Händen den
26333
Armstuhl herbei, und der Direktor setzte sich zur Seite des Katheders.
26334
»Bitte, nur fortzufahren«, sagte er; und das klang genau so entsetzlich,
26335
als hätte er gesagt: »Wir werden ja sehen, und wehe demjenigen ...!«
26337
Es war klar, warum er erschienen war. Herr Modersohn sollte vor ihm eine
26338
Probe seiner Unterrichtskunst ablegen, sollte zeigen, was die
26339
Real-Untersekunda in sechs oder sieben Stunden bei ihm gelernt hatte; es
26340
galt Herrn Modersohns Existenz und Zukunft. Der Kandidat bot einen
26341
traurigen Anblick, als er wieder auf dem Katheder stand und jemanden zur
26342
Wiederholung des Gedichtes »_The monkey_« aufrief. Und wie bislang nur
26343
die Schüler geprüft und begutachtet worden waren, so geschah es nun
26344
gleichzeitig auch mit dem Lehrer ... Ach, es erging beiden Teilen
26345
schlecht! Das Erscheinen Direktor Wulickes war eine Überrumpelung, und
26346
niemand, bis auf zwei oder drei, war vorbereitet. Herr Modersohn konnte
26347
unmöglich die ganze Stunde lang Adolf Todtenhaupt fragen, der alles
26348
wußte. Da »_The monkey_« in Gegenwart des Direktors nicht mehr abgelesen
26349
werden konnte, so ging es jammervoll, und als die Lektüre von
26350
»_Ivanhoe_« an die Reihe kam, konnte eigentlich nur der junge Graf
26351
Mölln ein wenig übersetzen, weil bei ihm ein privates Interesse für den
26352
Roman vorhanden war. Die übrigen stocherten hustend und hilflos zwischen
26353
den Vokabeln umher. Auch Hanno Buddenbrook ward aufgerufen und kam nicht
26354
über eine Zeile hinweg. Direktor Wulicke stieß einen Laut aus, wie wenn
26355
die tiefste Saite des Kontrabasses heftig angestrichen wird. Herr
26356
Modersohn rang seine kleinen, ungeschickten, mit Tinte besudelten Hände
26357
und wiederholte jammernd: »Und sonst ging es immer so gut! Und sonst
26358
ging es immer so gut!«
26360
Dies wiederholte er noch, als es schellte, verzweiflungsvoll halb an die
26361
Schüler und halb an den Direktor gewendet. Aber der liebe Gott stand
26362
fürchterlich aufgerichtet, mit verschränkten Armen vor seinem Stuhle und
26363
blickte mit abweisendem Kopfnicken starr über die Klasse hinweg ... Und
26364
dann befahl er das Klassenbuch und schrieb langsam allen denjenigen,
26365
deren Leistungen soeben mangelhaft oder gleich Null gewesen waren, einen
26366
Tadel wegen Trägheit hinein, sechs oder sieben Schülern auf einmal. Herr
26367
Modersohn konnte nicht eingeschrieben werden, aber er war schlimmer
26368
daran als alle; er stand da, fahl, gebrochen und abgetan. Hanno
26369
Buddenbrook aber war ebenfalls unter den Getadelten. -- »Ich will euch
26370
eure Karriere schon verderben«, sagte Direktor Wulicke noch. Und dann
26373
Es schellte, die Stunde war aus. So hatte es kommen sollen. Ja, so war
26374
es immer. Wenn man sich am meisten ängstigte, so ging es einem, wie aus
26375
Hohn, beinahe gut; aber wenn man nichts Übles gewärtigte, so kam das
26376
Unglück. Hannos Avancement zu Ostern war nun endgültig unmöglich. Er
26377
stand auf und ging mit müden Augen aus dem Zimmer, indem er seine Zunge
26378
an dem kranken Backenzahne scheuerte.
26380
Kai kam zu ihm, legte den Arm um ihn und ging mit ihm, inmitten der
26381
erregten Kameraden, die über die außerordentlichen Ereignisse
26382
disputierten, auf den Hof hinunter. Er blickte ängstlich und liebevoll
26383
in Hannos Gesicht und sagte: »Verzeih, Hanno, daß ich eben übersetzt
26384
habe und nicht lieber stillschwieg und mich auch einschreiben ließ! Es
26387
»Habe ich vorhin nicht auch gesagt, was `_patula Jovis arbore, glandes_´
26388
heißt?« antwortete Hanno. »Das ist nun schon so, Kai, laß es gut sein.
26389
Man muß es gut sein lassen.«
26391
»Ja, das muß man wohl. -- Also der liebe Gott will dir die Karriere
26392
verderben. Dann mußt du dich wohl darein ergeben, Hanno; denn wenn es
26393
sein unerforschlicher Wille ist ... Die Karriere, was für ein liebes
26394
Wort! Herrn Modersohns Karriere ist nun auch dahin. Er wird nie
26395
Oberlehrer werden, der Arme! Ja, es gibt Hilfslehrer und es gibt
26396
Oberlehrer, mußt du wissen, aber Lehrer gibt es nicht. Dies ist nun
26397
etwas, was man nicht so leicht verstehen kann, weil es nur für ganz
26398
Erwachsene ist und solche, die vom Leben gereift sind. Man könnte sagen:
26399
Jemand ist ein Lehrer oder er ist keiner; wie jemand ein Oberlehrer sein
26400
kann, das verstehe ich nicht. Man könnte damit vor den lieben Gott oder
26401
Herrn Marotzke hintreten und es ihnen auseinandersetzen. Was würde
26402
geschehen? Sie würden es als Beleidigung nehmen und dich wegen
26403
Unbotmäßigkeit vernichten, während du doch eine sehr viel höhere Meinung
26404
von ihrem Beruf an den Tag gelegt hättest, als sie selber besitzen
26405
können ... Na, laß sie, komm, es sind lauter Nashörner.«
26407
Sie gingen auf dem Hofe spazieren, und Hanno horchte wohlgefällig auf
26408
das, was Kai zum besten gab, um ihn seinen Tadel vergessen zu lassen.
26410
»Sieh, hier ist eine Tür, eine Hoftür, sie ist offen, da draußen ist die
26411
Straße. Wie wäre es, wenn wir hinausträten und ein bißchen auf dem
26412
Trottoir umhergingen? Es ist Pause, wir haben noch sechs Minuten; und
26413
wir könnten ja pünktlich zurückkehren. Aber die Sache ist die: es ist
26414
unmöglich. Verstehst du das? Hier ist die Tür, sie ist offen, es ist
26415
kein Gitter davor, nichts, kein Hindernis, hier ist die Schwelle. Und
26416
dennoch ist es unmöglich, schon der Gedanke ist unmöglich, auch nur auf
26417
eine Sekunde hinauszutreten ... Nun, sehen wir davon ab! Aber nehmen wir
26418
ein anderes Beispiel. Es wäre gänzlich verkehrt, zu sagen, daß die Uhr
26419
jetzt ungefähr halb zwölf ist. Nein, es kommt jetzt die Geographiestunde
26420
an die Reihe: so verhält es sich! Nun frage ich aber jedermann: ist dies
26421
ein Leben? Alles ist verzerrt ... Ach, Herr Gott, wollte die Anstalt
26422
uns erst aus ihrer liebenden Umarmung entlassen!«
26424
»Ja, und was dann? Nein, laß nur, Kai, dann wäre es auch noch so: Was
26425
soll man anfangen? Hier ist man wenigstens aufgehoben. Seit mein Vater
26426
tot ist, haben Herr Stephan Kistenmaker und Pastor Pringsheim es
26427
übernommen, mich tagtäglich zu fragen, was ich werden will. Ich weiß es
26428
nicht. Ich kann nichts antworten. Ich kann nichts werden. Ich fürchte
26429
mich vor dem Ganzen ...«
26431
»Nein, wie kann man so verzagt reden! Du mit deiner Musik ...«
26433
»Was ist mit meiner Musik, Kai? Es ist nichts damit. Soll ich
26434
umherreisen und spielen? Erstens würden sie es mir nicht erlauben, und
26435
zweitens werde ich nie genug dazu können. Ich kann beinahe nichts, ich
26436
kann nur ein bißchen phantasieren, wenn ich allein bin. Und dann stelle
26437
ich mir das Umherreisen auch schrecklich vor ... Mit dir ist es so
26438
anders. Du hast mehr Mut. Du gehst hier herum und lachst über das Ganze
26439
und hast ihnen etwas entgegenzuhalten. Du willst schreiben, willst den
26440
Leuten Schönes und Merkwürdiges erzählen, gut: das ist etwas. Und du
26441
wirst sicher berühmt werden, du bist so geschickt. Woran liegt es? Du
26442
bist lustiger. Manchmal in der Stunde sehen wir uns an, wie vorhin einen
26443
Augenblick, bei Herrn Mantelsack, als Petersen unter allen, die
26444
abgelesen hatten, einen Tadel bekam. Wir denken dasselbe, aber du
26445
schneidest eine Fratze und bist stolz ... Ich kann das nicht. Ich werde
26446
so müde davon. Ich möchte schlafen und nichts mehr wissen. Ich möchte
26447
sterben, Kai!... Nein, es ist nichts mit mir. Ich kann nichts wollen.
26448
Ich will nicht einmal berühmt werden. Ich habe Angst davor, genau als
26449
wäre ein Unrecht dabei! Es kann nichts aus mir werden, sei sicher.
26450
Neulich nach der Konfirmationsstunde hat Pastor Pringsheim zu jemandem
26451
gesagt, man müsse mich aufgeben, ich stammte aus einer verrotteten
26454
»Hat er das gesagt?« fragte Kai mit angespanntem Interesse ...
26456
»Ja, er meint meinen Onkel Christian damit, der in Hamburg in einer
26457
Anstalt sitzt. -- Er hat sicher recht. Man sollte mich nur aufgeben. Ich
26458
wäre so dankbar dafür!... Ich habe so vielerlei Sorgen, und alles fällt
26459
mir so schwer. Nehmen wir an, ich schneide mich in den Finger, tue mir
26460
irgendwo weh ... es ist eine Wunde, die bei einem anderen in acht Tagen
26461
geheilt wäre. Bei mir dauert es vier Wochen. Es will nicht heilen, es
26462
entzündet sich, es wird schlimm und macht mir unmäßige Beschwerden ...
26463
Neulich sagte mir Herr Brecht, um meine Zähne sähe es jämmerlich aus,
26464
fast alle seien schon unterminiert und verbraucht, nicht zu reden von
26465
denen, die ausgezogen sind. So steht es jetzt. Und womit werde ich
26466
beißen, wenn ich dreißig, vierzig Jahre alt bin? Ich habe gar keine
26469
»So«, sagte Kai und schlug eine schnellere Gangart an; »nun erzählst du
26470
mir ein bißchen von deinem Klavierspiel. Ich will nämlich jetzt etwas
26471
Wunderbares schreiben, etwas Wunderbares ... Vielleicht fange ich
26472
nachher in der Zeichenstunde an. Willst du heute nachmittag spielen?«
26474
Hanno schwieg einen Augenblick. Etwas Trübes, Verwirrtes und Heißes war
26475
in seinen Blick gekommen.
26477
»Ja, ich werde wohl spielen«, sagte er, »obgleich ich es nicht tun
26478
sollte. Ich sollte meine Etüden und Sonaten üben und dann aufhören. Aber
26479
ich werde wohl spielen, ich kann es nicht lassen, obgleich es alles noch
26486
»Ich weiß, wovon du spielst«, sagte Kai. Und dann schwiegen beide.
26488
Sie waren in einem seltsamen Alter. Kai war sehr rot geworden und
26489
blickte zu Boden, ohne den Kopf zu senken. Hanno sah blaß aus. Er war
26490
furchtbar ernst und hielt seine verschleierten Augen seitwärts
26493
Dann schellte Herr Schlemiel und sie gingen hinauf.
26495
Es kam die Geographiestunde und mit ihr das Extemporale, ein sehr
26496
wichtiges Extemporale über das Gebiet von Hessen-Nassau. Ein Mann mit
26497
rotem Bart und braunem Schoßrock trat ein. Sein Gesicht war bleich, und
26498
auf seinen Händen, deren Poren weit offen standen, wuchs nicht ein
26499
einziges Härchen. Dies war der geistreiche Oberlehrer, Herr Doktor
26500
Mühsam. Er litt zuweilen an Lungenblutungen und sprach beständig in
26501
ironischem Tone, weil er sich für ebenso witzig wie leidend hielt. Zu
26502
Hause besaß er eine Art Heine-Archiv, eine Sammlung von Papieren und
26503
Gegenständen, die sich auf den frechen und kranken Poeten bezogen. Jetzt
26504
fixierte er die Grenzen von Hessen-Nassau auf der Wandtafel und bat dann
26505
mit einem zugleich melancholischen und höhnischen Lächeln, die Herren
26506
möchten in ihre Hefte zeichnen, was das Land an Merkwürdigem biete. Er
26507
schien sowohl die Schüler wie das Land Hessen-Nassau verspotten zu
26508
wollen; und doch war es ein sehr wichtiges Extemporale, vor dem alle
26511
Hanno Buddenbrook wußte nichts von Hessen-Nassau, nicht viel, so gut wie
26512
nichts. Er wollte ein wenig auf Adolf Todtenhaupts Heft hinübersehen,
26513
aber Heinrich Heine, der trotz seiner überlegenen und leidenden Ironie
26514
mit gespanntester Aufmerksamkeit jede Bewegung überwachte, bemerkte es
26515
sofort und sagte: »Herr Buddenbrook, ich bin versucht, Sie Ihr Buch
26516
schließen zu lassen, aber ich fürchte allzusehr, Ihnen eine Wohltat
26517
damit zu erweisen. Fahren Sie fort.«
26519
Diese Bemerkung enthielt zwei Witze. Erstens denjenigen, daß Doktor
26520
Mühsam Hanno mit »Herr« anredete, und zweitens den mit der »Wohltat«.
26521
Hanno Buddenbrook aber fuhr fort, über seinem Heft zu brüten und
26522
lieferte schließlich ein beinahe leeres Blatt ab, worauf er wieder mit
26525
Für heute war nun alles überstanden. Wohl dem, der glücklich
26526
davongekommen war und dessen Bewußtsein von keinem Tadel beschwert
26527
wurde. Er konnte nun frei und wohlgemut bei Herrn Drägemüller im hellen
26528
Saale sitzen und zeichnen ...
26530
Der Zeichensaal war weit und licht. Gipsabgüsse nach der Antike standen
26531
auf den Wandborden, und in einem großen Schranke gab es allerhand
26532
Holzklötze und Puppenmöbel, die ebenfalls als Modelle dienten. Herr
26533
Drägemüller war ein untersetzter Mann mit rundgeschnittenem Vollbart und
26534
einer braunen, glatten, billigen Perücke, die im Nacken verräterisch
26535
abstand. Er besaß zwei Perücken, eine mit längerem und eine mit kürzerem
26536
Haar; hatte er sich den Bart scheren lassen, so setzte er die kürzere
26537
auf ... Auch sonst war er ein Mann von einigen drolligen
26538
Eigentümlichkeiten. Statt »der Bleistift« sagte er »die Blei«. Außerdem
26539
verbreitete er einen ölig-spirituösen Geruch wo er ging und stand, und
26540
einige sagten, er tränke Petroleum. Seine schönsten Stunden kamen, wenn
26541
er vertretungsweise einmal in einem anderen Fache als im Zeichnen
26542
unterrichten durfte. Dann hielt er Vorträge über Bismarcks Politik, die
26543
er mit eindringlichen, spiralförmigen Bogenbewegungen von der Nase zur
26544
Schulter begleitete, und sprach mit Haß und Furcht von der
26545
Sozialdemokratie ... »Wir müssen zusammenhalten!« pflegte er zu
26546
schlechten Schülern zu sagen, indem er sie am Arme packte. »Die
26547
Sozialdemokratie steht vor der Tür!« Er hatte etwas krampfhaft
26548
Geschäftiges an sich. Er setzte sich neben einen, verbreitete einen
26549
heftigen Spiritusgeruch, schlug einem mit seinem Siegelring vor die
26550
Stirn, stieß einzelne Wörter hervor, wie »Perspektive!«
26551
»Schlagschatten!« »Die Blei!« »Sozialdemokratie!« »Zusammenhalten!« und
26554
Kai schrieb an seiner neuen literarischen Arbeit in dieser Stunde, und
26555
Hanno beschäftigte sich damit, daß er in Gedanken eine Orchester-Ouvertüre
26556
aufführte. Dann war es aus, man holte seine Sachen herunter, der Weg
26557
durch die Hoftore war freigegeben, man ging nach Hause.
26559
Hanno und Kai hatten denselben Weg, und bis zu der kleinen, roten Villa
26560
draußen in der Vorstadt gingen sie zusammen, ihre Bücher unterm Arm.
26561
Dann hatte der junge Graf Mölln noch eine weite Strecke bis zu dem
26562
väterlichen Wohnsitz allein zu wandern. Er trug nicht einmal einen
26565
Der Nebel, der am Morgen geherrscht hatte, war zu Schnee geworden, der
26566
in großen weichen Flocken herniedersank und sich in Kot verwandelte. An
26567
der Buddenbrookschen Gartenpforte trennten sie sich; aber als Hanno
26568
schon den Vorgarten zur Hälfte durchschritten hatte, kam Kai noch einmal
26569
zurück und legte den Arm um seinen Hals. »Sei nicht verzweifelt ... Und
26570
spiele lieber nicht!« sagte er leise; dann verschwand seine schlanke,
26571
verwahrloste Gestalt im Schneegestöber.
26573
Hanno ließ seine Bücher auf dem Korridor in der Schale zurück, die der
26574
Bär vor sich hinstreckte, und ging ins Wohnzimmer, um seine Mutter zu
26575
begrüßen. Sie saß auf der Chaiselongue und las in einem gelb gehefteten
26576
Buche. Während er über den Teppich schritt, blickte sie ihm mit ihren
26577
braunen, nahe beieinanderliegenden Augen entgegen, in deren Winkeln
26578
bläuliche Schatten lagerten. Als er vor ihr stand, nahm sie seinen Kopf
26579
zwischen die Hände und küßte ihn auf die Stirn.
26581
Er ging in sein Zimmer hinauf, wo Fräulein Clementine ein wenig
26582
Frühstück für ihn bereitgestellt hatte, wusch sich und aß. Als er fertig
26583
war, nahm er aus dem Pulte ein Päckchen jener kleinen, scharfen
26584
russischen Zigaretten, die ihm ebenfalls nicht mehr unbekannt waren, und
26585
begann zu rauchen. Dann setzte er sich ans Harmonium und spielte etwas
26586
sehr Schwieriges, Strenges, Fugiertes, von Bach. Und schließlich faltete
26587
er die Hände hinter dem Kopf und blickte zum Fenster hinaus in den
26588
lautlos niedertaumelnden Schnee. Es gab da sonst nichts zu sehen. Es lag
26589
kein zierlicher Garten mit plätscherndem Springbrunnen mehr unter seinem
26590
Fenster. Die Aussicht wurde durch die graue Seitenwand der benachbarten
26591
Villa abgeschnitten.
26593
Um vier Uhr wurde zu Mittag gegessen. Gerda Buddenbrook, der kleine
26594
Johann und Fräulein Clementine waren allein. Später traf Hanno im Salon
26595
die Vorbereitungen zum Musizieren und erwartete am Flügel seine Mutter.
26596
Sie spielten die Sonate Opus 24 von Beethoven. Bei dem Adagio sang die
26597
Geige wie ein Engel; aber Gerda nahm dennoch unbefriedigt das Instrument
26598
vom Kinn, betrachtete es mißmutig und sagte, daß es nicht in Stimmung
26599
sei. Sie spielte nicht weiter und ging hinauf, um zu ruhen.
26601
Hanno blieb im Salon zurück. Er trat an die Glastür, die auf die schmale
26602
Veranda führte, und blickte ein paar Minuten lang in den aufgeweichten
26603
Vorgarten hinaus. Plötzlich aber trat er einen Schritt rückwärts, zog
26604
heftig den cremefarbenen Vorhang vor die Tür, so daß das Zimmer in einem
26605
gelblichen Halbdunkel lag, und ging in Bewegung zum Flügel. Dort stand
26606
er abermals eine Weile, und sein Blick, starr und unbestimmt auf einen
26607
Punkt gerichtet, verdunkelte sich langsam, verschleierte sich,
26608
verschwamm ... Er setzte sich und begann eine seiner Phantasien.
26610
Es war ein ganz einfaches Motiv, das er sich vorführte, ein Nichts, das
26611
Bruchstück einer nicht vorhandenen Melodie, eine Figur von anderthalb
26612
Takten, und als er sie zum erstenmal mit einer Kraft, die man ihm nicht
26613
zugetraut hätte, in tiefer Lage als einzelne Stimme ertönen ließ, wie
26614
als sollte sie von Posaunen einstimmig und befehlshaberisch als Urstoff
26615
und Ausgang alles Kommenden verkündigt werden, war gar nicht abzusehen,
26616
was eigentlich gemeint sei. Als er sie aber im Diskant, in einer
26617
Klangfarbe von mattem Silber, harmonisiert wiederholte, erwies sich, daß
26618
sie im wesentlichen aus einer einzigen Auflösung bestand, einem
26619
sehnsüchtigen und schmerzlichen Hinsinken von einer Tonart in die andere
26620
... eine kurzatmige, armselige Erfindung, der aber durch die preziöse
26621
und feierliche Entschiedenheit, mit der sie hingestellt und vorgebracht
26622
wurde, ein seltsamer, geheimnis- und bedeutungsvoller Wert verschafft
26623
ward. Und nun begannen bewegte Gänge, ein rastloses Kommen und Gehen von
26624
Synkopen, suchend, irrend und von Aufschreien zerrissen, wie als sei
26625
eine Seele voll Unruhe über das, was sie vernommen, und was doch nicht
26626
verstummen wollte, sondern in immer anderen Harmonien, fragend, klagend,
26627
ersterbend, verlangend, verheißungsvoll sich wiederholte. Und immer
26628
heftiger wurden die Synkopen, ratlos umhergedrängt von hastigen Triolen;
26629
die Schreie der Furcht jedoch, die hineinklangen, nahmen Gestalt an, sie
26630
schlossen sich zusammen, sie wurden zur Melodie, und der Augenblick kam,
26631
da sie wie ein inbrünstig und flehentlich hervortretender Gesang des
26632
Bläserchores stark und demütig zur Herrschaft gelangten. Das haltlos
26633
Drängende, das Wogende, Irrende und Entgleitende war verstummt und
26634
besiegt, und in unbeirrbar einfachem Rhythmus erscholl dieser
26635
zerknirschte und kindlich betende Choral ... Mit einer Art von
26636
Kirchenschluß endete er. Eine Fermate kam, und eine Stille. Und siehe,
26637
plötzlich war, ganz leise, in einer Klangfarbe von mattem Silber, das
26638
erste Motiv wieder da, diese armselige Erfindung, diese dumme oder
26639
geheimnisvolle Figur, dieses süße, schmerzliche Hinsinken von einer
26640
Tonart in die andere. Da entstand ein ungeheurer Aufruhr und wild
26641
erregte Geschäftigkeit, beherrscht von fanfarenartigen Akzenten,
26642
Ausdrücken einer wilden Entschlossenheit. Was geschah? Was war in
26643
Vorbereitung? Es scholl wie Hörner, die zum Aufbruch riefen. Und dann
26644
trat etwas ein wie eine Sammlung und Konzentration, festere Rhythmen
26645
fügten sich zusammen, und eine neue Figur setzte ein, eine kecke
26646
Improvisation, eine Art Jagdlied, unternehmend und stürmisch. Aber es
26647
war nicht fröhlich, es war im Innersten voll verzweifelten Übermuts, die
26648
Signale, die darein tönten, waren gleich Angstrufen, und immer wieder
26649
war zwischen allem, in verzerrten und bizarren Harmonien, quälend,
26650
irrselig und süß, das Motiv, jenes erste, rätselhafte Motiv zu vernehmen
26651
... Und nun begann ein unaufhaltsamer Wechsel von Begebenheiten, deren
26652
Sinn und Wesen nicht zu erraten war, eine Flucht von Abenteuern des
26653
Klanges, des Rhythmus und der Harmonie, über die Hanno nicht Herr war,
26654
sondern die sich unter seinen arbeitenden Fingern gestalteten, und die
26655
er erlebte, ohne sie vorher zu kennen ... Er saß, ein wenig über die
26656
Tasten gebeugt, mit getrennten Lippen und fernem, tiefem Blick, und sein
26657
braunes Haar bedeckte in weichen Locken seine Schläfen. Was geschah? Was
26658
wurde erlebt? Wurden hier furchtbare Hindernisse bewältigt, Drachen
26659
getötet, Felsen erklommen, Ströme durchschwommen, Flammen
26660
durchschritten? Und wie ein gellendes Lachen oder wie eine unbegreiflich
26661
selige Verheißung schlang sich das erste Motiv hindurch, dies nichtige
26662
Gebilde, dies Hinsinken von einer Tonart in die andere ... ja, es war,
26663
als reize es auf zu immer neuen, gewaltsamen Anstrengungen, rasende
26664
Anläufe in Oktaven folgten ihm, die in Schreie ausklangen, und dann
26665
begann ein Aufschwellen, eine langsame, unaufhaltsame Steigerung, ein
26666
chromatisches Aufwärtsringen von wilder, unwiderstehlicher Sehnsucht,
26667
jäh unterbrochen durch plötzliche, erschreckende und aufstachelnde
26668
Pianissimi, die wie ein Weggleiten des Bodens unter den Füßen und wie
26669
ein Versinken in Begierde waren ... Einmal war es, als ob fern und leise
26670
mahnend die ersten Akkorde des flehenden, zerknirschten Gebetes
26671
vernehmbar werden wollten; alsbald aber stürzte die Flut der
26672
empordrängenden Kakophonien darüber her, die sich zusammenballten, sich
26673
vorwärts wälzten, zurückwichen, aufwärts klommen, versanken und wieder
26674
einem unaussprechlichen Ziele entgegenrangen, das kommen mußte, nun
26675
kommen mußte, in diesem Augenblick, an diesem furchtbaren Höhepunkt, da
26676
die lechzende Drangsal zur Unerträglichkeit geworden war ... Und es kam,
26677
es war nicht mehr hintanzuhalten, die Krämpfe der Sehnsucht hätten nicht
26678
mehr verlängert werden können, es kam, gleichwie wenn ein Vorhang
26679
zerrisse, Tore aufsprängen, Dornenhecken sich erschlossen, Flammenmauern
26680
in sich zusammensänken ... Die Lösung, die Auflösung, die Erfüllung, die
26681
vollkommene Befriedigung brach herein, und mit entzücktem Aufjauchzen
26682
entwirrte sich alles zu einem Wohlklang, der in süßem und sehnsüchtigem
26683
Ritardando sogleich in einen anderen hinübersank ... es war das Motiv,
26684
das erste Motiv, was erklang! Und was nun begann, war ein Fest, ein
26685
Triumph, eine zügellose Orgie ebendieser Figur, die in allen
26686
Klangschattierungen prahlte, sich durch alle Oktaven ergoß, aufweinte,
26687
im Tremolando verzitterte, sang, jubelte, schluchzte, angetan mit allem
26688
brausenden, klingelnden, perlenden, schäumenden Prunk der orchestralen
26689
Ausstattung sieghaft daherkam ... Es lag etwas Brutales und
26690
Stumpfsinniges und zugleich etwas asketisch Religiöses, etwas wie Glaube
26691
und Selbstaufgabe in dem fanatischen Kultus dieses Nichts, dieses Stücks
26692
Melodie, dieser kurzen, kindischen, harmonischen Erfindung von
26693
anderthalb Takten ... etwas Lasterhaftes in der Maßlosigkeit und
26694
Unersättlichkeit, mit der sie genossen und ausgebeutet wurde, und etwas
26695
zynisch Verzweifeltes, etwas wie Wille zu Wonne und Untergang in der
26696
Gier, mit der die letzte Süßigkeit aus ihr gesogen wurde, bis zur
26697
Erschöpfung, bis zum Ekel und Überdruß, bis endlich, endlich in
26698
Ermattung nach allen Ausschweifungen ein langes, leises Arpeggio in Moll
26699
hinrieselte, um einen Ton emporstieg, sich in Dur auflöste und mit einem
26700
wehmütigen Zögern erstarb.
26702
Hanno saß noch einen Augenblick still, das Kinn auf der Brust, die Hände
26703
im Schoß. Dann stand er auf und schloß den Flügel. Er war sehr blaß, in
26704
seinen Knien war gar keine Kraft, und seine Augen brannten. Er ging ins
26705
Nebenzimmer, streckte sich auf der Chaiselongue aus und blieb so lange
26706
Zeit, ohne ein Glied zu rühren.
26708
Später wurde zu Abend gegessen, worauf er mit seiner Mutter eine Partie
26709
Schach spielte, bei der niemand gewann. Aber nach Mitternacht noch saß
26710
er in seinem Zimmer bei einer Kerze vor dem Harmonium und spielte, weil
26711
nichts mehr erklingen durfte, in Gedanken, obgleich er gewillt war,
26712
morgen um halb sechs Uhr aufzustehen, um die wichtigsten Schularbeiten
26715
Dies war ein Tag aus dem Leben des kleinen Johann.
26720
Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt.
26722
Der Mensch fühlt eine seelische Mißstimmung in sich entstehen, die sich
26723
rasch vertieft und zu einer hinfälligen Verzweiflung wird. Zu gleicher
26724
Zeit bemächtigt sich seiner eine physische Mattigkeit, die sich nicht
26725
allein auf Muskeln und Sehnen, sondern auch auf die Funktionen aller
26726
inneren Organe erstreckt, und nicht zuletzt auf die des Magens, der die
26727
Aufnahme von Speise mit Widerwillen verweigert. Es besteht ein starkes
26728
Schlafbedürfnis, allein trotz äußerster Müdigkeit ist der Schlaf
26729
unruhig, oberflächlich, beängstigt und unerquicklich. Das Gehirn
26730
schmerzt; es ist dumpf, befangen, wie von Nebeln umhüllt, und von
26731
Schwindel durchzogen. Ein unbestimmter Schmerz sitzt in allen Gliedern.
26732
Hie und da fließt ohne jedwede besondere Veranlassung Blut aus der Nase.
26733
-- Dies ist die Introduktion.
26735
Dann gibt ein heftiger Frostanfall, der den ganzen Körper durchrüttelt
26736
und die Zähne gegeneinander wirbelt, das Zeichen zum Einsatze des
26737
Fiebers, das sofort die höchsten Grade erreicht. Auf der Haut der Brust
26738
und des Bauches werden nun einzelne linsengroße, rote Flecken sichtbar,
26739
die durch den Druck eines Fingers entfernt werden können, aber sofort
26740
zurückkehren. Der Puls rast; er hat bis zu hundert Schläge in einer
26741
Minute. So vergeht, bei einer Körpertemperatur von vierzig Grad, die
26744
In der zweiten Woche ist der Mensch von Kopf- und Gliederschmerzen
26745
befreit; dafür aber ist der Schwindel bedeutend heftiger geworden, und
26746
in den Ohren ist ein solches Sausen und Brausen, daß es geradezu
26747
Schwerhörigkeit hervorruft. Der Ausdruck des Gesichtes wird dumm. Der
26748
Mund fängt an, offen zu stehen, die Augen sind verschleiert und ohne
26749
Teilnahme. Das Bewußtsein ist verdunkelt; Schlafsucht beherrscht den
26750
Kranken, und oft versinkt er, ohne wirklich zu schlafen, in eine
26751
bleierne Betäubung. Dazwischen erfüllen seine Irreden, seine lauten,
26752
erregten Phantasien das Zimmer. Seine schlaffe Hilflosigkeit hat sich
26753
bis zum Unreinlichen und Widerwärtigen gesteigert. Auch sind sein
26754
Zahnfleisch, seine Zähne und seine Zunge mit einer schwärzlichen Masse
26755
bedeckt, die den Atem verpestet. Mit aufgetriebenem Unterleibe liegt er
26756
regungslos auf dem Rücken. Er ist im Bette hinabgesunken und seine Knie
26757
sind gespreizt. Alles an ihm arbeitet hastig, jagend und oberflächlich,
26758
seine Atmung sowohl wie der Puls, der an hundertundzwanzig flüchtig
26759
zuckende Schläge in einer Minute vollführt. Die Augenlider sind halb
26760
geschlossen, und die Wangen glühen nicht mehr wie zu Anfang rot vor
26761
Fieberhitze, sondern haben eine bläuliche Färbung angenommen. Die
26762
linsengroßen, roten Flecke auf der Brust und dem Bauche haben sich
26763
vermehrt. Die Temperatur des Körpers erreicht einundvierzig Grad ...
26765
In der dritten Woche ist die Schwäche auf ihrem Gipfel. Die lauten
26766
Delirien sind verstummt, und niemand kann sagen, ob der Geist des
26767
Kranken in leere Nacht versunken ist, oder ob er, fremd und abgewandt
26768
dem Zustande des Leibes, in fernen, tiefen, stillen Träumen weilt, von
26769
denen kein Laut und kein Zeichen Kunde gibt. Der Körper liegt in
26770
grenzenloser Unempfindlichkeit. -- Dies ist der Zeitpunkt der
26773
Bei gewissen Individuen wird die Diagnose durch besondere Umstände
26774
erschwert. Gesetzt zum Beispiel, daß die Anfangssymptome der Krankheit,
26775
Verstimmung, Mattigkeit, Appetitlosigkeit, unruhiger Schlaf,
26776
Kopfschmerzen, schon meistens vorhanden waren, als der Patient noch, die
26777
Hoffnung der Seinen, in völliger Gesundheit umherging? Daß sie sich,
26778
auch bei plötzlich verstärktem Auftreten, kaum als etwas
26779
Außergewöhnliches bemerkbar machen? -- Ein tüchtiger Arzt von soliden
26780
Kenntnissen, wie, um einen Namen zu nennen, Doktor Langhals, der hübsche
26781
Doktor Langhals, mit den kleinen, schwarzbehaarten Händen, wird
26782
gleichwohl bald in der Lage sein, die Sache bei ihrem richtigen Namen zu
26783
nennen, und das Erscheinen der fatalen roten Flecke auf der Brust und
26784
dem Bauche gibt ja völlige Gewißheit. Er wird über die Maßregeln, die zu
26785
treffen, die Mittel, die anzuwenden, nicht in Zweifel sein. Er wird für
26786
ein möglichst großes, oft gelüftetes Krankenzimmer sorgen, dessen
26787
Temperatur siebenzehn Grad nicht übersteigen darf. Er wird auf äußerste
26788
Sauberkeit dringen und auch durch immer erneutes Ordnen des Bettes den
26789
Körper, solange dies irgend möglich, -- in gewissen Fällen ist es nicht
26790
lange möglich -- vor dem »Wundliegen« zu schützen suchen. Er wird eine
26791
beständige Reinigung der Mundhöhle mit nassen Leinwandläppchen
26792
veranlassen, wird, was die Arzneien betrifft, sich einer Mischung von
26793
Jod und Jodkalium bedienen, Chinin und Antipyrin verschreiben und, vor
26794
allem, da der Magen und die Gedärme schwer in Mitleidenschaft gezogen
26795
sind, eine äußerst leichte und äußerst kräftigende Diät verordnen. Er
26796
wird das zehrende Fieber durch Bäder bekämpfen, durch Vollbäder, in die
26797
der Kranke oft, jede dritte Stunde, ohne Unterlaß, bei Tag und Nacht
26798
hineinzutragen ist, und die vom Fußende der Wanne aus langsam zu
26799
erkälten sind. Und nach einem jeden Bade wird er rasch etwas Stärkendes
26800
und Anregendes, Kognak, auch Champagner verabreichen ...
26802
Alle diese Mittel aber gebraucht er durchaus aufs Geratewohl, für den
26803
Fall gleichsam nur, daß sie überhaupt von irgendeiner Wirkung sein
26804
können, unwissend darüber, ob ihre Anwendung nicht jedes Wertes, Sinnes
26805
und Zweckes entbehrt. Denn =eines= weiß er nicht, was =eine= Frage
26806
betrifft, so tappt er im Dunkel, über ein Entweder-Oder schwebt er bis
26807
zur dritten Woche, bis zur Krisis und Entscheidung in völliger
26808
Unentschiedenheit. Er weiß nicht, ob die Krankheit, die er »Typhus«
26809
nennt, in diesem Falle ein im Grunde belangloses Unglück bedeutet, die
26810
unangenehme Folge einer Infektion, die sich vielleicht hätte vermeiden
26811
lassen, und der mit den Mitteln der Wissenschaft entgegenzuwirken ist --
26812
oder ob sie ganz einfach eine Form der Auflösung ist, das Gewand des
26813
Todes selbst, der ebensogut in einer anderen Maske erscheinen könnte,
26814
und gegen den kein Kraut gewachsen ist.
26816
Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt: In die fernen
26817
Fieberträume, in die glühende Verlorenheit des Kranken wird das Leben
26818
hineingerufen mit unverkennbarer, ermunternder Stimme. Hart und frisch
26819
wird diese Stimme den Geist auf dem fremden, heißen Wege erreichen, auf
26820
dem er vorwärts wandelt, und der in den Schatten, die Kühle, den Frieden
26821
führt. Aufhorchend wird der Mensch diese helle, muntere, ein wenig
26822
höhnische Mahnung zur Umkehr und Rückkehr vernehmen, die aus jener
26823
Gegend zu ihm dringt, die er so weit zurückgelassen und schon vergessen
26824
hatte. Wallt es dann auf in ihm, wie ein Gefühl der feigen
26825
Pflichtversäumnis, der Scham, der erneuten Energie, des Mutes und der
26826
Freude, der Liebe und Zugehörigkeit zu dem spöttischen, bunten und
26827
brutalen Getriebe, das er im Rücken gelassen: wie weit er auch auf dem
26828
fremden, heißen Pfade fortgeirrt sein mag, er wird umkehren und leben.
26829
Aber zuckt er zusammen vor Furcht und Abneigung bei der Stimme des
26830
Lebens, die er vernimmt, bewirkt diese Erinnerung, dieser lustige,
26831
herausfordernde Laut, daß er den Kopf schüttelt und in Abwehr die Hand
26832
hinter sich streckt und sich vorwärts flüchtet auf dem Wege, der sich
26833
ihm zum Entrinnen eröffnet hat ... nein, es ist klar, dann wird er
26839
»Es ist nicht recht, es ist nicht recht, Gerda!« sagte das alte Fräulein
26840
Weichbrodt wohl zum hundertsten Male bekümmert und vorwurfsvoll. Sie
26841
nahm heute abend im Wohnzimmer ihrer ehemaligen Schülerin einen
26842
Sofaplatz in dem Kreise ein, der von Gerda Buddenbrook, Frau Permaneder,
26843
ihrer Tochter Erika, der armen Klothilde und den drei Damen Buddenbrook
26844
aus der Breiten Straße um den runden Mitteltisch gebildet ward. Die
26845
grünen Bänder ihrer Haube fielen auf ihre Kinderschultern hinab, von
26846
denen sie die eine ganz hoch emporziehen mußte, um den Oberarm auf der
26847
Tischplatte gestikulieren lassen zu können; so winzig war sie mit ihren
26848
fünfundsiebenzig Jahren geworden.
26850
»Es ist nicht recht, laß dir sagen, daß es nicht wohlgetan ist, Gerda!«
26851
wiederholte sie mit eifernder und zitternder Stimme. »Ich stehe mit
26852
einem Fuße im Grabe, mir bleibt nur eine kurze Frist, und du willst mich
26853
... Du willst uns verlassen, willst dich auf immer von uns trennen ...
26854
fortziehen ... Wenn es eine Reise, einen Besuch in Amsterdam gälte ...
26855
allein auf immer!« Und sie schüttelte ihren alten Vogelkopf mit den
26856
braunen, gescheuten, betrübten Augen. »Es ist wahr, daß du vieles
26859
»Nein, sie hat alles verloren«, sagte Frau Permaneder. »Wir dürfen nicht
26860
egoistisch sein, Therese. Gerda will gehen und sie geht, da ist nichts
26861
zu tun. Sie ist mit Thomas gekommen, vor einundzwanzig Jahren, und wir
26862
haben sie alle geliebt, obgleich wir ihr wohl immer widerwärtig waren
26863
... ja, das waren wir, Gerda, keine Widerrede! Aber Thomas ist nicht
26864
mehr, und ... niemand ist mehr. Was sind wir ihr? Nichts. Uns tut es
26865
weh, aber reise mit Gott, Gerda, und Dank, daß du nicht schon früher
26866
reistest, damals, als Thomas starb ...«
26868
Es war nach dem Abendbrot, im Herbst; der kleine Johann (Justus, Johann,
26869
Kaspar) lag ungefähr seit sechs Monaten, mit den Segnungen Pastor
26870
Pringsheims wohl versehen, dort draußen am Rande des Gehölzes unter dem
26871
Sandsteinkreuz und dem Familienwappen. Vorm Hause rauschte der Regen in
26872
den halbentblätterten Bäumen der Allee. Manchmal kamen Windstöße und
26873
trieben ihn gegen die Fensterscheiben. Alle acht Damen waren schwarz
26876
Es war eine kleine Familienzusammenkunft, um Abschied zu nehmen,
26877
Abschied von Gerda Buddenbrook, die im Begriff stand, die Stadt zu
26878
verlassen und nach Amsterdam zurückzukehren, um wie ehemals mit ihrem
26879
alten Vater Duos zu spielen. Keine Verpflichtung hielt sie mehr zurück.
26880
Frau Permaneder hatte diesem Entschlusse nichts mehr entgegenzuhalten.
26881
Sie ergab sich darein, aber in ihrem Inneren war sie tief unglücklich
26882
darüber. Wäre die Witwe des Senators in der Stadt verblieben, hätte sie
26883
sich Platz und Rang in der Gesellschaft gewahrt und ihr Vermögen am
26884
Platze gelassen, so wäre dem Namen der Familie doch ein wenig Prestige
26885
erhalten geblieben ... Mochte dem nun wie immer sein, Frau Antonie war
26886
gewillt, den Kopf hoch zu tragen, solange sie über der Erde weilte und
26887
Menschen auf sie blickten. Ihr Großvater war vierspännig über Land
26890
Trotz des bewegten Lebens, das hinter ihr lag, und trotz der Schwäche
26891
ihres Magens sah man ihr ihre fünfzig Jahre nicht an. Ihr Teint war ein
26892
wenig flaumig und matt geworden, und auf ihrer Oberlippe -- der hübschen
26893
Oberlippe Tony Buddenbrooks -- wuchsen die Härchen reichlicher; aber in
26894
dem glatten Scheitel unter dem Trauerhäubchen war nicht ein einziger
26895
weißer Faden zu sehen.
26897
Ihre Kusine, die arme Klothilde, nahm Gerdas Abreise, wie man alle Dinge
26898
im Diesseits zu nehmen hat, gleichmütig und sanft. Sie hatte vorhin beim
26899
Abendessen still und gewaltig zugelangt und saß nun da, aschgrau und
26900
mager wie stets, mit gedehnten und freundlichen Worten.
26902
Erika Weinschenk, nun einunddreißigjährig, war ebenfalls nicht die Frau,
26903
sich über den Abschied von ihrer Tante zu erregen. Sie hatte Schwereres
26904
erlebt und sich frühzeitig ein resigniertes Wesen zu eigen gemacht. In
26905
ihren müde blickenden, wasserblauen Augen -- den Augen Herrn Grünlichs
26906
-- las man Ergebenheit in ein fehlgeschlagenes Leben, und aus ihrer
26907
gelassenen und manchmal ein wenig klagenden Stimme klang dasselbe.
26909
Was die drei Damen Buddenbrook, die Töchter Onkel Gottholds, betraf, so
26910
waren ihre Mienen pikiert und voll Kritik, wie gewöhnlich. Friederike
26911
und Henriette, die älteren, waren mit den Jahren immer hagerer und
26912
spitziger geworden, während Pfiffi, die dreiundfünfzigjährige jüngste,
26913
allzu klein und beleibt erschien ...
26915
Auch die alte Konsulin Kröger, die Witwe Onkel Justus', war geladen
26916
worden; aber sie war unpäßlich und hatte vielleicht auch kein
26917
präsentables Kleid anzuziehen; das war nicht zu entscheiden.
26919
Es war von Gerdas Reise die Rede, von dem Zuge, mit dem sie zu fahren
26920
gedachte, und dem Verkaufe der Villa samt den Möbeln, den der Makler
26921
Gosch übernommen hatte. Denn Gerda nahm nichts mit und ging fort wie sie
26924
Dann kam Frau Permaneder auf das Leben zu sprechen, nahm es von seiner
26925
wichtigsten Seite und stellte Betrachtungen an über Vergangenheit und
26926
Zukunft, obgleich über die Zukunft fast gar nichts zu sagen war.
26928
»Ja, wenn ich tot bin, kann Erika meinetwegen auch davonziehen«, sagte
26929
sie, »aber ich halte es sonst nirgends aus, und solange ich am Leben
26930
bin, wollen wir hier zusammenhalten, wir paar Leute, die wir
26931
übrigbleiben ... Einmal in der Woche kommt ihr zu mir zum Essen ... Und
26932
dann lesen wir in den Familienpapieren --« Sie berührte die Mappe, die
26933
vor ihr lag. »Ja, Gerda, ich übernehme sie mit Dank. -- Das ist
26934
abgemacht ... Hörst du Thilda?... Obgleich nun eigentlich ebensogut du
26935
es sein könntest, die uns einlüde, denn im Grunde stehst du dich ja gar
26936
nicht mehr schlechter als wir. Ja, so geht es. Man müht sich und nimmt
26937
Anläufe und kämpft ... und du hast dagesessen und geduldig alles
26938
abgewartet. Aber darum bist du doch ein Kamel, Thilda, das nimm mir
26941
»Oh, Tony?« sagte Klothilde lächelnd.
26943
»Es tut mir leid, daß ich mich von Christian nicht verabschieden kann«,
26944
sagte Gerda, und so kam die Rede auf Christian. Es war wenig Aussicht
26945
vorhanden, daß er je aus der Anstalt, in der er saß, wieder hervorgehen
26946
würde, obgleich es wohl nicht so schlimm mit ihm stand, daß er nicht
26947
hätte in Freiheit umhergehen können. Aber seiner Gattin war der
26948
gegenwärtige Zustand allzu angenehm, sie war, wie Frau Permaneder
26949
behauptete, mit dem Arzte im Bunde, und voraussichtlich würde Christian
26950
seine Tage in der Anstalt beschließen.
26952
Dann entstand eine Pause. Leise und zögernd wandte das Gespräch sich den
26953
jüngst vergangenen Ereignissen zu, und als der Name des kleinen Johann
26954
gefallen war, ward es wieder stumm in der Stube, und nur den Regen vorm
26955
Hause hörte man stärker rauschen.
26957
Es lag wie ein schweres Geheimnis über Hannos letzter Krankheit, die in
26958
außerordentlich schrecklicher Weise vor sich gegangen sein mußte. Man
26959
blickte sich nicht an, während man, gedämpften Tones, in Andeutungen und
26960
halben Worten davon sprach. Und dann rief man sich jene letzte Episode
26961
ins Gedächtnis zurück ... den Besuch dieses kleinen, abgerissenen
26962
Grafen, der sich beinahe mit Gewalt den Weg zum Krankenzimmer gebahnt
26963
hatte ... Hanno hatte gelächelt, als er seine Stimme vernahm, obgleich
26964
er sonst niemanden mehr erkannte, und Kai hatte ihm unaufhörlich beide
26967
»Er hat ihm die Hände geküßt?« fragten die Damen Buddenbrook.
26971
Hierüber dachten alle eine Weile nach.
26973
Plötzlich brach Frau Permaneder in Tränen aus.
26975
»Ich habe ihn so geliebt«, schluchzte sie ... »Ihr wißt nicht, wie sehr
26976
ich ihn geliebt habe ... mehr als ihr alle ... ja, verzeih Gerda, du
26977
bist die Mutter ... Ach, er war ein Engel ...«
26979
»Nun ist er ein Engel«, verbesserte Sesemi.
26981
»Hanno, kleiner Hanno«, fuhr Frau Permaneder fort, und die Tränen
26982
flossen über die flaumige, matte Haut ihrer Wangen ... »Tom, Vater,
26983
Großvater und die anderen alle! Wo sind sie hin? Man sieht sie nicht
26984
mehr. Ach, es ist so hart und traurig!«
26986
»Es gibt ein Wiedersehen«, sagte Friederike Buddenbrook, wobei sie die
26987
Hände fest im Schoße zusammenlegte, die Augen niederschlug und mit ihrer
26988
Nase in die Luft stach.
26990
»Ja, so sagt man ... Ach, es gibt Stunden, Friederike, wo es kein Trost
26991
ist, Gott strafe mich, wo man irre wird an der Gerechtigkeit, an der
26992
Güte ... an allem. Das Leben, wißt ihr, zerbricht so manches in uns, es
26993
läßt so manchen Glauben zuschanden werden ... Ein Wiedersehen ... Wenn
26996
Da aber kam Sesemi Weichbrodt am Tische in die Höhe, so hoch sie nur
26997
irgend konnte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals,
26998
pochte auf die Platte, und die Haube zitterte auf ihrem Kopfe.
27000
»=Es ist so!=« sagte sie mit ihrer ganzen Kraft und blickte alle
27003
Sie stand da, eine Siegerin in dem guten Streite, den sie während der
27004
Zeit ihres Lebens gegen die Anfechtungen von seiten ihrer
27005
Lehrerinnenvernunft geführt hatte, bucklig, winzig und bebend vor
27006
Überzeugung, eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin.
27013
Dieses Werk ist eine Veröffentlichung der
27014
Deutschen Buch-Gemeinschaft
27015
Wien Berlin SW 68 New York
27016
Alte Jakobstraße 156/157
27018
Guten und doch billigen Büchern in vorbildlicher Formgebung und bester
27019
Ausstattung den Weg in alle Schichten unseres Volkes zu bahnen, ist die
27020
Aufgabe der Deutschen Buch-Gemeinschaft. Sie erreicht dies durch
27021
Herstellung und Vertrieb in eigenem Wirkungsbereich
27023
Jedermann wird durch Beitritt zur Deutschen Buch-Gemeinschaft die
27024
vorteilhafteste Gelegenheit gegeben, sich unter neuen Bezugsformen eine
27025
eigene und wertvolle Hausbibliothek anzuschaffen.
27027
Ausführliche, reich illustrierte Werbeschrift wird auf
27028
Wunsch kostenlos zugesandt
27034
A. Seydel & Cie. Aktiengesellschaft
27040
[ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
27041
jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
27044
der Welt gesehen, war Anno 13 vierspännig nach Süddeutschland
27045
der Welt gesehen, war _anno_ 13 vierspännig nach Süddeutschland
27047
verzehrt hatte und, sei es plötzlich und überrascht in seinen
27048
verzehrt hatte und, sei es plötzlich und überrascht in seinem
27050
=Johann=, bei Ihnen mietweise wohnhaf ist und nach Ihrem Tode mit
27051
=Johann=, bei Ihnen mietweise wohnhaft ist und nach Ihrem Tode mit
27053
einem Töchterchen entbunden, welches in der hl. Taufe den Namen Clara
27054
einem Töchterchen entbunden, welches in der hl. Taufe den Namen Klara
27056
irdisches kleines schwaches Herz ... Nach drei Seiten schrieb der
27057
irdisches kleines schwaches Herz ...« Nach drei Seiten schrieb der
27059
nachgewiesen; daß ihm die alte, zu Wittenberg gedruckte Bibel zugehöre,
27060
nachgewiesen, daß ihm die alte, zu Wittenberg gedruckte Bibel zugehöre,
27062
denken, während in der Mengsstraße der Großvater und die Mama wohl
27063
denken, während in der Mengstraße der Großvater und die Mama wohl
27065
»Na«, sagte er, hier ist »eine Zitronensemmel mit Gänsebrust; es ist
27066
»Na«, sagte er, »hier ist eine Zitronensemmel mit Gänsebrust; es ist
27068
März, ein paar Monate nur und nach dem Tode seiner Frau, irgendein
27069
März, ein paar Monate nur nach dem Tode seiner Frau, irgendein
27071
Gerda war ein wenig appart und hatte etwas Fremdes und Ausländisches an
27072
Gerda war ein wenig apart und hatte etwas Fremdes und Ausländisches an
27074
durchaus nicht glauben, daß ich es drängen und quällen will ... Das alles
27075
durchaus nicht glauben, daß ich es drängen und quälen will ... Das alles
27077
Allein auch Herr Grünlich erhob sich. Er trat einen Schritt urück, er
27078
Allein auch Herr Grünlich erhob sich. Er trat einen Schritt zurück, er
27080
ihrem vornehmen Bereich verschwinden werden und ... man Zeit seines
27081
Ihrem vornehmen Bereich verschwinden werden und ... man Zeit seines
27083
als dächte er: Ich wäre jawohl ein Hundsfott ...!
27084
als dächte er: Ich wäre ja wohl ein Hundsfott ...!
27086
und der Rest in den »Wallfisch«, den »Löwen« oder die »Eiche« wandern ...
27087
und der Rest in den »Walfisch«, den »Löwen« oder die »Eiche« wandern ...
27089
sich empo und küßte sie mit leise knallendem Geräusch auf die Stirn. --
27090
sich empor und küßte sie mit leise knallendem Geräusch auf die Stirn. --
27092
daß er sie bekommen hat! Dann sucht er einen Zwicker hervor (er hat
27093
daß er Sie bekommen hat! Dann sucht er einen Zwicker hervor (er hat
27095
»=Wohin= willst, Jean?«
27096
»=Wohin= willst du, Jean?«
27098
hängenden und blöden Greisengrimmasse verzerrt ... Der Wagen hielt an der
27099
hängenden und blöden Greisengrimasse verzerrt ... Der Wagen hielt an der
27101
Tony. Aber nicht länger, und in der dickeren Jacke, hörst du?... Es
27102
Tony. »Aber nicht länger, und in der dickeren Jacke, hörst du?... Es
27104
dem längst vernichtet n Grünlich zwar fort und fort Kredit gewährt, ihn
27105
dem längst vernichteten Grünlich zwar fort und fort Kredit gewährt, ihn
27107
aufgekommen und fuhr lustig in den dichten Wasserschleier, zerrieß ihn
27108
aufgekommen und fuhr lustig in den dichten Wasserschleier, zerriß ihn
27110
es wird geteilt, das Haus wird abgeb rochen, ein Zaun quer
27111
es wird geteilt, das Haus wird abgebrochen, ein Zaun quer
27113
Buddenbrooks, begann er, emsig vorübergebeugt, den Baß zu bearbeiten,
27114
Buddenbrooks, begann er, emsig vornübergebeugt, den Baß zu bearbeiten,
27116
Christian jedoch, dessen Augen wanderten, überhörten dies, denn er befand
27117
Christian jedoch, dessen Augen wanderten, überhörte dies, denn er befand
27119
Dieser Klub, dem vorwiegend unverheiratete Kaufleute angegehörten, besaß
27120
Dieser Klub, dem vorwiegend unverheiratete Kaufleute angehörten, besaß
27122
es zu spät gelernt, Zugeständnisse zu machen, Rücksicht zu nehmen . .
27123
es zu spät gelernt, Zugeständnisse zu machen, Rücksicht zu nehmen ...
27125
machen. Es kamen die Damen Buddenbrooks aus der Breiten Straße, die denn
27126
machen. Es kamen die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße, die denn
27128
einem von Mutters Dunkelmännern, die der Witwen Häuser fressen.
27129
einem von Mutters Dunkelmännern, die der Witwen Häuser fressen,
27131
Ich bin eingeladen worden; eingeladen nach München von Eva Ewers
27132
»Ich bin eingeladen worden; eingeladen nach München von Eva Ewers
27134
sie sich wohl im Kontor Ihres Bruders, Herr Buddenbrook?´ =Das=
27135
Sie sich wohl im Kontor Ihres Bruders, Herr Buddenbrook?´ =Das=
27137
uns die Freude machen würden, solange sie in unserer Stadt sind, bei uns
27138
uns die Freude machen würden, solange Sie in unserer Stadt sind, bei uns
27140
vorlieb zu nehmen ... sie würden uns herzlich willkommen sein ...«
27141
vorlieb zu nehmen ... Sie würden uns herzlich willkommen sein ...«
27143
Er sah gut und munter aus in seinem hellbraunen, kleinkarrierten Anzug,
27144
Er sah gut und munter aus in seinem hellbraunen, kleinkarierten Anzug,
27146
»Ja, das sagte Herr Kistenmaaker vorhin auch schon.«
27147
»Ja, das sagte Herr Kistenmaker vorhin auch schon.«
27149
... bitte, das Handtuch. Wenzel«, schloß der Konsul, und wenn dann noch
27150
... bitte, das Handtuch, Wenzel«, schloß der Konsul, und wenn dann noch
27152
»Tony«, sagte er, »du machst mir nichts weiß. Ich habe es schon vorher
27153
»Tony«, sagte er, »du machst mir nichts weis. Ich habe es schon vorher
27155
Kurz es gab außer Tonys Scheidungswünschen der widerwärtigen Dinge
27156
Kurz, es gab außer Tonys Scheidungswünschen der widerwärtigen Dinge
27158
Nicht lange, und alle diese Herrlichkeiten reden, wenn die Herrschaften
27159
Nicht lange, und alle diese Herrlichkeiten werden, wenn die Herrschaften
27161
die Damen Buddenbrooks sind anwesend, und sie sind tief erfreut über das
27162
die Damen Buddenbrook sind anwesend, und sie sind tief erfreut über das
27164
bin, verstehst du, und dann zumachen Ich kann es nun nicht mehr. Mit
27165
bin, verstehst du, und dann zumachen. Ich kann es nun nicht mehr. Mit
27167
Abenteurer begegnen und ihr schließlich, frisch und gesund wie die Frau
27168
Abenteuer begegnen und ihr schließlich, frisch und gesund wie die Frau
27170
um dir Armgards -- also, indirekt, Rolf von Maibooms Vorschlag zu
27171
um dir Armgards -- also, indirekt, Ralf von Maibooms Vorschlag zu
27173
»Oh, du hättest natürlich hinfahren müssen!« sagte sie eifrig. Es ist
27174
»Oh, du hättest natürlich hinfahren müssen!« sagte sie eifrig. »Es ist
27176
mir -- einen Stuhl anzubieten ...«?
27177
mir -- einen Stuhl anzubieten ...?«
27179
ausgestrecktem Zeigezinger. »Ich werde es tun!«
27180
ausgestrecktem Zeigefinger. »Ich werde es tun!«
27182
folgt, worauf zunächst ein Poutpourri von Volksliedern erklingen wird
27183
folgt, worauf zunächst ein Potpourri von Volksliedern erklingen wird
27185
Am Tage, da sie ihn zum ersten Male Klavierauszüge aus »Tristan und
27186
Am Tage, da sie ihm zum ersten Male Klavierauszüge aus »Tristan und
27188
gegenüber, neben ihn an den Speisetisch setzte ... »Wie gehts! Was
27189
gegenüber, neben ihn an den Speisetisch setzte ... »Wie geht's! Was
27191
durchbohrende Blicke tauschten, selbst Rieckchen Severin am unteren
27192
durchbohrende Blicke tauschten, selbst Riekchen Severin am unteren
27194
erfüllen. Gerade der Wechsel von Gück und strenger Heimsuchung zeige,
27195
erfüllen. Gerade der Wechsel von Glück und strenger Heimsuchung zeige,
27197
ihr letztes Weihnachsfest beging, niemals verfloß dieser Abend, ohne
27198
ihr letztes Weihnachtsfest beging, niemals verfloß dieser Abend, ohne
27200
und dort, gestützt auf Ida Jungmann oder Rieckchen Severin, die
27201
und dort, gestützt auf Ida Jungmann oder Riekchen Severin, die
27203
.. und dann wird es beinahe noch schlimmer, denn wohin dann mit ihm und
27204
... und dann wird es beinahe noch schlimmer, denn wohin dann mit ihm und
27206
Schwestern, für die Sie immer so wohlwollend eintreten .. Die Schwester
27207
Schwestern, für die Sie immer so wohlwollend eintreten ... Die Schwester
27209
dabei überhaupt gar nicht vorhanden ist?!...
27210
dabei überhaupt gar nicht vorhanden ist?!...«
27212
waren weißlich, belich, ohne Blut und Leben. Seine leicht geröteten
27213
waren weißlich, bleich, ohne Blut und Leben. Seine leicht geröteten
27215
Leben. _L'esperance toute trompeuse qu'elle est, sert au moins à nous
27216
Leben. _L'espérance toute trompeuse qu'elle est, sert au moins à nous
27218
effektiv nur di Familie nötig, Huneus', Möllendorpfs, die Angehörigen
27219
effektiv nur die Familie nötig, Huneus', Möllendorpfs, die Angehörigen
27221
erste Strophe des »O Tannenbaum« sang, durch die Zimmerflucht in den
27222
erste Strophe des »O Tannebaum« sang, durch die Zimmerflucht in den
27224
Gemütszustand äußerst traurig sein sollte, und dann wa rdie Frage
27225
Gemütszustand äußerst traurig sein sollte, und dann war die Frage
27227
rationelle Pflege und Abhärtung andererseits zu festigen und zu heben ..
27228
rationelle Pflege und Abhärtung andererseits zu festigen und zu heben ...
27230
Wagenecke lehnte, und Entsetzen im Herzen erlebte er es, daß auf der
27231
Wagenecke lehnte, und mit Entsetzen im Herzen erlebte er es, daß auf der
27233
Hamburg ihren Vater geantwortet hatte, so fing man an, mit einer nahen
27234
Hamburg ihrem Vater geantwortet hatte, so fing man an, mit einer nahen
27236
werden kann ... ich meine, wenn man es im Magen hat?... Und er gab
27237
werden kann ... ich meine, wenn man es im Magen hat?...« Und er gab
27239
wenigsten diejenigen von Iwersen, gegenüber dem Buddenbrookschen Hause.
27240
wenigsten diejenige von Iwersen, gegenüber dem Buddenbrookschen Hause.
27242
überhaupt einmal eine Ende zu machen, genötigt sah, das Haus für
27243
überhaupt einmal ein Ende zu machen, genötigt sah, das Haus für
27245
den Rücken, stützte sich auf sein eines Beines, indem er den anderen
27246
den Rücken, stützte sich auf sein eines Bein, indem er den anderen
27248
Ausdruck, aus dieser Anstalt, in der man ihn sehr str ng zu behandeln
27249
Ausdruck, aus dieser Anstalt, in der man ihn sehr streng zu behandeln
27251
Chlor oder Strontium über ihren Diensteifer aufzuweisen. Hans Hermann
27252
Chlor oder Strontium über ihren Diensteifer auszuweisen. Hans Hermann
27254
»Habe ich vorhin nicht auch gesagt, was `_patula Jovis arbore, glandos_´
27255
»Habe ich vorhin nicht auch gesagt, was `_patula Jovis arbore, glandes_´
27258
Folgende inkonsistente Schreibweisen wurden wie gedruckt beibehalten:
27260
Breite Straße/Breitestraße
27262
gentlemanlike/gentleman like
27263
Hunyadi-Janos/Hunyadi-János
27264
Kotelettes/Koteletts
27265
Kurantmark/Kurant-Mark
27266
Oeverdieck/Överdieck
27267
Portieren/Portièren
27268
Regeldetri/Regeldetrie
27269
Religionsstunde/Religionstunde
27271
Table d'hote-Glocke/Table-d'hote-Glocke
27278
End of the Project Gutenberg EBook of Buddenbrooks, by Thomas Mann
27280
*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BUDDENBROOKS ***
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Creating the works from public domain print editions means that no
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permission and without paying copyright royalties. Special rules,
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set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
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copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
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protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
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Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
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charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
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do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
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rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
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such as creation of derivative works, reports, performances and
27305
research. They may be modified and printed and given away--you may do
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practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
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Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
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27337
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27339
1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
27340
used on or associated in any way with an electronic work by people who
27341
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
27342
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
27343
even without complying with the full terms of this agreement. See
27344
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
27345
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
27346
and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
27347
works. See paragraph 1.E below.
27349
1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
27350
or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
27351
Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
27352
collection are in the public domain in the United States. If an
27353
individual work is in the public domain in the United States and you are
27354
located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
27355
copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
27356
works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
27357
are removed. Of course, we hope that you will support the Project
27358
Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
27359
freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
27360
this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
27361
the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
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keeping this work in the same format with its attached full Project
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Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
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27372
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27375
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Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
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must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
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terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
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27409
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27411
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27412
electronic work, or any part of this electronic work, without
27413
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
27414
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distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
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you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
27424
copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
27425
request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
27426
form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
27427
License as specified in paragraph 1.E.1.
27429
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performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
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unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
27433
1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
27434
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
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27438
the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
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you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
27440
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27441
has agreed to donate royalties under this paragraph to the
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Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
27443
must be paid within 60 days following each date on which you
27444
prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
27445
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27446
sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
27447
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27448
the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
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- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
27451
you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
27452
does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
27453
License. You must require such a user to return or
27454
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27455
and discontinue all use of and all access to other copies of
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Project Gutenberg-tm works.
27458
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27459
money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
27460
electronic work is discovered and reported to you within 90 days
27461
of receipt of the work.
27463
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27464
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27466
1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
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electronic work or group of works on different terms than are set
27468
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both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
27470
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
27471
Foundation as set forth in Section 3 below.
27475
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effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
27477
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
27478
collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
27479
works, and the medium on which they may be stored, may contain
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27497
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
27500
1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
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defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
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receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
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written explanation to the person you received the work from. If you
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received the work on a physical medium, you must return the medium with
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your written explanation. The person or entity that provided you with
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the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
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refund. If you received the work electronically, the person or entity
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providing it to you may choose to give you a second opportunity to
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receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
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is also defective, you may demand a refund in writing without further
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opportunities to fix the problem.
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1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
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WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
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1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
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warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
27520
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
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law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
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interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
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the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
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provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
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1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
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providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
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with this agreement, and any volunteers associated with the production,
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promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
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harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
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that arise directly or indirectly from any of the following which you do
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or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
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work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
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Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
27540
Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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electronic works in formats readable by the widest variety of computers
27542
including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
27543
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
27544
people in all walks of life.
27546
Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
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goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
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remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
27550
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
27551
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
27552
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
27553
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
27554
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
27557
Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
27560
The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
27561
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
27562
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
27563
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
27564
number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
27565
http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
27566
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
27567
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
27569
The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
27570
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
27571
throughout numerous locations. Its business office is located at
27572
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
27573
business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
27574
information can be found at the Foundation's web site and official
27575
page at http://pglaf.org
27577
For additional contact information:
27578
Dr. Gregory B. Newby
27579
Chief Executive and Director
27583
Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
27584
Literary Archive Foundation
27586
Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
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spread public support and donations to carry out its mission of
27588
increasing the number of public domain and licensed works that can be
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freely distributed in machine readable form accessible by the widest
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array of equipment including outdated equipment. Many small donations
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($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
27592
status with the IRS.
27594
The Foundation is committed to complying with the laws regulating
27595
charities and charitable donations in all 50 states of the United
27596
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
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considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
27598
with these requirements. We do not solicit donations in locations
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where we have not received written confirmation of compliance. To
27600
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
27601
particular state visit http://pglaf.org
27603
While we cannot and do not solicit contributions from states where we
27604
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
27605
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
27606
approach us with offers to donate.
27608
International donations are gratefully accepted, but we cannot make
27609
any statements concerning tax treatment of donations received from
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outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
27612
Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
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methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
27614
ways including checks, online payments and credit card donations.
27615
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
27618
Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
27621
Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
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concept of a library of electronic works that could be freely shared
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with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
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Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
27627
Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
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editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
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unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
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keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
27633
Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
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27637
This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
27638
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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